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PAUL SZENDE
Verhüllung und Enthüllung
[Der Kampf der Ideologien in der Geschichte]
[3/3]

"Die Wirkung der Enthüllung wird erst vollständig, wenn sie auf allen Gebieten des menschlichen Erkennens und Wollens mit der  Absolutheit  aufräumt. Nur die folgerichtig durchgeführte und ins Denken organisch eingegliederte relativistische Auffassung kann die Menschen aus dem Bannkreis der autoritären Ideologien losreißen. Es muß im Bewußtsein stets lebendig erhalten werden, daß es  keine absolut allgemeingültigen Wahrheiten, Normen und Werte  gibt, daß ihre Gültigkeit sich nur auf bestimmte Subjekte bezieht, nur aufgrund gewisser Voraussetzungen unter bestimmten Verhältnissen vorhanden ist."

"Der Staat, die Rechtsordnung büßen ihre Absolutheit ein, wenn man erkennt, daß sie nur Machtorganisationen einer Minderheitenherrschaft sind. Ebens verblassen die absoluten Werte, wenn man weiß, daß sie von einem einseitigen Standpunkt aus bestimmt worden sind.  Vaihinger  bezeichnet als Grundgedanken jedes Reformators, das Bestehende als  Spezialfall  zu betrachten. Man kann die enthüllende und revolutionäre Wirkung dieser Betrachtungsweise nicht hoch genug einschätzen."

"Die Enthüllung zeigt, daß sämtliche soziale Einrichtungen, die führenden religiösen und ethischen Ideen auf einem Macht- und Herrschaftsprinzip beruhen. Sie müssen den Platz solchen räumen, die sich auf  Interessensolidarität  und  Kooperation  aufbauen. Die zwei apriorischen Musterwissenschaften, die Logik und die Mathematik, haben in der letzten Zeit ihre Autorität erheblich eingebüßt. Alle Grundsätze der Logik sind auf den Satz der Identität zurückzuführen, der selbst aber keine sich dem Denken unwiderstehlich aufdrängende Wahrheit, sondern nur eine  Definition  ist. Ebenso verlor die syllogistische Deduktion ihren mystischen Glanz. Man weiß heute, daß sie zu keinen neuen Erkenntnissen führt."

"Der planmäßigen Enthüllung fällt die Aufgabe zu, zu verhindern, daß die autoritären Ideologien wieder das Übergewicht erlangen und die Aufmerksamkeit der Massen durch die Aufstachelung der nationalen und religiösen Leidenschaften ablenken. Die schwierigste Aufgabe ist die Bereinigung der Sprache. Kein von Menschen geschaffenes Werkzeug hält seinen Schöpfer mehr in seiner Macht als die Sprache."

"In der Schule und in der Wissenschaft muß die Mechanisierung des Denkens, wenn sie zur Verankerung der autoritären Ideologien führt, energisch bekämpft werden. Zielbewußt haben die bisherigen Lenker des Unterrichtswesens verhindert, daß in den Schulplänen die neuen Richtungen zu Wort kommen, unter dem Vorwand, der Jugend dürfen nur "fertige" Wahrheiten geboten werden, da der Kampf noch unausgegorener Theorien nur verwirrend wirken würde. Erst wenn die neuen Lehren ins autoritäre Schema eingepreßt sind, öffnen sich ihnen die Tore der Schule."


IV. Die Enthüllung

Bei der Behandlung der Verhüllung wurden bereits die enthüllenden Tendenzen besprochen. Wir heben daher hier nur hervor, was das unterscheidende Merkmal der Enthüllung ausmacht, und wiederholen bloß das unumgänglich Notwendige.

Die  Erfahrung  ist immer am Werk, die Menschen über Änderungen in der Innen- und Außenwelt auf dem Laufenden zu erhalten. Die inneren Einwirkungen entstammenden Bewußtseinsinhalte orientieren über die eigenen Bedürfnisse, die äußeren registrieren die in der Umwelt eingetretenen Änderungen, die psychisch-biologische Reaktion beider lenkt die Aufmerksamkeit auf die Möglichkeit einer besseren Bedürfnisbefriedigung durch eine Anpassung an die geänderten Zuständen. Die entscheidende Rolle in diesem Prozeß kommt den  Änderungen der Produktionsverhältnisse  zu, von denen vornehmlich die Bedürfnisbefriedigung abhängt. Die Erfahrung zeigt, daß ein bestimmter Komplex der äußeren Erfahrungstatsachen, der aus denkökonomischen Rücksichten unter dem Namen der  Gesellschaftsordnung  zusammengefaßt wird, mit den Änderungen der Produktionsverhältnisse nicht Schritt hält, zu ihnen in Gegensatz gerät. Die gedankliche Verarbeitung dieser sämtlichen Einwirkungen drängt dazu, diesen immanenten Gegensatz durch Willenshandlungen, durch eine Abänderung der Gesellschaftsordnung aufzuheben.

Die Erfahrung regt immer neue Ideologien an, die den geänderten Verhältnissen Rechnung tragen. Mit ihrer Hilfe geht die Erkenntnis der Abänderungsbedürftigkeit auf politisch-wirtschaftlichem Gebiet vonstatten. Daß die Willenshandlungen dieser Erkenntnis nicht immer auf dem Fuße folgen, kommt daher, weil die religiösen und metaphysischen Ideologien dieselbe verfälschen und das Wollen in gegenteiliger Richtung beeinflussen. Die Tendenz zur Abänderung ist immer vorhanden, fraglich ist nur, wann sie zum Durchbruch gelangt. Die Aufgabe, ihr zum Sieg zu verhelfen, fällt der Enthüllung zu.

Man kann eine negative und positive oder richtiger  destruktive  und  konstruktive  Enthüllung unterscheiden. Jene besteht im Niederreißen, in der Vernichtung und Entschleierung der verhüllenden Ideologien, diese liefert die Ideologien, welche die Menschen dazu bewegen, sich für eine bestimmte neue Gesellschaftsordnung einzusetzen.

Ist der Eindruck der äußeren Einwirkungen gengend stark, um nicht von den autoritären Ideologien assimiliert zu werden, so bewirkt er bereits durch eine einfache Betrachtung der sozialen Verhältnisse die Enthüllung ohne planmäßige Vorbereitung und apperzeptive Tätigkeit. Diese Enthüllung  via facti,  die in einer durchgreifenden Desillusionisierung der Massen ihren Ausdruck findet, hat die Untergrabung der Gesellschaftsordnung und ihrer einzelnen Einrichtungen in jedem Zeitalter mächtig gefördert. Die Enttäuschung und in ihrem Gefolge  Empörung  schaffen die Stimmung, die den Revolutionen vorausgeht. Das Schicksal der Institutionen teilen auch die sie stützenden Ideologien. SPENCER sagt, daß der Übergang vom Polytheismus zum Monotheismus am meisten durch die Unzufriedenheit mit einzelnen Göttern und durch die besondere Zufriedenheit mit einem bewirkt wurde. Die Religiosität bei den Juden war nur in Zeiten politischer und wirtschaftlicher Prosperität groß, da sie in dieser ein Zeichen göttlichen Wohlwollens sahen; sobald aber eine Katastrophe nahte, suchte man Zuflucht bei den heidnischen Göttern. Der unglückliche Ausgang der Kreuzzüge förderte eine ketzerische Stimmung, der Ablaßhandel und die Mißbräuche des Klerus brachten das Papsttum und die Kirche um ihr Ansehen und ebneten den Weg zur Reformation. Die Handlangerdienste, welche die Kirche heute dem Kapitalismus leistet, öffnen die Augen der Arbeiter und treiben sie in das Lager der Sozialdemokratie. Der ökonomisch-militärische Verfall des Rittertums brachte die ganze mittelalterliche Gesellschaftsverfassung zu Fall; ebenso wendete sich das Bürgertum gegen den Feudalismus, als sich seine vollständige Impotenz den Anforderungen des modernen Wirtschaftslebens gegenüber zeigte. Der durch die Kriegswirtschaft entfaltete freie Raub ließ die wahre Gestalt des Kapitalismus erkennen und als infolge des militärischen Zusammenbruchs der Nimbus der Machthaber verloren ging und sich ihre Schwäche enthüllte, brach zuerst in Rußland und dann in Mitteleuropa die Revolution los. Dieses Schicksal teilten auch die nationalistischen Schlagworte, die vorübergehend vollständig ihren Kredit verloren. Ähnliches ist auf dem Gebiet der Naturwissenschaften zu beobachten, wo die Eindringlichkeit der Erfahrung allmählich die Unzulänglichkeit veralteter Theorien enthüllt.

