ra-4Weltanschauungsanalyse
 Die Macht der Gefühle
EDUARD ZELLER

 
Wo immer seine Bedürfnisse, seine Wünsche, seine Befürchtungen, seine Erfahrungen dem Menschen die Schranken seines Wissens und Könnens fühlbar machen, ist alsbald die Phantasie am Werk, sie zu überspringen und für das, was die Wirklichkeit versagt, in einer zweiten, selbstgeschaffenen Welt Ersatz zu geben. Daß die letztere nur aus Bildern besteht, nur im vorstellenden Geist Dasein hat, verbirgt sich dem Bewußtsein auf niedrigerer Entwicklungsstufe zwar nicht gänzlich; aber gerade wegen der Beteiligung des Gefühls an ihrer Erzeugung sind die Grenzen der beiden Welten, der wirklichen und der Phantasiewelt, noch ganz unsichere und fließende. Je lebhafter der Eindruck ist, den ein Phantasiebild macht, umso geneigter ist man, ihm Wirklichkeit beizulegen, weil man eben die Wahrnehmung von der bloßen Einbildung und vom Traum an diesem Merkmal, an der Stärke des Eindrucks, zu unterscheiden gewohnt ist. Wird vollends die Überzeugung von der Realität eines von der Phantasie geschaffenen Bildes oder einer von ihr hergestellten Kombination durch eine unvordenkliche Überlieferung, allgemeine Übereinstimmung, lebenslängliche Gewöhnung, vielleicht auch durch ihren Zusammenhang mit anderweitigen Interessen und Vorurteilen befestigt, so begreift man, daß sie in zahllosen Fällen zu etwas so unbezweifeltem und unantastbaren wird, wie es der Glaube an die Götter des eigenen Volkes, an die Wirkungen der überlieferten Kultushandlungen, Gebete und Beschwörungen, an Astrologie und Orakel, an alle den tausendfältigen Aberglauben zu sein pflegt, der schließlich immer wieder darauf zurückkommt, daß man einen objektiven Kausalzusammenhang annimmt, wo nur eine subjektive Ideenassoziation vorliegt, reale Wirkungen von Vorgängen, Worten, Gebärden und Handlungen erwartet, die an das Erwartete vielleicht erinnern, aber nicht das geringste dazu beitragen können es herbeizuführen. Mag ein solcher Glaube den Tatsachen der Erfahrung noch so handgreiflich widersprechen: wenn der Wunsch, daß er wahr sei, lebhaft genug ist, wird sich auch die Überzeugung einstellen, und auch an Erzählungen, die sie bestätigen, wird es nicht fehlen. So groß ist bei den meisten die Macht der Gefühle über ihre Phantasie.

LITERATUR, Eduard Zeller - Über den Einfluß des Gefühls auf die Tätigkeit der Phantasie, Philosophische Abhandlungen, Tübingen 1900