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FRIEDRICH ÜBERWEG
Die positivistische Philosophie
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I. Der Positivismus

Die auch zur Zeit der Neuentstehung philosophischer Tendenzen zunächst noch lange sich erhaltende antimetaphysische Geistesrichtung hat im Zusammenhang mit den auf Einsicht in die Fundamente der Wissenschaft gerichteten erkenntnistheoretischen Bemühungen auch in Deutschland zu positivistisch-empiristischen Neubildungen mannigfacher Art geführt; dieselben stehen zu KANT und dem Neukritizismus strengerer Richtung in ausgesprochenem Gegensatz; mehr als mit COMTE, der in Deutschland verhältnismäßig wenig gewirkt hat, stehen sie in Berührung mit HUME und BERKELEY, ja es ist (von LAAS) unmittelbar auf PROTAGORAS zurückgegriffen worden. Im einzelnen divergieren diese Systembildungen sehr stark. Verbunden sind sie durch den Umstand, daß sie eine Auflösung der Tatsachen in Denkgebilde nach der überwiegenden Art des Neukantianismus ablehnen und an positiven Gegebenheiten im eigentlichen Sinne festzuhalten geneigt sind. Zu unterscheiden sind des Näheren vier Richtungen des Positivismus:
    1. die  positivistischen Bildungen  im engeren Sinn:
    2. der  Empiriokritizismus: 
    3. neuere Fortbildungen desselben;
    4. die  Immanenzphilosophie  und die Philosophie des  Gegebenen
    5. der  idealistische  Positivismus.
Die Berechtigung der Zusammenfassung der genannten Richtungen unter den Oberbegriff "Positivismus" wird auch dadurch erwiesen, daß Ende 1912 in Berlin eine  Gesellschaft für positivistische Philosophie  gegründet wurde, die sich aus Vertretern eben jener Strömungen zusammensetzte. Die Gesellschaft (Vorsitzender: Professor J. PETZOLDT-Spandau) gab eine  Zeitschrift für positivistische Philosophie  heraus (Hg.: M. H. BAEGE; I. Jhg. 1913).

1. Dem  Positivismus  im engeren Sinn gehören an der Erkenntnistheoretiker LAAS und der Ethiker JODL. Eine gewisse Verwandtschaft mit ihm zeigt auch RIEHL, der aber nicht eigentlicher Positivist ist, sondern dem Neukritizismus zugerechnet werden muß.

Einen dem Materialismus nahestehenden Positivismus vertritt EUGEN DÜHRING (1833 - 1921), der mit dem ökonomischen Materialismus einen hochgespannten, aber radikal metaphysikfreien Idealismus verbindet und eine Reform des ganzen Lebens erstrebt. Größere Ausbreitung als in Deutschland hat der Positivismus in Frankreich, Italien, Ungarn, auch in England erfahren, worüber bei der Philosophie der einzelnen Länder gehandelt werden wird.

Nahe steht den positivistischen Ansichten schon der scharfsinnige CARL GÖRING (1841 - 79, a. a. Professor der Philosophie in Leipzig), System der kritischen Philosophie, 2 Teile, Leipzig 1874-75 (unvoll.). Über die menschliche Freiheit und Zurechnungsfähigkeit, Leipzig 1876, Über den Begriff der Erfahrung, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 1 und 2 (1877, 1878). Sein System der Philosophie enthält eine Theorie des Wissens und eine kritische Betrachtung des Entwicklungsgangs der Philosophie. Der Ursprung aller unserer Erkenntnis liegt in den Sinneswahrnehmungen, welche wir als letzte Elemente unseres Wissens betrachten müssen, weil sie einer weiteren Ableitung nicht fähig sind. Über die Erfahrung hinaus ist keine Erkenntnis möglich; was nicht erfahren wird, ist auch nicht wirklich. GÖRING nennt die Sinneswahrnehmung das unmittelbare Bewußtsein, das die größte subjektive Gewißheit mit sich führt. Aber auch nur die Sinnesempfindung ist der objektiven Notwendigkeit unterworfen, während das Denken als sekundäre Operation subjektiv beeinflußt ist.

Mit LOCKE und BERKELEY Verwandtschaft zeigt REINHOLD HOPPE (1816 - 1900, Titular-Professor der Mathematik in Berlin). Er hält den BENEKEschen Egoismus, von dem er ebenfalls beeinflußt ist, nicht für empiristisch genug und bezeichnet seine eigene Philosophie als Vollführung dessen, was LOCKE gewollt hat, nämlich als Aufklärung über die philosophischen Begriffe zum Zweck der scharfen Bestimmung der philosophischen Fragen, wodurch der Lösung bedingt sei. HOPPE berührt sich mit BERKELEY, will jedoch nur an dessen Grundansicht festhalten, daß das Ding nur in der Idee von Geistern existiere, oder daß jedes Objekt der Erkenntnis Idee eines Subjekt sei, tadelt aber, daß BERKELEY die Abstraktion nicht auf die Perzeption angewandt habe, wodurch der Begriff des Dings gewonnen werde. Die Zulänglichkeit des Empirismus in der Philosophie, Berlin 1852. Die Elementarfragen der Philosophie, Berlin 1897. Verzeichnis seiner Schriften: Archiv für Mathematik und Physik, Generalregister zu Reihe 2, Seite XXIII - XXXI.