Die Enthüllung hat verschiedene Voraussetzungen und wirkt verschieden auf  die gebildeten Schichten  und auf  die großen Massen.  Jene sind der Enthüllung zugänglicher, bereits geringe Änderungen in der Außenwelt, wenige Erfahrungstatsachen können ihren Glauben an die autoritären Ideologien und an die Gesellschaftsordnung erschüttern; der Vorstellungsschatz der Massen ist dagegen beschränkter, fester verankert und gerät daher schwerer ins Wanken.

Im Zeitalter des Kapitalismus ist die industrielle Arbeiterschaft die Trägerin der revolutionären Bewegungen geworden, weil die Konzentration und die Akkumulation des Kapitals ihr den Zusammenhang der ganzen Gesellschaftsordnung aufdeckte und ihr auf einer höheren Stufenleiter vor Augen führte, daß die Änderung ihres Loses nur durch eine vollständige Umgestaltung der Gesellschaftsordnung möglich ist. Diese Erkenntnis war so überwältigend, daß sie die Wirkung der autoritären Ideologien aufhob.  Mit der sozialdemokratischen Arbeiterschaft hat sich stärker als je zuvor eine unterdrückte Klasse von der Herrschaft der religiösen Ideen befreit.  Warum diese Loslösung doch keine vollständige war, besprechen wir im letzten Kapitel. Das Industrieproletariat erkannte zuerst klar und deutlich, daß es zur Überwindung der bestehenden Gesellschaftsordnung einer neuen Weltanschauung bedarf und daß die eingefleischten "gesellschaftlichen Bewußtseinsformen ... sich nur mit dem gänzlichen Verschwinden des Klassengegensatzes vollständig auflösen." (MARX)

LORIA hat eine großzügige soziologische Theorie entwickelt, indem er die Gestaltung der Geschichte aus der Zweiteilung des Einkommens in Grund- und industrielle Rente erklärte. Die zwei Klassen, welche diese Renten genießen, befehden einander, und es ist Sache des Proletariats, aus diesem Kampf den größtmöglichen Nutzen zu ziehen. Dieser Kampf hat zur Folge, daß die streitenden Klassen nicht nur einander schwächen, sondern auch gegenseitig die autoritären Ideologien, auf denen ihre Herrschaft beruth, enthüllen und so zur Aufklärung der Massen beitragen. Der Antiklerikalismus des Bürgertums ist das bekannteste Beispiel dafür.

Die freiwillige Unterwerfung der Massen ist eine Folge der Autorität, welche die Gesellschaftsordnung in ihren Augen genießt. Sowohl die ungewollte (via facti), als auch die planmäßige Enthüllung erschüttert diese Autorität. Diese Wirkung tritt ein, wenn die suggestive Kraft derjenigen Ideologien, die der Gesellschaftsordnung Autorität verschaffen, bereits gelähmt ist. Die Enthüllung wirkt erst dann konstruktiv, wenn zugleich in den Massen die Vorstellung einer solchen Gesellschaftsordnung aufkommt, die sie als mit ihren Interessen übereinstimmend erkannt haben.

Die Wirkung der Enthüllung wird erst vollständig, wenn sie auf allen Gebieten des menschlichen Erkennens und Wollens mit der Absolutheit aufräumt.  Nur die folgerichtig durchgeführte und ins Denken organisch eingegliederte relativistische Auffassung kann die Menschen aus dem Bannkreis der autoritären Ideologien losreißen.  Es muß im Bewußtsein stets lebendig erhalten werden, daß es keine absolut allgemeingültigen Wahrheiten, Normen und Werte gibt, daß ihre Gültigkeit sich nur auf bestimmte Subjekte bezieht, nur aufgrund gewisser Voraussetzungen unter bestimmten Verhältnissen vorhanden ist. Um die mit der EINSTEINschen Relativitätstheorie aufgekommenen Ausdrücke zu benützen, die Gültigkeit der Wahrheiten und Werte hängt davon ab, welcher  Bezugskörper  oder  Standort  gewählt, wohin der  Koordinatenmittelpunkt  der Betrachtung verlegt wird. Denkt man als Bezugskörper nicht mehr den Monarchen oder die herrschende Klasse, betrachtet man den Geschichtsverlauf aus einer anderen  Perspektive  als bisher, wird der Mittelpunkt des Geschehens aus den "idealen" Sphären in die materiellen, in die Produktionsverhältnisse verlegt, so erhalten die absoluten Wahrheiten ein völlig geändertes Angesicht. Der Staat, die Rechtsordnung büßen ihre Absolutheit ein, wenn man erkennt, daß sie nur Machtorganisationen einer Minderheitenherrschaft sind. Ebens verblassen die absoluten Werte, wenn man weiß, daß sie von einem einseitigen Standpunkt aus bestimmt worden sind. VAIHINGER bezeichnet als Grundgedanken jedes Reformators, das Bestehende als Spezialfall zu betrachten. Man kann die enthüllende und revolutionäre Wirkung dieser Betrachtungsweise nicht hoch genug einschätzen.

Die Relativität wird öfters als Verfallsprodukt, als Weltanschauung der Verfallsperioden betrachtet. Diese Behauptung beruth auf einer optischen Täuschung. Die relativistische Auffassung ist zu allen Zeiten wirksam, solange aber eine Gesellschaftsordnung noch die notwendige Macht besitzt, sucht sie womöglich jedes Aufkommen des Relativismus zu unterdrücken, so daß er in weitem Umfang erst dann zum Durchbruch kommt, wenn die bestehende Ordnung bereits erschüttert ist.

Die Enthüllung bewirkt ferner die Ausmerzung jeglicher Apriorität. Nur solche Begriffe und Prinzipien können Geltung beanspruchen, die aus der Erfahrung stammen und durch sie verifiziert werden können.  Empirismus, Positivismus  und Materialismus sind diejenigen philosophischen und erkenntnistheoretischen Richtungen, die der Enthüllung dienen, wobei in die zwei ersteren die Apriorität durch idealistische Elemente leicht eingeschmuggelt werden kann, während der Materialismus durch seinen Dogmatismus und seinen Hang zur Absolutheit sehr oft verhüllende Tendenzen zeitigt. Das biologische Apriori (MILL, SPENCER, MACH), die Ansicht, daß die "apriorischen" Elemente unserer Erkenntnis im Verlauf der bio- und ontogenetischen Entwicklung erworben sind, unterscheidet sich grundsätzlich von der Apriorität im bisher besprochenen Sinn, weil es ein empirisch-genetischer Begriff ist und keine Allgemeingültigkeit vortäuscht.

