tb-4 Michail BakuninKarl Diehl    
 
PAUL ELTZBACHER
Der Anarchismus

"Zu einem Begriff gehört zunächst, daß ein Gegenstand so deutlich und rein wie möglich vorgestellt wird. In nichtbegrifflichen Vorstellungen wird ein Gegenstand nicht mit aller möglichen Deutlichkeit vorgestellt. In unseren nichtbegrifflichen Vorstellungen des Goldes machen wir uns zumeist nur wenige Eigenschaften des Goldes deutlich; einer von uns denkt vielleicht vorzugsweise an die Farbe und den Glanz, ein anderer an die Farbe und Dehnbarkeit, in dritter an irgendwelche andere Eigenschaften. Im Begrif des Goldes aber müssen Farbe, Glanz, Dehnbarkeit, Härte, Löslichkeit, Schmelzbarkeit, spezifisches Gewicht, Atomgewicht und alle anderen Eigenschaften des Goldes so deutlich wie nur irgendwie möglich vorgestellt werden."

"Die Rechtsnorm ist eine Norm. Eine Norm ist die Idee eines richtigen Verhaltens. Ein richtiges Verhalten bedeutet ein solches, das entweder dem letzten Zweck allen menschlichen Verhaltens entspricht - unbedingt richtiges Verhalten, z. B. die Achtung fremden Lebens - oder doch irgendeinem zufälligen Zweck - bedingt richtiges Verhalten, z. B. die kunstgerechte Handhabung eines Nachschlüssels."

Einleitung

1. Den Anarchismus wissenschaftlich zu erkennen, ist uns zugleich ein inneres und ein äußeres Bedürfnis.

Wir möchten in das Wesen einer Bewegung eindringen, die das Unbezweifelte in Frage zu stellen und das Altehrwürdige zu verneinen wagt und trotz allem immer weitere Kreise ergreift.

Wir möchten ferner darüber schlüssig werden, ob es nicht notwendig ist, einer solchen Bewegung mit den Waffen der macht entgegenzutreten, das Bestehende oder doch dessen ruhige Weiterentwicklung zu schützen und durch rücksichtsloses Vorgehen größere Übel zu verhüten.

2. Über den Anarchismus besteht gegenwärtig die äußerste Unklarheit und zwar nicht nur bei der großen Menge, sondern auch bei Gelehrten und Staatsmännern.

Bald bezeichnet man als das höchste Gesetz des Anarchismus ein geschichliches Entwicklungsgesetz, bald als das Glück des einzelnen Menschen, bald die Gerechtigkeit.

Bald sagt man, der Anarchismus gipfle in der Negation jedes Programms, er habe nur ein negatives Ziel; bald wieder, seiner verneinenden, zerstörenden Seite stehe eine bejahende, schöpferische gegenüber; schließlich, das Originelle des Anarchismus liege ausschließliche in seinen Aussagen über die ideale Gesellschaft, das, was sein wahres, wirkliches Wesen ausmacht, seien seine positiven Bestrebungen.

Bald heißt es, daß der Anarchismus das Recht, bald, daß er die Gesellschaft, bald, daß er nur den Staat verwerfe.

Bald erklärt man, in der Zukunftsgesellschaft des Anarchismus bestehe keinerlei vertragliche Bindung; bald wieder, der Anarchismus erstrebe die Ordnung aller öffentlichen Angelegenheiten durch Verträge unter föderalistisch eingerichteten Gemeinden und Gesellschaften.

Bald sagt man allgemein, der Anarchismus verwerfe das Eigentum oder doch das Privateigentum; bald unterscheidet man zwischen kommunistischem, kollektivistischem oder auch zwischen kommunistischem, kollektivistischem und individualistischem Anarchismus.

Bald behauptet man, der Anarchismus denke sich seiner Verwirklichung durch das Verbrechen, namentlich durch eine gewaltsame Revolution und mit Hilfe der Propaganda der Tat; bald wieder, der Anarchismus verwerfe die Taktik der Gewalt und die Propaganda der Tat, oder diese seien doch wenigstens keine notwendigen Bestandteile des Anarchismus.

3. Zwei Anforderungen müssen an einen jeden gestellt werden, der den Anarchismus wissenschaftlich zu bearbeiten unternimmt.