Auf realistisch-empiristischem Standpunkt stand der Begründer der "Philosophischen Bibliothek" J. H. von KIRCHMANN (1802 - 84, seines Amtes als Appellationsgerichts-Vizepräsident enthoben wegen eines 1866 in einer Arbeiterversammlung gehaltenen Vortrags über den Kommunismus in der Natur, Heidelberg, 3. Auflage 1882). Die Philosophie des Wissens, Berlin 1864. Über die Unsterblichkeit, Berlin 1865. Ästhetik auf realistischer Grundlage, 2 Bde., Berlin 1868. Über die Prinzipien des Realismus, Leipzig 1875. Grundbegriffe des Rechts und der Moral, Berlin 1869, 2. Auflage 1873. Bibliographie seiner Schriften bei STERNBERG. - An von KIRCHMANN hat sich lange im wesentlichen angeschlossen HERMANN WOLFF (1842 - 96) Schuldirektor in Leipzig): Über den Zusammenhang unserer Vorstellungen mit Dingen außer uns, Leipzig 1874. Spekulation und Philosophie, 2 Bde., Leipzig 1878. Logik und Sprachphilosophie, Berlin 1880. Beide Werke in 2. Auflage, Leipzig 1883. Handbuch der Logik, Leipzig 1884. Wegweiser für die Studenten der kantischen Philosophie, Leipzig 1884. Kosmos. Die Weltentwicklung nach monistisch-psychologischen Prinzipien auf Grundlage der exakten Naturforschung, 2 Bde., Leipzig 1890. Neue Kritik der reinen Vernunft. Nominalismus und Realismus in der Philosophie, Leipzig 1897.

JULIUS DUBOC (geb. 1829, früher Redakteur der Nationalzeitung, lebte in Dresden, starb daselbst 1903), der zu FEUERBACH neigt, will in der Schrift: Leben ohne Gott, Untersuchungen über den ethischen Gehalt des Atheismus, Hannover 1875, nachweisen, wie mit dem Aufgeben der gewöhnlichen Gottesvorstellung und des Unsterblichkeitsglaubens noch keine Unsittlichkeit einreißen müsse. Der Optimismus als Weltanschauung, Bonn 1881. Grundriß einer einheitlichen Trieblehre vom Standpunkt des Determinismus, Leipzig 1892. Jenseits vom Wirklichen, Leipzig 1896 (darin unter anderem Friedrich Nietzsches Übermenschlichkeit). Die Psychologie der Liebe, Dresden 1874, 2. Auflage 1898. 100 Jahre Zeitgeist in Deutschland, Geschichte und Kritik, Leipzig 1189, 2. Auflage 1899. Die Lust als sozial-ethisches Entwicklungsprinzip, Leipzig 1900 u. a. Die ethische Maxime bei DUBOC lautet: Tue, was du willst, d. h. erfülle den Inhalt deines  menschlichen  Willens. "Den dem höchsten Gut nachstrebenden Glückseligkeitstrieb voll und tatsächlich bejahen, heißt die Menschlichkeit vollenden und dies fällt mit der Sittlichkeit zusammen." Vereinigung von Gerechtigkeit und Güte ist der Wesensgehalt der objektiven Sittlichkeit. Siehe dazu FRIEDRICH JODL, Philosophische Monatshefte, Bd. 29, 1893, Seite 330-337 und dagegen DUBOC, ebenda Bd. 30, 1894, Seite 49-57.

Mit strenger Kritik gegen Kant, überhaupt allen Idealismus, verfährt ERNST LAAS (1837-85, seit 1872 Professor in Straßburg). Kants Analogien der Erfahrung, Berlin 1876, ein Werk, das zugleich eine "kritische Studie über die Grundlagen der theoretischen Philosophie" ist. Er ist nicht zu den Kantianern zu rechnen, neigt vielmehr zur Annahme einer Vielheit von dynamisch gegenseitig abhängigen, zu einem einheitlichen selbstgenügsamen Weltsystem zusammengeschlossenen Substanzen und eines wirklichen Geschehens in einer transzendenten Zeit. Außer verschiedenen auf Pädagogik und Geschichte derselben bezüglichen Werken hat LAAS noch verfaßt als sein vorzüglichstes Werk:  Idealismus und Positivismus,  1. allgemeiner und grundlegender Teil (Die Prinzipien des Idealismus und Positivismus, Historische Grundlegung), Berlin 1879, 2. Teil, idealistische und positivistische Ethik, 1882, 3. Teil, idealistische und positivistische Erkenntnistheorie, 1884 (Auseinandersetzung mit dem außerkantischen, platonisierenden Idealismus, mit der Erkenntnistheorie KANTs und seiner Schule und den Modifikationen der kantischen Erkenntnislehre, so mit LOTZE, HELMHOLTZ, LANGE, LIEBMANN), russische Übersetzung 1909. Die Kausalität des Ich, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 4f, 1880. Vergeltung und Zurechnung, ebenda, Bd. 5 und 6 1881/82 u. a. Literarischer Nachlaß, hg. von B. KERRY, Wien 1887, darin philosophisch: Idealistische und positivistische Ethik.

In LAAS hat der Positivismus einen Vertreter gefunden, der mit großer Klarheit und literarischer Gewandtheit eine generelle Abrechnung mit einer Reihe bedeutender Denker der Vergangenheit (PLATO, ARISTOTELES, LEIBNIZ, KANT) sowie auch des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts gehalten hat. Nach LAAS stellt sich die Geschichte der Philosophie als der Kampf zweier Fundamentalrichtungen des Denkens dar, die er als  Platonismus  und  Positivismus  bezeichnet. Der Platonismus vertritt auf logischem Gebiet den Begriffsrealismus, auf erkenntnistheoretischem den Apriorismus (Nativismus, Rationalismus), auf metaphysischem den Spiritualismus und die Teleologie. Ihm gegenüber steht der Positivismus als "diejenige Philosophie, welche keine andere Grundlage kennt als positive Tatsachen, d. h. äußere und innere Wahrnehmung". Der eigentliche Urheber des Positivismus ist nach LAAS PROTAGORAS. Aus neuester Zeit fühlt sich LAAS am meisten verwandt mit HUME und JOHN STUART MILL, vornehmlich mit dessen Examination of the philosophy of Sir William Hamilton, weniger mit COMTE, den er selten erwähnt. Der Positivismus basiert auf drei Grundlehren:
    1. dem  Korrelativismus  von Subjekt und Objekt; Wahrnehmungsinhalte und Bewußtsein (Ich) sind untrennbar miteinander verbunden, keiner von beiden Faktoren kommt ohne den andern vor. Die Gewißheit des Ich ist keine größere als die des Nicht-Ich. Dasselbe ist lediglich Beziehungszentrum, Schauplatz von Wahrnehmungsinhalten.