Die Enthüllung zeigt, daß sämtliche soziale Einrichtungen, die führenden religiösen und ethischen Ideen auf einem Macht- und Herrschaftsprinzip beruhen. Sie müssen den Platz solchen räumen, die sich auf  Interessensolidarität  und  Kooperation  aufbauen. Der jetzige Begriff des Staates und der Nation muß durch einen solchen ersetzt werden, der die Verwirklichung der Definition von RENAN darstellt: "Die Existenz der Nation ist ein Tag für Tag fortgesetztes Plebiszit."

Mit der Absolutheit und Apriorität verschwinden auch die mit ihnen verbundene Hierarchie und Rangordnung der Begriffe, Ideen, Wissenschaften und Institutionen. Sowohl diese Einteilungen wie auch die dualistische Gegenüberstellung verbleiben nur noch als methodische Hilfen und denkökonomische Verfahren, doch nicht mehr als Werturteile. Das gilt auch für die Rangpriorität der Form. Ist die Änderung der Materie, des Inhaltes grundlegend, so zeigt sich die Unwesentlichkeit der Form, daß sie nichts aus sich heraus schaffen kann und daß sie nur eine Betrachtung der Erscheinungen von einem bestimmten Standpunkt, nur ein Beziehungskomplex unter mehreren möglichen ist. Der Durchbruch der genetischen Methode zerstört vollständig den  Formaberglauben. 

Zugleich verschwindet die künstliche Rangordnung zwischen denknotwendigen und Erfahrungswahrheiten (Wissenschaften). Die zwei apriorischen Musterwissenschaften, die Logik und die Mathematik, haben in der letzten Zeit ihre Autorität erheblich eingebüßt. Von der Logik haben wir das schon früher festgestellt. Ergänzend sei noch bemerkt: Alle Grundsätze der Logik sind auf den Satz der Identität zurückzuführen, der selbst aber keine sich dem Denken unwiderstehlich aufdrängende Wahrheit, sondern nur eine Definition ist. Ebenso verlor die syllogistische Deduktion ihren mystischen Glanz. Man weiß heute, daß sie zu keinen neuen Erkenntnissen führt und daß der Obersatz überhaupt nicht allgemein ausgesprochen werden darf, bevor man sich nicht des Schlußsatzes sicher ist. Sie ist ein bequemes Werkzeug, doch keine apriorische Weisheitsquelle.

Die Autorität der Mathematik ist Dank ihrer praktischen Verwendbarkeit nicht so empfindlich erschüttert wie die der Logik. Doch hat MACH festgestellt, daß sie keine Naturgesetze vorschreiben kann, daß sie der Verifizierung durch die Erfahrung bedarf und daß die Geometrie eine Abstraktion und Idealisierung der Erfahrung ist. VAIHINGER bewies, daß alle mathematischen Grundbegriffe imaginative und widerspruchsvolle Fiktionen sind. Nach POINCARÉ sind die mathematischen und geometrischen Axiome Definitionen, verkleidete Übereinkommen und Festsetzungen. Mehrere Geometrien sind möglich und de Erfahrung entscheidet darüber, welche von ihnen die bequemste ist. SPENGLER behauptet, jede Kultur habe eine andere Mathematik. Die relativistische Theorie EINSTEINs betrachtet die Geometrie als Zweig der Physik. Mit dieser Entgötterung der Mathematik wird die Transzendentalphilosophie KANTs in ihren Grundfesten erschüttert, weil ihm die Apriorität der Erkenntnis "eben" durch die Dignität der Mathematik und Naturwissenschaft verbürgt war. (CONSTANZE FRIEDMANN) Mit der apriorischen Mathematik fällt überhaupt die stärkste Stütze der autoritären Auffassung, denn ihre Anbetung half den Hang zur Absolutheit und Apriorität in solchen Schichten erhalten, die sich von den religiösen Vorurteilen schon befreit hatten.

Sowie die Verhüllung bemüht ist, die Menschen gegen den Himmel zu treiben, muß die Enthüllung sie auf den sicheren Erdboden zurückbringen. Wie die Gesellschaftsordnung als Minderheitenherrschaft enthüllt ist, verliert sie ihren mystisch-romantischen Zug.

Zur Enthüllung trägt gewaltig das Verfahren bei, das wir  Plebeisierung des Erkennens  nennen wollen. Dieses wendet solche Erkenntnisarten und Methoden an, die aller Feierlichkeit und hochtrabenden Prinzipien bar, unmittelbar aus der Erfahrung schöpfen und den anthropozentrisch-idealistischen Größenwahn aufheben, wie z. B. der Materialismus, die Deszendenztheorie [Abstammungslehre - wp], die vergleichende Biologie, die Psychophysiologie, überhaupt jede Wissenschaft, die von "unten" anfängt. Der Naturalismus in der Kunst und der Literatur zeitigt dasselbe Resultat. Als weitere Beispiele wollen wir schließlich den MACHschen Positivismus erwähnen, der in den "erhabensten" Dingen nur mehr oder weniger beständige Beziehungskomplexe sieht, und die FREUDsche Psychoanalyse.

Die Hypostasierung und Kanonisierung fallen, wenn sie keinen denkökonomischen Bedürfnissen entspringen, als Folgen des Vorherrschens der Absolutheit und Apriorität mit diesen. Bei allen diesen Denkmethoden ist die Gefahr der Verhüllung geringer, wenn man sie bewußt betreibt und dies auch den Massen beibringt.

Geht der Enthüllungsprozeß in den Naturwissenschaften vor sich, so wird ihre Wirkung bald auf politisch-wirtschaftlichem Gebiet fühlbar, wie dies eben bei der EINSTEINschen Relativitätstheorie beobachtet werden konnte.

Die psychische Energie, die zur Abschüttelung der eingewurzelten Ideologien erforderlich ist, wird entweder durch den Eindruck der Ereignisse erzeugt oder durch Erziehung, Aufklärung und Gewöhnung. Enthüllung ist ohne eine Aufhebung der "sozialen Trägheit" der Massen unmöglich, nur durch psychische Anstrengung kann die Verfälschung der Erfahrung durch apriorische Denkzutaten verhindert werden.  Eine Erziehung zum selbständigen Denken, eine unausgesetzte Aufklärungstätigkeit und Kontrolle des Vorstellungsschatzes der Massen  sind die besten Mittel dazu. Eine Loslösung von den Scheinproblemen und den Fragen über die letzten Gründe tut bitter not. In den Enthüllungsperioden verschwinden diese Probleme wie von einem Wirbelwind hinweggefegt.

Furcht und Hoffnung verlieren an sozialer Gefährlichkeit, wenn ihre Verknüpfung mit übernatürlichen Mächten und Kräften zerrissen oder geschwächt wird. Die zunehmende Organisierung der arbeitenden Klassen flößt dem Arbeiter Vertrauen ein, da er nicht mehr als Einzelner der Macht gegenübersteht. Es schwindet seine Furcht, er sieht die Gesellschaftsordnung nicht mehr als mystisches Wesen an und hofft auch die Kraft der Organisation. Die nüchterne positivistische Richtung in den Wissenschaften hat ebenfalls günstige Wirkungen gezeitigt, sie schwächte den Eindruck des Wunderbaren ab und hat es auf einfache Formeln gebracht. Schon HOLBACH betonte, daß der Materialismus wohltätig wirkt, weil er denjenigen, der weiß, daß alles Geschehene notwendig ist, von einer trügerischen Hoffnung und quälender Furcht befreit und in der Gegenwart glücklich zu sein lehrt. Die Abkehr vom Jenseits und die Verlegung des Glücksideals ins irdische Leben wird der Verhüllung die stärkste Stütze entziehen.

