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NEIL POSTMAN / CHARLES WEINGARTNER
Semantisches Bewußtsein

"... das Bewußtsein, daß Bedeutung nicht  im  Wort liegt. Bedeutungen liegen bei den Menschen, und alle Bedeutungen, die die Wörter jeweils haben, werden ihnen von den Menschen zugeordnet oder zugeschrieben."

In der Geschichte der menschlichen Gruppe ist es häufig vorgekommen, daß eine einfache Idee die gesamte Richtung des Lebens in einer Gesellschaft verändert hat. Nehmen wir zum Beispiel die Idee, nach der sich die Erde um die Sonne dreht und nicht umgekehrt; die Idee der Evolution oder die Idee, nach der ein Mensch nur aufgrund eines Konsensus der Regierten regieren kann. Meistens verändern solche Ideen nicht alles auf einmal. Es braucht Zeit. Manchmal einen Krieg oder zwei. Am Ende überwiegt jedoch die Idee und nichts bleibt, wie es früher war.

Wir sind nicht die einzigen mit der Ansicht, daß die Idee, nach der unsere Wahrnehmungen aus uns kommen und daß wir die Dinge nicht so sehen, wie  sie  sind, sondern wie  wir  sind, in ihrer Wirkung mit derjenigen des Kopernikanischen Weltbildes vergleichbar ist. Die Idee des Kopernikus verwandelte das Universum. Sie entfernte den Menschen aus dem Mittelpunkt, in den er sich instinktiv gesetzt hatte, stellte ihn an den Rand und dann an den Rand eines Randes. Die Idee des Menschen als eines Bedeutungsherstellers stellt ihn ins Zentrum des Universums zurück, aber nicht im gleichen Sinn wie früher.

Wir wissen jetzt, daß jeder Mensch sich seine einmalige Welt schafft, daß er und nur er die Realitäten erzeugt, die er überhaupt erkennen kann. Das ist jedoch kein Anlaß zu reiner Freude. Es erweist sich zum Beispiel, daß JOHN DONNE ("No man is an Island") nicht recht hatte. Jeder Mensch   ist   eine Insel für sich. Seine Zwecke und Grundsätze und damit auch seine Wahrnehmungen sind ausschließlich seine eigenen, und es gibt im ungeheuren Meer des Universums niemand anderen, der sie bis auf jede Kleinigkeit teilt. Unter anderem bedeutet dies, daß kein Mensch irgendeiner Sache absolut gewiß sein kann.

Alles, was einer tun kann, ist zu sagen, wie eine Sache für   ihn  erscheint. Der Kosmos gibt keine absoluten Beweise. Relativität und das Unsicherheitsprinzip sind mehr - viel mehr - als nur technische Ausdrücke in der Physik. Jeder von uns muß jede Sekunde seines Lebens mit ihnen auskommen.

Ebenso erweist es sich, daß die Sprache im Prozeß der Wahrnehmung so wenig wie im Prozeß der Bewertung von Wahrnehmung eine neutrale Rolle spielt. Wir sind zu denken gewohnt, daß die Sprache das Denken "ausdrückt" und daß sie "widerspiegelt", was wir sehen. Wir wissen jetzt, daß dieser Glaube naiv und vereinfachend ist; daß der Sprachverwendungsprozeß sich in allen unseren Versuchen der Beurteilung von Wirklichkeit auswirkt.

Wie Untersuchungen über die Wahrnehmung zeigen, "nehmen" wir nicht Bedeutungen von Gegenständen "auf", sondern schreiben ihnen Bedeutungen zu. Außerdem wächst die Einsicht, daß die von uns zugeschriebenen Bedeutungen von den Mustern oder Systemen der Symbole abhängig sind, mit denen wir alles, womit wir uns befassen, einordnen und miteinander in Beziehung bringen. Nichts in der Außenwelt ist etwas, bevor wir es zu etwas machen, und dann "ist" es das, was wir jeweils draus machen. Der Großteil dieser Tätigkeit des "Machens von etwas" besteht darin, Gegenstände zu benennen.