    2. der Lehre von der  absoluten  Variabilität der Wahrnehmungsobjekte; auch die Iche sind von derselben nicht ausgenommen; trotz dieser Variabilität ist aber Erkenntnis möglich, wenn die Erfahrung absolute Notwendigkeit auch nicht verbürgen kann. Das ganze Veränderungsspiel der Natur besteht in gesetzmäßigen Beziehungen elementarer Agentien, wobei der Begriff des Agens eine Projektion des Ich nach außen bedeutet.

    3. der  "sensualistichen  Fundamentalbehauptung", daß alle Erkenntnisse lediglich gesetzlich transformierte Wahrnehmungen sind.
Die Zurückführung der Mathematik auf Erfahrungen durch MILL wird von LAAS jedoch abgelehnt (III, 669f). - In der Erkenntnis, daß mit der Beschränkung auf die wirklich bewußten Empfindungsinhalte nicht auszukommen ist, geht LAAS ähnlich wie MILL zu der Behauptung über, daß die Welt die Summe der  möglichen  Wahrnehmungsinhalte ist. Die Erkenntnis tendiert auf ein objektives ideales Weltbild, dem ein Bewußtsein überhaupt entspricht (vgl. besonders III, Seite 47, 143, 262, 673f); LAAS nähert sich in diesem Punkt dem Neukantianismus. Den Standpunkt BERKELEYs, der die Welt nur in uns vorhanden sein läßt, lehnt LAAS als "ungeheuerlich" ab, die Empfindungsinhalte seien keine Modifikationen des Ich.

Als "Hauptmotive" des dem Sensualismus feindlichen  Platonismus  nennt LAAS folgende fünf:
    1. Die mathematisierende, scholastische Art, die davon ausgeht, daß, wo das Verfahren der Mathematik nicht anwendbar sei, für echte Wissenschaft der Boden fehle, daß für ontologische Begriffe ine ebenso strenge Systematik zulässig sei wie für mathematische. Diese Denkweise finde sich besonders bei ARISTOTELES, SPINOZA, KANT.

    2. Das mit dem ersten Punkt eng zusammenhängende Streben, alle wissenschaftliche Erkenntnis und alles sittliche Handeln so zeitig als möglich auf absolute Prinzipien oder wohl gar auf einen Begriff oder Satz zu stellen, der einer weiteren Begründung weder fähig noch bedürftig sei. Dies ist der Drang zum Absoluten, der besonders hervortrete bei ARISTOTELES, WOLFF, KANT, FICHTE, SCHELLING, ROUSSEAU.

    3. Die rationalistische oder aprioristische Seite des Platonismus, die in der Annahme besteht, daß es wir für das Sein, so auf für unser Handeln normative Gesetze geben müsse und gebe, die nicht in der Sinnlichkeit, im Tatsächlichen ihre Ursprung hätten, vielmehr übersinnlichen und vorzeitlichen Ursprungs seien, durch die allein alles Wirklich erkennbar, alles Gewollte gut werde. Hier nennt LAAS vor anderen: LEIBNIZ, HERBART, KANT.

    4. Das Spontaneitätsmotiv, das darauf hinauskommt, daß es neben den nur passiven, von außen und körperlich beeinflußten Wahrnehmungen und Gefühlen auch reine Betätigungen der Freiheit, die als etwas ganz anderes denn als bloß sinnlicher Naturmechanismus gedacht werden. Hierher gehören besonders ARISTOTELES, DESCARTES, KANT, FICHTE, HEGEL.

    5. Das transzendente oder übersinnliche Motiv, das darauf hinausläuft, daß dem geistigen Prinzip, das erkannt wird und praktische Ideale aufstellt, dessen Gesetzen auch das erkennbare Sein gemäß ist, eine andere Heimat und Bestimmung zukomme als diese Erde, als dieses mit dem Tod endende Leben, daß es auf eine überirdische und außersinnliche Welt höheren Wertes und auf ein jenseitiges Leben hinweise. Alle diese Motive sieht also der sensualistische Positivismus als nicht berechtigt an.
Auch in der  Ethik  bekämpft LAAS den Platonismus. "Der absoluten Ideale, des Jenseits, der Asketik und Weltflucht PLATONs sich entäußernd", ist die positivistiche Ethik "eine Moral für  dieses  Leben mit Motiven, die im Diesseits ihre Wurzel finden". Alle Werte haben nach LAAS ihre Begründung in Lust und Schmerz: sieht man von diesen ab, so ist nichts wertvoll. Doch lehnt LAAS alle egoistische Ethik, auch die des wohlverstandenen Interesses ab, obwohl die positivistische Ethik nicht nur Pflichten, sondern auch Rechte kennt. Der historische Ursprung aller Pflichten liegt in den "Erwartungen und Ansprüchen unserer Umgebung", sie sind Ausflüsse sozialer Ordnungen. Objektive Güter sind solche, welche bei objektiver Beurteilung, d. h. bei möglichstem Freisein von augenblicklicher und persönlicher Befangenheit und bei möglichst weitem Blick auf das wohlverstandene Gesamtinteresse einer größeren Menge fühlender Wesen als wertvoll erscheinen. Solche Güter sind z. B. die Sicherheit des Arbeitsgewinns, der gesellschaftliche Friede, die staatlichen Institutionen und Gesetze, der Kulturfortschritt usw. LAAS huldigt einer im ganzen optimistischen, tätigen Lebensauffassung. "Das goldene Zeitalter liegt nicht hinter uns, sondern vor uns."