Die historische Rolle der Liebe und Achtung hängt davon ab, ob ihr Vorstellungsinhalt für oder gegen die Erhaltung des Bestehenden wirkt. Je mehr das Gefühl der Solidarität in den Massen wächst, je mehr die wahre Gestalt der Minoritätsherrschaft erkannt wird, desto mehr schwindet die Achtung vor der herrschenden Klasse und reift der Haß gegen die bestehende Gesellschaftsordnung.

Die Änderungen in der Außenwelt lenken die Aufmerksamkeit der Menschen auf die Abänderungsbedürftigkeit der sozialen Einrichtungen. Der planmäßigen Enthüllung fällt die Aufgabe zu, zu verhindern, daß die autoritären Ideologien wieder das Übergewicht erlangen und die Aufmerksamkeit durch die Aufstachelung der nationalen und religiösen Leidenschaften ablenken.

Die Geschichte liefert unzählige Beispiele dafür, daß in krisenhaften Perioden auch die zwei größten Machtorganisationen, Kirche und Armee, ihren Einfluß auf die Seelen verlieren. Sache der planmäßigen Enthüllung ist es, ihre verhüllende Wirkung auch in normalen Zeiten zu paralysieren. Ebenso muß der ungebührliche Einfluß der Bibel auf das allergeringst Maß reduziert werden; sie kann höchstens als wertvolles historisches Dokument, nicht aber als Moralkodex und oberste Richtschnur dienen.

Eine neue Erziehung, eine  planmäßig enthüllende Pädagogik  muß überall die alte verdrängen. Die Mechanisierung der psychischen Vorgänge besitzt denkökonomische Vorteile, doch muß dafür gesorgt werden, daß nicht die autoritären Ideologien den Mechanisierungsprozeß beherrschen.  Die Bereicherung und Reinigung des Vorstellungsschatzes der Massen  wird die vornehmlichste Aufgabe dieser neuen Pädagogik sein.

Ist der Eindruck der Außenwelt stark genug und widerspricht er den auf den ausgeschliffenen Nervenbahnen verlaufenden Vorstellungen, dann wird seine Assimilierung durch die vorhandene Vorstellungs- und Gefühlsmasse gehindert. Es tritt eine Hemmung ein, die erlaubt, daß die den autoritären Ideologien widerstreitenden Elemente sich vereinigen und so über die ersteren die Oberhand gewinnen und ihre Intensität herabmindern. Die Taktik der Enthüllung muß in genauer Kenntnis der empirischen Assoziationsregeln vereiteln, daß die Forderungen und Schlagworte der herrschenden Klassen in eine autoritäre und irreführende Gestalt eingekleidet werden. Sie muß ihnen neue gefühlsbetonte Vorstellungen entgegenstellen und so den gewohnten Assoziationsprozeß hemmen. Sie muß der religiösen oder nationalistischen Einkleidung gegenüber scharf den Klassenstandpunkt hervorheben, die neuen Eindrücke auf neue Vorstellungsbahnen lenken und hierdurch auch die den autoritären Ideologien widerstreitenden und durch sie verdrängten Elemente festigen. Bei jeder psychischen Einwirkung auf die Massen ist diesen immer vor Augen zu halten, daß die Gesellschaft kein einheitliches Gebilde, sondern aus Klassen zusammengesetzt ist. Das fördert den Dissoziationsprozeß, die Auflösung der autoritären Vorstellungsmassen am meisten.

Die Nachahmung wird in jeder menschlichen Gesellschaft stets eine große Rolle spielen. Man muß daher trachten, daß sie nicht zur Bewunderung und Anbetung der Mächtigen und Vornehmen dient. Solchen Suggestionen müssen Gegensuggestionen entgegengesetzt werden.

Das Unterbewußtsein ist ein mächtiges Reservoir aller Reform- und Umsturzbewegungen. Sämtliche durch Generationen erlittene, aber zurückgedrängte Demütigungen, unterdrückte Rachegelüste steigen frei auf, wenn die Autorität der Machthaber schwindet. Ebenso drängt der sexuelle Antrieb nach einer Wegräumung sämtlicher Hindernisse der Befriedigung. Die Impulsivität dieses Bestrebens zeigt, daß diese Hindernisse meist autoritäre Ideologien, Schöpfungen der bestehenden Gesellschaftsordnung sind, auf moralischen, religiösen und juristischen Normen fußen.

Die Herabsetzung der unverdienten Autorität der Logik beseitigt auch das Ansehen unzähliger allgemeingültiger Wahrheiten. Die durch die Abstraktion vernachlässigten und verdrängten Merkmale treten zutage. Die planmäßige Enthüllung soll bewirken, daß bestimmte Merkmale hervorgehoben und vernachlässigt werden, daß der Einfluß der autoritären Ideologien eingedämmt und jeder Begriff der Kontrolle durch die Erfahrung unterstellt wird. Bei der Begriffsbildung ist die  Determination  mehr wie bisher zu berücksichtigen, denn sie bildet Begriffe durch eine Vermehrung der Merkmale und durch die Erweiterung des Inhalts und nähert sich so der Erfahrung.

Die Generalrevision ist zuerst auf dem Gebiet der Religion, der Ethik, des Staates und der Wirtschaft derart durchzuführen, daß in jeden Begriff von Bedeutung ein Bestimmungselement eingeschoben wird, das  eine Anspielung auf die bestehende soziale Machtgestaltung  enthält. Im Geschichtsunterricht muß die einseitige Einstellung auf Herrscher und Feldherren einer umfassenderen Behandlung weichen. Führt man diese Revision zuerst in den Naturwissenschaften durch, so wird ihre wohltätige Wirkung auf geisteswissenschaftlichem Gebiet bald zu verspüren sein. Die Naturwissenschaften können sich endgültig vom Einfluß der Theologie und Metaphysik erst befreien, wenn sie auf den unnützen und irreführenden Anspruch verzichten, gleich dieser sämtliche "letzte Fragen" lückenlos zu erklären.

Das bisher Gesagte bezieht sich gleichermaßen auf die Ideen, die idealen und regulativen Prinzipien. Sie alle sind der Kontrolle durch die Erfahrung zu unterziehen, die Unterdrückung der unvollkommenen Merkmale ist schonungslos aufzudecken, ebenso ihre konservative Rolle. Die Demaskierung der transzendenten Ideen und ihrer Allgemeingültigkeit erweist sich als bestes Mittel zur Befreiung von der Kirchenlehre; nur so kann der Mißbrauch der Symbole, der militaristisch-nationalistischen Schlagworte eingedämmt werden.  Man verwerfe jedes ethische Gebot, das durch die Erfahrung nicht verifziert werden kann und sich Allgemeingültigkeit anmaßt. Nicht seine Form, sein überzeugender Inhalt soll seine verbindliche Kraft begründen.  Jedes Ideal, das autoritäre Ideologien assoziiert, ist unbedingt abzulehnen. Vergegenwärtigt man sich, wie diese Ideale sich von Zeit zu Zeit unter dem Druck der stürmisch drängenden Erfahrung als hohle Phrasen entpuppen, dann werden sie ihre Autorität einbüßen. Ist dies erreicht, so vermag "die List der Idee" die Menschen nicht mehr zu verführen, sich freiwillig einer Klassenherrschaft zu unterwerfen. Der Egoismus der englischen und französischen Moralphilosophie, die Moral der "Bienenfabel" von MANDEVILLE, der Anarchismus STIRNERs, die Herrenmoral NIETZSCHEs und die von der naturalistischen Literatur gepredigte Ethik sind weder allein noch insgesamt geeignet, die Grundlage für die sittliche Erneuerung der Gesellschaft abzugeben. Dennoch haben sie enthüllend gewirkt und die Doppelzüngigkeit der herrschenden Klassen, ihren mit hochfliegendem theoretischem Idealismus verkoppelten praktischen Materialismus entschleiert.