Erstens muß er mit den bedeutendsten anarchistischen Schriften bekannt sein. Hier stellen sich allerdings große Schwierigkeiten entgegen. Die anarchistischen Schriften sind in unseren öffentlichen Büchersammlungen nur ganz spärlich vertreten. Sie sind zum Teil so selten, daß es für den Einzelnen äußerst schwierig ist, auch nur die hervorragendsten unter ihnen zu erwerben. So ist es zu begreifen. daß von allen Arbeiten über den Anarchismus nur eine einzige auf umfassender Kenntnis der Quellen beruth. Dies ist eine 1894 in New York ohne den Namen des Verfassers erschienene Schrift, "Die historische Entwicklung des Anarchismus", welche auf sechzehn Seiten in gedrängter Kürze eine Darstellung gibt, die von staunenswerter Bekanntschaft mit den verschiedensten anarchistischen Schriften zeugt. Die beiden umfangreichen Werke "L'anarchia e gli anarchici" von ETTORE SERNICOLLI, Mailand 1894 und "Der Anarchismus" von ERNST VIKTOR ZENKER, Jena 1895, gründen sich wenigstens zum Teil auf die Kenntnis anarchistischer Schriften.

Zweitens muß, wer den Anarchismus wissenschaftlich bearbeiten will, zugleich in Rechtswissenschaft, Wirtschaftslehre und Philosophie zuhause sein. Der Anarchismus beurteilt Rechtseinrichtungen im Hinblick auf ihre wirtschaftlichen Wirkungen und vom Standpunkt irgendeiner Philosophie. Um in sein Wesen einzudringen und nicht allen möglichen Mißverständnissen zum Opfer zu fallen, muß man deshalb mit den von ihm angewandten und in Bezug genommenen Begriffen der Philosophie, Rechtswissenschaft und Wirtschaftslehre vertraut sein. Dieser Anforderung entspricht von sämtlichen Arbeiten über den Anarchismus am meisten die kleine Schrift von RUDOLF STAMMLER, Die Theorie des Anarchismus, Berlin 1894.


Erstes Kapitel
Die Aufgabe

1. Allgemeines

1.  Die Aufgabe der Untersuchung besteht darin, den Anarchismus und seine Arten begrifflich zu bestimmen.  Sobald diese Begriffe bestimmt sind, ist der Anarchismus wissenschaftlich erkannt. Denn ihre Bestimmung ist nicht nur bedingt durch einen Überblick über die ganze Fülle der Einzelerscheinungen des Anarchismus; sie faßt auch das Ergebnis dieses Überblicks zusammen und ordnet es der Gesamtheit unserer Erkenntnis ein.

Die Aufgabe, den Anarchismus und seine Arten begrifflich zu bestimmen, scheint auf den ersten Blick vollkommen deutlich. Aber die scheinbare Deutlichkeit verschwindet bei genauerer Betrachtung.

Es erhebt sich nämlich zunächst die Frage: wovon hat die Untersuchung auszugehen? Man wird antworten: von den anarchistischen Lehren. Aber es besteht keineswegs Einverständnis darüber, was für Lehren anarchistisch sind; von den einen werden diese, von den anderen jene Lehren als anarchistisch bezeichnet, und die Lehren selbst bezeichnen sich zum Teil als anarchistisch, zum Teil auch nicht. Wie kann man irgendwelche von ihnen als anarchistische Lehren zum Ausgangspunkt nehmen, ohne den Begriff des Anarchismus, den man doch erst bestimmen will, bereits zu verwenden?

Es erhebt sich sodann die weitere Frage: welches ist das Ziel der Untersuchung? Man wird antworten: die Begriffe des Anarchismus und seiner Arten. Aber wir sehen täglich, daß verschiedene Menschen den Begriff des Gegenstandes, den sie sich in gleicher Weise denken, dennoch auf ganz verschieden Art bestimmen. Der eine sagt, das Recht sei der allgemeine Wille; ein anderer, es sei ein Inbegrif von Vorschriften, welche die natürliche Freiheit eines Menschen um anderer Menschen willen beschränken; ein dritter, es sei die Lebensordnung des Volkes bzw. der Völkergemeinschaft zur Erhaltung von Gottes Weltordnung. Sie wissen alle, daß zu einer Begriffsbestimmung die Angabe der nächsthöheren Gattung und des zu unterscheidenden Artmerkmals gehört, aber diese Erkenntnis nutzt ihnen wenig. Das Ziel der Untersuchung scheint also doch der Aufklärung zu bedürfen.

Endlich erhebt sich die Frage: welches ist der Weg zu diesem Ziel? Wer jemals den Streit der Meinungen in den Geisteswissenschaften betrachtet hat, dem ist es bekannt, einerseits, wie sehr es an einem anerkannten Verfahren zur Lösung von Aufgaben fehlt, andererseits, wie notwendig es für jede Untersuchung ist, sich über das anzuwendende Verfahren klar zu werden.

2. Die Untersuchung kann eine genauere Feststellung der Aufgabe erreichen.  Die Aufgabe besteht darin, an die Stelle nichtbegrifflicher Vorstellungen des Anarchismus und seiner Arten Begriffe zu setzen 

Jede begriffbestimmende Untersuchung hat die Aufgabe, einen Gegenstand, der vorerst nichtbegrifflich erfaßt wird, begrifflich zu erfassen, also an die Stelle der nichtbegrifflichen Vorstellungen eines Gegenstandes einen Begriff zu setzen. Diese Aufgabe kommt besonders deutlich zum Ausdruck in einem begriffbestimmenden Urteil (der Definition), welches in seinem Subjekt irgendeine nichtbegriffliche Vorstellung eines Gegenstandes und in seinem Prädikat eine begriffliche Vorstellung desselben Gegenstandes unmittelbar nebeneinander stellt.