Der positivistischen Richtung sind verwandt auf ethischem und religiösem Gebiet, wenngleich hier das Charakteristische des Positivismus nicht so deutlich wie auf rein theoretischem hervortritt, die Ansichten ZIEGLERs, JODLs und BENDERs. Von THEOBALD ZIEGLER (geb. 1846, längere Zeit Gymnasiallehrer, seit 1886 Professor der Philosophie in Straßburg, jetzt emeritiert in Frankfurt lebend) sind hier u. a. zu erwähnen: In Sachen des STRAUSSschen Buches: Der alte und der neue Glaube, Schaffhausen 1874, Lehrbuch der Logik, 2. Auflage, Bonn 1885, Geschichte der Ethik, 2 Bde., Bonn 1881 - 86, Sittliches Sein und sittliches Werden, Grundlinien eines Systems der Ethik, Straßburg 1890, Die soziale Frage eine sittliche Frage, Stuttgart 1890, 6. Auflage 1899, Die Fragen der Schulreform, Stuttgart 1891, Religion und Religionen, ebd. 1893. Das Gefühl, ebd. 1893, 5. Auflage 1912, Geschichte der Pädagogik, München 1895, 3. Auflage 1909, Die geistigen und sozialen Strömungen des 19. Jahrhunderts, Berlin 1899. Glauben und Wissen, Straßburg 1899, Individualismus und Sozialismus, Dresden 1899. Friedrich Nietzsche, Berlin 1900, Allgemeine Pädagogik, Leipzig 1901. Schiller, Leipzig 1905, David Friedrich Strauß, Straßburg 1908, Goethes Welt- und Lebensanschauung, Berlin 1914. Kriegspädagogik und Zukunftspädagogik 1915 u. a. ZIEGLERs Hauptverdienste liegen auf dem Gebiet der Pädagogik und ihrer Geschichte, sowie seinen STRAUSS-Forschungen, die bedeutenden quellenmäßigen Wert haben. Seine "Geistigen und sozialen Strömungen" sind ein treffliches Volksbuch. - Nach ZIEGLER, der in religiösen Fragen von STRAUSS, in sozialen von FRIEDRICH ALBERT LANGE beeinflußt ist und sich in letzteren dem Sozialismus nähert - er verlangt eine Umgestaltung unserer Gesellschaft -, ist das Sittliche, frei von allem Übernatürlichen, ein Produkt der Entwicklung, entstanden aus der Wechselwirkung der menschlichen Triebe und der vernünftigen Überlegung des einzelnen und der Gattung, woraus hervorgeht, daß sittliche Forderungen nicht unbedingt gelten und nicht unveränderlich sind. Gut ist, was der Gesellschaft für gut gilt und zwar wird sie das für gut erklären, was ihr selbst nützt, zunächst engeren Kreisen, dann immer weiteren, schließlich der ganzen Menschheit. Was die Religion betrifft, so hält ZIEGLER es schon am Schluß des 2. Bandes der Geschichte der Ethik (1896) für fraglich, ob neben der modernen Weltanschauung die christliche noch bestehen könne und zwar meint er da nicht den Pietismus in seiner Beschränkung, sondern das Christentum in seiner ganzen Kraft und Höhe. Die Frage der Gegenwart sei eigentlich schon seit LUTHER die große Frage der geistigen Entwicklung unseres Volkes: Sind wir noch Christen? - Die Religion sucht ZIEGLER namentlich im Gefühl, mit dessen Psychologie er sich eingehend beschäftigte.

