ra-2 Nicolai HartmannDie Zukunft des KapitalismusWerttheorie und Ethik    
 
MAX SCHELER
Der Formalismus in der Ethik
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"Phänomenologische Erfahrung in diesem Sinne kann durch  zwei  Merkmale noch scharf geschieden werden von aller andersartigen Erfahrung, z. B. der Erfahrung der natürlichen Weltanschauung und der Wissenschaft. Sie allein gibt die Tatsachen  selber  und daher unmittelbar, d. h. nicht vermittelt durch Symbole, Zeichen, Anweisungen irgendwelcher Art. So z. B. ist ein bestimmtes Rot auf die mannigfaltigste Weise zu  bestimmen.  Zum Beispiel als  die  Farbe, die das Wort  Rot  bezeichnet, als Farbe  dieses  Dinges oder dieser bestimmten Oberfläche; als in einer bestimmten Ordnung, z. B. des Farbenkegels, bestimmt; als die Farbe, die  ich eben sehe;  als die Farbe dieser Schwingungszahl und Form usw. Sie erscheint hier überall gleichsam als das  X  einer Gleichung oder als das einen Bedingungszusammenhang erfüllende  X.  Die  phänomenologische  Erfahrung aber ist diejenige, in der die jeweilige  Gesamtheit  dieser Zeichen, Anweisungen, Bestimmungsarten ihre  letzte  Erfüllung finden. Sie allein gibt das  Rot selbst.  Sie macht aus dem  X  einen  Tatbestand der Anschauung.  Sie ist gleichsam die  Einlösung  aller Wechsel, welche die sonstige  Erfahrung  zieht. Wir können also auch sagen: alle  nicht phänomenologische Erfahrung ist prinzipiell Erfahrung durch oder vermittelt irgendwelcher  Symbole,  und insofern  mittelbare  Erfahrung, die niemals die Sachen  selbst  gibt. Nur die phänomenologische Erfahrung ist prinzipiell  asymbolisch  und eben darum fähig,  alle  nur möglichen Symbole zu erfüllen."

II. Formalismus und Apriorismus

Wie KANT mit vollem Recht jede Güter- und Zweckethik verwirft, so verwirft er auch mit vollem  Recht  jede Ethik, die ihre Resultate auf  induktive  Erfahrung - heiße sie historisch, psychologisch oder biologisch - aufbauen möchte. Alle Erfahrung über  Gut  und  Böse  in diesem Sinne setzt die Wesnserkenntnis, was gut und  böse sei, voraus.  Auch wenn ich frage,  was  Menschen hier und dort für gut böse hielten, wie diese Meinungen entstanden seien, wie sittliche Einsicht zu wecken sei und durch welche Systeme von Mitteln sich der gute und böse Wille als wirksam erweise, so sind alle diese Fragen, die nur durch Erfahrung im Sinne der "Induktion" zu entscheiden sind, überhaupt nur  sinnvoll,  sofern es ethische Wesenserkenntnis überhaupt gibt. Auch der Hedonismus und der Utilismus hat seinen Satz, daß gut die größte Summe der Luft oder der Gesamtnutzen sei,  nicht aus der "Erfahrung",  sondern muß für ihn  intuitive Evidenz  in Anspruch nehmen - so er sich selbst richtig versteht. Er mag dann durch Induktion beweisen, daß die  faktischen  menschlichen Werturteile über Gut und Böse mit dem, was nützlich und schädlich ist (je nach der Stufe der Kausalerkenntnis), faktisch zusammentreffen; insofern er dies tut, mag er eine Theorie der jeweilig "geltenden Sittlichkeit" zu geben suchen; aber dies ist nicht die Aufgabe der Ethik. Denn diese sucht nicht verständlich zu machen, was als gut und böse in "sozialer Geltung" steht, sondern was gut und böse  ist. Nicht  um die  sozialen Werturteile  hinsichtlich des Guten und Bösen, sondern um die Wert materie  "gut" und "böse" selbst handelt es sich bei ihr; nicht um die Urteile, sondern um das,  was  sie meinen und worauf sie abzielen. Ob das soziale Werturteil  überhaupt  sittliche Intention vorausgesetzt. Daß die sozialen sittlichen Werturteile aber z. B. das Nützliche und Schädliche "meinen", das wird auch kein Utilismus je behaupten dürfen. Geht er aber außerdem noch weiter und unterwirft die Moral des "gesunden Menschenverstandes" einer  Kritik,  so muß er sich erst recht auf eine intuitive Einsicht stützen, daß z. B. Nutzen der höchste Wert sei.

Die Unabhängigkeit der ethischen Einsicht von der Erfahrung im Sinne der "Induktion" hat nicht etwa bloß darin ihre Wurzel, daß - wie KANT sagt - das "Gute sein soll", gleichgültig ob je gut gehandelt wurde oder nicht. So richtig dieser Satz ist, so gibt er doch nicht den  Grund  an, warum hier die Erfahrung die "Mutter des Scheins" ist. Denn daß in diesem Sinne die "Erfahrung", nämlich die Erfahrung von den wirklichen Handlungen (wie sie die Sittengeschichte berichtet), niemals bestimmen könne, was sein "soll", das gälte auch dann, wenn die Aufsuchung dessen, was sein "soll", insofern doch der (induktiven) Erfahrung verdankt würde, daß es aus dem als gut (bzw. als "gesollt") und schlecht "Geltenden", d. h. den  erfahrenen  Wert urteilen  oder Sollens urteilen  zu gewinnen wäre. Aber eben auch in diesem Sinne beruth es  nicht  auf Erfahrung, zu finden, was gut schlecht ist. Auch wenn niemals  geurteilt  worden wäre, daß der Mord böse ist, bliebe er doch böse. Auch wenn das Gute nie als "gut" "gegolten" hätte, wäre es doch gut. (1) Nicht (wie es KANT darstellt) weil man das Sollen nie aus dem Sein "herausklauben" kann, sondern weil man das Sein der Werte nie aus irgendeiner Form des realen Seins (seien es reale Handlungen, Urteile, Sollenserlebnisse) herausklaben kann und  ihre  Qualitäten und Zusammenhänge unabhängig davon sind,  darum  ist Empirismus hier verfehlt.

Aber so richtig diese Behauptung KANTs ist, daß die ethischen Sätze "a priori" sein müssen, so schwankend und unbestimmt sind seine Aussagen darüber, wie dieses Apriori solle aufgewiesen werden. Der Weg, den er hierzu in der theoretischen Philosophie einschlägt, d. h. das Ausgehen von der Tatsache der mathematischen Naturwissenschaft bzw. der "Erfahrung" im Sinne der "Erfahrungswissenschaft", wird ausdrücklich zurückgewiesen. (2) Bald ist es dann die Analyse einzelner Beispiele des sittlichen Urteils des gesunden Menschenverstandes, den KANT in der Moral ebenso hoch preist, als er ihn in der Theorie der Erkenntnis zurückweist; (3) bald die Behauptung, das Sittengesetz sei ein "Faktum der reinen Vernunft", das einfach - ohne jede weitere Stütze auf etwas anderes - aufzuweisen sei, was diesen Weg darstellen soll. Aber so sehr diese letzte Behauptung ins Rechte weist: KANT vermag uns doch in keiner Weise zu zeigen, wie die "Fakten", auf die sich auch eine apriorische Ethik stützen muß - soll sie nicht eine leere Konstruktion sein -, sich von den Tatsachen der Beobachtung und Induktion scheiden, und wie sich ihre Feststellung von jenen Arten der Feststellung scheidet, die doch als Grundlage mit Recht zurückgewiesen sind. Was ist der Unterschied zwischen einem "Faktum der reinen Vernunft" und einem bloß psychologischen Faktum? Und wie kann ein "Gesetz" wie das "Sittengesetz" - und ein "Gesetz" soll ja der sittliche Fundamentaltatbestand nach KANT sein - ein "Faktum" genannt werden? Da KANT eine "phänomenologische Erfahrung", in der als Tatbestand der Anschauung aufgewiesen wird, was in der natürlichen und wissenschaftlichen Erfahrung bereits als "Form" oder "Voraussetzung" steckt, nicht kennt, so hat er auch auf diese Frage  keine  Antwort. Dadurch gewinnt hier in der Ethik sein Verfahren einen rein konstruktiven Charakter, den man seinem theoretischen Apriorismus nicht im selben Sinne vorwerfen kann. Dies kommt in Wendungen wie: das Sittengesetz entspringe einer "Selbstgesetzgebung der Vernunft" oder: die Vernunftperson sei der "Gesetzgeber" des "Sittengesetzes" - im Unterschied von "es sei das innere Funktionsgesetz des reinen Willens" oder der "Vernunft, als praktischer", in denen das Moment dieser konstruktiven Willkür  fehlt  - häufig zum Ausdruck. KANT sieht offenbar den  Tatsachen kreis nicht, auf den sich eine apriorische Ethik - wie jede Erkenntnis - zu stützen hat. (4)

Aber wie hätte KANT auch nur nach solchen "Tatsachen" richtig suchen können, da er es ja für einen Wesenszusammenhang hält: Nur eine  formale  Ethik könne jener richtigen Forderung, Ethik dürfe nicht induktiv sein, genügen. Es ist ja klar: Nur eine materiale Ethik wird sich - ernsthaft - auf  Tatsachen im Unterschied von Willkürkonstruktionen stützen können.

Es ist also die Frage: gibt es eine materiale Ethik, die gleichwohl "a priori" ist in dem Sinne, daß ihre Sätze evident sind und durch Beobachtung und Induktion weder nachweisbar noch widerlegbar? Gibt es materiale ethische Intuitionen?


A. Apriori und Formal überhaupt

Es ist auch nicht möglich, diese Frage für die Ethik aufzuwerfen, sofern nicht eine prinzipielle Verständigung erzielt ist, wie sich ein "apriorisches" Element des Seins und der Erkenntnis zum Begriff der "Form" und des "Formalen" überhaupt verhält. Sehen wir zunächst, was denn "Apriori" allein besagen darf und besagen soll.

1. Als "Apriori" bezeichnen wir alle jene idealen Bedeutungseinheiten und Sätze, die unter  Absehen  von jeder Art von Setzung der sie denkenden Subjekte und ihrer realen Naturbeschaffenheit und unter  Absehen  von jeder Art von Setzung eines Gegenstandes, auf den sie anwendbar wären, durch den Gehalt einer unmittelbaren Anschauung zur Selbstgegebenheit kommen. Also von jeder Art  Setzung  ist abzusehen. Sowohl von der Setzung: "Wirklich" wie "nichtwirklich", "Schein" oder "wirklich" usw. Auch wo wir uns z. B.  täuschen  in der Annahme, es sei etwas lebendig, da muß im Gehalt der Täuschung uns doch das anschauliche  Wesen  des "Lebens" gegeben sein. Nennen wir den Gehalt einer solchen "Anschauung" ein "Phänomen", so hat das "Phänomen" also mit "Erscheinung" (eines Realen) oder mit "Schein" nicht das  mindeste  zu tun. Anschauung aber solcher Art ist "Wesensschau" oder auch - wie wir sagen wollen - "phänomenologische Anschauung" oder "phänomenologische Erfahrung". Das "Was", das sie gibt, kann nicht mehr oder weniger gegeben sei - so wie wir einen Gegenstand genauer und weniger genau etwa "beobachten" können, oder bald diese, bald jene Züge seiner - sondern es ist entweder "erschaut" und damit "selbst" gegeben (restlos und ohne Abzug, weder durch ein "Bild" oder ein "Symbol" hindurch) oder es ist  nicht  "erschaut" und damit nicht gegeben. Eine Wesenheit oder Washeit ist hierbei als  solche  weder ein Allgemeines noch ein Individuelles. Das Wesen rot z. B. ist sowohl im Allgemeinbegriff rot, wie in jeder wahrnehmbaren Nuance dieser Farbe mitgegeben. Erst die Beziehung auf die Gegenstände, in denen eine Wesenheit in Erscheinung tritt, bringt den Unterschied ihrer allgemeinen oder individuellen Bedeutung hervor. So wird eine Wesenheit "allgemein", wenn sie identisch an einer Mehrheit sonst verschiedener Gegenstände in die Erscheinung tritt in der Form: alles, was dieses Wesen "hat" oder "trägt". Sie kann aber auch das Wesen eines  Individuum ausmachen, ohne dadurch aufzuhören, eine  Wesenheit  zu sein.

Wo immer wir nun solche Wesenheiten und Zusammenhänge zwischen ihnen (die der verschiedensten Art sein können, z. B. gegenseitig, einseitig, Widerstreite, Ordnungen nach höher und nieder, wie bei Werten) haben, da ist die  Wahrheit  der Sätze, die in ihnen Erfüllung finden, von der ganzen Sphäre dessen, was beobachtet, beschrieben, was durch induktive Erfahrung festgestellt werden kann und - selbstveständlich - von allem, was in eine mögliche Kausalerklärung eingehen kann,  völlig  unabhängig; es kann durch diese Art von "Erfahrung" weder verifiziert noch widerlegt werden. Oder auch: die Wesenheiten und ihre Zusammenhänge sind "vor" aller Erfahrung (dieser Art) oder auch apriori "gegeben", die  Sätze  aber, die in ihnen Erfüllung finden, a priori "wahr" (5). Nicht also an die  Sätze  (oder  gar  an die Urteilsakte, die ihnen entsprechen) ist das Apriori gebunden, etwa als  Form  dieser Sätze und Akte (d. h. an "Formen des Urteilens", aus denen KANT seine "Kategorien" als "Funktionsgesetze" des "Denkens" entwickelt); sondern es gehört durchaus zum "Gegebenen", zur  Tatsachen sphäre, und ein Satz ist nur insofern a priori wahr (bzw. falsch), als er sich in  solchen  "Tatsachen" erfüllt. Der "Begriff" Ding und die anschauliche "Dingheit", der Begriff Gleichheit und die anschauliche Gleichheit, bzw. das Gleichsein im Unterschied vom Ähnlichsein usw. sind scharf zu scheiden. (6)

Was als Wesen oder als ein solcher Zusammenhang erschaut ist, kann also durch Beobachtung und Induktion niemals aufgehoben, nie verbessert oder vervollkommnet werden. Wohl aber muß es in der gesamten Sphäre der außerphänomologischen Erfahrung - der natürlichen Weltanschauung und Wissenschaft -  erfüllt  bleiben und darin geachtet sein - sofern sein Gehalt nur richtig analysiert wird. Und durch keine "Organisation" der Träger der Akte kann es aufgehoben oder verändert werden.