KORZYBSKI erinnerte uns daran, daß alles, was wir von einem Gegenstand sagen, nicht der Gegenstand selber ist. In einem gewissen Sinne ist jedoch jeder Gegenstand das, was wir von ihm sagen. Weil wir von ihm prädizieren (vorausbestimmen) oder weil er benannt worden ist, nehmen wir ihn als solchen wahr. Anders gesagt, wenn wir einmal Momentaufnahmen von den Bewegungen gemacht haben, aus denen das Universum besteht, dann werden diese Momentaufnahmen zu unserer Wirklichkeit. Oder stimmt es etwa nicht, daß wir glauben, die Zeit bestehe aus einer Vergangenheit, einer Gegenwart und einer Zukunft? Oder daß die Zeit aufgeteilt ist in Einheiten von Tagen, Monaten und Jahren? Daß die Welt aus getrennten Stücken von Gegenständen zusammengesetzt ist? Daß Gegenstände inhärente Eigenschaften besitzen? Daß ein Gegenstand entweder A oder nicht A ist, nie beides zugleich?

Solche Glaubenssätze sind, wie wir jetzt wissen, Folgerungen aus unserem Sprachsystem, aus unserer Methode der Kodifizierung von Realität, und sie können eine mehr oder weniger große Ähnlichkeit mit den Vorgängen in der Außenwelt haben.

Unser bevorzugtes Beispiel für das Ausmaß, in dem die Menschen über die Rolle der Sprache bei der Beurteilung der Wirklichkeit im Unklaren sein können, stammt aus dem Jahr 1752, als die britische Regierung eine Kalenderreform durchführte. Die Messung machte es notwendig, den 2.September jenes Jahres als den 14. zu datieren. Viele Menschen stellten sich daraufhin vor, sie seien um elf Tage ihres Lebens gebracht worden. Ihre Verwirrung war vergleichbar mit der jenes Mannes, der auf die Auskunft, es sei draußen 32 Grad, sagte: "Kein Wunder, daß es so heiß ist."

Ein allgemeineres Beispiel dafür, wie unsere Sprachgewohnheiten Wahrnehmungen produzieren, ist der Vorgang, den wir "Projektion" nennen. "Projektion", wie der Ausdruck von Semantikern wie KORZYBSKI und HAYAKAWA verwendet wird, bedeutet, daß wir unsere eigenen Gefühle und Wertungen auf Gegenstände in der Außenwelt übertragen. Wir sagen zum Beispiel: "John ist dumm", oder "Helen ist klug", so als ob "Dummheit" und "Klugheit" Eigenschaften von John und Helen wären. Eine wörtliche Übersetzung von "John ist dumm" (das heißt die am meisten wissenschaftliche Bedeutung des Satzes) könnte etwa so lauten: "Wenn ich das Verhalten von John wahrnehme, bin ich enttäuscht, beunruhigt oder frustriert oder angewidert. Den Satz, den ich verwende, um  meine  Wahrnehmungen und die Bewertung dieser Ereignisse auszudrücken ist  John ist dumm ."

Wenn wir sagen "John ist dumm", reden wir viel mehr über uns selbst als über John. Gleichwohl wird diese Tatsache in der Aussage überhaupt nicht wiedergegeben. Das  Ich  - die Beteiligung des Beobachters - ist durch eine grammatische Besonderheit ausgeschaltet worden. Die Grammatik hat uns gezwungen, unsere Gefühle zu "objektivieren", sie auf etwas in der Außenwelt zu projezieren. "Dummheit" ist eine grammatische Kategorie. Sie existiert nicht in der Natur. Und doch stellen wir sie uns so vor, weil unsere Sprache sie dorthin versetzt hat.

Diese Auffassung von Sprache und Wirklichkeit ist gelegentlich als "Sapir/ -Hypothese" bezeichnet worden. Man bezieht sich dabei auf Edward Sapir und seinen Schüler BENJAMIN LEE WHORF, beides Anthropologen mit besonderem Interesse für die Funktionsweisen von Sprache. Ihre Untersuchungen der Sprachsysteme verschiedener Kulturen führte sie zu dem Schluß (Whorf eher als Sapir), daß jede Sprache - sowohl ihre Struktur, als auch ihr Lexikon - eine einmalige Art der Wahrnehmung von Wirklichkeit darstellt.