Eine Generalrevision sämtlicher wichtiger Fehlschlüsse in den Wissenschaften und der Politik würde die Gebrechlichkeit zahlreicher stolzer Wahrheiten bloßstellen. Man darf nie MACHs Forderung nach einer  Aufdeckung der Forschungswege  aus den Augen verlieren. Die genetische Methode - als  Methode der Enthüllung par excellence - soll eifrig am Werk sein, ungeachtet der Bannflüche der autoritären und apriorischen Wissenschaften. Es ist durchaus folgerichtig, daß die vorherrschende Ansicht die Psychologie, Sprachkritik, Bibelkritik als minderwertige und nicht vornehme Wissenschaften stigmatisiert. Als Leitsatz soll der Ausspruch MACHs gelten: "Ein Gedanke, dessen Entstehungsmotive ganz klargelegt sind, ist für alle Zeiten unverlierbar".

Die schwierigste Aufgabe ist die Bereinigung der Sprache. Kein von Menschen geschaffenes Werkzeug hält seinen Schöpfer mehr in seiner Macht als die Sprache. Allein eine allmähliche planmäßige Revision sowie Sprachkritik können auch auf diesem Gebiet nicht ihre Wirkung verfehlen. Bezeichnend ist, daß nun um die Mitte des 19. Jahrhunderts, als in Preußen die ärgste Reaktion herrschte, man als Lehrer der klassischen Sprachen in den Mittelschulen keine kritisch geschulten Philologen, sondern nur Theologen verwendete. Dies zeigt, wie scharfsinnig die Reaktion die verborgensten Zusammenhänge in Bezug auf die Gesellschaftsordnung erkennt, wenn es sich um die Wahrung ihrer Interessen handelt. Die Zurückdrängung des Griechischen und Lateinischen im Unterricht hilft ebenfalls den Autoritarismus zu erschüttern. Man nehme wieder den Schlachtruf der französischen Aufklärung auf: "Qui delivrera nous des Romains et des Grecs!" [Wer wird uns von den Römern und Griechen befreien? - wp]

Noch einige Worte über die Technik der Enthüllung.

Eine neue Geschichtswissenschaft, welche die überlieferten Quellen auf ihren Wahrheitsgehalt prüft, ihre Verleumdungen aufdeckt und ihre Legenden zerstört, räumt am gründlichsten mit dem Traditionskult auf. Die Verherrlichung der alten Einrichtungen kann dadurch entkräftet werden, daß man sie unter die Kontrolle der Erfahrung gelangen läßt und zeigt, daß ihre angedichtete Vollkommenheit überhaupt eine Fabel ist. Jeder Verquickung der irdischen Mächte mit übernatürlichen zur Hebung ihrer Autorität muß entgegengetreten werden.

In der Schule und in der Wissenschaft muß die Mechanisierung des Denkens, wenn sie zur Verankerung der autoritären Ideologien führt, energisch bekämpft werden. Zielbewußt haben die bisherigen Lenker des Unterrichtswesens verhindert, daß in den Schulplänen die neuen Richtungen zu Wort kommen, unter dem Vorwand, der Jugend dürfen nur "fertige" Wahrheiten geboten werden, da der Kampf noch unausgegorener Theorien nur verwirrend wirken würde. Erst wenn die neuen Lehren ins autoritäre Schema eingepreßt sind, öffnen sich ihnen die Tore der Schule. Der Darwinismus fand in sehr vorsichtiger Form erst Aufnahme, nachdem er genügend verballhornt und reaktionär zurechtgestutzt worden war.

Zum Schluß möge unser Lieblingsgewährsmann, der Preußenkönig FRIEDRICH WILHELM IV. nochmals zu Wort kommen. Sein Ausspruch: "Der Abfall von Gott wird immer vorbereitet, um bald vom König abfallen zu können" beleuchtet treffend die selbstlose Gottesliebe der Könige. Er kann dahin erweitert werden:  Wo immer der Abfall von der Absolutheit und Apriorität vorbereitet wird, dort setzt letzten Endes der Abfall von Gott und König ein. 


V. Die Dialektik der Verhüllung und Enthüllung

Die Geschichte lehrt, daß keine Gesellschaftsordnung von Dauer war und daß jede Herrschaft zusammengebrochen ist. Dieses Auf- und Niedergehen bezieht sich nur auf die Akteure; zwar wechselten herrschende und unterdrückte Klassen, das Wesen der Gesellschaftsordnung jedoch, die Minderheitenherrschaft ist von vorübergehenden Unterbrechungen abgesehen, jederzeit unverändert geblieben. Stets haben sich die verhüllenden Tendenzen stärker erwiesen als die enthüllenden. Wie erklärt sich das?

Jede Ideologie, jede soziale Institution zeitigt antagonistische Wirkungen, die einander unausgesetzt bekämpfen. Zu den bereits behandelten zahlreichen  Antagonismen  seien hier nur noch einige genannt. Das aufgespeicherte Wissen ist das wichtigste Mittel des Fortschritts, doch liefert es die Menschen einer fremden Autorität aus. Empfindung und Wahrnehmung geben ohne Deutung keine sicheren Erkenntnisse, die Deutung ermöglicht aber auch eine Verfälschung. Ohne Sprache kein soziales Leben, doch verhilft sie meist der Vergangenheit zum Sieg. Beinahe von sämtlichen verhüllenden Denkmethoden (Hypostasierung, Mechanisierung, Abstraktion) haben wir anerkennen müssen, daß sie auch denkökonomische Bedürfnisse befriedigen. Diese Wirkungen stehen in einem ständigen Kampf, dessen Ausgang das Schicksal der Gesellschaftsordnung beeinflußt, wenn auch der Widerstreit nicht immer bewußt wird.

Nach der  dialektischen  Auffassung "hört die Forderung nach endgültigen Lösungen und ewigen Wahrheiten ein für allemal auf" (ENGELS). Die Geschichte ist ein ununterbrochener Prozeß des Werdens und Vergehens. Jede Ideologie, jede gesellschaftliche Einrichtung bringt Gegentendenzen hervor, die ihre Wirkung hemmen oder aufheben. Der Fortschritt in der Geschichte vollzieht sich in Gegensätzen, der dem ganzen Prozeß innewohnende Widerspruch treibt zur Lösung, zur ganzen oder teilweisen Aufhebung des Gegensatzes. Auch der Kampf der Verhüllung und Enthüllung zeigt dialektischen Charakter; jede verhüllende Ideologie oder Willenshandlung löst enthüllende Tendenzen aus und umgekehrt.