Ja, es ist geradezu als eines der  Kritierien  für die  Wesens natur eines vorgegebenen Gehaltes anzusehen, daß sich im Versuch, ihn zu  "beobachten",  zeigt, daß wir ihn immer schon  erschaut  haben müssen, um der Beobachtung die gewünschte und vorausgesetzte  Richtung  zu geben; für "Wesenszusammenhänge" aber, daß wir versuchend, sie durch anders gedachte mögliche (in der Phantasie vorstellbare) Beobachtungresultate gegenüber realen Relationen aufzuheben, dies aus der Natur der  Sache  heraus nicht vermögen; oder daß wir im Versuch, durch Häufung von Beobachtungen sie zu finden, sie immer bereits voraussetzen - in der Art,  wie  wir Beobachtung an Beobachtung reihen. In diesen Versuchen kommt uns die Unabhängigkeit des Gehaltes der Wesensschau vom Gehalt aller möglichen Beobachtung und Induktion scharf zur Gegebenheit. Für die Begriffe aber, die a priori sind, weil sie sich in der Wesensschau erfüllen, ist es ein Kriterium, daß wir im Versuch, sie zu definieren,  unweigerlich  in einen  Circulus  in definiendo geraten; für Sätze, daß wir im Versuch, sie zu begründen,  unweigerlich  dem Circulus in demonstrando verfallen. (7)

Phänomenologische Erfahrung in diesem Sinne kann durch  zwei  Merkmale noch scharf geschieden werden von aller andersartigen Erfahrung, z. B. der Erfahrung der natürlichen Weltanschauung und der Wissenschaft. Sie allein gibt die Tatsachen "selber" und daher unmittelbar, d. h. nicht vermittelt durch Symbole, Zeichen, Anweisungen irgendwelcher Art. So z. B. ist ein bestimmtes Rot auf die mannigfaltigste Weise zu  bestimmen.  Zum Beispiel als  die  Farbe, die das Wort "Rot" bezeichnet, als Farbe  dieses  Dinges oder dieser bestimmten Oberfläche; als in einer bestimmten Ordnung, z. B. des Farbenkegels, bestimmt; als die Farbe, die "ich eben sehe"; als die Farbe dieser Schwingungszahl und Form usw. Sie erscheint hier überall gleichsam als das  X  einer Gleichung oder als das einen Bedingungszusammenhang erfüllende  X.  Die  phänomenologische  Erfahrung aber ist diejenige, in der die jeweilige  Gesamtheit  dieser Zeichen, Anweisungen, Bestimmungsarten ihre  letzte  Erfüllung finden. Sie allein gibt das  Rot "selbst".  Sie macht aus dem  X  einen  Tatbestand der Anschauung.  Sie ist gleichsam die  Einlösung  aller Wechsel, welche die sonstige "Erfahrung" zieht. Wir können also auch sagen: alle  nicht phänomenologische Erfahrung ist prinzipiell Erfahrung durch oder vermittelt irgendwelcher  Symbole,  und insofern  mittelbare  Erfahrung, die niemals die Sachen "selbst" gibt. Nur die phänomenologische Erfahrung ist prinzipiell  asymbolisch  und eben darum fähig,  alle  nur möglichen Symbole zu erfüllen.

Gleichzeitig ist sie allein rein "immanente" Erfahrung, d. h. nur das,  was  im jeweiligen  Akt  des Erfahrens selbst  anschaulich  ist - sei es auch selbst wieder ein Etwas, das in einem Hinausweisen eines Inhalts über sich besteht - niemals etwas, was durch einen Inhalt als  außer  und  getrennt  von ihm  vermeint  ist -, gehört ihr an. Alle nichtphänomenologische Erfahrung ist prinzipiell ihren anschaulichen Gehalt  "transzendierend",  z. B. die natürliche Wahrnehmung eines realen Dinges. In ihr ist "vermeint", was  nicht  in ihr "gegeben" ist. Die phänomenologische Erfahrung aber ist diejenige, in der  keine  Trennung mehr von "Vermeintem" und "Gegebenem" steckt, so daß wir - gleichsam  herkommend  von der nichtphänomenologischen Erfahrng - auch sagen können: in der nichts  gemeint  wird, was nicht  gegeben  wäre, und nichts gegeben ist außer dem Gemeinten. In der  Deckung  von "Gemeintem" und "Gegebenem" wird uns der  Gehalt  der phänomenologischen Erfahrung allein  kund.  In dieser Deckung, im  Punkt  des Zusammentreffens der Erfüllung des Gemeinten und Gegebenen,  erscheint  das "Phänomen". Wo immer das Gegebene das Gemeinte überragt oder das Gemeinte nicht "selbst" - und darum auch vollkommen - gegeben ist, besteht noch keine reine phänomenologische Erfahrung. (8)

2. Aus dem Gesagten ist klar, daß, was immer a priori gegeben ist, ebensowohl auf  "Erfahrung"  überhaupt beruth, wie all jenes, das uns durch "Erfahrung" im Sinne der Beobachtung und der Induktion gegeben ist. Insofern beruth alles und jedes Gegebene auf "Erfahrung". Wer das noch "Empirismus" nennen will,  mag  es so nennen. Die auf Phänomenologie beruhende Philosophie  ist  in diesem Sinne "Empirismus". Tatsachen und  Tatsachen  allein, nicht Konstruktionen eines willkürlichen "Verstandes" sind ihre Grundlage. Nach  Tatsachen  muß sich alles Urteilen richten und "Methoden" sind insoweit  zweckmäßig,  als sie zu den Tatsachen angemessenen Sätzen und Theorien führen. Nicht aber erhält die Tatsache - wenigstens die "pure" oder die phänomenologische Tatsache - erst aufgrund eines "Satzes" oder eines ihm entsprechenden "Urteils" ihre "Bestimmung" oder würde gar erst aus eine sogenannten "Chaos" von Gegebenem"" herausgeschnitten. Auch das  a priori  Gegebene ist ein intuitiver  Gehalt,  nicht ein den Tatsachen durch das Denken "Vorentworfenes", durch es "Konstruiertes" usw. Wohl aber sind die "reinen" (oder auch "absoluten") Tatsachen der "Intuition" scharf geschieden von  den Tatsachen,  die zu ihrer Erkenntnis eine (prinzipiell unabschließbare)  Reihe von Beobachtungen  durchlaufen müssen. Sie allein sind - sofern sie  selbst  gegeben sind - mit ihren Zusammenhängen "einsichtig" oder "evident". Nicht also um Erfahrung und Nichterfahrung oder sogenannte "Voraussetzungen  aller  möglichen Erfahrung" (die dann selbst in  jeder  Hinsicht unerfahrbar wären) handelt es sich im Gegensatz des a priori und a posteriori, sondern um zwei  Arten  des Erfahrens: um reines und unmittelbares Erfahren und um durch Setzung einer Naturorganisation des realen Aktträgers bedingtes und hierdurch vermitteltes Erfahren. In aller nichtphänomenologischen Erfahrung fungieren die puren oder reinen Tatsachen der Intuition und ihre Zusammenhänge allerdings - wie wir sagen können - als "Strukturen" und als "Formgesetze" des Erfahrens in  dem  Sinne, daß sie in ihr  nie  "gegeben" sind, wohl aber das Erfahren sich  nach  ihnen oder ihnen gemäß vollzieht. Aber eben all das, was in der natürlichen und wissenschafltichen Erfahrung als "Form", erst recht, was als "Methode" des Erfahrens fungiert, das muß innerhalb der phänomenologischen Erfahrung noch zur "Materie" und zum "Gegenstand" der Anschauung werden.

Jeden vorgegebenen apriorischen "Begriff" oder "Satz", der sich nicht durch eine  Tatsache  der Intuition zur restlosen Erfüllung bringen ließe, weisen wir also ausdrücklich zurück. Denn entweder wäre das damit Gemeinte der Nonsens eines "seinem Wesen nach absolut unerkennbaren Gegenstandes", oder ein bloße  Zeichen,  beziehungsweise eine  Konvention,  in der Zeichen willkürlich verknüpft sind. In beiden Fällen hätten wir es nicht mit  Einsicht  zu tun, sondern mit blinden  Satzungen,  die nur  so  eingerichtet werden, daß z. B. der Gehalt der wissenschaftlichen Erfahrung daraus "folgt", oder in "einfachster" Weise folgt. Ebenso unmöglich ist der Versuch, unter a priori eine aufgrund - sei es innerer, sei es äußerer - Beobachtung erst  erschlossene  "Funktion" oder "Kraft" zu verstehen, deren  Wirkung  erst im Gehalt der Erfahrung anzutreffen wäre. Nur die ganz mythologische Annahme, es sei das Gegebene ein "Chaos von Empfindungen", das erst mittels "synthetischer Funktionen" und "Kräfte" "geformt" werden müßte, führt zu solchen sonderbaren Annahmen. Und auch wo jene mythologische Deutung des a priori als einer "formenden Tätigkeit" oder "synthetisierenden Kraft" fehlt und man sich begnügen will, die rein  objektiv  logischen "Voraussetzungen" der in Sätzen niedergelegten wissenschaftlichen Erfahrung durch ein Verfahren der Reduktion aufzufinden, und man diese "Voraussetzungen" dann a priori nennt, wäre das Apriori nur  erschlossen  und nicht auf einen  anschaulichen  Gehalt  einsichtig  fundiert. Aber die apriorische Natur eines Satzes hat mit seiner Beweisbarkeit oder Unbeweisbarkeit nicht das  mindeste  zu tun. Ob arithmetische Sätze als Axiome oder als beweisbare Folgen solcher fungieren, das ist für ihre  apriorische  Natur ganz gleichgültig. (9) Denn im  Gehalt  der die Sätze solcher Art erfüllenden Intuition, nicht in ihrem Stellenwert in den Grund- und Folgebeziehungen der Bestandteile der Theorien und Systeme  wurzelt  ihr Apriorität. (10)

3. Es ist aus dem Gesagten völlig klar, daß das Gebiet des "Apriori-Evidenten" mit dem "Formalen" und der Gegensatz "Apriori" - "Aposteriori" mit dem Gegensatz "formal" - "material" auch nicht das  mindeste  zu tun hat. Während der erste Unterschied ein  absoluter  ist und in der Verschiedenheit der die Begriffe und Sätze erfüllenden  Gehalte  gründet, ist der zweite völlig  relativ  und gleichzeitig allein auf die  Begriffe  und  Sätze  ihrer  Allgemeinheit  nach bezogen. So sind z. B. die Sätze reiner Logik und die arithmetischen Sätze  gleichmäßig  a priori (sowohl die Axiome als die Folgen dieser). Aber das hindert  nicht,  daß die ersteren im Verhältnis zu den letzteren "formal" sind, die letzteren im Verhältnis zu den ersteren material. Denn es ist ein  Plus  von Anschauungsmaterie für die letzteren nötig, sie zu erfüllen. Andererseits ist auch der Satz, es sei von den Sätzen:  A ist B  und  A ist nicht B  einer falsch, nur aufgrund der phänomenologischen  Sach einsicht wahr,  daß  das Sein und das Nichtsein von Etwas (in der Anschauung) unverträglich sind. In diesem Sinne hat auch dieser Satz einer  Materie der Anschauung  zur Grundlage, die es darum nicht weniger ist, weil sie  jedem  beliebigem Gegenstand zukommt. "Formal" ist jener Satz nur in dem toto coelo [alles in allem - wp] verschieden Sinne, daß an die Stelle von  A  und  B  ganz  beliebige  Gegenstände treten können; er ist im Hinblick auf zwei bestimmte dieser beliebigen Gegenstände formal. Ebenso ist auch  2 x 2 = 4  "formal" zur Zwetschgen und Birnen.

Innerhalb  der gesamten Sphäre des a prior Einsichtigen gibt es daher die weitgehendsten Unterschiede von "Formalem" und "Materialem". Und auch in der Wertlehre werden wir gleich sehr bedeutende Unterschiede des (relativ) formal und material Apriorischen finden. Aber auch die am wenigsten formalen Sätze eines apriorischen Gebietes, die gleichsam durch das Maximum materialen Anschauungsgehaltes (im Verhältnis zu anderen Sätzen) allein Erfüllung finden, sind darum nicht weniger  streng a priori  einsichtig. A priori "material" ist der Inbegriff aller Sätze, die in Beziehung auf andere aprioristische Sätze, z. B. jenen reiner Logik, für ein spezielleres Gegenstandsgebiet Geltung haben. Aber auch apriorische Zusammenhänge zwischen Wesenheiten, die nur an  einem  individuellen Gegenstand vorkommen und sonst  allen  anderen Gegenständen fehlen, sind denkbar.

Andererseits läßt sich auch in jedem Satz, der nur a posteriori gilt, also nur durch Tatsachen der  Beobachtung  erfüllbar ist, seine "logische Form" und sein "materialer Gehalt" unterscheiden, z. B. daß er die Konstitution eines Satzes, ein Subjekt, Prädikat, Kopula, an sich hat und  was  in diesen "Formen" formiert ist. Das heißt aber: Der Gegensatz "formal-material"  schneidet  den Gegensatz "a priori - a posteriori", fällt also in  keinem  Sinn mit ihm zusammen.

Die Identifizierung des "Apriorischen" mit dem "Formalen" ist ein  Grundirrtum  der Kantischen Lehre. Er liegt auch dem ethischen "Formalismus" mit zugrunde, ja dem "formalen Idealismus" - wie KANT selbst seine Lehre nennt - überhaupt.

4. Mit ihm hängt ein anderer aufs engste zusammen. Ich meine die Gleichsetzung des "Materialen" (sowohl in der Theorie der Erkenntnis als in der Ethik) mit dem  "sinnlichen"  Gehalt, des Apriorischen" aber mit dem  "Gedachten"  oder durch  "Vernunft  zu diesem "sinnlichen Gehalt" - irgendwie  Hinzugebrachten.  Innerhalb der Ethik entspricht dem  "Gegebenen der Empfindung",  die durch eine "Wirkung der Dinge auf die Rezeptitivität" hervorgebracht sein soll, der spezifisch  sinnliche Gefühlszustand  von  Lust  und  Unlust,  mit dem "die Dinge das Subjekt affizieren".

Nun ist aber diese Gleichsetzung,  "gegeben"  sei dem Denken  sinnlicher Gehalt,  auch auf theoretischem Gebiet durchaus verfehlt. Sie ist es schon darum, weil der Begriff des "sinnlichen Gehalts" oder der "Empfindung" überhaupt gar nichts, was in einem Gehalt Bestimmung des  Gehaltes  sei, bezeichnet, sondern lediglich die  Art  bestimmt,  wie  ein Gehalt (z. B. ein Ton, eine Farbe mit ihren phänomenalen Merkmalen)  zugeht.  "Sinnlich" ist doch nichts, was  in  der Farbe,  im  Ton läge. Gerade diese Begriffe bedürfen am  allermeisten  einer phänomenologischen Aufklärung; d. h. es bedarf einer Aufsuchung des Tatbestandes, in dem sich der Begriff des "sinnlichen Gehaltes" erfüllt.

Es ist, wie mir scheint - das  proton pseudos  [die erste Lüge - wp] bei dieser Gleichstellung, daß man, anstatt die schlichte Frage zu stellen:  Was ist  gegeben? die Frage stellt: "Was  kann  gegeben sein? Dann meint man: das, wofür es keine Sinnesfunktionen - wo nicht gar auch noch Sinnesorgane und Reize - gibt, "kann" uns ja gar nicht  gegeben  sein. Ist man in diese grundfalsche Art der Fragestellung einmal hineingekommen, so muß man nämlich schließen, daß all derjenige  gegebene  Gehalt der Erfahrung, der die als "sinnlichen Gehalt" feststellbaren Elemente seiner  überragt,  durch sie nicht  deckbar  ist, ein irgendwie von uns "Hinzugebrachtes", ein Ergebnis unserer "Betätigung", eines "Formens", einer "Bearbeitung" und dgl. sei. Relationen, Formen, Gestalten, Werte, Raum, Zeit, Bewegung, Gegenständlichkeit, Sein und Nichtsein, Dingheit, Einheit, Vielheit, Wahrheit, Wirken, Physisch, Psychisch usw. müssen dann samt und sonders, sei es auf eine "Formung", sei es eine "Einfühlung", sei es irgendeine andere Art der subjektiven "Betätigung", zurückgeführt werden; denn sie stecken ja  nicht  im "sinnlichen Gehalt", der uns allein gegeben sein "kann" - und  darum,  wie man meint, gegeben "ist".