Hiernach hat die Untersuchung, die die Begriffe des Anarchismus und seiner Arten bestimmen soll, die Aufgabe, Gegenstände, die vorerst in nichtbegrifflichen Vorstellungen des Anarchismus und seiner Arten erfaßt werden, begrifflich zu erfassen, also an die Stelle dieser nichtbegrifflichen Vorstellungen Begriffe zu setzen.

3. Aber die Untersuchung kann ihre Aufgabe noch genauer feststellen, freilich zunächst nur nach der verneinenden Seite hin.  Die Aufgabe besteht nicht darin, an die Stelle aller und jeglicher Vorstellungen, die als nichtbegriffliche Vorstellungen des Anarchismus und seiner Arten auftreten, Begriffe zu setzen. 

Ein Begriff kann immer nur einen, er kann nicht neben diesem auch noch einen anderen Gegenstand begrifflich erfassen. Der Begriff der Gesundheit kann nicht zugleich der Begriff des Lebens und der Begriff des Pferdes nicht zugleich der Begriff des Säugetiers sein.

Nun werden aber in den nichtbegrifflichen Vorstellungen, die als Vorstellungen des Anarchismus und seiner Artenn auftreten, sehr verschiedene Gegenstände erfaßt. Gegenstand all dieser Vorstellungen ist allerdings einerseits eine Gattung, die durch die gemeinsamen Eigenschaften gewisser Lehren gebildet wird, und andererseits sind es die Arten dieser Gattung, die durch das Hinzutreten irgendwelcher Besonderheiten zu jenen gemeinsamen Eigenschaften gebildet werden. Hierbei haben aber diese Vorstellungen sehr verschiedene Kreise von Lehren mit ihren gemeinsamen und besonderen Eigenschaften im Auge, die einen vielleicht nur die Lehren von KROPOTKIN und MOST, andere nur die Lehren von STIRNER, TUCKER und MACKAY, wieder andere die Lehren sowohl der einen wie der anderen Schriftsteller.

Wollte man an die Stelle aller nichtbegrifflichen Vorstellungen, die als Vorstellungen des Anarchismus und seiner Arten auftreten, Begriffe setzen, so müßten diese Begriffe zugleich die gemeinsamen und besonderen Eigenschaften ganz verschiedener Kreise von Lehren erfassen, von denen etwa nur einer die Lehren von KROPOTKIN und MOST, ein anderer nur die von STIRNER, TUCKER und MACKAY, ein dritter die einen wie die anderen umschlösse. Dies ist aber unmöglich; die Begriffe des Anarchismus und seiner Arten können nur die gemeinsamen und besonderen Eigenschaften eines einzigen Kreises von Lehren erfassen; die Untersuchung kann also nicht an die Stelle all der Vorstellungen, die als Vorstellungen des Anarchismus und seiner Arten auftreten, Begriffe setzen.

4. Indem die Untersuchung diese verneinende Feststellung ihrer Aufgabe nach der bejahenden Seite ergänzt, kann sie zu einer nochmals genauerern Feststellung dieser Aufgabe gelangen.  Die Aufgabe besteht darin, an die Stelle derjenigen ein und denselben Kreis von Lehren ins Auge fassenden nichtbegrifflichen Vorstellungen des Anarchismus und seiner Arten, welche unter den gegenwärtig mit dem Anarchismus wissenschaftlich beschäftigten Menschen die größte Verbreitung genießen, Begriffe zu setzen. 

Weil die Untersuchung nur die Aufgabe darin haben kann, an die Stelle eines Teils der Vorstellungen, die als nichtbegriffliche Vorstellungen des Anarchismus und seiner Arten auftreten, Begriffe zu setzen, nämlich nur an die Stelle solcher Vorstellungen, welche ein und denselben Kreis von Lehren mit seinen gemeinsamen und besoneren Eigenschaften ins Auge fassen, deshalb muß sie die Vorstellungen, die als Vorstellungen des Anarchismus und seiner Arten auftreten, je nach dem Kreis von Lehren, den sie ins Auge fassen, in Gruppen teilen und diejenige Gruppe wählen, deren Vorstellungen durch Begriffe zu ersetzen sind.