Sie waren der Ansicht, daß wir sozusagen in einem sprachlichen Gehäuse gefangen sind. Wir versuchen das, was außerhalb des Gehäuses liegt, von unserer Position darin einzuschätzen. Das Gehäuse ist jedoch eigenartig geformt (und niemand weiß genau, wie eine  normale  Form aussehen würde). Es gibt nur eine beschränkte Zahl von Fenstern. Die Scheiben sind gefärbt und unregelmäßig angeordnet. Es gibt nichts anderes zu sehen als das, was die Struktur des Gehäuses uns zu sehen gestattet.

Zweifellos werden Sie erkennen, daß die Sapir/Whorf-Hypothese (manchmal auch Sapir/Whorf/Korzybski-Hypothese genannt) eine Reformulierung des Satzes "Das Medium ist die Botschaft" darstellt, da sie beansprucht, daß das Medium (in diesem Fall die eigene Sprache) nicht nur das strukturiert, was man sieht und glaubt, sondern daß es in Wirklichkeit untrennbar ist von dem was man sieht und glaubt. Diese Auffassung von der Rolle der Sprache bei der Wahrnehmung ist deshalb eine Hypothese genannt worden, weil es äußerst schwierig ist, genaue Experimente durchzuführen, die sie entweder "beweisen" oder "widerlegen" könnten.

Gleichwohl hat diese Hypothese in fast jedem Gebiet der Wissenschaft - zum Beispiel in der Physik, Linguistik, Philosophie, Psychologie, Medizin - Aufnahme gefunden. Tatsächlich können wir uns auf sie als "Sapir/ Whorf/ Korzybski/ Ames/ Einstein/ Heisenberg/ Wittgenstein/ McLuhan/ Et.al.-Hypothese" berufen. Für diejenigen unter Ihnen, die sich besonders für das "Et.al." interessieren, haben wir diesem Kapitel einen Anhang beigefügt, der ausschließlich aus Zitaten von Autoren besteht, die - in Vergangenheit und Gegenwart - in unterschiedlichem Maße die Ansicht vertreten, daß Sprache nicht nur ein  Vehikel  des Ausdrucks, sondern zugleich auch dessen  Fahrer  ist und daß alles, was wir wahrnehmen und damit auch lernen können, eine Funktion unseres Sprachverwendungsprozesses ist.

Die Zitate wollen folgendes besagen: In der neuen Pädagogik nimmt die Sprache eine Bedeutung an, die sie im bisherigen pädagogischen Denken nicht gehabt hat. Man müßte bis auf das Trivium (Grammatik, Logik und Rhetorik) zurückgehen, um einen Vergleich zu finden. Wir möchten vorschlagen, noch weiter zurückzugehen.

Einmal sind wir in der Lage, zu verstehen, daß alles Sprache ist, was gemeinhin "Wissen" genannt wird. Das heißt, der Schlüssel zum Verständnis eines "Faches" ist das Verständnis seiner Sprache. In Wirklichkeit ist diese Ausdrucksweise etwas umständlich, da sie impliziert, es gebe einen Gegenstand, den man "Fach" nennt und der eine "Sprache" enthält. Genauer müßte man sagen, daß das, was wir ein "Fach" nennen, seine Sprache  ist . Eine "Disziplin" ist eine Art des Wissens, und was jeweils gewußt wird, ist von den Symbolen (meist Wörter), in denen das Wissen kodifiziert ist, nicht zu trennen.

Was ist z.B. "Biologie" anderes als Wörter? Würde man alle Wörter, die die Biologen verwenden, aus der Sprache entfernen, gäbe es keine Biologie mehr. Es sei denn, neue Wörter würden erfunden. Dann hätten wir eine neue "Biologie". Was ist "Geschichte" anderes als Wörter? Oder Astronomie oder Physik? Wenn man die Bedeutungen der "Wörter der Geschichte" oder der "Wörter der Astronomie" nicht kennt, dann kennt man die Geschichte der Astronomie nicht.