Der Fehler ist, daß man anstatt schlicht zu fragen,  was  in der meinenden Intention  selbst  gegeben ist, sofort  außer intentionale, objektive, ja kausale Gesichtspunkte und Theorien (und seien es auch nur natürliche Alltagstheorien) in die Frage  hineinmischt.  In der schlichten Frage,  was  gegeben sei (in einem Akt), hat man aber allein auf dieses  Was  hinzusehen; alle nur denkbaren objektiven außerintentionalen  Bedinungen  des Stattfindens des Aktes, z. B. daß ein "Ich" oder "Subjekt" ihn vollziehe, daß dieses "Sinnesfunktionen", "Sinnesorgane", daß es einen Leib habe usw., gehören in die Frage,  was  im Haben eines Tones oder einer Farbe Rot "gegeben" sei und wie die Art jener Gegebenheit aussehe, so wenig herein als die Feststellung, daß der Mensch, der die Farbe sieht, eine Lunge hat und zwei Beine. Nur in die  Richtung  der aus der Person, dem Ich und dem Weltzusammenhang  herausgelösten  Aktintention blicken wir und sehen, was da und wie es erscheint; ganz unbeirrt von der Frage, wie es erscheinen  kann,  wie es uns nach irgendwelchen  realen  Voraussetzungen bestehender Dinge, Reize, Menschen usw. zugeht. Frage ich z. B.: Was ist gegeben, wenn ich einen körperlichen materiellen Würfel wahrnehme, so ist die Antwort, es sei gegeben, "die perspektivische Seitenansicht" oder gar "die Empfindungen" dieser, eine grundirrige. "Gegeben" ist hier der Würfel als ein  ganzes  - nach irgendwelchen "Seiten" oder gar "Ansichten" ungeteiltes - materielles Ding einer bestimmten räumlichen Formeinheit. Daß faktisch der Würfel nur  visuell  gegeben ist, daß weiter visuelle Elemente im Gehalt der Wahrnehmung nur solchen Punkten des Sehdings entsprechen, die seiner perspektivischen Seitenansicht angehören, davon ist keine Spur "gegeben" - so wenig wie die chemische Zusammensetzung des Würfelinneren "gegeben" ist. Es ist vielmehr eine sehr reiche und verwickelte Reihe  neuer  und  neuer  Akte (derselben Art, nämlich von "natürlicher Wahrnehmung") nötig, sowie eine Verknüpfung dieser, wenn auch die "perspektivische visuelle Seitenansicht des Würfels" zur Erfahrung kommen soll. Hier seien sie nur in ihrem rohesten Stufenbau aufgeführt. Da muß an erster Stelle ein Akt der Icherfüllung dazutreten, des Ichs, das Vollzieher des Aktes ist, und ein Hinblick darauf, was  ihm  vom Würfel gegeben ist. Dann ist immer noch der Würfel wie vorher gegeben; er ist es nur mit einer individuellen Note, die  alles  Gegebene durchdringt. In einem zweiten Akt wäre zu erfassen, daß der Akt der Wahrnehmung durch einen  Sehakt  hindurch erfolgte, in dem gar nicht all das erscheint, was zuerst da war, z. B. nicht die "Materialität", nicht mehr "daß er ein Inneres hat"; daß vielmehr nun nur noch eine bestimmt geformte, gefärbte und mit Licht und Schatten besetzte  Hülle  des Ganzen "gegeben" ist; d. h. der immer noch  dinghafte  (nur  immaterielle)  Sehgegenstand.

Aber auch jetzt ist noch lange nicht die "perspektivische Seitenansicht des Würfels" zur Gegebenheit gebracht; noch weniger der sogenannte "Empfindungsinhalt". Was jetzt "gegeben" ist, ist das  Sehding  des Würfels,' d. h. etwas, das zwar nicht mehr "Körperlichkeit" enthält, aber durchaus noch die  Dingheit  als Stützpunkt von Form, Farbe, Licht und Schatten; und immer noch das  Ganze  der räumlichen Form, in die Farben, Licht und Dunkelheit als unselbständige, in der räumlichen  Form  fundierte Erscheinungen eingehen, und sich mit deren Veränderung (d. h. der "räumlichen Form") auch diese Teilerscheinungen verändern würden. "Schatten" z. B. sehe ich nur dann in bestimmten Quales von Grautönen, wenn ich diese Quales nocht als  Eigenschaften eines Sehdings  fasse; und die Farbenmomente würden nach ihren Erscheinungsinhalten in sehr feinen Grenzen variieren, wenn sich die Entfernungen und Lagen der Raumelemente der gesehenen Form durch eine Veränderung der  Formeinheit  z. B. des Würfels in eine Flächenprojektion seiner änderten. Mit der Tiefenlokalisation einer Farbe ändert sich ja auch die Helligkeit. Wir können weiter die Tatsache eines "Sehens" feststellen, ohne von Sinnesorganen durch Wahrnehmungen oder Organempfindungen etwas zu wissen. Und "Sehen" ist etwas anderes, als die bloße Zugehörigkeit des Farbigen z. B. zu einem wahrnehmenden Ich; als wäre "Sehen" mit "Farbe haben", "Hören" mit "Töne haben" gleichbedeutend. Und "Sehen" ist auch etwas anderes wie bloße  Aufmerksamkeit  auf eine Farbe. Es ist eine zur Anschauung zu bringende  Funktion  fest qualifizierter Art mit besonderen und von der Organisation der peripheren Sinnesorgane völlig unabhängigen Gesetzen der Betätigung. Im "Sehen" einer Fläche ist z. B. immer die Tatsache  mit gegeben, daß sie eine andere Seite hat, obgleich wir diese nicht "empfinden". Und so ist auch das "Sehding" des Würfels durchaus nicht etwa die perspektivische Seitenansicht seiner räumlichen Würfelform; im  Sehding  laufen die in den Grenzen dieser "Seitenansicht" noch "empfundenen" Linien ruhig  weiter  in den  Richtungen,  die ihnen die  Form  der Würfelhaftigkeit vorschreibt, die als Ganzes "gegeben" ist und durchaus nicht aus einer "Synthese" "besteht". Die Relationen der empfundenen Raumelemente nach Lage, Entfernung, Richtung der Linienelemente, Tiefenanordnung sind dieser gesehenen Form  untergeordnet  und variieren abhängig mit ihr. Dieselben Lagen, Entfernungen, Richtungen der Linien wären, sofern sie Teile eines Sehdings von der Form "Kugel" wären, andere und andere. Darin scheidet sich  scharf  der Raum der Sehdinge vom Raum der Geometrie, der ein künstlich  deformierter  Raum ist. Es bedarf nun aber eines neuen Aktes der Erfahrung, um aus dem bisher gegebenen Sehding das Datum "perspektivische Seitenansicht" gleichsam herauszuschneiden. Dieser Schnitt wird erst möglich dadurch, daß  Dasein und Ortsbestimmtheit  des den Sehakt vollziehenden  leiblichen Organismus  (der als dem wahrnehmenden "Ich" zugehörig erfaßt ist) und  der  Teile desselben, an welche die Betätigung der Sehfunktion gebunden ist, Gegenstand eines  besonderen  Wahrnehmungsaktes wird. Daß ich z. B. durch irgendeine Betätigung  meiner Augen  und nicht  meiner Ohren sehe,  das liegt weder in der Anschauung der Sehfunktion, noch in der des Seh dinges.  Es ist erst das Ergebnis des "Experimentes", des natürlichen Experimentes allerdings (das wir alle schon sehr früh machen), daß mit meinem Augenschließen mein Sehen des Sehdinges aufhört; daß die Eigenschaften am Sehding mit Bewegen der Augen (und der damit verbundenen Organ- und Muskelempfindungen) oder mit Entfernung des das Auge tragenden Körperleibes sich mannigfach verändern. Ein Sehding im vorhin bestimmten Sinne muß aber schon immer "gegeben" sein, und auch in bestimmter Größen qualität,  wenn sich an ihm diese möglichen Variationsrichtungen z. B. die Variationsrichtung nach größer und kleiner - soweit die in ihnen stattfindenden Variationen durch die bloße Tatsache der natürlichen Perspektive, Entfernung, Lage und Entfernung des Organs bzw. seiner empfindenden Schichten bedingt sind - abheben sollen. (Diese Größen qualität  ist natürlich keine meßbare Größe und ganz abhängig vom Maß, in dem das betreffende Sehding teilnimmt an der Raumerfüllung des  ganzen  jeweiligen Sehraumes, also immer auch relativ zur Teilnahme der übrigen im Sehraum befindlichen Sehdinge.) Zu einer Abhebung der Variationsrichtung des Sehdinges nach "perspektivischer Seitenansicht" kommt es erst durch eine Beziehungswahrnehmung der in getrennten Erfahrungsakten gegebenen Tatsache des Sehdinges  und  meines Leibes und Auges, plus jener "Experimente". Und erst  wenn  diese Variationsrichtung gegeben ist, wenn ich weiß, was perspektivische Seitenansicht eines Körpers überhaupt ist, so kann in einem besonderen Akt  das  "gegeben" sein, wovon der sensualistische Erkenntnistheoretiker so naiv ausgeht: die "perspektivische Seitenansicht dieses Würfels". Aber auch von hier aus ist es noch weit bis zum "Empfindungsinhalt".

"Empfindungsinhalt" im phänomenologischen Sinn, d. h. das, was unmittelbar als Inhalt eines "Empfindens"  gegeben  ist und nicht als solcher Inhalt erst "erschlossen" ist durch Analogie zu echten und unmittelbar gegebenen "Empfindungsinhalten"; oder gar erst auf dem Umweg über den kausalen Begriff des Reizes und der auf ihn folgenden veränderten Reaktionsweise eines Organismus, erschlossen ist, sind streng genommen nur solche Inhalte, deren Auftreten und Abtreten irgendeine Variation unseres erlebten  leiblichen  Zustandes setzen: An erster Stelle also  durchaus nicht  Ton, Farbe, Geruchs- und Geschmacks qualität,  sondern Hunger, Durst, Schmerz, Wollust, Müdigkeit, sowie alle in bestimmte Organe vage lokalisierte sogenannte "Organempfindungen". Das sind die  Musterbilder  der "Empfindungen", sozusagen Empfindungen, die man  "empfindet".  Zu ihnen gehören natürlich auch alle Empfindungen, die sich bei Betätigung der Sinnes organe  einfinden und mit deren veränderter Betätigung sich gleichfalls verändern.

Man kann nun um der  Bequemlichkeit der Sprache  willen auch  alle  Elemente der äußeren Anschauungswelt überhaupt, die noch teilnehmen können (in Auftreten und Abtreten) an einer Veränderung des Leibzustandes, gleichfalls als "Empfindungsinhalt" bezeichnen. Nicht weil sie selbst Empfindungen  sind,  sondern weil er ihre Realisierung für ein psychophysisches Individuum regelmäßig von echten Empfindungen (im Ohr, im Auge usw.) begleitet ist; und weil jeder  Veränderung  der einfachsten  Inhalte  der Anschauung, einer Farbe und Fläche, z. B. nach Ton, Sättigung, Helligkeit, Gestalt, eindeutig eine  Veränderung  im Empfindungszustand des Leibes einschließlich des Organes zugeordnet ist.

"Empfindung" in diesem  erweiterten  Sinn ist dann aber kein bestimmter  Gegenstand,  noch auch ein Anschauungs inhalt  wie "rot", "grün", "hart", noch gar ein kleinees "Element" einer mosaikartig zusammengesetzten Tatsache, sondern es ist, was wir damit meinen, nur diejenige  Variationsrichtung  der äußeren  (und  inneren) Erscheinungswelt, die sie hat, wenn sie als  Abhängige  vom Gegenwartsleib eines Individuums erlebt wird. Das wäre das  Wesen  der "Empfindung"; und in concreto ist alles "Empfindung", was noch in dieser Richtung zu variieren vermag.

In diesem letzteren Sinn nun ist "Empfindungsinhalt"  niemals  in irgendeinem Wortsinn "gegeben". Er ist immer erst durch einen Akt des Vergleichens einer Mehrheit von noch gegebenen Erscheinungen mit einer Mehrheit von leiblichen Zuständen als das zu bestimmen, was bei der Veränderung der letzteren in den Erscheinungen noch mit verändert werden kann. Im strengen Sinn ist "Empfindung" in diesem erweiterten Sinn nur der Name für eine "variable Beziehung", die zwischen einem Leibzustand und den Erscheinungen der Außenwelt (oder Innenwelt) besteht; ihr Inhalt ist nur der jeweilige  Endpunkt  dieser zuvor definierten Beziehung zwischen Leib und Erscheinungen  in  den Erscheinungen. Diejenigen Elemente einer Erscheinung sind "empfunden", durch deren Variation die  ganze  Erscheinung sich dann ändert, wenn die Leibzustände, bzw. die Zustände der Organempfindungen in den Sinnesorganen, in einem bestimmten Wechsel begriffen sind.

Eine "reine" Empfindung ist daher  nie und nie  gegeben. Sie ist immer nur ein zu bestimmendes  X  oder besser ein  Symbol,  durch das wir jene Abhängigkeiten beschreiben. Die reine Empfindung eines Rot, das nach Qualität, Sättigung, Helligkeit bestimmt sei (z. B. farbengeometrisch), ist nie "gegeben", da "gegeben" immer nur die durch das sogenannte Sinnengedächtnis mitbestimmte Farbe eines Gegenstandes sein kann, und diese schon bestimmt ist durch den früheren Sehverkehr, der mit diesem Objekt stattgefunden hat.

Nicht also ein vermeintlicher Aufbau der Inhalte der Anschauung aus "Empfindungen" kann  je  Aufgabe der Philosophie sein, sondern gerade umgekehrt eine möglichste  Reinigung  derselben von den diese Inhalte immer begleitenden Organempfindungen, die ja allein "echte" Empfindungen sind; und gleichzeitig eine Abschälung derjenigen Bestimmtheiten der Inhalte der Anschauung, die gar nicht Inhalt "purer" Anschauung sind, sondern die sie nur dadurch erhielten, daß sie mit Organempfindungen eine feste Verbindung und durch sie zugleich einen Sinn als "Symbole" für eine zu erwartende Veränderung des Leibzustandes  angenommen  haben.

Was aber auf theoretischem Gebiet gilt, das gilt in weitgehender Analogie auch für die Werte und das Wollen.