Bei der Wahl dieser Gruppe muß maßgebend sein, für was für Menschen die Untersuchung bestimmt ist. Denn die Untersuchung eines Begriffs ist nur von Bedeutung für diejenigen Menschen, die sich den Gegenstand des Begriffs nichtbegrifflich vorstellen, da nur an die Stelle ihrer Vorstellungen der Begriff tritt. Für Menschen, die sich eine nichtbegriffliche Vorstellung des Raums machen, ist insoweit der Begriff der Sittlichkeit bedeutungslos, und ebenso bedeutungslos ist für Menschen, die sich unter Anarchismus das denken, was die Lehren PROUDHONs und STIRNERs miteinander gemein haben, der Begriff dessen, was den Lehren PROUDHONs, STIRNERs, BAKUNINs und KROPOTKINs gemeinsam ist.

Die Menschen, für welche diese Untersuchung bestimmt ist, sind nun aber diejenigen, welche sich gegenwärtig mit dem Anarchismus wissenschaftlich beschäftigen. Wenn alle diese in ihren Vorstellungen des Anarchismus und seiner Arten ein und denselben Kreis von Lehren im Auge hätten, so wäre es Aufgabe der Untersuchung, an die Stelle dieser Vorstellungsgruppe Begriffe zu setzen. Da dies nicht der Fall ist, so kann die Untersuchung nur die Aufgabe haben, an die Stelle derjenigen Vorstellungsgruppe Begriffe zu setzen, welche einen Kreis von Lehren ins Auge faßt, den möglichst viele von den gegenwärtig mit dem Anarchismus wissenschaftlich beschäftigten Menschen bei ihren nichtbegrifflichen Vorstellungen des Anarchismus und seiner Arten ins Auge fassen.


2. Der Ausgangspunkt

Ausgangspunkt der Untersuchung müssen nach dem Gesagten  die ein und denselben Kreis von Lehren ins Auge fassenden nichtbegrifflichen Vorstellungen des Anarchismus und seiner Arten sein, welche unter den gegenwärtig mit dem Anarchismus wissenschaftlich beschäftigten Menschen die größte Verbreitung genießen. 

1. Wie läßt sich erkennen, was für einen Kreis von Lehren die unter den gegenwärtig mit dem Anarchismus wissenschaftlich beschäftigten Menschen verbreitetsten nichtbegrifflichen Vorstellungen des Anarchismus und seiner Arten ins Auge fassen?

In erster Linie ist dies aus den Aussagen über einzelne anarchistische Lehren und aus den Aufzählungen und Darstellungen solcher Lehren zu ersehen.

Wir dürfen annehmen, daß jemand diejenigen Lehren, denen gemeinsame Eigentümlichkeiten gleichfalls eigen sind, für anarchisch hält. Wir dürfen ferner annehmen, daß jemand diejenigen lehren nicht für anarchistisch hält, welche er in irgendeiner Form zu den anarchistischen Lehren in einen Gegensatz stellt und, wenn er die Gesamtheit der anarchistischen Lehren aufzuzählen oder darzustellen unternimmt, auch diejenigen ihm unbekannten Lehren, welchen die gemeinsamen Eigenschaften der von ihm aufgezählten oder dargestellten Lehren nicht eigen sind.

Was für einen Kreis von Lehren diejenigen nichtbegrifflichen Vorstellungen des Anarchismus und seiner Arten ins Auge fassen, welche unter den gegenwärtig mit dem Anarchismus wissenschaftlich beschäftigten Menschen die größte Verbreitung genießen, läßt sich in zweiter Linie aus den Begriffsbestimmungen des Anarchismus und den sonstigen Aussagen über ihn ersehen. Wir dürfen im Zweifel annehmen, daß jemand diejenigen Lehren als anarchistische ansieht, die unter seine Begriffsbestimung des Anarchismus fallen oder für die seine Aussagen über den Anarchismus zutreffen, daß er dagegen diejenigen Lehren, welche nicht unter jene Begriffsbestimmung fallen oder für welche diese Aussagen nicht zutreffen, nicht als anarchistisch betrachtet.

Wenn diese beiden Erkenntnismittel zu Widersprüchen führen, so muß das erste von ihnen den Ausschlag geben. Denn wenn jemand den Begriff des Anarchismus derart bestimmt oder sich sonst derart über den Anarchismus äußert, daß sich hiernach Lehren als anarchistische darstellen, die er doch für nichtanarchistisch erklärt, und vielleicht andere Lehren als nichtanarchistische, die er doch den anarchistischen zuzählt, so kann dies nur daran liegen, daß er sich der Tragweite seiner allgemeinen Aussagen nicht bewußt ist, und es kann also nur aus seiner Behandlung der einzelnen Lehren seine Meinung über diese entnommen werden.

2. Diese Erkenntnismittel machen uns damit bekannt, was für einen Kreis von Lehren die unter den gegenwärtig mit dem Anarchismus wissenschaftlich beschäftigten Menschen verbreitetsten nichtbegrifflichen Vorstellungen des Anarchismus und seiner Arten ins Auge fassen.