Es hängt vom geschichtlichen Milieu, von der Mentalität der Gesellschaft, von der Stärke und der Stabilität der bestehenden Macht ab, ob ein und dieselbe Ideologie vorwiegend verhüllend oder enthüllend wirkt. Das Christentum "hob die antike Welt aus den Angeln", jetzt ist es die stärkste Stütze der Reaktion. Messianistische Hoffnungen, Mystik können auch revolutionierend wirken, doch nur auf kurze Zeit; die Enttäuschung führt sodann zur dogmatischen Religion zurück. Der kategorische Imperativ von KANT war seinerzeit ein Protest gegen die Unterdrückung der Gewissensfreiheit durch den Polizeistaat, heute ist er nur ein irreführender Formalismus. Sämtliche Schlagworte der bürgerlichen Revolutionen in Frankreich und England haben sich später im Kampf gegen das Proletariat in verhüllende Abstraktionen verwandelt. Der Rationalismus setzte als Auflehnung gegen die scholastische Philosophie ein, heute wirkt er reaktionär. Die GALILEI-NEWTONsche Mechanik hat die Naturwissenschaft von der Herrschaft der sich auf ARISTOTELES stützenden Theologie und Scholastik befreit; heute ist sie der relativistischen Auffassung gegenüber die stärkste Stütze der autoritären Naturbetrachtung. Andererseits bedient sich die Konterrevolution oft solcher Schlagworte, die revolutionierend wirken und die Stabilisierung der Gesellschaftsordnung verhindern.

Die bisherigen Ausführungen haben nur den dialektischen Charakter der Verhüllung und Enthüllung aufgedeckt, doch lösen sie nicht das Rätsel, warum die Minderheitenherrschaft die ständigste Erscheinung der Geschichte ist. Das Problem lautet daher: Warum konnten die enthüllenden Ideologien in der bisherigen Geschichte keinen dauerhaften Sieg davontragen?

Die Enthüllung nimmt den Kampf unter sehr schweren und ungleichen Bedingungen auf, er ist für sie sozusagen ein Handicap-Rennen. Im Schoß der Gesellschaft entwickeln sich die Kräfte, welche die Abänderung der bestehenden Einrichtungen herbeiführen, das Bestehende kann weder "übersprungen" noch "wegdekretiert" werden. Die Vergangenheit wirkt meist als apriori, ist nicht durch die Erfahrung unmittelbar kontrollierbar und nur durch komplizierte Erkenntnismethoden und Analogien erschließbar. Jede gegenwärtige Tatsache, die zur Vergangenheit wird, erfährt bereits dadurch eine aprioristische Färbung, deren Wirkungsintensität mit dem Zeitabstand wächst. Die Eindrücke der geänderten Verhältnisse, die stürmisch auf soziale Wandlungen drängen, räumen zeitweilig mit der apriorischen Wirkung der Vergangenheit auf. Doch kann dieser Zustand nicht dauerhaft sein,  die Revolution in Permanenz,  die ständige Anspannung der seelischen Kräfte, die unausgesetzte Konzentration auf die Enthüllung ist eine psychophysiologische Unmöglichkeit. Das Nervensystem strebt dem Gleichgewicht zu und das bedeutete nach den bisherigen Erfahrungen immer das Übergewicht der Vergangenheit.

Der Ideologievorrat der Gesellschaft zeigt eine bunte Promiskuität [Wechselhaftigkeit - wp]. Neben den durch die neuesten Eindrücke hervorgerufenen Gedankengängen sind auch sämtliche Ideologien, die die Menschheit während ihrer geschichtlichen Entwicklung produziert hat, festzustellen. Sie stehen, wenn auch in Erinnerungsspuren, ständig in Bereitschaft und feiern nur zu oft ihre Auferstehung. Ihr Wiederauftauchen kann durch Assoziationen infolge der Ähnlichkeit der sozialen Grundlage unbewußt und mechanisch erfolgen, doch bewirkt die verhüllende Tendenz bewußt ihre Neubelebung wegen ihrer Eignung zur Irreführung und geistigen Verwirrung der Massen.

Allein selbst das Übergewicht der Vergangenheit vermag nicht völlig zu erklären, warum die Wirkung der enthüllenden Tendenzen so wenig nachhaltig war. Die Lösung der Frage liefert die Untersuchung der  führenden Ideen der bisherigen Revolutionen  und sozialen Bewegungen. Sie führt zu dem verblüffenden Resultat, daß diese Ideen überwiegend  absolutistische und apriorische Bestandteile aufweisen. 

Das Christentum war eine Erhebung des jüdischen Proletariats, doch die wirtschaftlichen und sozialen Beweggründe sind bald in Vergessenheit geraten und die religiöse Richtung gewann die Oberhand. Folgerichtig hat sich hieraus nach einer Erstarkung der Bewegung die Machtorganisation der Kirche entwickelt. Sämtliche soziale Revolutionen des ausgehenden Mittelalters und der Neuzeit bedienten sich, dem damaligen Bildungsgrad und Gefühlsleben der Menschheit entsprechend, religiöser Schlagworte, die bald die wirtschaftlichen und politischen Forderungen verdrängten. Alle diese Bewegungen richteten sich gegen die Mißbräuche des Klerus, durch welche sich die Massen in ihren materiellen Interessen bedroht fühlten. Die Massen, die alles Heil von Gott und der Religion erwarteten, verloren das Zutrauen, daß Gott unwürdigen Dienern Gehör schenken und die durch sie vermittelten Wünsche der Gläubigen erfüllen wird. Die Hussiten, die deutschen Wiedertäufer und revoltierenden Bauern, die Anhänger LUTHERs forderten gleichmäßig die sittliche Erneuerung der Kirche und die Freiheit des unmittelbaren Verkehrs mit Gott. "Das Wort Gottes soll frei und ungehindert gepredigt werden." Anstatt der hierarchischen Kirche verlangten sie eine neue Autorität, ein neues apriorisches Prinzip, die Bibel. Alle ihre ökonomischen Forderungen wurden durch Bibelworte unterstützt. Die religiösen Revolutionen, die sehnsüchtig Gottes Einmischung erhoffen, zeitigen leicht eine Enttäuschung und sodann die Niederlage, wenn diese Einmischung nicht rasch erfolgt. Die englischen Puritaner und CROMWELL haben "Sprache und Jllusionen dem Alten Testament entlehnt" (MARX). Dieses aber als wahre Quelle des Autoritäts- und Herrschaftsprinzips mußte letzten Endes zur Herstellung der alten Gesellschaftsordnung führen. Es ist unleugbar, daß infolge dieser religiös gefärbten Revolutionen die politische und wirtschaftliche Ordnung durchgreifende Veränderungen erfuhr: die Bourgeoisie erfocht sich überall die führende Rolle. Doch war der Enthüllungsprozeß kurzlebig, das Wesen der Minoritätsherrschaft blieb unberührt.

Denselben Ausgang nahmen die bürgerlichen und die nationalen Revolutionen, die sich von den früheren dadurch unterscheiden, daß sie die religiösen Schlagworte durch metaphysische (Gleichheit, Freiheit, Menschenrechte, nationale Einheit) ersetzten. Die französische Revolution setzte als stürmischer Enthüllungsprozeß ein, dann glitt sie in eine autoritäre Grundlage über. Die Proklamierung des höchsten Wesens, seine Verehrung, der Kultus der Vernunft, die Aufhebung der Glaubensfreiheit waren die ersten Schritte auf dem Weg zur Autokratie des Direktoriums und dann zu NAPOLEON. Alle diese Revolutionen wie auch die "industrielle Revolution" haben die Gesellschaftsordnung, die Machtverteilung bedeutend gewandelt, den Weg für die kapitalistische Entwicklung freigemacht, das Wesen der Minoritätsherrschaft aber unverändert gelassen.