"Gegeben" sind uns - in natürlicher Einstellung - wie dort die  Dinge,  so hier die  Güter Erst in zweiter Linie die  Werte,  die wir in ihnen  fühlen,  und dieses "Fühlen ihrer" selbst; völlig unabhängig aber und erst in  dritter  Linie die etwaigen  Gefühlszustände  der Lust und Unlust, die wir auf die Wirkung der Güter auf uns (sei dieses Wirken als  erlebte  Reizung, sie es kausal gemeint) zurückführen; in  allerletzter  Linie aber die in diese Zustände eingewobenen Zustände des spezifisch  sinnlichen  Gefühls (oder der "Gefühlsempfindungen", wie sie STUMPF treffend nennt). Die letzteren werden erst dadurch gesondert erfaßbar, daß wir auf die verschiedenen Teile des (in innerer Wahrnehmung vorliegenden) ausgedehnten und gegliederten Leibes hinblicken und die so gegebenen peripheren Gefühlszustände dann mit den Qualitäten des Angenehmen in eine (mehr oder weniger bewußt)  gedachte  Verknüpfung bringen; oder mit Qualitäten, die in die Güter eingewoben sind. Denn auch die Werte des  Angenehmen  sind von den sie begleitenden sinnlichen Gefühlszuständen (z. B. das Angenehme des Zuckers vom sinnlichen Wohlgefühl auf der Zunge) noch  verschieden.  Was also von der "Materie" des Fühlens den  sinnlichen  Gefühlszuständen als solcher  Bezugsgegenstand  entspricht, indem die Zustände noch  abhängig  von ihm variieren, was also in diesem Sinne der "sinnliche Gehalt" der Wertmaterie ist (oder uneigentlich so  heißen  kann), das ist niemals unmittelbar  in  dieser Materie gegeben; geschweige denn primär gegeben - so daß die Güter nur als "Ursachen" dieser Zustände vor uns stünden. Der sinnliche Gefühlszustand ist in unser Leben  in  und  an  der Welt der Werte und Güter, ist in unser Wirken und Handeln in diesem Reich als eine ganz  sekundäre  Begleiterscheinung an unserem Leib eingeschmolzen - und dies sogar im sinnlichen Genießen, wieviel mehr  da,  wo es sich um Wersphären oberhalb des Angenehmen handelt, um geistige oder vitale Werte. Daß sich auf diese Zustände eine besondere  Intention  richtet; daß sie aus den gegenständlich gerichteten Gemüts bewegungen  gleichsam herausgebrochen werden, das ist nicht nur höchst selten, sondern gleichzeitig ein bereits in die Linie des Krankhaften führendes Verhalten. (11)

Analoges gilt für das Streben und Wollen. Die Behauptung KANTs, es sei jedes Wollen, das - anstatt vom "Gesetz der Vernunft" - durch eine  Materie  bestimmt sei, schon darum nicht  a priori  bestimmt, da es in diesem Fall von der etwaigen  Rückwirkung  des im Wollen zur Realität kommenden Inhalts auf unseren  sinnlichen  Gefühlszustand bestimmt sei, entbehrt  jeder  Grundlage in den Tatsachen.

Je stärker und energischer ein Wollen ist, desto mehr findet ein  Sichverlieren  in dem in ihm gegebenen - als zu realisierend gegebenen -  Wert  und Bildinhalt statt -, so daß uns gerade beim stärksten Wollen sogar das Durch-uns -gewollt-sein  des Inhalts am wenigsten  gegeben  ist. Gerade beim schwachen Wollen tritt mit der "Anstrengung" auch das  Wollen  des Inhalts selbst schärfer hervor. Das völlige "Verlorensein" in seine Projekte und deren Realisierungsprozeß ist die spezifische Attitüde der kühnen Tatmenschen, z. B. des Unternehmers großen Stils; in höchster Form des heldischen Charakters. (12) Aber das Phänomen, das hier gleichsam makroskopisch vor uns tritt, zeigt sich mikroskopisch in jedem energischen Willensakt. Er ist immer dadurch charakterisiert, daß wir in ihm  herausgerissen  sind über die Vorstellung der Rückwirkung auf unseren Zustand, besonders unseres  sinnlichen  Zustandes. So bemerken wir in einer gefährlichen Arbeit nicht, daß wir uns verwundet haben oder daß ein Ermüdungsgefühl oder selbst Schmerz gegen sie Einsprache erhebt. Alles leidenschaftliche Wollen schon - erst recht die noch höheren Formen des Wollens - lassen die gleichzeitigen oder zu erwartenden sinnlichen Gefühlszustände vollends außer der Gegebenheit. Diese Tatsachen machen es auch verständlich, daß gerade bei den mächtigsten Willenspersonen der Geschichte oder besonder energischen Grußßen schon das Bewußtsein  des Augehens  des Wollens von ihrem "Ich" - erst recht seiner Rückwirkung auf das Ich - am allerwenigsten entwickelt war. Entweder sie erlebten ihre Willenswirksamkeit als "Gnade" (z. B. die tatkräftigen englischen Puritaner wie CROMWELL und sein Kreis) oder fühlten sich ganz als Werkzeuge Gottes (wie CALVIN als sein "Rüstzeug"), oder die Stadien ihres Lebens als "Schicksal" (z. B. die tatkräftigen Araber und Türken; WALLENSTEIN, NAPOLEON); oder sie fanden, daß sie nur "Entwicklungstendenzen" gefördert oder ausgelöst hatten (wie BISMARCK). Die "große Männer-Theorie" ist nie von großen Männern, sondern immer nur von deren  Betrachtern  ausgegangen. (13)

Die jeweilig zunächst gegebene  Materie  ist so wenig die mögliche Rückwirkung des Gewollten auf den sinnlichen (oder auch selbst vitalen oder geistigen) Gefühlszustand, daß im selben Maß, als sich  dessen  Erwartung oder Vorstellung einstellt, vielmehr eine Hemmung oder Beschränkung, eventuell auch eine "Dahinstellung" des Wollens des betreffenden Inhaltes einstellt, so daß er entweder zum bloßen Wunschinhalt wird oder gar nicht mehr irgendwie erstrebt wird. Das heißt die Wirkung der Gefühlszustände auf die Materie des Wollens ist eine  wesentlich negative  und  selektive.  Nicht  was  wir, sondern  was  an dem zunächst gewollten Gehalt wir  "nicht  mehr" wollen, wird durch sie in  erster  Linie bestimmt. (14) Es ist also geradezu eine Umkehrung des wahren Tatbestandes, die KANT voraussetzt, wenn er alle Materie des Wollens durch die Erfahrung von Lust und Unlust  bestimmt  sein läßt. Ja auch da, wo die Idee des "Gesetzes" bestimmend für das Wollen ist, ist das "Gesetz" noch Materie des Wollens (wenigstens des reinen Wollens) nicht aber bestimmend als ein Gesetz das Gesetz  des  reinen Wollens wäre, d. h. ein Gesetz,  wonach  sich das Wollen vollzöge. Hier wird eben die Realisierung des "Gesetzes" gewollt - als  eine  der möglichen Materien des Wollens. Und eben darum hat alles Wollen eine Fundierung in  Materien;  die gleichwohl a priori sein können, sofern sie in Wertqualitäten bestehen, nach denen sich erst die  Bildinhalte  des Wollens bestimmen. Das Wollen ist  darum  nicht im mindesten durch "sinnliche Gefühlszustände" bestimmt.

Nicht minder irrig ist aber die zweite Gleichsetzung des  "Apriorischen"  mit dem  "Rationalen"  (oder  "Gedachten"),  die der von "material" und "sinnlich" (sowie a posteriori) entspricht. Daß a priori zunächst ein "Gegebenes" für eine Anschauung ist und die in Urteilen "gedachten" Sätze nur insofern gleichfalls a priori genannt werden können, als sie durch die Tatsachen der phänomenologischen Erfahrung Erfüllung finden, hatten wir gesehen. Es ist also auch in der theoretischen Erkenntnis a priori keineswegs ein bloß oder zuvörderst "Gedachtes". Ja, es gibt keine Lehre, welche die Theorie der Erkenntnis so lange gehemmt hat, als jene, die von der Voraussetzung ausgeht, es  müsse  ein Faktor der Erkenntnis  entweder  ein "sensueller Gehalt"  oder  ein "Gedachtes" sein. Wie will man unter dieser Voraussetzung die Begriffe Ding, Wirklich, Kraft, Gleichheit, Ähnlichkeit, Wirken (im Kausalbegriff), Bewegung, ja auch im Raum, Zeit, Menge, Zahl, und wie will man die Wertbegriffe - was uns hier besonders angeht - zur Erfüllung bringen? Sollen sie nicht geradezu  "er dacht" sein, d. h. aus dem "Nichts" durch das "Denken" gesetzt - samt den Wesenszusammenhängen, die zwischen ihnen bestehen, z. B. den Prinzipien der Mechanik -, so muß es doch wohl erst ein  Datum  der Anschauung für sie geben, das gleichwohl sicher  kein  "sinnlicher" Gehalt ist. Schon jene Voraussetzung allein impliziert eine  immer  unzureichende Lösung des Erkenntnisproblems - die, wie immer sie ausfallen möge (mehr sensualistisch oder mehr rationalistisch), jedenfalls die Erkenntnis verurteilt, im selben Maße, als sie  Inhalt  hat, d. h. hier ja "sensuelle" Daten enthält oder sich auf sie stützt, auch "subjektiv" und "relativ" auf die besondere Organisation des Menschen zu sein; im selben Maß aber  leer von  allem Inhalt zu werden - schließlich zu bloßen Beziehungen, die von  Nichts  Beziehungen sind -, als sie auf rein  logische  Faktoren zurückgeführt wird.

Aber noch in eine andere, nicht minder tiefe Irrung gerät die Gleichsetzung des "Apriorischen" mit dem "Gedachten", des "Apriorismus" mit dem "Rationalismus", wie KANT ihn - besonders zum Schaden der Ethik - vertritt.

Es ist nämlich unser  ganzes  geistiges Leben - nicht bloß das gegenständliche Erkennen und Denken im Sinne der Seinserkenntnis -, das  "reine"  - von der Tatsache der menschlichen Organisation ihrem Wesen und Gehalt nach  unabhängige  - Akte und Aktgesetze hat. Auch das Emotionale des Geistes, das Fühlen, Vorziehen, Lieben, Hassen, Wollen, hat einen ursprünglichen  apriorischen  Gehalt, den es  nicht  vom "Denken" erborgt, und den die Ethik ganz unabhängig von der Logik aufzuweisen hat. Es gibt eine apriorische "Ordre du coeur" [Ordnung des Herzens - wp] oder "logique du coeur" [Logik des Herzens - wp], wie BLAISE PASCAL treffend sagt. (15) Nun bezeichnet aber das Wort "Vernunft" oder "Ratio" - und besonders, wenn es der sogenannten "Sinnlichkeit" gegenübergestellt wird - seit der Prägung dieser Terminologie durch die Griechen, immer nur die logische, nicht die  alogisch-apriorische  Seite des Geistes. So führt KANT z. B. auch das "reine Wollen" auf die "praktische Vernunft" oder "die" Vernunft, sofern sie praktisch wirksam ist, zurück und verkennt damit die  Ursprünglichkeit  des Willensaktes. Das Wollen erscheint hier wie ein bloßes Anwendungsgebiet für die Logik und nicht gleich dem "Denken" mit einer Gesetzmäßigkeit derselben  Ursprünglichkeit  behaftet, wie das Denken. Nun mag es z. B. sein, daß derselbe letzte phänomenale Gehalt z. B. sowohl dem Satz des Widerspruchs Erfüllung gibt, wie dem Satz, daß es unmöglich ist, "dasselbe zu wollen und nicht zu wollen", oder dasselbe zu begehren und zu verabscheuen. Darum ist dieser letztere Satz durchaus keine bloße "Anwendung des Satzes des Widerspruchs" auf die Begriffe Begehren, Verabscheuen. Er ist ein davon ganz unabhängiger Grundsatz, der mit jenem nur eine (zum Teil)  identische  phänomenologische Basis hat. So aber sind auch die Wertaxiome ganz unabhängig von den logischen Axiomen und stellen mitnichten bloße "Anwendungen" jener auf Werte dar. Der reinen Logik steht eine reine Wertlehre zur  Seite.  Während KANT in diesen Fragen noch schwankt, ist er ums entschiedener darin, daß er im letzten Grund alles Fühlen, ja sogar das Lieben und Hassen - da er sie nicht der "Vernunft" zuweisen kann -, zur "sinnlichen" Sphäre rechnet und damit aus der Ethik ausschließt. (16)

Diese völlig unbegründete Verengung und Beschränkung des "Apriori" hat aber gleichfalls in seiner Gleichsetzung mit dem  "Formalen"  eine seiner Wurzeln.

Nur eine endgültige Aufhebung des alten Vorurteils, der menschliche Geist sei durch den Gegensatz von "Vernunft" und "Sinnlichkeit" irgendwie  erschöpft  oder es müsse sich alles unter das eine  oder  andere bringen lassen, macht den Aufbau einer a priori-materialen Ethik möglich. Dieser grundfalsche Dualismus, der geradezu zwingt, die  Eigenart  ganzer Aktgebiete zu übersehen oder zu mißdeuten, muß in  jeder  Hinsicht von der Schwelle der Philosophie verschwinden. Wertphänomenologie und Phänomenologie des emotionalen Lebens ist als ein völlig selbständiges, von der Logik unabhängiges Gegenstands- und Forschungsgebiet anzusehen. (17)

Es ist darum auch eine völlig grundlose Annahme, die KANT dazu bestimmt, in allem Heranziehen des "Fühlens", des "Liebens", "Hassens" usw. als sittlicher Fundamentalakte schon eine  Abirrung  der Ethik in den "Empirismus" zu sehen oder in das Gebiet des "Sinnlichen", oder eine falsche Zugrundelegung der "Natur des Menschen" für die Erkenntnis des Guten und Bösen. Denn Fühlen, Lieben, Hassen und  ihre  Gesetzmäßigkeiten untereinander und hinsichtlich ihrer Materien sind so wenig "spezifisch menschlich", wie es die Denkakte sind, wie immer sie auch  am  Menschen studiert werden mögen. Ihre  phänomenologische  Analyse, deren Wesen es ja ist, von den spezifischen Organisationen der Aktträger und den Wirklichkeitssetzungen der Gegenstände abzusehen, um herauszuarbeiten, was im  Wesen  dieser Aktarten und ihrer  Materien  gründet, ist von aller Psychologie und Anthropologie so verschieden, wie die phänomenologische Analyse des Denkens von der menschlichen Denkpsychologie. Auch für sie besteht eine  geistige  Stufe, die mit der gesamten Sphäre des Sinnlichen, ja selbst mit der von dieser scharf geschiedenen Aktssphäre des Vitalen oder Leiblichen nicht das mindeste zu tun hat, und deren innere Gesetzmäßigkeit von diesen Aktssphären und  ihrer  Gesetzmäßigkeit so unabhängig ist, wie die Denkgesetze vom Getriebe der Empfindungen.

Was wir also - gegenüber KANT - hier entschieden fordern, ist ein  Apriorismus  des  Emotionalen  und eine Scheidung der falschen  Einheit,  die bisher zwischen Apriorismus und Rationalismus bestand. "Emotionale Ethik" im Unterschied von "rationaler Ethik" ist durchaus  nicht  notwendig "Empirismus" im Sinne eines Versuches, die sittlichen Werte aus der Beobachtung und Induktion zu gewinnen. Das Fühlen, das Vorziehen, das Lieben und Hasen des Geistes hat seinen eigenen  a priorischen  Gehalt, der von der induktiven Erfahrung so unabhänigig ist, wie die reinen Denkgesetze. Und hier wir dort  gibt es  eine  Wesensschau  der Akte und ihrer Materien, ihrer Fundierung und ihrer Zusammenhänge. Und hier wie dort gibt es "Evidenz" und strengste Exaktheit der phänomenologischen Feststellung.