Wir erfahren erstens: die Lehren bestimmter Menschen werden vom größten Teil derer, die sich gegenwärtig mit dem Anarchismus wissenschaftlich beschäftigen, als anarchistische Lehren anerkannt.

Wir erfahren zweitens: die Lehren dieser Menschen werden vom größten Teil derer, die sich gegenwärtig mit dem Anarchismus wissenschaftlich beschäftigen, als anarchistische Lehren nur anerkannt insofern sie sich auf Recht, Staat und Eigentum beziehen; nicht aber insofern sie sich etwa mit dem Recht, dem Staat oder dem Eigentum einer besonderen Rechtsordnung oder eines besonderen Kreises von Rechtsordnungen beschäftigen und auch nicht insofern sie andere Gegenstände, wie etwa die Religion, die Familie, die Kunst, betrachten.

Unter den anerkannt anarchistischen Lehren ragen sieben besonders hervor, nämlich die Lehren von GODWIN, PROUDHON, STIRNER, BAKUNIN, KROPOTKIN, TUCKER und TOLSTOI. Sie alle stellen sich nach dem größten Teil der Begriffsbestimmungen des Anarchismus und der sonstigen wissenschaftlichen Aussagen über ihn als anarchistische Lehren dar. Alle weisen sie die Eigenschaften auf, die in den meisten Darstellungen des Anarchismus den behandelten Lehren gemeinsam sind. Die einen oder anderen von ihnen werden bei fast jeder Bearbeitung des Anarchismus in den Vordergrund gestellt. Für keine von ihnen wird es in nennenswertem Umfang bestritten, daß sie eine anarchistische Lehre ist.


3. Das Ziel

Das Ziel der Untersuchung muß nach dem Gesagten darin bestehen,  erstens  den Begriff der Gattung zu bestimmen, die durch die gemeinsamen Eigenschaften derjenigen Lehren gebildet wird, welche der größte Teil der gegenwärtig mit dem Anarchismus wissenschaftlich beschäftigten Menschen als anarchistische Lehren anerkennt; zweitens die Begriffe der Arten dieser Gattung, die dadurch gebildet werden, daß zu jenen gemeinsamen Eigenschaften irgendwelche Besonderheiten hinzutreten.'

1. Zu einem Begriff gehört zunächst, daß ein Gegenstand so deutlich und rein wie möglich vorgestellt wird.

In nichtbegrifflichen Vorstellungen wird ein Gegenstand nicht mit aller möglichen Deutlichkeit vorgestellt. In unseren nichtbegrifflichen Vorstellungen des Goldes machen wir uns zumeist nur wenige Eigenschaften des Goldes deutlich; einer von uns denkt vielleicht vorzugsweise an die Farbe und den Glanz, ein anderer an die Farbe und Dehnbarkeit, in dritter an irgendwelche andere Eigenschaften. Im Begrif des Goldes aber müssen Farbe, Glanz, Dehnbarkeit, Härte, Löslichkeit, Schmelzbarkeit, spezifisches Gewicht, Atomgewicht und alle anderen Eigenschaften des Goldes so deutlich wie nur irgendwie möglich vorgestellt werden.

In unseren nichtbegrifflichen Vorstellungen wird ein Gegenstand auch nicht in aller möglichen Reinheit vorgestellt. In unsere nichtbegrifflichen Vorstellungen des Goldes ziehen wir mancherlei hinein, was nicht zu den Eigenschaften des Goldes gehört; der eine denkt vielleicht an den augenblicklichen Wert des Goldes, ein anderer an goldene Geräte, ein dritter an irgendeine Goldmünze. Dem Begriff des Goldes hingegen müssen alle diese fremden Zusätze fernbleiben.

Die Untersuchung hat also zunächst das Ziel, die gemeinsamen Eigenschaften derjenigen Lehren, welche der größte Teil der gegenwärtig mit dem Anarchismus wissenschaftlich beschäftigten Menschen als anarchistische Lehren anerkennt, und die Besonderheiten all der Lehren, die diese gemeinsamen Eigenschaften aufweisen, einerseits so deutlich und andererseits so rein wir möglich darzustellen.

2. Zu einem Begriff gehört ferner, daß ein Gegenstand in unserem Vorstellen so gut wie möglich dem Gesamtgebiet unserer Erfahrung eingeordnet wird, das heißt einem System von Arten und Gattungen, welches unsere gesamte Erfahrung umfaßt.

In nichtbegrifflichen Vorstellungen wird ein Gegenstand nicht dem Gesamtgebiet unserer Erfahrung, sondern willkürlich einer der vielen Gattungen eingeordnet, der er sich nach seinen mannigfachen Eigenschaften einordnen läßt. Einer von uns denkt sich das Gold vielleicht als Art der Gattung gelber Körper, ein anderer als Art der Gattung dehnbare Körper, ein dritter als Art irgendeiner anderen Gattung. Der Begriff des Goldes aber muß es einem System von Arten und Gattungen, das unsere ganze Erfahrung umfaßt, er muß es der Gattung Metalle einordnen.