Jede Revolution, jeder Enthüllungsprozeß hat dialektischen Charakter. Sie zeitigen sofort Gegentendenzen, deren Wirkung dadurch ungemein verstärkt wird, daß der Ideengehalt der Revolutionen selbst apriorische Merkmale aufweist. Es ist daher verständlich, daß nach dem Eintritt der Revolutionsmüdigkeit die alten Ideologien leicht ihre Herrschaft über die Seelen wiedergewinnen.

Der Zweck der Massenbewegungen ist nicht die Enthüllung, sondern die Abänderung der Gesellschaftsordnung. Sind die Bestrebungen erfolgreich, so kommt der biologisch verankerte Wunsch auf, die Errungenschaften zu stabilisieren. Am Siegestag jeder Revolution begann eine neue dialektische Phase,  die Enthüllung schlug im Interesse der Stabilisierung in eine Verhüllung um.  Jene bedeutet den Kampf gegen die bestehende Autorität, doch bedienen sich die neuen Machthaber zwecks Ausnützung des Sieges gleichfalls autoritärer Mittel. Die Herausbildung einer neuen Mentalität, die es ermöglicht, daß die Massen die Gesellschaftsordnung als mit ihren Interessen übereinstimmend anerkennen und achten, ist in bewegten Zeiten schwer zu erreichen. Im Verlauf der Geschichte fußten alle diese Bestrebungen auf dem Autoritätsprinzip und die Abänderung bestand nur darin, daß die Subjekte und Einrichtungen wechselten, die den Schutz dieses Prinzips genossen, die autoritäre Grundlage blieb unverändert. Die Zersetzung, Erschütterung und Unsicherheit - Begleiterscheinungen jeder umstürzenden Änderung und besonders jeder Revolution - machen die Lage der neuen Machthaber schwankend und zwingen sie, die autoritären Mittel noch schärfer zu handhaben als ihre Vorgänge, sie "verfallen der Machtkausalität", den "Bedürfnissen der Machtbehauptung (ROSA MAYREDER). Ein treffliches Beispiel hierfür ist das tyrannisch-autoritäre Regiment CALVINs in Genf und kommt auch klassisch im Ausspruch des einstigen Revolutionärs und späteren Ministerpräsidenten FRANCESCO CRISPI zum Ausdruck: "Wir waren Revolutionäre, um Italien zu schaffen, wir sind konservativ, um es zu erhalten." Aus den revolutionären Freiheitskämpfen der  Italia Unita  ist die Klassenherrschaft trotz des Sturzes so vieler Throne und der weltlichen Herrschaft des Papstes unversehrt hervorgegangen.

Der Befestigungsprozeß kann auf zweifache Weise vor sich gehen. Man dreht den Spieß um und wendet einfach die psychischen Mittel der alten Machthaber an. Das zur Macht gelangte Bürgertum gebraucht den Bestrebungen der Massen gegenüber die gleichen Ideologien wie früher der Feudaladel und Klerus: nicht mehr nur in theologischer, sondern auch in metaphysischer Verkleidung. Der zweite Weg ist der, daß die bisher enthüllenden Ideologien (z. B. Freiheit, Rechtsstaat, nationale Einheit) nunmehr zur Verhüllung benützt werden. Ihr vorgetäuschte Allgemeingültigkeit wird das Mittel zur Irreführung. Die enthüllenden Ideologien waren zuerst ernst gemeint, erst nach der Machtergreifung erfahren sie im Interesse der neuen Herrschaft eine "rückwirkende Verfestigung" (VOLKMANN). Dadurch entwickelt sich die Revolution zu einem "dialektischen Kunststück", "alles besteht, während dialektischer Betrug privatissime eine heimliche Lesart unterschiebt, daß es nicht besteht" (KIERKEGAARD).

Auch die  proletarischen  Revolutionen der letzten Jahre bilden keine Ausnahme. Hierdurch erklärt sich ihr aktueller Mißerfolg. Ich habe mich vom massenpsychologischen Standpunkt aus mit diesem Problem in meiner Abhandlung "Die Krise der mitteleuropäischen Revolution" (Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 1920), eingehender beschäftigt und möchte hier nur noch die Rolle dieser Revolutionen im Hinblick auf die Verhüllung und Enthüllung kurz besprechen. Die sozialdemokratische Bewegung war in der Praxis beinahe gänzlich auf das Macht- und Herrschaftsprinzip eingestellt. Ihr Staatsideal war der bestehenden Gesellschaftsordnung zwar diametral entgegengesetzt, doch trotz ihrer enthüllenden Tendenzen ebenso autoritär. Dies zeitigte in den Reihen der Arbeiter notwendig einen Machtopportunismus und Machtfanatismus. Jener ist die Mentalität der gemäßigten Sozialisten und kommt in der Überschätzung der innerhalb der bestehenden Gesellschaftsordnung errungenen Machtpositionen zum Ausdruck. Man opfert um deren Behauptung willen prinzipielle Forderungen. Dem Machtfanatismus wieder sind die Kommunisten verfallen, die im Glauben lebten: der ausschließliche Besitz der Macht ersetze alles und könne alles schaffen. Die mitteleuropäische Revolution (in Deutschland, Österreicht, Ungarn) führte nicht zur Aufrichtung der auf Selbstdisziplin und Opferfreudigkeit beruhenden proletarischen Gesellschaftsordnung; sie war nur eine Umkehrung der Machtideologie gegen die herrschenden Klassen, die infolge des militärischen und wirtschaftlichen Zusammenbruchs ihre Macht und Autorität verloren haben.

Die russische Räterepublik ist eine  gigantische Umkehrung der bestehenden Machtideologien  und des Machtapparates gegen die früher herrschenden Klassen. Es ist nur ein Rollenwechsel eingetreten. Im Übrigen walten sämtliche verhüllende Tendenzen ebenso wie früher. Über der neuen Gesellschaftsordnung schwebt gleich dem Être Supréme [Kult des höchsten Wesens - wp] ROBESPIERREs als apriorisch-mystisches, hypostasiertes Wesen, das Proletariat, eine Abstraktion, in deren Namen die Diktatur über die Bevölkerung ausgeübt wird. Das ganze System atmet den Geist der dogmatischen Absolutheit, die errungene Wahrheit ist allgemeingültig und unfehlbar, an sie  muß  geglaubt werden. Der Dogmatismus äußert sich auch im Glauben, daß der Besitz der Macht genügt, die Produktionsverhältnisse nach einem apriori ausgedachten Plan zu lenken und den Massen eine der neuen Gesellschaftsordnung günstige Mentalität von obenher beizubringen. Das Glücksideal wurde zwar ins Diesseits verlegt, doch wie in jeder Religion der Kontrolle durch die Erfahrung entzogen. Erst nach einem Übergangsstadium, dessen Spann das Leben der heutigen Generation übersteigt und beliebig verlängert werden kann, setzt die neue Gesellschaftsordnung mit der vollständigen Freiheit und mit der höchsten Entfaltung der Produktivkräfte ein. Auch die  Theodizee [Rechtfertigung Gottes - wp] treibt ihre Blüten, sämtliche Entbehrungen werden als Prüfungen des Gott-Proletariats betrachtet; alle dienen insgesamt dazu, die Massen zu noch größerer Kraftentfaltung zu veranlassen. Eine neuer Formaberglauben kommt auf, in den dekretierten Rahmen soll alles hineingepreßt werden. Ein umfangreiches Zeremoniell entwickelt sich, die altbewährten Äußerlichkeiten des national-militaristischen Staates: Festlichkeiten, Truppenparaden, Heldenverehrung, feiern proletarisch verbrämt ihre Auferstehung. Sie wollen durch künstliche Assoziationsverbindungen, durch psychische Reizmittel die Massenvorstellungen und Gefühle auf die alten ausgeschliffenen Bahnen zur Todesverachtung, Selbstaufopferung und Duldung des Übels zwingen. Die "rückwirkende Verfestigung" läßt alle ihre Künste spielen. Auch eine Doppelmoral wird verfolgt: im eigenen Land macht man die größten Zugeständnisse ans Privateigentum, die ausländischen Sozialisten werden aber auf das Grimmigste befehdet, wenn sie auf die Verhältnisse des eigenen Landes auch nur die geringste Rücksicht nehmen wollen. Die begeisterte Kriegspolitik, die Verherrlichung der Gewalt, führen zur Höchstentfaltung des Autoritätsprinzips. Das russische Volk hat in den letzten Jahren riesige Umwälzungen erlebt, doch die ihm von oben aufgedrängte Mentalität ist die alte geblieben. Es führt der Weg folgerichtig, trotz der Verschiebungen in der Klassengliederung zur alten Gesellschaftsordnung, zur Minoritätsherrschaft zurück, umso mehr da dieser Weg niemals verlassen wurde.