5. Scharf scheiden wollen wir - was den Begriff des "Apriori" überhaupt betrifft - auch die Tatsache des Apriori, d. h. der Wesenheiten und ihrer von Induktion unabhängigen Zusammenhänge, von allen Versuchen, das "Apriorie" weiter  verständlich  zu machen oder gar zu erklären. Bei KANT ist die Lehre vom Apriori auf allen Gebieten der Philosophie eng verheftet mit zwei Grundsätzen und ihren entsprechenden Grundanschauungen und Grundstellungen des Philosophen zur Welt, die wir als durch nichts erwiesen zurückweisen.

Einmal mit seiner Lehre von der "Spontaneität" des Denkens, wonach alles, was "Verbindung" ist, in den Erscheinungen vom Verstand erzeugt sein müsse (bzw. von der praktische Vernunft). So wird auch das Apriori des Zusammenhanges zwischen Gegenständen und Sachverhalten bei ihm auf ein "Erzeugnis" einer "spontanen Verbindungstätigkeit" oder einer "reinen Synthesis" zurückgeführt, die sich am "Chaos des Gegebenen" betätigt. Die "Form", auf die das Apriori fälschlich beschränkt wird, ist oder soll sein das Ergebnis einer "formenden Tätigkeit", eines "Formens" und "Verknüpfens". Ja, bei ihm ist diese Lehre so eng verwoben mit der Lehre vom Apriorismus, daß sie für viele, die nicht mit selbständigen Augen auf KANTs Lehre blicken, zu einem scheinbar untrennbaren Ganzen geworden ist. Und doch hat diese Mythologie der erzeugenden Verstandestätigkeiten mit dem Apriorismus nicht das mindeste zu tun. Sie beruth nicht auf Anschauung, sondern ist eine  pure konstruktive Erklärung  des apriorischen Gehaltes in den Gegenständen der Erfahrung, die sich nur unter der  Voraussetzung  einstellt, es sei überall "gegeben" nur ein "ungeordnetes" Chaos (hier von sogenannten "Empfindungen", dort von "Trieben" oder "Neigungen"). Diese Voraussetzung aber ist der  gemeinsame Grundirrtum des Sensualismus  - wie ihn HUME am schärsten entwickelte -  und  KANTs, der ihn - hier ganz blind - von den Engländern übernahm. (18) Wäre überall das "Gegebene" ein "Chaos" von Eindrücken (bzw. Triebimpulsen), fände sich aber  gleichwohl  im  Gehalt  der Erfahrung Zusammenhang, Ordnung, Form, irgendeine bestimmte Gliederung und Struktur, die - wie KANT  richtig  sah - unmöglich aus der assoziativen Verbindung der Eindrücke und ihrer Innenkorrelate stammen kann, so wäre freilich die Hypothese solcher "synthetischer Funktionen", solcher "verbindenden Kräfte" (deren Gesetzmäßigkeit dann das faktisch hiervon ganz unabhängig "Apriori" wäre) wenigstens  nahegelegt.  Ist die Welt zuerst  pulverisiert  in ein Empfindungsgemenge, der Mensch in ein Chaos von Triebregungen (die - übrigens auch dies unbegreiflich - im Dienste seiner nackten Daseins erhaltung  stehen sollen), so bedarf es freilich eines tätigen organisierenden Prinzips, das zum Gehalt der natürlichen Erfahrung wieder zurückführt. Kurz gesagt: die HUMEsche  Natur bedürfte  eines Kantischen  Verstandes,  um zu existieren; und der HOBBESsche  Mensch bedürfte  einer Kantischen  praktischen Vernunft,  sofern sich beide dem Tatbestand der natürlichen Erfahrung wieder annähern sollen. Aber  ohne  diese grundirrige Voraussetzung einer HUMEschen  Natur  und eines HOBBESschen  Menschen  bedarf es jener Hypothese  nicht;  und  damit  auch nicht der Deutung des Apriorischen als "Funktionsgesetze" dieser organisierenden Tätigkeiten. A priorie ist dann die sachliche gegenständliche  Struktur  in den großen Erfahrungsgebieten selbst, der erst bestimmte Akte und Funktionsverhältnisse zwischen ihnen "entsprechen" - ohne doch irgendwie durch die Akte erst in sie "hineingetragen" oder durch sie zu ihr "hinzugetan" zu sein.

Es ist aber gerade die  Ethik,  die unter dieser Voraussetzung fast noch mehr gelitten hat, wie die theoretische Philosophie. Alle Voraussetzungen KANTs, die kaum genannt werden, der Mensch sei, von der "praktischen Vernunft" abgesehen, ein bloßes "Naturwesen" (für ihn = ein mechanisches Triebbündel), alle Fremdliebe geht auf Selbstliebe, Liebe aber überhaupt auf Egoismus (19) und dieser wieder auf Streben nach sinnlicher Lust zurück: Voraussetzungen, die auch (z. B. in der Anthropologie) häufig selbst in der  Terminologie  des HOBBES ausgesprochen werden, haben diesen Ursprung. Ohne sie aber fällt auch die Nötigung dahin, eine dieses Chaos formende "praktische Vernunft" anzunehmen. (20)

Ja wir sind hier an einem Punkt, wo der Apriorismus eine so innige Verbindung mit dem Allerletzten, kaum Aussprechbaren in der Gesamthaltung KANTs zur Welt eingegangen hat, daß hier die philosophische Lehre mit einer höchst individuellen Neigung KANTs zu höchst gefährlicher Verknüpfung gekommen ist. Diese "Haltung" kann ich nur mit den Worten einer ganz ursprünglichen "Feindseligkeit"  zu  oder auch "Mißtrauen"  in  alles "Gegebene"  als  soches, Angst und Furcht vor ihm als dem "Chaos" bezeichnen. "Die Welt da draußen und die Natur da drinnen" - das ist, auf Worte gebracht, KANTs Haltung gegen die Welt, und die "Natur" ist das, was zu formen, zu organisieren, was zu "beherrschen" ist - sie ist "das Feindliche", das "Chaos" usw. Also das Gegenteil von  Liebe  zur Welt, von Vertrauen, von schauender und liebender Hingabe an sie; d. h. es ist im Grunde nur der die Denkweise der modernen Welt so stark durchziehende  Welthaß,  die Weltfeindschaft, das prinzipielle Mißtrauen in sie und deren  Folge,  das grenzenlose Aktionsbedürfnis, daß sie "organisiert", "beherrscht" werde - kulminierend in einem genialen philosophischen Kopf -, was diese Verbindung von Apriorismus und der Lehre vom "formenden", "gesetzgeberischen" Verstand und dem die Triebe in "Ordnung" bringenden "Vernunftwillen"  psychologisch  veranlaßt hat.

Aus der Verbindung mit diesem, nach historischem Ursprung und Wert  mehr  als fragwürdigem Affekt und mit den Hypothesen, die er veranlaßt hat, ist nun der Apriorismus allüberall zu  befreien.  Wie die Wesenheiten, so sind auch die Zusammenhänge zwischen ihnen "gegeben" und nicht durch den "Verstand" hervorgebracht oder "erzeugt". Sie werden  erschaut  und nicht "gemacht". Sie sind ursprüngliche  Sach zusammenhänge, nicht Gesetze der Gegenstände nur darum, weil sie Gesetze der Akte sind, die sie erfassen. "Apriorisch" sind sie, weil sei in den  Wesenheiten  - und nicht in den Dingen und Gütern - gründen, nicht aber, weil sie durch den "Verstand" oder die "Vernunft" "erzeugt" sind. Was der das Universum durchziehende  logos  sei, das wird erst durch  sie  faßbar.

Für die Ethik aber wird unsere Fassung des Apriorismus dadurch von großer Bedeutung, daß sie die bei KANT bestehende Vermischung von  sittlicher  Erkenntnis, sittlichem Verhalten' und  philosophischer Ethik  scharf scheiden lehrt.

Der eigentliche Sitz alles Wertapriori (und auch des sittlichen) ist die im  Fühlen, Vorziehen,  in letzter Linie im Lieben und Hassen sich aufbauende  Werterkenntnis,  bzw.  Werterschauung,  sowie die der Zusammenhänge der Werte, ihres "Höher- und "Niedrigerseins"; d. h. die  "sittliche Erkenntnis".  Diese Erkenntnis erfolgt also in  spezifischen  Funktionen und Akten, die von allem Wahrnehmen und Denken toto coelo verschieden sind und den einzig möglichen  Zugang  zur Welt der Werte bilden. Nicht durch "innere Wahrnehmung" oder Beobachtung (in der ja nur Psychisches gegeben ist), sondern  im  fühlenden, lebendigen Verkehr mit der  Welt  (sei sie psychisch oder physisch oder was sonst),  im  Lieben und Hassen selbst, d. h. in der Linie des  Vollzugs  jener intentionalen Akte blitzen die Werte und ihre Ordnungen auf! Und in dem so Gegebenen liegt auch der apriorische Gehalt. (21) Ein auf Wahrnehmung und Denken beschränkter Geist wäre zugleich absolut  wertblind,  wie sehr er auch der "inneren Wahrnehmung", d. h. also auch der Wahrnehmung von Psychischem fähig wäre.

Auf dieser Werterkenntnis (bzw. im besonderen Fall sittlicher Werterkenntnis) mit ihrem eigenen apriorischen Gehalt und ihrer eigenen Evidenz ist aber das sittliche  Wollen,  ja das  sittliche Verhalten  überhaupt so fundiert, daß jegliches Wollen (ja jegliches Streben überhaupt) primär auf die Realisierung eines in diesen Akten gegebenen Wertes gerichtet ist. Und  nur  sofern dieser Wert in der sittlichen Erkenntnissphäre auch faktisch gegeben ist, ist das Wollen ein sittlich einsichtiges im Unterschied vom "blinden" Wollen, oder besser blinden Impuls. (22) Hierbei kann ein Wert (bzw. sein Rang) im Fühlen und Vorziehen in den verschiedensten Graden der  Adäquation  bis zur "Selbstgegebenheit" (mit der "absolute Evidenz" zusammenfällt) gegeben sein. Ist er aber selbst gegeben, so wir auch as Wollen (bzw. Wählen im Fall des Vorziehens) im  Sein  wesensgesetzmäßig notwendig. Und in diesem Sinne - aber auch  nur  in ihm - restituiert sich der Satz des SOKRATES, (23) daß alles "gute Wollen" in der "Erkenntnis des Guten" fundiert sei; bzw. alles böse Wollen auf sittlicher Täuschung und Verirrung beruhe. (24) Diese gesamte Sphäre sittlicher Erkenntnis ist aber nun von der Urteils- und Satzsphäre (auch von der Sphäre, in der wir Wertverhalte in "Beurteilungen" oder Werthaltungen erfüllt sich in dem im Fühlen gegebenen  Wert  und ist nur insofern evident. Es ist also ganz selbstverständlich, daß der sokratische Satz nicht gilt für alles bloße begriffs- und urteilsmäßige Wissen vom Wert bzw. vom sittlichen Wert.

Baut sich aber so alles sittliche Verhalten auf sittlicher  Einsicht  auf, so muß andererseits auch alle Ethik auf die in der sittlichen Erkenntnis gelegenen Tatsachen und ihre apriorischen Verhältnisse zurückgehen. Ich sagen "zurückgehen"! Denn nicht die sittliche Erkenntnis und Einsicht selbst  ist  "Ethik". Ethik ist vielmehr erst die urteilsmäßige Formulierung dessen, was in der Sphäre der sitllichen Erkenntnis gegeben ist. Und sie ist philosophische Ethik, wenn sie sich auf den  apriorischen  Gehalt des in der sittlichen Erkenntnis evident Gegebenen beschränkt. Das sittliche Wollen muß durchaus nicht durch  Ethik  - durch die evidentermaßen kein Mensch "gut" wird -, wohl aber durch die sittliche Erkenntnis und Einsicht seinen prinzipiellen Durchgang nehmen.

Diese so bestehenden Grundverhältnisse sind aber bei KANT völlig verkannt. Denn es ist klar, daß sowohl das Wollen des Guten als die Beurteilung dessen, "was" gut ist, nur insofern (abgeleitet)  a priori  genannt werden kann, als es auf den im Wertgehalt der sittlichen Erkenntnis liegenden  apriorischen Tatbestand  gerichtet, bzw. durch ihn erfüllt wird. KANT dagegen macht - da er alles Apriori auf ein "Formen" und "Tun" zurückführt - bald das Wollen selbst zu Etwas, das eine "apriorische Gesetzmäßigkeit" hat, so daß erst das Produkt seiner Tätigkeit zur Beurteilung  und  zur sittlichen Erkenntnis führt, bald läßt er es von der Vorstellung des "Gesetzes", bzw. von der "Beurteilung" bestimmen, daß ein solches Wollen "richtig" sei. In beiden Fällen aber übersieht er vollständig die gesamte Sphäre sittlicher Erkenntnis und damit auch den eigentlichen  Sitz  des ethischen Apriori. Wie er in der theoretischen Philosophie das Apriori. Wie er in der theoretischen Philosophie das Apriori irrig aus der Urteilsfunktion herleiten will anstatt aus dem Gehalt der allem Urteil zugrundeliegenden Anschauung, so hier aus der Willensfunktion - anstatt aus dem  Gehalt der sittlichen  Erkenntnis, wie sie sich im Fühlen, Vorziehen, Lieben und Hassen wesensnotwendig vollzieht. Darum ist ihm auch die Tatsache der  "sittlichen Einsicht"  völlig unbekannt. An seine Stelle tritt bei ihm das "Pflichtbewußtesein", von dem sich zeigen wird, daß es nichts weniger ist, wie  sittliche Einsicht  selbst - wenn es auch  eine der möglichen Formen  der automatischen  subjektiven  Realisierung eines Inhalts solcher möglichen Einsicht sein kann -, ja daß es nur da auftreten kann, wo die sittliche Einsicht in vollem Sinne fehlt. (Siehe hierzu den II. Teil dieser Abhandlung.)

Es ist nach KANT aber auch dies völlig ausgeschlossen, daß wir bei uns selbst sowohl als bei anderen jemals wissen können, ob wir uns gut oder böse verhalten haben. Was uns in der Erfahrung nach KANT allein gegeben ist, das sind immer schon die materialen, empirischen, sinnlich bedingten "Absichten", die als solche sittlich indifferent sind, nicht aber die willentliche  Form  ihrer Setzung. Dies ist ja auch selbstverständlich, wenn das Apriorische nicht in die fühlbare Materie des Wollens, sondern in die Willens funktion  verlegt wird. (25) Darum gibt es für KANT immer nur das negative Kriterium des sittlich Guten, daß ein gutes Wollen  wider  alle in Frage kommenden "Neigungen" erfolge; niemals aber eine  positive Einsicht,  das Wollen  sei  gut. Da aber immer noch - wie er selbst sagt - heimlich eine "Neigung" mitspielen kann, so gibt es  Evidenz  hier überhaupt nicht. Man kann KANTs Lehre (26) nicht vorwerfen, daß er das "Wider die Neigung" zu einem Konstituens des guten Wollens gemacht habe; wohl aber, daß er dies "Wider die Neigung" zu einem Konstituens der  Erkenntnis,  ob Wollen gut sei - und dazu nur einer approximativen Wahrscheinlichkeits-Erkenntnis -, gemacht hat. Auch in dieser Hinsicht ist er - historisch gesehen - ein Erbe puritanischer Traditionen, nach denen es für die Frage, ob "auserwählt" oder "verworfen" ebensowenig ein Kriterium gibt als bei KANT für die Frage, ob "gut" oder "böse". Damit erhält der sittliche Grübelgeist des Individuums eine gleichsam unendliche Aufgabe.