Das bedeutet natürlich, daß jeder Lehrer ein Sprachlehrer ist. Wir meinen das natürlich nicht in dem Sinn wie ein Rektor, der seine Mathematik-, Sozialkunde- und Naturwissenschaftslehrer daran erinnert, daß sie auch Lehrer ihrer Muttersprache sind. Der Rektor meint dabei nur, daß jeder Lehrer bei den schriftlichen Arbeiten der Schüler auf Rechtschreibung, Interpunktion und Grammatik zu achten habe. Wir sind der Ansicht, daß Biologie-, Mathematik- und Geschichtslehrer im wahrsten Sinne nichts anderes zu unterrichten haben, als eine Art der Rede und damit eine Art der Weltauffassung. Das "neue Englisch", die "neue Mathematik" und die "neue Sozialkunde" sind neue Sprachen. Eine neue Sprache bedeutet aber auch neue Wahrnehmungsmöglichkeiten.

Aus diesem Grund muß die neue Pädagogik nicht nur den Schüler und die Fragemethode, sondern auch die Sprache in den Mittelpunkt stellen. Selbst auf die Gefahr hin, an dieser Stelle zu ausführlich zu werden, müssen wir sagen, daß wir mit dieser Orientierung an der Sprache nicht das verstehen, was die Englischlehrer gewöhnlich verstehen wollen: anstelle der Literatur sollen im Unterricht vielmehr Grammatik, Sprachgeschichte und regionale Dialekte behandelt werden. Vielleicht haben Sie bemerkt, daß wir gegen die Englischlehrer eine besondere Abneigung haben. Der Grund dafür ist ihre unaufhörliche Verharmlosung des Sprachunterrichts in der Schule.

Außer den Delphinen ist der Mensch das einzige Lebewesen auf dem Planeten, das Sprache verwendet. Was ist daraus zu schließen? Für die "schlechtesten" Englischlehrer hat es bedeutet, Satzanalyse, Elemente der Rede, den Unterschied zwischen "wem" und "wer" und "Shakespeare" zu unterrichten; für die "besten" stattdessen Aufsatz, Sprachgeschichte, moderne Literatur und neue Grammatiken. Alle diese Ansätze, die schlechtesten wie die besten, könnte man insgesamt als kosmetischen Ansatz bezeichnen; eine Auffassung, die die Sprache primär als ein Element vertikaler sozialer Mobilität betrachtet.

Man findet beinahe nirgends die Auffassung, daß Sprache als ein  zentraler Faktor in der Herstellung von Wahrnehmungen, Urteilen, Wissen und Institutionen  zu untersuchen ist. Die neue Pädagogik schlägt ein solches Sprachstudium vor, wie es von I.A. RICHARDS im folgenden Zitat aus 'Interpretation in Teaching' angedeutet wurde:
Es gibt triviale Arten des Sprachstudiums, die mit dem Leben nichts zu tun haben und die wir aus der Schule entfernen müssen. Ein tieferes und gründlicheres Studium unserer Sprachverwendung ist an jedem Punkt ein Studium unserer Lebensweisen. Es berührt alle Formen interpretierender Tätigkeit - in Techniken und im gesellschaftlichen Verkehr - von denen die Zivilisation abhängig ist.
Im restlichen Teil dieses Kapitels möchten wir einige Begriffe und Strategien andeuten, die ein "gründliches Sprachstudium" in der Schule beinhalten würden. Wir brauchen kaum zu sagen, daß ein solches Studiums nicht auf die "Englisch-Stunde" beschränkt bleibt. Da die "Englisch"-Stunden im allgemeinen mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben, ist es sehr unwahrscheinlich, daß in ihnen sinnvolle Untersuchungen über Sprache und Wirklichkeit stattfinden können. Wie WENDELL JOHNSON sagte, kann man nicht das Schreiben schreiben. Man muß 'über etwas' schreiben. Das gleiche gilt für das Sprechen, Zuhören, Lesen, Fragen; kurz, für alle Formen der Sprachverwendung.