Die Untersuchung hat also ferner das Ziel, die gemeinsamen Eigenschaften derjenigen Lehren, welche der größte Teil der gegenwärtig mit dem Anarchismus wissenschaftlich beschäftigten Menschen als anarchistische Lehren anerkennt, und die Besonderheiten all der Lehren, die diese gemeinsamen Eigenschaften aufweisen, so gut wie möglich dem Gesamtgebiet unserer Erfahrung einzuordnen, das heißt einem System von Arten und Gattungen, das unsere gesamte Erfahrung umfaßt.


4. Der Weg zum Ziel

Der Weg, den die Untersuchung von ihrem Ausgangspunkt zu ihrem Ziel zu gehen hat, muß nach dem Gesagten in drei Teile zerfallen.  Zuerst sind die Begriffe von Recht, Staat und Eigentum zu bestimmen. Sodann ist festzustellen, was die anarchistischen Lehren über Recht, Staat und Eigentum aussagen. Schließlich sind nach der Entfernung einiger Irrtümer der Anarchismus und seiner Arten begrifflich zu bestimmen. 

1. Zuerst sind Recht, Staat und Eigentum begrifflich zu bestimmen und zwar Recht, Staat und Eigentum überhaupt, nicht etwa das Recht, der Staat oder das Eigentum einer besonderen Rechtsordnung oder eines besonderen Kreises von Rechtsordnungen.

Recht, Staat und Eigentum in diesem Sinne sind die Gegenstände, über welche die nach ihren gemeinsamen und besonderen Eigenschaften zu betrachtenden Lehren aussagen. Bevor sich irgendwelche Aussagen über einen Gegenstand feststellen oder gar die gemeinsamen und besonderen Eigenschaften dieser Aussagen ermitteln und in das Gesamtgebiet unserer Erfahrung einordnen lassen, muß dieser Gegenstand selbst begrifflich bestimmt sein. Das Erste, was geschehen muß, ist daher die Bestimmung der Begriffe von Recht, Staat und Eigentum (Kapitel 2).

2. Sodann ist festzustellen, was die anarchistischen Lehren über Recht, Staat und Eigentum aussagen, das heißt einmal die anerkannt anarchistischen Lehren, dann aber auch diejenigen Lehren, welche die jenen gemeinsamen Eigenschaften gleichfalls aufweisen.

Was die anerkannt anarchistischen Lehren aussagen, muß festgestellt werden, um den Begriff des Anarchismus zu bestimmen. Was die sämtlichen Lehren aussagen, welche die gemeinsamen Eigenschaften der anerkannt anarchistischen Lehren aufweisen, muß festgestellt werden, damit die Arten des Anarchismus begrifflich bestimmt werden können.

Es ist also jede dieser Lehren über ihr Verhältnis zu Recht, Staat und Eigentum zu befragen; diesen Fragen muß die Frage vorausgehen, auf welcher Grundlage sie ruht; und es muß ihnen die Frage folgen, wie sie sich ihre Verwirklichung denkt. -

Alle anerkannt anarchistischen Lehren oder gar alle anarchistischen Lehren überhaupt können hier nicht dargestellt werden. Die Untersuchung beschränkt sich deshalb auf die Darstellung von sieben besonders hervorragenden Lehren (Kapitel 3 bis 9) und sucht dann von diesem Standpunkt einen Ausblick auf die Gesamtheit der anerkannt anarchistischen Lehren und der anarchistischen Lehren überhaupt zu gewinnen (Kapitel 10).

Die dargestellten Lehren sind in ihren eigenen Worten (1), aber nach ein und demselben System dargestellt, das Erste zur Sicherheit gegen die Hineintragung fremder Gedanken, das Zweite zur Vermeidung des unvergleichbaren Nebeneinanderbestehens grundverschiedener Gedankengänge. Sie sind gezwungen worden, auf bestimmte Fragen bestimmten Bescheid zu geben; freilich mußten die Antworten vielfach in winzigen Bruchstücken aus den verschiedensten Schriften zusammengetragen, soweit sie einander widersprachen, gesichtet und, soweit sie sich vom gemeinen Sprachgebrauch entfernten, erläutert werden. So treten uns der strenge Gedankenbau TOLSTOIs und das wirre Gerede BAKUNINs, die von glühender Menschenliebe erfüllten Ausführungen KROPOTKINs und die selbstgefälligen Klügeleien STIRNERs unmittelbar und doch vergleichbar vor Augen.