Endlich erhält aber auch die Ethik, da sie eine selbständige Erkenntnisquelle nicht besitzt, hier eine unmögliche Stellung. Wie es möglich sei - wenn es ein solches Gesetz der Willensfunktion, des "reinen Wollens" gibt - es auch zu erkennen und in der Ethik zu formulieren, hat KANT nicht gezeigt. Bald stützt er sich auf die Analyse der gemeinen sittlichen Beurteilung - was die philosophische Ethik anders als  heuristisch  (nach seiner eigenen Erkenntnis) nicht darf - bald erklärt er, daß man sich darauf nicht stützen dürfe! Wo aber bleibt ihm noch eine  Quelle  der Erkenntnis für das Apriori des Wollens? Oder soll die Ethik selbst ein sittliches Verhalten sein? Darüber kann bei seinen Voraussetzungen Klarheit nicht bestehen.

6. Eng zusammen mit KANTs Erklärung des Apriori aus einer "synthetischen Tätigkeit" des Geistes, die wir zurückweisen, hängt nucn aber auch einerseits die "transzendentale", andererseits die hiervon wohl zu scheidende "subjektivistisch" Auffassung des Apriori. (27)

Nach der ersten soll allgemein das Gesetz gelten, daß sich die "Gesetze der Gegenstände der Erfahrung und Erkenntnis (desgleichen des Wollens) nach den Gesetzen des Erfahrens, des Erkennens (des Wollens) der Gegenstände richten."

Nun hat die Phänomenologie auf allen Gebieten, die sie ihrer Untersuchung unterzieht, drei Arten von Wesenszusammenhängen zu scheiden: 1. Die Wesenheiten (und ihre Zusammenhänge) der in den Akten gegebenen  Qualitäten  und sonstigen  Sachgehalte  (Sachphänomenologie); 2. die Wesenheiten der Akte selbst und die zwischen ihnen bestehenden Zusammenhänge und Fundierungen (Akt- oder Ursprungsphänomenologie); 3. Die Wesenszusammenhänge zwischen Akt- und Sachwesenheiten (z. B. daß Werte nur im Fühlen gegeben sind; Farben nur im Sehen; Töne nur im Hören (28) usw.). Akte selbst können hierbei nie und in keinem Sinne gegenständlich werden, daß ihr Sein allein im Vollzug beruth; wohl aber können ihre differentiellen Wesenheiten noch im Vollzug verschiedener Akte zur reflexiven Anschauung gebracht werden. (29) Es besteht aber nicht der mindeste Grund, aus diesen drei Arten von Wesenszusammenhängen nur die dritte Schicht  auszusondern  und in ihr außerdem generell - mit KANT - nur den  einseitigen  Wesenszusammenhang anzunehmen, daß sich die apriorischen Gesetze des  Gegenstandes  nach den Gesetzen der Akte "richten" müßten. Vielmehr bestehen (neben den zwei anderen Arten der Wesenszusammenhänge) zwischen spezifischen Aktarten und Sacharten prinzipiell "gegenseitige Wesenszusammenhänge" - (wie z. B. zwischen "innerer Wahrnehmung" und "Psychischem", aber auch "Psychischem" und "innerer Wahrnehmung", "äußerer Wahrnehmung"). Das große und wichtige Problem vom  "Ursprung"  der Erkenntnis (aller Art) ist so selbst nur ein  Teil  im Gesamtproblem apriorischer Wesensbeziehungen, nämlich der Teil der apriorischen Fundierungsbeziehungen zwischen den Akten (als Aktwesen). Es ist aber diese Frage durchaus nicht  "das"  Problem des Apriorismus, nach dessen Lösung sich die anderen großen Zentralprobleme zu richten hätten. Einen "Verstand, der der Natur seine Gesetze vorschriebe" (Gesetze, die nicht in ihr  selbst  gelegen wären) oder eine "praktische Vernunft", die dem Triebbündel erst ihre "Form" aufzupressen hätte, gibt es  nicht!  (30) "Vorschreiben" (sei es "generell", sie es "individuell", was hier nichts zur Sache tut) können wir allein den Zeichen und Zeichenverbindungen (Konventionen), die wir (bei Voraussetzung der Zeichenfunktion überhaupt) zur Bezeichnung irgendwelcher Sachen verwenden! (31) Ein Apriorismus im Sinne KANTs muß notwendig dazu führen, die apriorischen Sätze und Begriffe mit den bloßen Zeichen für sie zu verwechseln. Sind doch jene Sätze durch keinerlei Anschauungsgehalt mehr zu erfüllen! Was sollen sie denn anderes sein als bloße Konventionen, aus denen man vielleicht die "Ergebnisse der Wissenschaft" möglichst einfach ableiten kann? Nur sofern der apriorische Wesensgehalt an erster Stelle in den  Sachen  selbst gefunden wird und alle Sätze und Begriffe des Verstandes in ihm Erfüllung finden, entgehen wir jener Konsequenz, die Philosophie zur "Wortweisheit" machen würde.

Weit entfernt daher, daß uns der apriorische Wesensgehalt die  Gegenstände  und ihr  Sein  verschließen würde (wie ja nach KANTs Satz auch  die  Idee von Gegenständen zurückbleiben muß, die sich  nicht  nach den apriorischen Funktionsgesetzen des Verstandes richten, d. h. die Idee der "Dinge ansich", jener Satz sich aber auf die "Gegenstände möglicher Erfahrung" oder auf die sogenannte "Erscheinungswelt" beschränken muß),  eröffnet  sich vielmehr in ihnen der absolute Seins- und Wertgehalt der Welt, und es  fällt  der Unterschied zwischen  "Ding ansich"  und "Erscheinung". (32) Denn diese Scheidung ist nur eine  Folge  des hier zurückgewiesenen "Transzendentalismus" in der Deutung des Apriori.

Wohl aber besteht eine Gesetzmäßigkeit des "Sichrichtens" in einem ganz anderen, von KANTs Apriorismus völlig abweichenden Sinn: In dem Sinne nämlich, daß in aller "Erfahrung" im Sinne der "Beobachtung und Induktion", sowie in aller "Erfahrung der natürlichen Anschauung" und "des natürlichen Verstandes", sowie in aller "Erfahrung der Wissenschaft", die  Wesensbeziehungen  erfüllt bleiben; d. h. di wirklichen Dinge, Güter, Akte und deren reale Zusammenhänge sind es, die sich nach dem apriorischen Gehalt der Erfahrung "richten" (in jenem früher besprochenen Sinn). Dieses Grundgesetz zwischen  Wesen  und  Wirklichem  hat aber mit KANTs irriger "Kopernikanischer Wendung" nicht das mindeste zu tun!

7. Nicht gleichbedeutend mit KANTs tiefsinniger (wenn auch falscher) transzendentaler Deutung des  Apriori  ist die  subjektivistische  Deutung, die bei ihm das Apriori erhält; welche freilich bei dem vieldeutigen Schriftsteller bald mehr, bald weniger hervortritt. Hier gilt es nur, die Grenze scharf zu setzen, die das Wahre des "Apriorismus" von allem "Subjektivismus" scheidet.

Da kommt nun aber an erster Stelle der Versuch KANTs in Frage, das a priori Einsichtige entweder auf die sogenannte "Notwendigkeit" und "Allgemeingültigkeit" des Urteils (oder der "Beurteilung" im Wertgebiet) bzw. des Wollens (in der Ethik) zurückzuführen, oder doch in ihm wenigstens ein  Kriterium  für die Existenz apriorischer Einsicht zu sehen.

Wie "objektiv" man immer den Begriff der "Notwendigkeit" nehme und ihn - mit KANT von allem "subjektiven Denkzwang", der "Gewöhnung" usw. scheide: Zwei Dinge bleiben für alle "Notwendigkeit" wesentlich. Einmal die Tatsache, daß das mit dem Wort Gemeinte ursprünglich allein zwischen  Sätzen  besteht (z. B. im Verhältnis von Grund und Folge),  nicht  also zwischen Tatsachen der Anschauung (bzw. zwischen solchen  nur  abgeleitet, wenn' sie  Sätze  solcher Art erfüllen). Zweitens, daß Notwendigkeit ein  negativer  Begriff ist, insofern "dasjenige notwendig ist, dessen Gegenteil unmöglich ist". Nun ist aber apriorische Einsicht erstens  Tatsachen einsicht und nie ursprünglich im "Urteil", sondern in der  Anschauung  gegeben, wie ich zeigte. Uns sie ist zweitens rein  positive  Einsicht in den Bestand eines Wesenszusammenhangs. Beides scheidet die apriorische Einsicht wie ein Abgrund von aller und jeder "Notwendigkeit". Wo immer wir von "Notwendigkeit" sprechen, müssen wir Sätze als  wahr  voraussetzen,  nach  denen Satzverbindungen notwendig sind; z. B. den Satz, daß von zwei Sätzen von der Form  A ist B  und  A ist nicht B,  einer falsch ist; oder die bekannten Sätze von Grund und Folge. Diese Sätze müssen  wahr  sein; es ist irrig zu sagen, sie  definierten  die "Wahrheit", so daß "wahre" Sätze diejenigen wären, die ihnen folgen. Es ist aber klar, daß  diese  Sätze und ihre  Wahrheit  nicht wieder auf irgendeine "Notwendigkeit" zurückgeführt werden können, die vom bloßen "Denkzwang" verschieden wäre. Sie sind  wahr,  weil sie a priori einsichtig' sind. Weil das Sein von Etwas seinem Nichtsein in der  Anschauung  widerstreitet, darum ist jener obige Satz wahr. und "A ist B" ist falsch, wenn "A ist nicht B" wahr ist, und zwar "notwendig" falsch, wenn "A ist nicht B" wahr ist, das heißt a priori einsicht. Die  Einsicht  selbst auf eine "Notwendigkeit" zurückzuführen, ergibt keinen Sinn.

Ist es Aufgabe, zu erfassen, daß ein Gegenteil eines Satzes unmöglich ist,  wie  sollen wir dann erfassen, daß sein Gegenteil unmöglich ist? Es gibt, stützen wir uns hierbei  nicht  bereits auf Sätze, die Verbindungen von Sätzen betreffen, nur einen Weg: Sein Gegenteil wird unmöglich sein, wenn er  wahr  ist. Dieser Aufweis ist dann auch für alle Sätze, die selbst auf Wesenszusammenhänge gehen, als auch für rein logische Sätze der einzige Weg! Solche Sätze sind "evident wahr"; "notwendig" aber sind dann solche Sätze, deren Gegenteile evident wahren Sätzen widersprechen (nach dem Satz des Widerspruchs, der selbst nicht notwendig, sondern "evident wahr" ist).

Als völlig verkehrt muß es uns darum gelten, sei es das Wesen der "Wahrheit", sei es das Wesen des "Gegenstandes" auf eine "Notwendigkeit" des Urteilens oder der Sätze, bzw. auf die "Notwendigkeit einer Vorstellungsverknüpfung" zurückführen zu wollen. Sagt man: Wir meinen ja nicht die "subjektive Denknotwendigkeit", sondern die "objektive Notwendigkeit", so etzt man eben im Beiwort "objektiv" immer bereist den  Gegenstand  bzw. die  gegenständliche Wahrheit voraus.  "Objektiv" ist eben die Notwendigkeit eines Satzes allein  dann,  wenn dieser Satz auf gegenständlicher Einsicht in einen apriorischen  Tatbestand  beruth; vermöge deren dann der Satz für  alle  "Fälle" "notwendig" gilt, die diesen  Tatbestand  an sich haben.

Dies gilt nun auch besonders für das Apriori im Wertgebiet und in der Ethik. Alle "Sollensnotwendigkeit" geht auf die  Einsicht in apriorische  Zusammenhänge zwischen  Werten  zurück;  niemals  aber jene auf eine Notwendigkeit des Sollens! So kann auch nur zur "Pflicht" werden,  was gut  ist, oder was,  weil  es  gut  ist (im idealen Sinne), notwendig sein "soll". Auch hier ist es die Einsicht in die von aller Erfahrung von Gütern und allen Zwecksetzungen unabhängige  apriorische Struktur des Wertreiches,  die in der Sphäre des "Sollens" und der Beurteilung die "Notwendigkeit" des Sollens und der Beurteilung nach sich zieht. Dagegen ist die  Voranstellung  jener Sollensnotwendigkeit (oder gar der "Pflicht")  vor  die Einsicht in das,  was  gut ist, hier so falsch wie dort die Meinung, es ließe sich der Gegenstand (und im anderen Sinne die Idee der "Wahrheit") auf die "Notwendigkeit einer Vorstellungsverknüpfung" (bzw. auf die Denknotwendigkeit) zurückführen.

Auch die "objektivste Notwendigkeit" birgt das "subjektive" Element in sich, daß sie sich erst konstituiert durch den Versuch, einen auf einem Wesenszusammenhang fundierten Satz zu  verneinen.  Erst in diesem Versuch springt sie heraus. Was, abgesehen von diesem "Versuch", sie noch enthält, das ist eben nur dieses früher Genannte, daß  Wesensbeziehungen  in aller nichtphänomenologischen Erfahrung  erhalten  bleiben müssen, daß also darauf sich gründende Sätze durch induktive Erfahrung unbeweisbar und unzerstörbar sind!  Sie gelten für alle Gegenstände dieses Wesens, weil sie für das Wesen dieser Gegenstände gelten. 

Daß "Allgemeingültigkeit" erst recht nichts mit Apriorität zu tun hat, braucht kaum mehr gesagt zu werden. Schon darum nicht, weil "Allgemeinheit" in keinem Sinn zur Wesenheit gehört. Es gibt auch individuelle Wesenheiten und Wesenszusammenhänge zwischen Individuellem. Daß Allgemeingültigkeit im Sinne der Gültigkeit "für" alle Subjekte eines gewissen "Verstandes" oder gar nur für die Menschengattung mit "Apriorität" auch nicht das mindeste zu tun hat, wurde anderwärts schon hervorgehoben. Es kann durchaus ein Apriori geben, für das nur  einer  die Einsicht hat, ja haben  kann!  Nur für solche Subjekte (alle Allgemeingültigkeit ist wesentlich eine solche "für" jemand, während Apriorität durchaus nicht eine solche "Für"-Beziehung einschließt), die dieselbe Einsicht haben  können,  ist ein Satz, der auf apriorischem Gehalt beruth,  auch  "allgemeingültig"!