FRIEDRICH JODL (1848 - 1914, 1885 Professor in Prag, 1896 in Wien), außer den geschichtlichen Werken, von denen namentlich die Geschichte der Ethik hervorzuheben ist, Volkswirtschaftslehre und Ethik, Berlin 1886. Religion, Moral und Schule, 1892. Wesen und Ziele der ethischen Bewegung in Deutschland, Frankfurt 1893. Was heißt ethische Kultur? (Vorträge), Prag 1914. Lehrbuch der Psychologie, Stuttgart 1897. Ludwig Feuerbach (Frommans Klassiker), Stuttgart 1904. Wissenschaft und Religion, Wien 1909, Aus der Werkstatt der Philosophie, Wien 1911. Der Monismus und die Kulturprobleme, Leipzig 1911. Vom Lebenswege, Gesammelte Vorträge und Aufsätze, 2 Bde, Stuttgart 1917. Ästhetik der bildenden Künste, Stuttgart 1917. Allgemeine Ethik, Stuttgart 1918. Kritik des Idealismus, Leipzig 1920 (JODLs "philosophisches Testament"). Verzeichnis der Veröffentlichungen JODLs, bearbeitet von W. SCHMIED-KOWARZIK, in: Archiv für Geschichte der Philosophie, Bd. 27, Seite 476f ist von JOHN STUART MILL, der, von vornherein frei von religiösem Glauben für ihn die positivistische Schule am vollkommensten repräsentiert und FEUERBACH beeinflußt. Die Aufgabe der Philosophie ist es, den ganzen Wissensstoff der Zeit in ein architektonisches Gefüge zu bringen. JODL vertritt eine empirisch fundierte Weltanschauung und lehnt jede Art Metaphysik ab. Sein Standpunkt kann als naturalistischer Monismus bezeichnet werden. Er ist Anhänger der Aktualitäts- und Identitätstheorie des Psychischen und ist erkenntnistheoretisch kritischer Realist. Die Religionsphilosophie JODLs ist ganz anthropologisch orientiert, ebenso seine Ethik. Die Vorstellungswelt, an welche die religiöse Ethik das sittliche Leben knüpft, hat für einen großen Teil der Menschheit die Kraft verloren, taterzeugender Glaube zu sein. Deshalb muß die ethische Bewegung - Deutsche Gesellschaft für ethische Kultur - dem Staat und der Gesellschaft, die der Erschütterung der Religiosität ratlos gegenüberstehen, zur Seite stehen, indem sie die um sich sammelt, welche durch den alten Idealismus der Religion nicht mehr befriedigt sind. "Sie muß den öffentlichen und gesellschaftlichen Mächten die Überzeugung beibringen, daß der Acker der Religion und Kirche nicht der einzige ist, auf welchem die köstliche Pflanze der Selbstzucht, der Entsagung, der Hingebung, der Begeisterung gedeiht, und daß die neuen Kräfte, welche sich um das Banner der Humanität und der wissenschaftlichen Ethik scharen, nicht Hemmung und Unterdrückung, sondern kräftige Förderung verdienen." Ziel und Aufgabe des einzelnen ist es, sein Selbst zum Selbst der Menschheit zu erweitern; je mehr dies gelingt, je mehr sie im Gefühl dieses Zusammenhangs der positiven Religion und des Glaubens an ein jenseitiges Leben entbehren können. Siehe den Schluß des 2. Bandes der Geschichte der Ethik. - JODL legt großen Wert auf die Unterscheidung von Kriterium und Fundament der Ethik. Hinsichtlich des ersteren vertritt er eine Synthese der Gesinnungsethik mit dem allgemeinen Wohlfahrtsprinzip; das Fundament ist eudämonistischer Natur. Die Formel der neuen Menschheitsreligion, in welcher nach JODL die drei Positivisten der Kulturnationen, FEUERBACH, COMTE und MILL, übereinstimmen, lautet: "Das Ideal in uns und der Glaube an die Verwirklichung des Ideals durch uns. Das ist die Formel der neuen Religion, für die der Begriff des Glaubens nicht die Bindung an übernatürliche Mächte bedeutet, sondern die lebendige Gewißheit der Gottwerdung des Menschen im Laufe der Geschichte den Himmel auf Erden" oder sonst nirgends. Er besteht in die Erzeugung der geistigen Werke: Wissenschaft, religiöse Bildungen, Kunst, soziale Organisation. - JODL ist für seine Anschauungen vielfach auch durch die Tat eingetreten. Neben den ethischen Interessen waren die stärksten in JODL seit jeher die  ästhetischen.  Das wichtigste aller ästhetischen Formgesetze ist nach ihm das der Harmonie zwischen Sache und Ausdruck, Inhalt und Form, Idee und sinnlicher Erscheinung. Nur mittels des Formbegriffs kann man darüber zur Klarheit gelangen, was eigentlich den ästhetischen Gemeinbesitz der Menschheit ausmacht und die innere Gesetzmäßigkeit ermitteln, auf der die zeitüberdauernde Wirkung mancher, uns inhaltlich ganz fremd gewordener Kunstwerke beruth. - Anhänger JODLs ist u. a. W. BÖRNER, Weltliche Seelsorge, Leipzig 1912 u. a.

Zu den Positivisten muß auch gezählt werden GEORG von GIZYCKI (1851- 95, war verheiratet mit der Sozialistin LILY BRAUN, außerordentlicher Professor der Philosophie in Berlin), Versuch über die Konsequenzen der Evolutionstheorie, 1875, Grundzüge der Moral, Leipzig 1883, Moralphilosophie, Leipzig 1888, Vom Baume der Erkenntnis (Fragmente aus der Weltliteratur), 3 Bde., Berlin 1897 - 1900, der auch Schriften von MACKINTIRE SALTER, COIT, BELLAMY übersetzt und sich an der ethischen Bewegung rege beteiligt hat. Seine geschichtlichen Arbeiten, namentlich über die Ethik HUMEs schließt sich in seinen eigenen Ansichten vielfach an englische Denker an. Die allgemeine Wohlfahrt, d. i. das größtmögliche Glück aller, ist ihm der höchste sittliche Maßstab. Die Moral beruth auf der fühlenden und vernünftigen Natur des Menschen. Die letzte Grundlage der Sittenregeln sind sittliche Gefühle, ohne die es keine Ideale und auch keine Autorität gäbe.