Das sinnvolle Studium der Sprache muß sich also mit der Beziehung zwischen Sprache und Wirklichkeit befassen, sei das "Fach" nun Geschichte, Politik, Biologie, Religion, Krieg oder etwas anderes. Auf diese Weise kann der Schüler Maßstäbe zu entwickeln beginnen, an denen er den Wert seiner eigenen und fremder Wahrnehmung messen kann.

Wie Richards zeigt, ist das Studium der Sprache zugleich das Studium unserer Lebensweisen, das heißt, das Studium unserer Weisen der Wahrnehmung von Wirklichkeit. Selbst wenn vorausgesetzt wird, daß alle Wahrnehmungen eines einzelnen einmalig sind, müssen wir wissen können, ob die Aussagen des einen über die Welt "besser" sind als die eines anderen. Wir brauchen Kriterien für die Differenz zwischen einem Geisteskranken und einem Wissenschaftler und für die Unterscheidung aller dazwischenliegenden Möglichkeiten. Wir brauchen Methoden, mit denen wir eine "gute" Antwort von einer "schlechten" und eine brauchbare Lösung von einer mißglückten unterscheiden können. Das ist im Grunde das Geschäft eines kompetenten Schunddetektor in unserer Zeit. Wir beziehen uns hier auf ALFRED KORZYBSKI.

KORZYBSKI war ein in Polen geborener Ingenieur. Seine Erfahrungen im ersten Weltkrieg wurden ausschlaggebend für den Versuch, die Grundlagen für eine "Wissenschaft vom Menschen" zu legen. Sein Hauptinteresse galt von Anfang an der Rolle der Sprache in der Gesellschaft und der durch sie gegebenen Möglichkeit des Menschen, "Zeit festzuhalten", während sie ihn für die eigene Zeit blind macht.

Mit seiner Publikation 'Science and Sanity' stellte er die von ihm sogenannte "Wissenschaft von der Allgemeinen Semantik" vor. Er war davon überzeugt, daß der unwissenschaftliche Sprachgebrauch den Menschen immer mehr von der Realität loslöste und damit seine Lebensaussichten verringerte. Deshalb entwickelte er ein System von Sprachstrategien, die beim Sprecher das Bewußtsein davon aufrechterhalten sollen, in welchem Grade seine Sprache mit etwas sinnlich Verifizierbarem übereinstimmt oder nicht. In gewisser Weise kann man jede wissenschaftliche Tätigkeit im Sinne KORZYBSKIs als eine "semantische Verifikation" auffassen. Als Erweiterung und Verfeinerung der menschlichen Wahrnehmung von "Realität" fordert die Wissenschaft uns dazu auf, über die Vorgänge um uns anders zu reden und damit anders zu denken. Diese Redeweisen haben vor allem denen viel Mühe gemacht, die sich in bestimmte Wörter und Wortkombinationen (Ideen) verliebt hatten. Die Geschichte der Wissenschaft ist eine Chronik der unglückseligen Reaktionen, die dann auftraten, wenn jemand irgendwo und irgendwann darauf hinwies, daß alles Unsinn gewesen war, was bis zu jenem Zeitpunkt von jedermann behauptet und geglaubt wurde.

Bevor wir auf die wichtigsten Begriffe KORZYBSKIs eingehen, müssen wir erwähnen, daß KORZYBSKI die Einsicht McLUHANs, das Medium sei die Botschaft, um viele Jahre vorweg genommen hatte. KORZYBSKI ging von der Feststellung aus, daß ein Wort nicht der damit benannte Gegenstand selber ist und daß alles, was wir von einem Gegenstand sagen, nicht der Gegenstand ist. Er untersuchte die Wirkungen der Projektion und ihre unterschiedlichen und unbewußten Anwendungen. Daraus leitete er ab, daß die Form der Sprache ihr entscheidender Inhalt ist. Er hob hervor, daß es die Form unserer Äußerungen ist, die auf uns einwirkt und die uns "massiert", und zwar umso mehr, je weniger wir uns darüber bewußt sind.