Subjektivismus  ist mit dem Apriorismus aber auch dann irrig verkettet, wenn das Apriori nicht nur als (ausschließliches) primäres "Gesetz" von Akten, sondern außerdem noch als das Gesetz von Akten eines  "Ich"  oder eines  "Subjektes  gedeutet wird, z. B. als die  Tätigkeitsform  eines "transzendentalen Ich", oder eines sogenannten "Bewußtseins überhaupt", oder gar eines "Gattungsbewußtseins"! Denn in  jedem  Sinne' stellt das "Ich" - auch die in allen individuellen Ichen liegende "Ichheit" - nur einen "Gegenstand" für Akte überhaupt dar, und zwar speziell für die Akte vom Wesen der "inneren Wahrnehmung". Nur in ihr, nicht in Akten z. . der "äußeren Wahrnehmung", vermögen wir es anzutreffen. Es steht auch als "Ichheit" mit dem Wesen der spezifischen Aktform der "inneren Wahrnehmung" im Wesenszusammenhang. Auch wenn wir die Ichheit als  solche  in Augenschein nehmen - absehend von allen individuellen Ichen und ihren "Bewußtseinsinhalten" -, so ist sie noch ein  positiver Gehalt  der Anschauung, durchaus nicht nur das "Korrelat" eines "logischen Subjekts" mit empirischen Erlebnissen als ihren Prädikaten. Das Ich ist als solches ein mögliches Glied von Wesenszusammenhängen, z. B.: daß zu jedem "Ichsein" ein "Natursein" gehört zu aller "inneren Wahrnehmung" der Akt der "äußeren Wahrnehmung" usw. Aber es ist nicht der  Ausgangspunkt  der Erfassung oder gar der Produzent von Wesenheiten. (33) Auch ist es nicht eine Wesenheit, die alle anderen Wesenheiten - einseitig - "fundierte" oder auch nur alle Wesenheiten von Akten fundierte. Im lebendigen Vollzug der äußeren Wahrnehmung ist uns Natur "selbst" und  unmittelbar  - nicht aber als "Vorstellung" oder "Empfindung" eines Ich - gegeben; in der "Reflexion" ist die  Aktrichtung  der äußeren Wahrnehmung gegeben, durchaus aber kein Ich, von dem ausgehend sie erlebt würde (34). Erst indem uns Natur so unmittelbar wie im ersten Fall das "Ich" gegeben ist, als  derselben Person,  die diese Art von Akten vollzieht, bewußt werden, können wir sagen: "Ich nehme den Baum (z. B.) wahr", wobei "Ich" weder "das" "Ich" noch das individuelle "Ich" des Redenden (im Gegensatz zu Natur) bedeutet, sondern allein "Ich" im Gegensatz zum "Du", d. h. die individuelle Person des Redenden im Gegensatz zu einer anderen Person. Nicht "ein Ich nimmt den Baum wahr", sondern ein Mensch, der ein Ich hat, und der sich als dieselbe Person bewußt ist im Vollzug seiner äußeren  und  inneren Wahrnehmungen. (35)

Auch für das ethische Apriori ist es von höchster Wichtigkeit, daß es durchaus nicht die Tätigkeitsweise eines  "Ich",  eines  "Bewußtseins  überhaupt"' usw. darstellt. Auch hier ist das Ich (in jedem Sinne) nur  Träger  von Werten, nicht aber eine  Voraussetzung  der Werte, oder ein "wertendes" Subjekt, durch das es erst Werte gäbe, oder durch das Werte erst erfaßbar wären. Es ist merkwürdig genug, daß gerade der hier zurückgewiesene "Subjektivismus" in der Aprioritätslehre - wie sich zeigen wird - den sittlichen Wert des  individuellen  Ich am meinsten  entrechtet,  ja ihn geradezu zu einer contradictio in adjecto [Widerspruch in sich - wp] gemacht hat. (36) Denn gerade nach dieser Deutung  muß  es so erscheinen, als könne es Wesenswerte von individuellen Ichen, als könne es auch "individuelles Gewissen", Gutes für  ein  Individuum und  nur  für  eines  schon von vornherein nicht geben! Das individuelle Ich ist ja - wenn das Apriori "Tätigkeitsform eines Bewußtseins überhaupt" oder eines "transzendentalen Ich" ist - notwendig von vornherein nur als eine empirische Trübung jenes transzendentalen Ich anzusehen, als ein in der Erfahrung (im Sinne der Beobachtung bzw. der sinnlichen Erfahrung) fundiertes Sein. (37) Auch sein sittlicher Wert wird durch das formale Apriori und durch seinen Träger, das transzendentale Ich, verschlungen. (38)

8. Noch ein letztes Mißverständnis muß vom Begriff des Apriori abgewehrt werden, das sein Verhältnis zu den Begriffen des "Angeborenen" und "Erworbenen" betrifft. Da es - fast mehr als nötig - hervorgehoben worden ist, daß der Unterschied des Apriori und des Aposteriori mit der Frage von "angeboren" oder "erworben" nicht das mindeste zu tun hat, so ist es nicht nötig, dies hier nochmals zu sagen. Die Begriffe "angeboren" und "erworben" sind kausalgenetische Begriffe und haben darum da, wo es sich um die  Art der Einsicht  handelt, keine Stelle. Daß darum jeder Versuch, das Apriori selbst auf "angeerbte Dispositionen" zu den Erfahrungen zurückzuführen, die einst unsere phylogenetischen "Ahnen" gemacht haben (vgl. z. B. SPENCER), oder gar auf den Traditionsdruck von Verbindungsarten der Vorstellungen, die sich im Laufe der geschichtlichen Entwicklung allmählich fixiert und sich vermöge ihrer Zweckmäßigkeit, das Handeln in der Richtung des "Förderlichen" zu bestimmen, erhalten haben (wie der sogenannte "Pragmatismus" phantasiert), mißlingen muß, ist für jeden, der den Unterschied des Apriori von induktiver Erfahrungsgegebenheit überhaupt begriffen hat, selbstverständlich.

Aber gerade darum, weil das Problem des "Angeborenen" und "Erworbenen" durch jene Frage  gar nicht berührt  ist, aber natürlich gleichwohl mit seiner ganzen Wucht für  jede Verwirklichung  einer  Erkenntnis  (sei sie a priori oder a posteriori) seitens eines realen Individuums von bestimmter Naturorganisation fortbesteht, so ist es auch gar nicht ausgeschlossen, daß  apriorische Einsichten  auf  all  diesen Wegen (Vererbung, Tradition, Erwerbung)  faktisch durch Menschen  realisiert werden. Es wäre ein schlechter Gebrauch der endlich in der Philosophie festgewordenen Einsicht, das Apriori sei von allem "Angeborenen" grundverschieden, wenn man darum annähme, "a priori" sei nur eine Einsicht, die "erworben" oder gar "selbsterworben" ist. Denn sehr wohl kann die  Verwirklichung  einer apriorischen Einsicht auch auf  angeborenen Anlagen  beruhen, genau so wie der Farbensinn eine "Anlage" (in großen Schwankungsbreiten) darstellt, ohne daß hierdurch im mindesten die Apriorität der Farbengeometrie tangiert wird. Insofern ist es also keineswegs ausgeschlossen, daß die  Fähigkeit  zu einer apriorischen Einsicht auch "angeboren" ist, das heißt vererbt. (39) Auch kann diese Fähigkeit prinzipiell beschränkt vererbt sein, z. B. nur innerhalb einer gewissen "Rasse" - so daß also andere Rassen die betreffenden "apriorischen Einsichten" nicht haben könnten. Denn daß es für die Gewinnung apriorischer Einsichten eine "generell-menschliche Anlage" gäbe, das liegt jedenfalls in der  Natur  des Apriori so wenig, wie überhaupt eine bestimmte Determination seiner tatsächlichen Gewinnung. Mit einer sogenannten "allgemein-menschlichen Vernunftanlage", die einen festen Bestand von "Formen" oder "Ideen" repräsentierte (diesem Idol der Aufklärungsphilosophie), hat das echte "Apriori" nicht das mindeste zu tun; und ebensowenig eine Art der  Einsicht  im Sinne einer Wesensart mit der  tatsächlichen Verbreitung der Fähigkeit  zu dieser Einsicht innerhalb einer natursystematischen Spezies. Genauso verliert eine apriorische Einsicht nicht dadurch ihren apriorischen Charakter, daß sie z. B. durch Tradition" zugeht. Natürlich  wird  etwas dadurch, daß es durch Tradition oder durch Vererbung zugeht, keine apriorische Einsicht. Aber ebensowenig  verliert  es dadurch diesen Charakter. Das, was a priori einsichtig ist,  kann  durchaus auch durch  diese  Arten der Übertragung dem Einzelnen zugehen. Es gehört also durchaus nicht zur apriorischen Einsicht, daß sie "selbsterworben" oder "selbstgefunden" sei.

Wenn KANT häufig die "apriorische Erkenntnis" auch dem "Selbsterworbenen" gleichsetzt, so hat dieses seinen Grund darin, daß ihm das Apriori im Gegenstand aus einer  Tätigkeitsform  des Geistes stammt und primär ein Gesetz der "Synthesis" darstellt. Ist das Apriori nicht ursprünglich ein  Gehalt der Anschauung  (und abgeleiteterweise ein  Satz,  der durch einen solchen Gehalt erfüllt wird), sondern eine  Tätigkeitsform  (z. B. Urteilsform), so ist es freilich eine notwendige Folge, daß diese "Tätigkeit" nur jeder selbst verrichten könne, es also darum notwendig auch ein  "Selbsterworbenes"  sei. Nun haben wir aber vorher  diese  Deutung des Apriori zurückgewiesen. Darum entfällt für uns auch diese Konsequenz!

Für uns ersteht daher hier eine ganz neue Problemreihe, die wir zusammenfassen können als das Problem der faktischen und der zweckmäßigsten  Ökonomisierung der Tätigkeiten,  die zu "apriorischer Einsicht" führen; unter ihnen aber macht die "Selbsterwerbung" nur eine  einzige  Art dieser Tätigkeiten aus. Was z. B. das tatsächliche Zusammenwirken von Vererbung, Tradition, Erziehung, Autorität, eigener Lebenserfahrung und daraus resultierende Gewissensbildung zur Erwerbung solcher Einsichten tut, was auch im ökonomisch-technischen Sinn das zweckmäßigste sei, um das sittlich "a priori Einsichtig" Menschen faktisch zugehen zu lassen, das ist ein großer und höchst gewichtiger Fragenkreis, der mit der Frage,  was so einsichtig ist,  nichts zu tun hat, der aber eben darum  nicht  durch jene falsche Identifizierung abgeschnitten und zu alleinigen Gunsten des "Selbsterworbenen" entschieden werden darf.

Das Gesagt ist für die Ethik von ganz besonderer Bedeutung. Hier wird es von der Kantischen Philosophie nahestehenden Ethikern als etwas Selbstverständliches vorausgesetzt, die  echte  sittliche Einsicht müsse auch eine  selbsterworbene  Einsicht sein; als müsse jeder gleichmäßig das sittlich "Einsichtige" auch einzusehen "vermögen". Soweit jene Forscher es zurückweisen, anstelle der  Einsicht  in  das, was gut  ist, sei es den "Willen Gottes", sei es "vererbte Instinkte einer Gattung" oder einer "Rasse", sei es die sittliche "Tradition", seien es Befehle einer "Autorität" zu setzen, sind sie freilich  völlig  im Recht. Aber der Satz, daß  Einsicht in das Gute  allein ursprünglich bestimmen kann, was gut sei (und hieraus folgend erst auch alle  Normen  für Wollen und Handeln), hat mit der Frage, durch das Zusammenwirken  welcher  Tätigkeitsfaktoren das  einsichtige Gute  am zweckmäßigsten zu gewinnen sei, und wa hierzu  Tradition, Vererbung, Autorität, Erziehung, selbsterworbene Erfahrung beitragen mögen, auch nicht das mindeste zu tun. Nur im Falle, daß man die vorher zurückgewiesenen Deutungen des Apriorismus, die formalistische, subjektivistische, transzendentalistische, spontanistische, bereits vorausgesetzt, kann es den entgegengesetzten Anschein gewinnen. (40)