3. Zuletzt sind nach der Entfernung verbreiteter Irrtümer der Anarchismus und seiner Arten begrifflich zu bestimmen.

Es st also aufgrund der gewonnenen Kenntnis der anarchistischen Lehren mit den wichtigsten Irrtümern über den Anarchismus und seine Arten aufzuräumen; hierauf aber zu bestimmen, was die anarchistischen Lehren miteinander gemein haben und was für Besonderheiten unter ihnen vertreten sind, und jenes wie dieses in das Gesamtgebiet unserer Erfahrung einzuordnen. Damit sind die Begriffe des Anarchismus und seiner Arten gegeben (Kapitel 11).


Zweites Kapitel
Recht, Staat, Eigentum

1. Allgemeines

Recht, Staat und Eigentum überhaupt, nicht das Recht, der Staat und das Eigentum irgendeiner besonderen Rechtsordnung oder eines besonderen Kreises von Rechtsordnungen, sollen hier begrifflich bestimmt werden. Die Begriffe von Recht, Staat und Eigentum sollen also als Begriffe der allgemeinen Rechtswissenschaft, nicht als Begriffe irgendeiner besonderen Rechtswissenschaft bestimmt werden. 

1. Unter den Begriffen von Recht, Staat und Eigentum kann man erstens den Rechts-, Staats- und Eigentumsbegriff der Wissenschaft einer besonderen Rechtsordnung verstehen.

Diese Begriffe von Recht, Staat und Eigentum enthalten all die Merkmale, die durch den Inhalt einer besonderen Rechtsordnung gegeben sind. Sie erfassen nur den Inhalt dieser Rechtsordnung. Man kann sie deshalb Begriffe der Wissenschaft von dieser Rechtsordnung nennen. Denn als Wissenschaften von einer besonderen Rechtsordnung kann man den Teil der Rechtswissenschaft bezeichnen, der sich ausschließlich mit den Normen irgendeiner besonderen Rechtsordnung beschäftigt.

Der Rechts-, Staats- und Eigentumsbegriff der Wissenschaft einer Rechtsordnung unterscheidet sich von den Rechts-, Staats- und Eigentumsbegriffen der Wissenschaften anderer Rechtsordnungen durch das Merkmal, daß er ein Begriff von Normen dieser besonderen Rechtsordnung ist. Aus diesem Merkmal lassen sich all die Merkmale ableiten, die sich aus dem besonderen Inhalt dieser Rechtsordnung gegenüber anderen Rechtsordnungen ergeben. Der Eigentumsbegriff des gegenwärtigen deutschen Reichsrechts, des gegenwärtigen französischen und des gegenwärtigen englischen Rechts unterscheiden sich dadurch, daß sie Begriffe von Normen dieser drei verschiedenen Rechtsordnungen über das Eigentum sind. Sie sind folglich ebenso verschieden, wie die Normen des gegenwärtigen deutschen Reichsrechts, französischen und englischen Rechts über das Eigentum verschieden sind. Die Rechts-, Staats- und Eigentumsbegriffe verschiedener Rechtsordnungen stehen zueinander im Verhältnis von Artbegriffen, die ein und demselben Gattungsbegriff untergeordnet sind.

2. Zweitens kann man unter den Begrife von Recht, Staat und Eigentum den Rechts-, Staats- und Eigentumsbegriff der Wissenschaft eines besonderen Rechtskreises verstehen.

Diese Begriffe von Recht, Staat und Eigentum enthalten all die Merkmale, die durch den gemeinsamen Inhalt der verschiedenen Rechtsordnungen eines besonderen Rechtskreises gegeben sind. Sie erfassen nur den gemeinsamen Inhalt der verschiedenen Rechtsordnungen dieses Rechtskreises. Man kann sie deshalb Begriffe der Wissenschaft von diesem Rechtskreis nennen. Denn als Wissenschaften von einem besonderen Rechtskreis kann man den Teil der Rechtswissenschaft bezeichnen, der ausschließlich die Normen irgendeines besonderen Kreises von Rechtsordnungen bearbeitet, insofern sie nämlich nicht schon durch die Wissenschaften von den besonderen Rechtsordnungen dieses Kreises bearbeitet werden.

Der Rechts-, Staats- und Eigentumsbegriff der Wissenschaft eines Rechtskreises unterscheidet sich von den Rechts-, Staats und Eigentumsbegriffen der Wissenschaften der ihn bildenden Rechtsordnungen dadurch, daß ihm das Merkmal fehlt, ein Begriff von Normen einer dieser Rechtsordnungen zu sein, daß ihm folglich auch all die Merkmale fehlen, die sich aus diesem Merkmal gemäß dem besonderen Inhalt der einen oder anderen Rechtsordnung ableiten lassen. Der Staatsbegriff der Wissenschaft des gegenwärtigen europäischen Rechts ist von den Staatsbegriffen der Wissenschaften des gegenwärtigen deutschen, russischen und belgischen Rechts dadurch unterschieden, daß er kein Begriff von Normen einer dieser Rechtsordnungen ist, daß ihm folglich alle die Merkmale fehlen, die sich aus dem besonderen Inhalt der in Deutschland, Russland und Belgien geltenden staatsrechtlichen Normen ergeben. Er steht zu den Staatsbegriffen der Wisenschaften dieser Rechtsordnungen im Verhältnis des Gattungsbegriffs zu untergeordneten Artbegriffen.