Obwohl dem metaphysischen Voluntarismus SCHOPENHAUERs zuneigend, ist in seiner Gesamtgeisteshaltung mit dem Positivismus nahe verwandt auch FERDINAND TÖNNIES (geb. 1855 in Oldenswort in Schleswig, 1881 Privatdozent, 1913 ordentlicher Professor in Kiel), der besonders auf  sozialphilosophischem  Gebiet hervorragt. Hauptschrift: Gemeinschaft und Gesellschaft, Leipzig 1887, dazu: Zur Einleitung in die Soziologie, Zeitschrift für Philosophie Bd. 115, 1899. Ethische Kultur und ihr Geleite, Berlin 1892. Nietzsche-Kultus, Leipzig 1897. Grundtatsachen des sozialen Lebens, Bern 1897. Politik und Moral, Frankfurt 1901. Philosophische Terminologie in psycho-soziologischer Ansicht, Leipzig 1906. Die Entwicklung der sozialen Frage, Leipzig 1907. Das Wesen der Soziologie. Neue Zeit- und Streitfragen, 1907. Die Sitte, Frankfurt 1909. Außerdem viele andere sozialphilosophische Arbeiten in Zeitschriften. Seine grundlegenden Arbeiten über HOBBES zusammenfassend: Hobbes, der Mann und Denker, Osterwieck 1912. TÖNNIES' Sozialphilosophie, die eine gleichmäßige Kenntnis der philosophischen wie der soziologischen Literatur erkennen läßt, knüpft, mit Bewußtsein hinter die historische Schule des 19. Jahrhunderts zurückgehend, an die Sozialphilosophie des achtzehnten Jahrhunderts an und schrickt auch vor der Betonung der im Naturrecht gelgenen berechtigten Momente nicht zurück. Der soziologisch- historische Prozeß stellt sich nach TÖNNIES als die Ersetzung der  Gemeinschaft  durch die  Gesellschaft  dar. Unter "Gemeinschaft" versteht TÖNNIES ein Gemeinwesen "organischer" Art, in dem die Individuen aufs engste miteinander verkettet sind. Dem gegenüber ist die Struktur der "Gesellschaft" individualistisch, sie sei "mechanischer", nicht organischer Natur. Die ältere Lebensform ist die Gemeinschaft. Der Prozeß der Mechanisierung des Lebens schreitet nach TÖNNIES unaufhaltsam fort, die Entwicklung tendiert dahin, den letzten Rest von Gemeinschaft aufzulösen. Der moderne Sozialismus will nicht eine neue Gemeinschaft herstellen, sondern die Prinzipien der Gesellschaft gleichberechtigter Individuen allseitig und bis ins einzelne konsequent durchführen. - Mit sozialpsychologischen Analyse verbindet TÖNNIES eine metaphysische, von SCHOPENHAUER übernommene Substruktion [Unterbau - wp], indem er die organische Gemeinschaft als Ausfluß eines noch allgemeinen, gattungsmäßigen Wesenwillens auffaßt, während die mechanisch gewordene Gesellschaft ein Produkt der bereits vom Intellekt geleiteten Willkür ist.

WILHELM BENDER (geb. 1845, seit 1876 Professor der Theologie in Bonn, infolge einer Rede über LUTHER und seiner späteren Werke mit seiner Einwilligung als Professor der Philosophie in die philosophische Fakultät versetzt, gest. 1901). Schleiermachers Theologie. Wesen der Religion und der Grundgesetze der Kirchenbildung, Bonn 1886. Der Kampf um die Seligkeit, Bonn 1888. Metaphysik und Asketik, Archiv für Geschichte der Philosophie VI, 1893 (geschichtlich). Mythologie und Metaphysik. Grundlinien und Geschichte der Weltanschauungen. 1. Bd. Die Entstehung der Weltanschauungen im griechischen Altertum, Stuttgart 1899. BENDER ist von SCHLEIERMACHER und KANT angeregt, hat aber seine Theorie der Religion aus dem Studium der geschichtlichen Religionen gewonnen. Alle Religion entsteht "aus dem naturnotwendigen Bestreben, die Mängel unseres psychischen (intellektuellen und moralischen) Könnens und Vermögens auszugleichen und zu ergänzen, sich der Mittel und Bedingungen zu versichern, unter welchen und mit welchen das Ideal vollkommen und glückseligen Lebens in der Welt verwirklicht werden könne." Die immer erneute Bildung allgemeiner, metaphysischer-religiöser Weltanschauung ist unerläßlich; ihre Bedingungen zu untersuchen, ist die Aufgabe der Wissenschaft.

Kritischer Positivist ist ferner HUGO SPITZER (geb. 1854, Professor in Graz), der sich vor seinen ästhetischen Studien besonders mit Naturphilosophie beschäftigt hatte. Nominalismus und Idealismus in der neuesten deutschen Philosophie, Leipzig 1876. Ursprung und Bedeutung des Hylozoismus, Graz 1881. Über das Verhältnis der Philosophie zu den organischen Naturwissenschaften, Leipzig 1883. SPITZER verbindet KANTische und FEUERBACHsche Anschauungen. Das der Materie zugrundeliegende Reale entwickelt sich aufgrund einer gewissen Innerlichkeit zum Bewußtsein. Kritische Studien zur Ästhetik der Gegenwart, Wien 1897. H. Hettners kunstphilosophischen Anfänge und Literaturästhetik, Graz 1903 (Erörterung des Verhältnisses von Ästhetik und Kunstwissenschaft). Appollinische und dionysische Kunst, Zeitschrift für Ästhetik 1906 u. a. SPITZER ist Gegner der biologischen Ästhetik. Er unterscheidet apollinische Kunst, die auf Anschauung geht und dionysische, die mehr durch Affekte wirkt.

Zu einem "monistischen Positivismus" bekennt sich GUSTAV RATZENHOFER (1842 - 1904, österr. Feldmarschall-Leutnant). Wesen und Zweck der Politik, 3 Bde., Leipzig 1893. Die soziologische Erkenntnis, Leipzig 1898. Der positive Monismus, Leipzig 1899, Positive Ethik, Leipzig 1901. Die Kritik des Intellekts. Positive Erkenntnistheorie, Leipzig 1902. Soziologie, Leipzig 1907 (posthum). RATZENHOFER nimmt anstelle der Materie eine Urkraft als physikalisches Prinzip der Weltentwicklung an, das zweierlei Energien hat, aktuelle und potentielle. Auch das Geistige leitet sich von der göttlichen Urkraft her, die von der Phantasie als mit einem Allbewußtsein begabt gedacht werden kann. Das Wollen ist die höchste aktuelle, das Bewußtsein die höchste potentielle Energie. Das Individuum hat sich als Teil des Ganzen den Gesetzen der Urkraft zu unterwerfen, die darauf hinauslaufen, daß Harmonie der Sonderinteressen mit den Sozialinteressen zustande kommt. Die politische Wissenschaft muß über die Gesellschaft herrschen; in der Erforschung des Wesens der Politik und der Darlegung ihrer Gesetze sah RATZENHOFER eine seiner Hauptaufgaben. Die Wissenschaft hat einen positiven Zweck: die Vervollkommnung der menschlichen Gattung. - BERTHOLD WEISS, Aphoristische Grundlegung einer Philosophie des Geschehens, Berlin 1895.

