tb-2cr-2J. JeansR. AvenariusC. GöringE. Boutroux    
    
 
HANS REICHENBACH
Der Aufstieg der
wissenschaftlichen Philosophie

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"Das Geheimnis der Entdeckung ist das Geheimnis der richtigen Verallgemeinerung. Unwesentliche Eigenschaften, wie z. B. die Form oder die Größe eines bestimmten Holzstückes, werden bei den Verallgemeinerungen außer acht gelassen; aber wesentliche Eigenschaften, wie die Trockenheit des Holzes, sind einzuschließen. Auf diese Weise kann man den Ausdruck  wesentlich  definieren: wesentlich ist, was in einer gültigen Verallgemeinerung genannt werden muß. Die Unterscheidung zwischen wesentlichen und unwesentlichen Faktoren ist der Anfang der Erkenntnis."

Vorwort

Es ist ein weitverbreiteter Glaube, daß Philosophie und Spekulation unzertrennlich sind. Man ist der Ansicht, daß dem Philosophen keine Methoden zur Verfügung stehen, die zu objektiver Wahrheit führen, daß also die Wahrheit von Beobachtungstatsachen ebenso wie die Wahrheit rein logischer Gedankengänge nicht in sein Gebiet fällt und daß er deshalb eine unverifizierbare Sprache benutzen muß - kurz, daß die Philosophie mit Wissenschaft nichts zu tun hat. Das vorliegende Buch ist in der Absicht geschrieben, eine entgegengesetzte Auffassung zu begründen. Es vertritt die Ansicht, daß philosophische Spekulation eine vorübergehende Phase bedeutet, die nur dann entsteht, wenn philosophische Fragen zu einer Zeit gestellt werden, welche noch nicht über die logischen Mittel zu ihrer Beantwortung verfügt. Es behauptet, daß es eine wissenschaftliche Einstellung in der Philosophie gibt und immer gegeben hat und will zeigen, wie aus dieser Einstellung eine wissenschaftliche Philosophie entsprungen ist, welche in der modernen Wissenschaft das Handwerkszeug dazu gefunden hat, Probleme zu lösen, die in vergangenen Zeiten das Opfer blinden Ratens geworden waren. Das Buch will den Beweis dafür erbringen, daß Philosophie und Spekulation entwachsen und zur Wissenschaft geworden ist.

Ein solches Buch wird sich notwendigerweise mit älteren Phasen der Philosophie kritisch auseinandersetzen müssen und der erste Teil des Buches beschäftigt sich daher mit einer Untersuchung über die Unzulänglichkeiten der traditionellen Philosophie. Diesem Teil ist die Aufgabe zugefallen, die psychologischen Wurzeln bloßzulegen, aus denen die spekulative Philosophie erwachsen ist; die Darstellung richtet sich also gegen Vorurteile, welche BACON "Idole des Theaters" genannt hat. Die Macht dieser Idole, nämlich der traditionellen philosophischen Systeme, ist immer noch groß genug, um 300 Jahre nach BACON von neuem zu ihrer Kritik herauszufordern. Der zweite Teil des Buches enthält eine Darstellung der modernen wissenschaftlichen Philosophie und versucht, die philosophischen Resultate zusammenzufassen, die sich aus der Analyse der modernen Wissenschaft und der Erfindung der symbolischen Logik ergeben haben.

Obgleich das Buch von philosophischen Systemen und wissenschaftlichen Gedankengängen handelt, ist es doch nicht unter der Voraussetzung geschrieben, daß der Leser Spezialkenntnisse auf diesen Gebieten besitzt. Philosophische Begriffe und Lehren werden immer erst erklärt, ehe sie zum Gegenstand einer Kritik gemacht werden. Und obwohl das Buch logische Untersuchungen über die heutige Mathematik und Physik enthält, verlangt es nicht, daß der Leser selbst Mathematiker oder Physiker ist . Jeder, der genug gesunden Menschenverstand besitzt, um mehr lernen zu wollen, als ihn der gesunde Menschenverstand lehren kann, ist in der Lage, den Auseinandersetzungen des Buches zu folgen.

Das Buch kann zu einer Einführung in die Philosophie, besonders in die wissenschaftliche Philosophie, benutzt werden. Es ist aber nicht als eine sogenannte "objektive" Darstellung des traditionellen philosophischen Materials gedacht. Es wird niemals der Versuch gemacht, die philosophischen Systeme in dem Bemühen zu deuten, in jeder Philosophie ein Stück Wahrheit zu finden und dem Leser den Glauben einzuflößen, daß jede philosophische Lehre verstanden werden kann. Wenn Philosophie in diesem Sinne gelehrt wird, kann sie sich keinen allzug großen Erfolg versprechen. Viele, die einmal die Absicht hatten, Philosophie aufgrund angeblich objektiver Darstellungen zu studieren, haben gemerkt, daß ihne eine Menge philosophische Lehren für immer unverständlich geblieben sind. Andere haben versucht, philosophische Systeme so gut es ging zu verstehen und philosophische Resultate mit denen der Wissenschaft zu verbinden, haben aber bald entdeck, daß es ihnen nicht gelingen wollte, Philosophie und Wissenschaft zu vereinigen. Wenn aber die Philosophie dem unvoreingenommenen Leser unverständlich bleibt und mit der modernen Wissenschaft nicht in Einklang zu bringen ist, dann muß die Schuld beim Philosophen liegen. Er hat zu oft die Wahrheit dem Verlangen geopfert, um jeden Preis eine Antwort zu geben; und statt seine Probleme klar zu formulieren, ist er der Versuchung erlegen, in Bildern zu sprechen. Daher fehlt seiner Sprache die Schärfe, welche den Wissenschaftler wie ein Kompaß davor bewahrt hat, an den Klippen des Irrtums zu scheitern. Wenn eine Darstellung der Philosophie objektiv sein soll, dann sollte sich diese Objektivität eher in den Wertmaßstäben der Kritik ausdrücken als in Zugeständnissen an einen philosophischen Relativismus. In diesem Sinne sind die Untersuchungen des Buches objektiv. Sie sind für die große Anzahl derer geschrieben, die Bücher über Philosophie und Naturwissenschaft gelesen haben und unbefriedigt geblieben sind; die versucht haben, Klarheit zu finden, aber mit einer Flut von Worten überschwemmt worden sind und die trotzdem die Hoffnung nicht aufgegeben haben, daß die Philosophie eines Tages so widerspruchsfrei und erfolgreich werden würde, wie es die Wissenschaft heute schon ist.

Es ist leider nicht überall bekannt, daß eine solche wissenschaftliche Philosophie schon existiert. Als Überbleibsel der spekulativen Philosophie hängt noch immer ein Nebel über den Ergebnissen philosophischer Forschung und verhüllt sie vor den Augen derer, die keine Ausbildung in den Methoden logischer Analyse genossen haben. Die vorliegende Darstellung wurde in der Hoffnung unternommen, daß sich dieser Nebel in der frischen Luft klarer Formulierungen verflüchtigen wird. Das Buch möchte die Wurzeln philosophischer Irrtümer aufdecken und den Nachweis erbringen, daß die Philosophie den Schritt vom Irrtum zur Wahrheit gemacht hat.
LITERATUR: Hans Reichenbach, Der Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie, Berlin 1951