Freilich ist für das hier Gesagte auch vorausgesetzt, daß es - wie wir früher sagten - überhaupt eine sittliche  Erkenntnis  gibt, die vom sittlichen  Wollen  grundverschieden ist, und die das Wollen des Guten fundiert; und daß der Sitz des ethischen Apriori des Wollens selbst liegt. Wäre das sittlich Gute ein "Begriff" (nicht ein materialer Wert), der erst durch Reflexion auf einen Willensakt oder die bestimmte Form eines solchen Existenz bekäme, so wäre freilich  ethische Erkenntnis unabhängig  vom sittlichen Wollen gar nicht möglich. Und da jeder nur seinen eigenen Willen "wollen" kann (einem fremden aber - so nicht Suggestion vorliegt - nur "gehorchen"), so müßte in diesem Fall auch sittliche Erkenntnis entweder eine selbsterworbene (d. h. vom eigenen Wollen erworbene) sein, oder es müßte einsichtsloser Gehorsam gegen Befehle statthaben, von denen man nicht wissen könnte, ob sie selbst (als Willensakte) auf sittlicher Einsicht beruhen. Eine solche Alternative aber beruth auf der genannten irrigen Voraussetzung. (41)
LITERATUR: Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, Neuer Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalismus - [mit besonderer Berücksichtigung der Ethik Immanuel Kants], Sonderdruck aus: "Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung", Bd. I und II, herausgegeben von EDMUND HUSSERL, Freiburg i. Br., Halle a. d. Saale, 1916
    Anmerkungen
    1) Gerade hierin macht KANT dem Empirismus eher zu große als zu geringe Zugeständnisse. So wenn er sein Sittengesetz als boße "Formulierung" dessen ausgibt, was stets als sittlich "gegolten" habe.
    2) KANT, Kritik der praktischen Vernunft, 1. Teil, 1. Band, 1. Hauptstück: "Einen solchen Gang kann ich aber mit der Deduktion des moralischen Gesetzes nicht nehmen."
    3) Sie besonders die "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten".
    4) Im Grunde steht es ja in der theoretischen Philosophie nicht besser wie hier. Denn auch hier dürfen wir  nicht  von der "Wissenschaft" ausgehen, um das Apriori zu bestimmen, oder gar um das Wesen von Erkenntnis und Wahrheit zu bestimmen. Auch hier ist die erste Frage: Was ist gegeben? Und erst die zweite: für welche Elemente des Gegebenen der Anschauung hat gerade die "Wissenschaft" im Unterschied z. B. von der "natürlichen Weltanschauung", von der "Philosophie", von der Kunst  Interesse  und warum? Auch hier kann das Apriori nicht als "Voraussetzung der Wissenschaft" erschlossen werden, sondern ist in seinen phänomenalen Grundlagen aufzuweisen.
    5) Auch hier ist Wahrheit "Übereinstimmung mit Tatsachen"; nur mit Tatsachen, die selbst "a priori" sind. Und die Sätze sind apriori "wahr", weil die Tatsachen, in denen sie Erfüllung finden, "a priori" gegeben sind.
    6) Kategorie als Begriff und als Gehalt der "kategorialen Anschauung" ist zuerst von EDMUND HUSSERL (Logische Untersuchungen II, 6) scharf getrennt worden.
    7) So läßt sich zeigen, daß z. B. alle mechanischen Prinzipien schon im  Phänomen  einer Bewegung eines Massenpunktes liegen - wenn das Phänomen streng isoliert wird - und daß sie daher allen  möglichen  beobachtbaren Bewegungen zugrunde liegen; also bei allen nur möglichen  beobachtbaren  Variationen von Bewegung erhalten bleiben.
    8) Es ist klar, daß "phänomenologische Erfahrung" mit der Erfahrung durch "innere Wahrnehmung" nichts zu tun hat. Auch  was  "innere" und "äußere" Wahrnehmung sei, bedarf wieder einer phänomenologischen Aufklärung. Allein die "Selbstgegebenheit" eint die phänomenologische Erfahrung; daß aber etwas, um selbstgegeben zu sein, in innerer Wahrnehmung gegeben sein müsse, ist nur in psychologistisches Vorurteil.
    9) Alle diese Mißdeutungen des Apriori liegen in der Literatur bekanntlich vor.
    10) In diesem SInne ist z. B.  jeder  geometrische Satz a priori, gleichgültig, ob er Axiom oder Lehrsatz ist.
    11) Vgl. hierzu das, was ich in meinem Aufsatz "Über Selbsttäuschungen" hierüber gesagt habe.
    12) Leicht zu verwechseln, aber gerade im Gegenteil Zeichen des unenergischen "Träumers", ist die Tendenz, bloße Wunschinhalte in der Phantasie, im Tagtraum, - zuweilen auch selbst in abnormer Breite in der Jllusion und Halluzination - wie als real gegeben im Bewußtsein zu haben, d. h. das bloß Gewünschte oder auch praktisch Erstrebte in seinem Dasein zu  antizipieren,  sowie seine Realität im voraus auszukonsten und zu genießen. So - wenn wir in der Wirklichkeit des Zweckinhaltes eines Planes leben, den wir auszuführen einige Schritte taten, der aber noch viel mehr Arbeit kostet, die zu tun wir uns zu schwach und unvermögend fühlen. Umgekehrt kann auch die Neigung, das so nur Gewünschte oder Halberreichte "als wirklich" zu antizipieren und bereits vorher gefühlsmäßig auszukosten, die Energie zu seiner Realisierung schädigen. In geringerem Maße findet sich dies beim "Projektemacher". Auch die von FREUD und seiner Schule zunächst für den Trauminhalt herangezogene "Wunschrealisierung", desgleichen die Rückwirkung des Wunsches auf den Erinnerungsinhalt und die Vorwirkung auf den Erwartungsinhalt gehören hierher. - Dagegen "lebt" der Willensstarke in seinen Projekten als "Projekten", als "zu realisierenden" Inhalten, ohne daß sie jenen Realitäts anschein  gewinnen; und er hat zugleich den kalten Blick für das Wirkliche, das ihm in scharf geschiedenen Intentionen in seinem Kausalnexus gegeben ist. Während dort das "als real" antizipierte Projekt bereits genossen und ausgekostet wird, entfaltet es hier die dynamische Wirkung, die im Rahmen der möglichen Beherrschbarkeit liegenden Heere von Mitteln wie mit  einem  Schlag als ein (dann durch die Überlegung zu analysierendes) Gewebe vor Augen zu führen. Die gleichzeitige  scharfe  Trennung des Wirklichen und Nichtwirklichen und das volle Leben im Projekt ist eine ausgezeichnete Eigenschaft starker Willensnaturen.
    13) Es wäre der größte Irrtum, diese Erscheinung stärksten (gleichsam ekstatischen)  Wollens  mit den Tatsachen des bloßen "Aufstrebens", des triebartigen Strebens gleichzusetzen; nur darum, weil beide Erlebnisse  nicht  als vom Ich ausgehend erlebt sind. Sie sind vielmehr die äußersten Gegensätze in den Strebenstatsachen, deren Mitte das "ich will" (als Erlebnis) darstellt. Jene erste Tatsache ist durchaus zentralstes Wollen, ja, das eigentlichste Wollen der "Person" selbst, die aus Ausgangspunkt aller Akte vom Gegenstand innerer Wahrnehmung oder dem "Ich" ganz verschieden ist. Siehe hierzu den II. Teil dieser Abhandlung.
    14) Siehe hierzu das Folgende III.
    15) Den Sinn dieser großen Idee ganz auseinanderzusetzen, ist hier nicht der Ort. Vgl. unseren II. Teil dieser Abhandlung und "Fühlen und Gefühle".
    16) Nur durch dieses Vorurteil konnte KANT zu der Ungeheuerlichkeit kommen, Lieben und Hassen als "sinnliche Gefühlszustände" anzusehen.
    17) Ja, in letzter Linie ist - was hier nicht bewiesen werden kann - der Apriorismus des Liebens und Hassens sogar das letzte Fundament  jedes  anderen Apriorismus, und damit das gemeinsame Fundament sowohl des apriorischen Seinserkennens, als des apriorischen Wollens von Inhalten. In ihm, nicht aber in einem "Primat", sie es der "theoretischen", sie es der "praktischen Vernunft", finden die Sphären der Theorie und Praxis ihre  letzte  phänomenologische Verknüpfung und Einheit. Schon FRANZ BRENTANO hat einen ähnlichen Gedanken angedeutet. Doch ist hier nicht der Ort, ihm weiter nachzugehen.
    18) Treffend hat dies auch HENRY BERGSON in seinem Buch "Materie und Gedächtnis" hervorgehoben.
    19) Selbstliebe und Egoismus sind für KANT gleichbedeutend.
    20) Historische liegt die puritanisch-protestantische Haltung des prinzipiellen  Mißtrauens  in die eigene, nicht duch systematisch-rationelle Selbstkontrolle hindurchgegangene "Natur" und jede ihrer Regungen (die sich ja auch in seiner Lehre vom "Radikal-Bösen" spiegelt) und gleichzeitig die Haltung des prinzipiellen  Mißtrauens  von Mensch zu Mensch - soweit nicht das Verhältnis eine  vertragsmäßige  gesetzliche Form angenommen hat (gleichfalls eine Tradition des Protestantismus puritanischer Färbung) - hier überall  zugrunde,  jene selben "Haltungen", die auch einen großen Teil der Theorien der englischen Moralphilosophie erst  geformt  haben. Siehe hierzu meinen Aufsatz: Ressentiment usw. und MAX WEBERs treffliche Ausführungen in seinen Aufsätzen über Kapitalismus und calvinistische Ethik.
    21) Natürlich  auch  dem Psychischen und etwa Eigenpsychischen gegenüber. Dann verhalten wir uns aber eben fühlend zu uns selbst (in der Form innerer Anschauung), liebend, hassend usw.,  nicht  aber wahrnehmend und beobachtend.
    22) Wenn wir sie z. B. "als zweckmäßig für die Arterhaltung" usw. beurteilen.
    23) Dagegen ist jedes bloß  urteilsmäßige  "Wissen", was "gut" ist, ohne Erfüllung im gefühlten Wert selbst; darum ist auch solche bloße Kenntnis sittlicher Normen  nicht  determinierend für das Wollen. Auch das Fühlen, was gut sei, bestimmt nur das Wollen, sofern der Wert darin adäquat und evident, d. h. selbst gegeben ist. Was an der sokratischen Formulierung (nicht an seinem  Wissen  des Guten, dessen Kraft auf das Wollen sein Tod leuchtend erwies) falsch war, ist sein Rationalismus, vermöge dessen schon der bloße  Begriff,  was "gut" sei, die Kraft haben solte, das Wollen zu determinieren. Hierdurch erledigen sich auch die bekannten Einwendungen gegen seinen großen Satz.
    24) Nicht auf "Irrtum", sondern auf Täuschung im Fühlen selbst, bzw. im Vorziehen. Nur im Fall, daß eine Beurteilung der Werthaltung stattfindet, auch auf "Verirrung", die von theoretischem "Irrtum" verschieden ist und nicht eine Abart seiner.
    25) Ganz analog vermag er ja auch nicht zu zeigen, wie das Verstandes-apriori -  wenn  es so besteht, wie er behauptet - zu erkennen und aufzudecken wäre; also ob selbst a priori oder empirisch-induktiv.
    26) Wohl aber seiner Gesinnung, die durchaus im Sinne des SCHILLERschen Epigramms "rigoristisch" ist.
    27) Einer "psychologistischen" Deutung des Apriori, d. h. einer Auffassung, nach der es "Tatsachen der inneren Wahrnehmung" seien, die in die Sphäre äußerer Erfahrung darum notwendig "verlegt" oder "eingefühlt" würden, weil nur die "innere Wahrnehmung" unmittelbar und evident, die äußere aber mittelbar und nichtevident sei, desgleichen einer Identifizierung der "Vernunftakte" mit  psychischen Erlebnisse,  - seien sie auch Erlebnisse eines sogenannten "Gattungsbewußtseins" - ist KANT  nie  verfallen! Ja, es ist eines seiner welthistorischen Verdienst, diese psychologistischen Irrtümer - die in der Philosophie der Gegenwart wieder weithin Boden gewonnen und teils in FICHTEschen, teils HUMEschen Spielarten verbreitet sind-  zurückgewiesen  zu haben. Einer anthropologistischen Deutung des Apriori - die von der ersten ganz unabhängig ist - verfiel er wenigstens nicht in der Ethik; umso mehr in der theoretischen Philosophie.
    28) Selbstverständlich wären dies keine "Wesenszusammenhänge", wenn "Hören" und "Sehen" nicht selbst wieder in der Reflexion erfaßbare  Funktionen  des (einheitlichen) Empfindens wären, sondern diese Worte (abgesehen vom Bewußtsein der Mitwirkung von Auge und Ohr beim Sehen und Hören) nur "Bewußtsein von Farben bzw. Tönen" bedeuteten. So aber - wie z. B. NATORP in seiner "Einleitung in die Psychologie" meint - ist es durchaus  nicht.  Vielmehr ist zu zeigen, daß - abgesehen von der Gegebenheit der Funktionen in der Reflexion - sie auch eine von ihren  Inhalten  (Farben, Tönen) und voneinander unabhängige Gesetzmäßigkeit in der  Variation  besitzen, z. B. des Umfangs (der sogenannten "sinnlichen Aufmerksamkeit"), der Perspektive (beim "Sehen"), der von den sogenannten Hör- und Sehschärfen ganz unabhängigen "Überschaubarkeit" der Inhalte, desgleichen besondere  Störungsmöglichkeiten  usw., lauter Variationen, die von den Inhalten und Empfindungen, desgleichen von den Seh- und Hörorganen sowie den  allgemeinen  Aufmerksamkeitsvariationen (die  alle  Inhalte des Bewußtseins gleichmäßig treffen), ja sogar davon unabhängig sind, ob die Töne und Farben wirklich oder nur phantasie- oder erinnerungsmäßig "gehört" und "gesehen" werden.
    29) "Reflexion" ist den spezifischen Wesenheiten von Akten gegenüber möglich; sie hat aber selbstverständlich gar nichts mit innerer Wahrnehmung, auch nichts mit Beobachtung, geschweige innerer Beobachtung zu tun. Jede "Beobachtung" hebt die Akte auf.
    30) Selbstverständlich ist auch das Problem des "Ursprungs" der Erkenntnis völlig unabhängig von aller  Genese  der Erkenntnis bestimmter Dingwirklichkeit durch ein reales Subjekt in der objektiven Zeit. Die "Fundierung" besteht ja nur in der  Ordnung  des Aufbaus der Akte,  nicht  in ihrer zeitlichen realen Abfolge.
    31) Was daher der "Verstand der Natur vorschreiben" kann, das sind lediglich - weniger pathetisch - die  Konventionen  des Gelehrten.
    32) Die Relativität des "Seins" der natürlichen Weltanschauung, wie auch (in anderem Sinne) des "Seins" der Wissenschaft und seine "Erscheinungsnatur" bleibt hierdurch unangefochten, findet aber ihren Sinn nicht in einer vermeintlichen "Relativität der Erkenntnis" überhaupt, sondern in den spezifischen  Zielen  und  Zwecken,  welche jene beiden Arten der Erkenntnis besitzen, und die als Selektionsfaktoren am Gegebenen wirken.
    33) Auch die "Materialität" ist uns in  jedem  Akt äußerer Wahrnehmung gegeben und ist als solche weder "erschlossen", noch "hineingedacht", noch bloß "geglaubt" - wie sehr auch die Hypothesen über die Materie wechseln mögen.
    34) Die sogenannte "Unabhängigkeit" der äußeren Gegenstände vom Ich ist eine  Folge  davon, daß uns die physischen Gegenstände "selbst" gegeben sind, nicht aber  besteht  das Wesen dieser Gegenstände in einer zunächst gegebenen "Unabhängigkeit vom Ich".
    35) Darüber, daß dieses "Dasselbige" die vom "Ich" grundverschiedene "Person" ist, eine Idee, die keineswegs auf das "Ich" gegründet ist, sondern die konkrete Form darstellt, in der Akte allein existieren können, vgl. den II. Teil dieser Abhandlng, Abschnitt Autonomie und Formalismus.
    36) Denn da hier das "individuelle Ich" mit dem Ganzen der  empirischen  Erlebnisse zusammenfällt (die erst ein individuelles Ich von dem anderen verschieden machen sollen), der  sittliche  Wert des Ich aber nur darin bestehen soll, daß es von einem transzendentalen Ich bestimmt wird, so muß auch das individuelle Ich schon  als  individuelles immer prinzipiell auf dem sittlichen Holzweg sein, d. h. es ist nicht anders wie bei AVERROES und SPINOZA: das "Individuum" sündigt  notwendig,  da es Individuum ist. Aber faktisch sind die sogenannten empirischen Erlebnisse eines Ich so lange noch abstrakt und inadäquat gegeben, solange man nicht sieht,  welches  individuellen Ich Erlebnisse sie sind. Und ebensowenig ist "das" Ich erst als Beweger eines bestimmten Leibes individuelles Ich.
    37) Sieh hierzu die Ausführungen am Schluß meines Aufsatzes "Über Selbsttäuschungen I".
    38) Von jener irrigen subjektivistischen Wendung des Apriori sind völlig zu scheiden zwei - auch für die Ethik - grundlegende Wesenszusammenhänge, die allein die Stelle verdienen, die bei KANT die transzendentale Apperzeptin innehat. Der erste besteht zwischen dem  Wesen  des Aktes und dem  Wesen  des Gegenstandes überhaupt! Auch er ist ein gegenseitiger Wesenszusammenhang! Er schließt aus, daß es ihrem Wesen nach "unerkennbare" Gegenstände geben möchte, "unfühlbare Werte" usw. der zweite ist der Wesenszusammenhang von  Akt  und  "Person"  und  Gegenstand  und  "Welt";  doch ist hier nicht die Stelle, dem genauer nachzugehen.
    39) Von einem "eingeboren" im Sinne der Rationalisten, welche die Fähigkeit zu apriorischer Einsicht auf eine Mitgift Gottes an die Seele zurückfhrten, kann ja gegenwärtig nicht mehr die Rede sein.
    40) Hierzu vergleiche den Abschnitt über Heteronomie und Autonomie, wo ich die Bedeutung der Tradition und der Autorität für die Gewinnung sittlicher Einsicht entwickle.
    41) Autonomie des sittlichen Erkennens und Autonomie des sittlichen Wollens und Handelns sind daher grundverschiedene Dinge. So ist der Akt des Gehorsams ein autonomer Willensakt (im Unterschied vom Unterliegen einer Suggestion, Ansteckung oder Nachahmungstendenz), der aber gleichzeitig  fremder  Einsicht folgt; er ist aber auch ein einsichtiger Akt, wenn wir einsehen, der Befehlende habe ein höheres Maß von sittlicher Einsicht als wir selbst.