Wesentlich aus positivistisch gerichteten Kreisen hervor ging eine geistige Bewegung, welche das Gebiet der Ethik möglichst selbständig machen und namentlich vom relgiösen Gebiet ablösen will. Sie hat ihren Ursprung in unitarischen Bestrebungen in den Vereinigten Staaten von Amerika, wo 1867 eine Free religious Association gegründet wurde. Von diesem Verband trennten sich 1876 einige größere Gemeinden und bildeten die Societies for ethical culture, indem sie den Glauben an einen persönlichen Gott nicht mehr verlangten. Eine ähnliche Gesellschaft wurde später auch in London gegründet und 1892 entstand wesentlich auf Anregung des Professors der Astronomie FOERSTER in Berlin und GEORG von GIZYCKIs in Berlin die  Deutsche Gesellschaft für ethische Kultur,  an die Abteilungen in mehreren deutschen Städten sich anschlossen. In ihnen und durch sie soll ethische Kultur gepflegt werden, unter der man versteht einen Zustand der Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit, Menschlichkeit und gegenseitiger Achtung. Namentlich soll der ethische Jugendunterricht gefördert werden, unabhängig von den trennenden Lehren der Religionen und der Parteien. Das eigentliche Organ der Gesellschaft waren die "Mitteilungen der deutschen Gesellschaft für ethische Kultur", Berlin seit 1892. In Amerika, wo die ethische Bewegung überhaupt eine weit größere Bedeutung als in Deutschland erlangte, wo sie auf Widerstand in der Regierung stieß, dienen ihr die Zeitschriften: "The open Court" seit 1887, "Monist" und "International Journal of Ethics" seit 1890. - Als amerikanische und englische Schriftsteller, die auch in Deutschland gewirkt haben, sind zu nennen: WILLIAM MACKINTIRE SALTER, Vorträge über "die Religion der Moral", Leipzig-Berlin 1885, den Moralischen Reden, desgleichen ebd. 1889 und dem Vortrag über die ethische Lebensansicht, Berlin 1894. In Deutschland gehören zu den leitenden Geistern in dieser Richtung der Astronom W. FOERSTER, JODL, DÖRING, BRUNO MEYER, RUDOLF PENZIG, A. PFUNGST, W. BÖRNER. Auch von GIZYCKI war für sie sehr tätig. Nach seinem Tod schien zunächst die ganze Bewegung ins Stocken geraten zu sein. Er selbst neigte gegen Ende seines Lebens mehr den sozhialen Problemen zu (posthum: Vorlesungen über soziale Ethik, Berlin 1895). Es gab die Zeitschrift "Ethische Kultur, Wochenschrift für ethisch soziale Reformen" heraus; sie wurde zunächst fortgeführt von F. W. FOERSTER, später von PENZIG und KRONENBERG, dann als Halbmonatsschrift von PENZIG. Von W. FOERSTER, JODL u. a. sind Vorträge, gleichsam als Programme der Gesellschaft, erschienen. Besonders tätig war die  Ethische Gesellschaft  in Wien (1894 gegründet). Es erschienen "Mitteilungen der österreichischen Ethischen Gesellschaft". W. BÖRNER, Die ethische Geselllschaft in Wien, Wien 1905. Eine sehr brauchbare Geschichte der moralischen Bewegung in Amerika, England, Deutschland gibt MARTIN KEIBEL in: Die Religion und ihr Recht gegenüber dem modernen Moralismus, Halle 1891, siehe auch M. BRASCH, Die Ziele der ethischen Bewegung, Leipzig 1893. A. MOULET, Die Pioniere des sittlichen Fortschritts, Berlin 1902. AUGUST DÖRING, Philosophische Güterlehre, Berlin 1888. Grundzüge der allgemeinen Logik, Dortmund 1880. Handbuch der menschlich-natürlichen Sittenlehre, Stuttgart 1899 u. a.

DÜHRINGs Schriften: Natürliche Dialektik, Berlin 1865. Der Wert des Lebens, Breslau 1865. Careys Umwälzung der Volkswirtschaftslehre und Sozialwissenschaft, München 1865. Kritische Grundlegung der Volkswirtschaftslehre, Berlin 1866. Kritische Geschichte der Philosophie, Leipzig 1894. Kritische Geschichte der Nationalökonomie und des Sozialismus, Leipzig 1871. Logik und Wissenschaftstheorie, Leipzig, 1878. Kritische Geschichte der allgemeinen Prinzipien der Mechanik, Leipzig 1887 (wegen der Zusätze in der 2. Auflage wurden dem Verfasser die Rechte eines Privatdozenten in Berlin entzogen. Sache, Leben und Feinde, als Hauptwerk und Schlüssel zu seinen sämtlichen Schriften, Karlsruhe 1882. Der Ersatz der Religion durch Vollkommeneres, Karlsruhe 1883. Wirklichkeitsphilosophie, Leipzig1895. DÜHRING gab heraus "Personalist und Emanzipator, Halbmonatsschrift für aktionsfähige Geisteshaltung und gegen korrupte Wissenschaft.