Nicht nur in den weltgeschichtlichen Prozessen, auf allen Gebieten des menschlichen Erkennens und Handels rächt es sich, wenn mit der Absolutheit und Apriorität nicht ernsthaft aufgeräumt wird. Hier müssen wir das Bündnis erwähnen, das durch die Vermittlung der Neukantianer seit einigen Jahrzehnten zwischen  Kantianismus  und  Marxismus  besteht. Wir begreifen, daß das großartige Denkgebäude der transzendentalen Philosophie, ihre scheinbare Solidität, Exaktheit viele der marxistischen Denker mit Achtung erfüllt; nicht minder auch, daß man angesichts der Verballhornung und Komprimittierung der materialistischen Geschichtsauffassung in der alltäglichen Agitation, gegenüber dem starren Dogmatismus des naturwissenschaftlichen Materialismus und dem hohlen Uniformierungseifer des Monismus das Bedürfnis nach einer kritischen Methode empfunden hat. Doch ist die kantische Philosophie die Verkörperung der Absolutheit und Apriorität. Sie ist sogar verfänglicher und gefährlicher als die spekulativen Systeme von FICHTE und HEGEL. Diese können infolge ihrer schroff-spekulativen Fassung weniger irreführen, während die kantische Philosophie durch ihre scheinbaren Konzessionen an den Erfahrungsstandpunkt eben diejenigen Denker zum Autoritätsprinzip zurückführt, die sich von ihm bereits losgemacht haben. Der Marxist, der die bestehende Gesellschaftsordnung radikal abändern und nebenbei den Massen den Kantianismus beibringen will, verrichtet  Penelopes  Arbeit, er trennt, was er tagsüber gesponnen hat in der Nacht wieder auf.  Die Verkoppelung von Kant und Marx war und bleibt die verhängnisvollste geistige Verirrung der letzten Jahrzehnte. 

Bricht man auf politischem Gebiet mit dem Autoritarismus und huldigt man ihm in den übrigen Wissenszweigen ruhig weiter, so dringt die verhüllende Tendenz am Ende immer durch, wenn die Gegensätz scharf aufeinanderprallen. Das Vorherrschen der mechanistischen Auffassung verhindert die meisten naturwissenschaftlich geschulten Menschen am endgültigen Bruch mit den autoritären Ideologien. Die relativistische Auffassung bleibt nur ein Lippenbekenntnis für die Feiertage, an Werktagen verlaufen die Assoziationen weiter mechanisch im Bann des Absolutheitsprinzips. In ihrer Majorität bleiben die Gebildeten weiter verkappte Absolutisten und diese Eigenschaft reagiert sehr empfindlich, wenn es sich darum handelt, die Konsequenzen des angenommenen Standpunkts zu ziehen, mit der hergebrachten Mischehe zwischen Absolutheit und Relativität zu brechen.

In der jetzigen Gesellschaftsordnung erwachsen auch den Unterdrückten manchmal Vorteile daraus, daß sie zum Schutz gegen die Stärkeren vorübergehend verhüllende Methoden anwenden. Doch rächt sich dieses Verfahren letztenendes immer, weil die Stärkeren die Irreführung aufdecken und im Besitz der Machtmittel dieses Verfahren viel wirksamer gegen sie anwenden. Für die Beherrschten ist die Enthüllung, volle Aufrichtigkeit die einzig mögliche Methode. Bedient man sich bewußt oder unbewußt absoluter und apriorischer Ideologien, so stellt man sich in einen fehlerhaften Zirkel; der Weg führt unerbittlich zu den alten Göttern zurück.  Nil inultum remanebit. [Nichts wird ungesühnt bleiben. - wp]

Das sind die tieferen Gründe, warum trotz des dialektischen Prozesses, trotz des Sturzes und Vergehens so verschiedener Gesellschaftsordnungen die Minderheitenherrschaft als fester Pol in der Erscheinungen Flucht unversehrt erhalten blieb.

Enthüllende und verhüllende Tendenzen sind zu jeder Zeit wirksam, doch kann gewissermaßen eine  Periodizität  in der Geschichte festgestellt werden, je nachdem welche Tendenz vorliegt. Ihr Rhythmus ist ungleich, die Zyklen, Steigerung und Remittenz [Rückgang - wp] zeigen große Abweichungen. In diesem beschränkten Sinn können wir verhüllende und enthüllende (demonstrierende) Epochen unterscheiden. Unser Zeitalter ist vornehmlich demonstrierend, es enthüllt sämtliche Triebkräfte der Geschichte.

Jede Revolution ist nur die letzte Phase einer Enthüllungsperiode, die allmähliche Unterminierung der Autorität geht  via facti  vor sich. Mit der Revolution erfolgt die eruptive Sprengung. Sie ist eine Generalentschleierung, die durch eine planmäßige Enthüllung beschleunigt werden kann. Nach ihr beginnt wieder das Streben zur Herstellung des Gleichgewichts, zur Angleichung der eingetretenen Niveau-Unterschiede. Die Verhüllung macht sich an die Arbeit.

Verhüllung und Enthüllung bekämpfen und hemmen einander. Gesellschaftsordnungen entstehen und vergehen, nur die Minoritätsherrschaft erblüht immer wieder zu neuem Leben, weil auch  die enthüllenden Tendenzen und die Abänderungsbestrebungen größtenteils autoritäre und apriorische Bestandteile aufweisen.  Gelänge es durch eine planmäßige Erziehung und Gewöhnung diese Elemente aus dem menschlichen Denken zu vertilgen oder auf das geringste Maß zu reduzieren, so wäre der Weg für die Solidarität, Interessengemeinschaft und Kooperation aufgebaute Gesellschaftsordnung freigemacht. Es würde immerhin eine Minorität geben, welche diese Gesellschaftsordnung bekämpfte und deren Rückentwicklung fördernde Ideologien produziert. Doch wäre ihr Einfluß leicht zu überwinden und der dialektische Prozeß beschränkte sich auf geringfügige Schwankungen.  Diejenige Gesellschaftsordnung, welche die Majorität, als mit ihren wirklichen Interessen übereinstimmend erkennt, würde stets aus dem Kampf siegreich hervorgehen.
LITERATUR: Paul Szende, Verhüllung und Enthüllung, Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, 10. Jahrgang, Leipzig 1922