Die Sprache ist die dunkelste und vielleicht am schwierigsten zu erkennende Umwelt. Wie KORZYBSKI feststellte, ist der Unterschied zwischen den Sätzen "John ist dumm" und "John ist klug" eine weniger wichtige Botschaft als die in der Form der Botschaft selber enthaltene, daß nämlich "Dummheit" oder "Klugheit" eine Eigenschaft von John sei. Wäre KORZYBSKI ein ebenso gewandter Wortspieler wie Mc LUHAN gewesen, dann hätte er vielleicht einen stärkeren Einfluß auf die Intellektuellen ausgeübt. Bei ihm nimmt das Sprachspiel die Form solcher Äußerungen an: "Kategorisches und dogmatisches Denken ist Katzen und Hunden eher angemessen als menschlichen Wesen."

Was die Pädagogik betrifft, so haben KORZYBSKI und Mc LUHAN (und AMES, RICHARDS, WIENER, HEISENBERG, EINSTEIN et.al) alle ungefähr die gleiche Wirkung gehabt: keine. Im Falle KORZYBSKIs ist dies besonders ärgerlich, da er mehr als alle anderen, mit Ausnahme von DEWEY, ein ausgesprochener Pädagoge war. Seine Allgemeine Semantik ist ein Nacherziehungssystem, dessen Zweck darin besteht, die Menschen in den Sprachgebrauch einzuüben, den die Wissenschaftler bei ihrer Arbeit pflegen. Dies wird durch die Anwendung verschiedener Taktiken erreicht, die darauf ausgerichtet sind, die Wirkungen des Sprachverwendungsprozesses bewußt zu machen und dieses Bewußtsein relativ konstant zu halten.

Welches sind nun die spezifischen Formen des Bewußtseins, die KORZYBSKI zu entwickeln versucht?

Die erste und vielleicht wichtigste ist das Bewußtsein, daß Bedeutung nicht  im  Wort liegt. Bedeutungen liegen bei den Menschen, und alle Bedeutungen, die die Wörter jeweils haben, werden ihnen von den Menschen zugeordnet oder zugeschrieben. Wir haben auf diese Konzeption bereits unter der Bezeichnung "Projektion" hingewiesen. Es gilt dabei zu erkennen, daß die Menschen keine Bedeutungen geben, zuordnen oder zuschreiben können, die sie nicht vorher in ihrer Erfahrung gewonnen haben. Offensichtlich ist ein Wort und sein Bezug "bedeutungslos", wenn es die Erfahrung eines Individuums übersteigt. Die Rede darüber, was Wörter bedeuten, anstelle der Rede darüber, was Menschen bedeuten, verdunkelt die Beziehung zwischen Sprache und Wirklichkeit, statt sie zu klären.

Eine zweite Einsicht, die eng mit der ersten zusammenhängt, ist die, daß Wörter nicht das sind, worauf sie sich scheinbar beziehen; anders gesagt: "Das Wort ist nicht der Gegenstand". Diese Feststellung scheint so  selbstverständlich , daß ihre Erwähnung überflüssig sein mag. (Denken Sie jedoch immer daran, daß die Analyse des Selbstverständlichen - wie WHITEHEAD zeigte - einige der außergewöhnlichsten intellektuellen Leistungen des Menschen hervorgebracht hat.)

Offenbar ist einer der primitivsten Züge des Menschen der, daß er auf die von ihm erfundenen Symbole so reagiert, als ob sie in Wirklichkeit das wären, was er ihnen als Symbolbedeutung zugeordnet hat. Die Wörter nehmen sozusagen ein Eigenleben an und können noch wichtiger werden als die Realität, die sie kodifizieren sollen. Ein besonders interessantes Beispiel dafür findet man etwa in den üblichen Reaktionen der amerikanischen Postverwaltung - die offizielle Zensur für Gedrucktes - auf "obszöne Wörter".

Die Beamten der Post wenden sich selten oder gar nicht gegen die Beschreibung von sexuellen Tätigkeiten, vorausgesetzt daß der Autor dabei eine bestimmte Menge verbaler Symbole benützt. Hat er jedoch für die Beschreibung der gleichen Tätigkeiten "obszöne Wörter" gewählt, dann kann es geschehen, daß er vor Gericht und vielleicht sogar ins Gefängnis kommt. Nicht das beschriebene Ereignis selbst beschäftigt die Postverwaltung, sondern die Wörter.