KARL EUGEN DÜHRING, geb. 1833 in Berlin als Sohn eines preußischen Geheimen Expedierenden Sekretärs, studierte in Berlin Jura und trat dann in den praktischen Rechtsdienst. Ein bis zur Erblindung sich steigerndes Augenleiden nahm ihm die Möglichkeit, Richter zu werden. Er beschloß freier Schriftsteller zu werden. 1863 habilitierte er sich (unter TRENDELENBURG) für Philosophie, später auch für Nationalökonomie. Seine Lehrtätigkeit war von bedeutendem Erfolg begleitet, ebenso seine wissenschaftliche Tätigkeit. Die Erlangung eines Ordinariats scheiterte am Widerspruch der Fakultät, die seine Blindheit als Hindernis für "Amtsverschwiegenheit" bezeichnete und statt "eines Kameralisten" einen "wirklichen Philosophen" wünschte. Scharfe wiederholte öffentliche Angriffe DÜHRINGs auf das deutsche Universitätswesen im allgemeinen und Berliner Professoren insbesondere endeten 1877 mit der Entziehung der venia legendi [Lehrbefugnis - wp]. DÜHRING lebte seitdem als freier Schriftsteller, zuerst in Berlin, später Nowawes, mit unermüdlicher Leidenschaft für seine Ideen kämpfend, gestorben 1921.

DÜHRING ist einer der literarisch erfolgreichsten philosophischen Schriftsteller aus der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Klarheit und Leidenschaftlichkeit seines Stils, wissenschaftliche Tüchtigkeit auf manchen Gebieten (so: Geschichte der Nationalökonomie und Mechanik) und der Schein wissenschaftlichen Märtyrertums sind die Ursachen. Mit den Vorzügen verbindet sich maßlose Heftigkeit und ebensolche Ungerechtigkeit in der Polemik, die den Wert mancher, namentlich späterer Arbeiten DÜHRINGs sehr herabsetzt. DÜHRING will mehr als Gelehrter sein, er betrachtet sich als Reformator der Menschheit. Ein Philosoph ist ihm überhaupt nur dann ein Denker, wenn er gleichzeitig sein Leben für seine Lehre einsetzt, sie realisieren. Die wissenschaftlichen Ausgangspunkte DÜHRINGs sind Mathematik, Physik und Nationalökonomie gewesen. - Seine Philosophie wendet sich gegen den Kritizismus (KANTs Philosophie "metaphysischer Quark" - Sache usw. Seite 298), wie überhaupt die zeitgenössischen Universitätsphilosophen, ja fast gegen alle früheren Philosophen überhaupt. "Meine Geschichte der Philosophie soll von der Philosophie selbst emanzipieren" (Seite 287). Ausschließlich der Materialismus (VOGT, FEUERBACH) habe in den neueren Jahrzehnten die Ehre der Philosophie in gewissem Maße gewahrt. Von fremden Denkern wird besonders der anti-metaphysische COMTE von DÜHRING geschätzt. DÜHRING selbst will "eine geistige Reformation, die zugleich zu einer Vervollkommnung des Einzel- und Gemeinlebens führt", begründen (Sache etc. Seite 400). Er steht im Gegensatz zum Pessimismus SCHOPENHAUERs und vertritt (trotz seiner Blindheit) lebensfreudiges Vertrauen auf die Weltordnung. Ebenso steht DÜHRING im Gegensatz zum Christentum, indem er die jüdische  Knechtsauffassung"  des Menschen verabscheut, wie er überhaupt einen ins Fanatische gesteigerten Haß gegen das Judentum zeigt. Die Religion hat etwas Vollkommenerem: der "Geistesführung" (ethische Erziehung) Platz zu machen, deren höchste Form die Selbstführung ist (Ersatz der Religion, Seite 228). Die Philosophie berücksichtigt auch das Ökonomische, das jedoch nur "Fußgestell" ist. Philosophie ist "vor allem Wirklichkeitslehre". Diese nimmt die Dinge, wie sie sich geben, als einheitliche und einzige Wirklichkeit (Sache etc. Seite 284). Sie verfolgt das "Sein ausschließlich am Leitfaden der Materialität" (Sache Seite 299). Die Lehr von einem Seelenwesen ist ein Wahnbegriff. "Fühlen und Denken sind Erregungszustände der Materie" (Wert des Lebens, Seite 79). Es gibt keine übermateriellen Wesenheiten. Doch ist DÜHRING nicht Materialist im Sinne des mechanistischen Materialismus. Er behauptet "wahrnehmbare Kräfte". Ihre Elimination ist "eine zweiflerisch krankhafte Verirrung". Ebenso hält DÜHRING die Organismen nicht für reine Mechanismen. Sie enthalten ein spezifisches Lebensprinzip (Seite 301f), das in der Fortpflanzung übertragen wird. Auch hat das Leben einen Anfang gehabt (Seite 270). Ein Grundgesetz der Wirklichkeit ist das der bestimmten Anzahl, d. h. es gibt nichts unendlich Kleines oder Großes. Alles ist abzählbar (Seite 270). Auch in der Mathematik verwirft DÜHRING den Begriff des wirklich unendlich Kleinen. Grundlage allen Erkennens sind die Sinne. Ein eigentlicher Erwerb von Vorstellungen findet im reinen Denken nicht statt. "Das System der Begriff muß in seinen Ausgangspunkten und Verzweigungen dem System der Natur entsprechen: denn es ist aus dem letzteren gleichsam ausgeschieden und hat nicht den Inhalt, sondern nur die Form gewechselt" (Logik, Seite 185). Der entscheidenste Fortschritt aller Orientierung in der Welt war die Trennung des Subjektiven, nur dem Ich Zugehörigen und des Objektiven. Diese Trennung ist mit voller Sicherheit möglich (Seite 172f).
LITERATUR: Friedrich Überwegs Grundriß der Geschichte der Philosophie, Vierter Teil, Berlin 1923