Die oben beschriebenen zwei Arten des "semantischen Bewußtseins" stellen die Grundlage dafür dar, was man das "Bewußtsein des Abstraktionsprozesses" nennen kann. Das heißt das Bewußtsein der Tatsachen, daß wir aus einem praktisch unendlichen Universum von Dingen, denen wir unsere Aufmerksamkeit zuwenden können, nur bestimmte Ausschnitte abstrahieren und daß sich diese Ausschnitte als diejenigen erweisen, für die wir verbale Etiketten oder Kategorien haben. Was wir abstrahieren, d.h. "sehen", und wie wir dies abstrahieren, sehen oder darüber denken, ist für alle praktischen Zwecke untrennbar davon, wie wir darüber reden. Das ist der gemeinsame Nenner aller im Anhang abgedruckten Zitate.

Eine dritte Art des semantischen Bewußtseins besteht in der Erweiterung des Bewußtseins von der Abstraktion, das heißt ein Bewußtsein von verschiedenen Graden der Abstraktion. Wörter verändern sich in dem Maße, in dem sie mit verifizierbaren Bezügen übereinstimmen. Einige Wörter sind relativ abstrakt oder allgemein; andere mehr konkret und spezifisch. Damit hängt die vierte Art des semantischen Bewußtseins zusammen: die "Bedeutungsrichtung".

Mit zunehmendem Abstraktionsgrad oder Allgemeinheitsgrad der Wörter (d.h. der von operational verifizierbaren Bezügen weiter entfernten Wörter) ändert sich die Bedeutungsrichtung der Wörter entsprechend von "außen" nach "innen" (und umgekehrt). Die konventionellen semantischen Bezeichnungen für diese Richtungen heißen  intensional  und  extensional . Eng verbunden mit diesen Bedeutungsrichtungen sind natürlich unterschiedliche Bedeutungsarten. Die primäre semantische Unterscheidung bezüglich der Bedeutung ist die zwischen  Konnotation  (intensionale, subjektive, persönliche Bedeutung) und  Denotation  (extensionale, objektive, gesellschaftliche Bedeutung).

Wissenschaftliche Sprache, wie sie KORZYBSKI als Modell für vernünftige Sprache benutzte, ist fast ausschließlich extensional und denotativ, d.h. sie versucht es zumindest zu sein. Die Sprache von Geisteskranken, die am deutlichsten "un-vernünftige" Sprache, ist fast völlig intensional und konnotativ. Es ist eine Sprache, die fast keinen Bezug auf die Außenwelt hat. Das ist der Grund für die Art (und vielleicht auch für die Ursache) der Geisteskrankheit des Sprechers. KORZYBSKIs Interesse an der Aufrechterhaltung einer bewußten "Verbindung" oder Korrespondenz zwischen Sprache und verifizierbaren Bezügen (referents) entspricht in allen praktischen Zielen dem Vorgang der Psychotherapie.

In diesem Vorgang, bei dem zum größten Teil "nur geredet" wird, besteht das Ziel darin, engere und genauere Beziehungen zwischen der Sprache des Patienten und den extern verifizierbaren Bedeutungen herzustellen. Oder wie es der Semantiker ausdrücken würde: der Prozeß der Psychotherapie zielt darauf ab, beim Patienten die Wahl von Wörtern mit hoch intensionalen und konnotativen Bedeutungen der Wahl von Wörtern mit mehr denotativen Bedeutungen zu verändern. Ein Mensch, der an paranoider Schizophrenie leidet, kann ein völlig "korrektes" Englisch in perfekt "logischer" Weise gebrauchen; das Problem seiner Sprache besteht jedoch darin, daß sie sich nicht auf die "Außenwelt" bezieht.

Darauf gründet die Behauptung des Semantikers, daß  Vernünftigkeit  durch die Qualität der Beziehung zwischen Sprache und externen verifizierbaren Gegenständen bestimmt ist.
LITERATUR - Neil Postman / Charles Weingartner, Sprachverwendung in dies. "Fragen und Lernen" - Die Schule als kritische Anstalt, Frankfurt/Main 1972 (Titel der Originalausgabe: Teaching as an Subversive Activity)