Von den Rechts-, Staats- und Eigentumsbegriffen der Wissenschaften anderer Rechtskreise unterscheidet sich der Rechts-, Staats- und Eigentumgsbegriff der Wissenschaft eines Rechtskreises durch das Merkmal, daß er ein Begriff von Normen dieses besonderen Kreises von Rechtsordnungen ist. Aus diesem Merkmal lassen sich all die Merkmale ableiten, die dem gemeinsamen Inhalt der verschiedenen Rechtsordnungen dieses Rechtskreises gegenüber dem gemeinsamen Inhalt der verschiedenen Rechtsordnungen anderer Rechtskreise eigentümlich sind. Der Staatsbegriff der Wissenschaft des gegenwärtigen europäischen Rechts und der Staatsbegriff der Wissenschaft des europäischen Rechts im Jahre 1000 sind dadurch unterschieden, daß der eine ein Begriff von staatsrechtlichen Normen ist, die heute in Europag gelten, der andere von solchen, die damals in Europa gegolten haben; sie sind folglich in derselben Weise verschieden, wie das, was die heute in Europa geltenden staatsrechtlichen Normen miteinander gemein haben, von dem verschieden ist, was den damals in Europa geltenden staatsrechtlichen Normen gemeinsam war. Diese Begriffe stehen zueinander im Verhältnis von Artbegriffen, die ein und demselben Gattungsbegriff untergeordnet sind.

3. Drittens kann man unter den Begriffen von Recht, Staat und Eigentum den Rechts-, Staats- und Eigentumsbegriff der allgemeinen Rechtswissenschaft verstehen.

Diese Begriffe von Recht, Staat und Eigentum enthalten all die Merkmale, die durch den gemeinsamen Inhalt der verschiedensten Rechtsordnungen und Rechtskreise gegeben sind. Sie erfassen nur das, was die Normen der verschiedensten Rechtsordnungen und Rechtskreise miteinander gemein haben. Man kann sie deshalb Begriffe der allgemeinen Rechtswissenschaft nennen. Denn als allgemeine Rechtswissenschaft läßt sich derjenige Teil der Rechtswissenschaft bezeichnen, welcher Rechtsnormen ohne Einschränkung auf irgendeine besondere Rechtsordnung oder einen besonderen Rechtskreis behandelt, insofern sie nämlich nicht schon durch die Wissenschaften der besonderen Rechtsordnungen und Rechtskreise behandelt werden.

Der Rechts-, Staats- und Eigentumsbegriff der allgemeinen Rechtswissenschaft unterscheidet sich von den Rechts-, Staats- und Eigentumsbegriffen der besonderen Rechtswissenschaften dadurch, daß ihm das Merkmal fehlt, ein Begriff von Normen einer dieser Rechtsordnungen oder doch eines dieser Rechtskreise zu sein, daß ihm folglich auch all die Merkmale fehlen, die sich aus diesem Merkmal gemäßt dem besonderen Inhalt irgendeiner Rechtsordnung oder irgendeines Rechtskreise ableiten lassen. Der Begriff des Rechts schlechthin ist vom Rechtsbegriff des gegenwärtigen europäischen Rechts und vom Rechtsbegriff des gegenwärtigen deutschen Reichsrechts dadurch unterschieden, daß er kein Begriff von Normen jenes Rechtskreises oder gar dieser Rechtsordnung ist, daß ihm folglich die Merkmale fehlen, die durch etwaige gemeinsame Besonderheiten aller gegenwärtig in Europa oder doch in Deutschland gelteden Rechtsnormen gegeben sein könnten. Er steht zu den Rechtsbegriffen dieser besonderen Rechtswissenschaften im Verhältnis des Gattungsbegriffs zu untergeordneten Artbegriffen.

4. In welcher der hier unterschiedenen Bedeutungen im einzelnen Fall der Begriff von Recht, Staat und Eigentum zu bestimmen und was für ein Stoff demnach bei der Bestimmung ins Auge zu fassen ist, das hängt vom Zweck einer Untersuchung ab.

Wenn es z. B. darauf ankommt, die staatsrechtlichen Normen des gegenwärtigen deutschen Reichsrechts wissenschaftlich darzustellen, so muß der hierbei bestimmte Staatsbegriffe ein Begriff der Wissenschaft dieser besonderen Rechtsordnung sein. Denn die wissenschaftliche Bearbeitung der Normen einer besonderen Rechtsordnung fordert, daß gerade von den Normen dieser Rechtsordnung Begriffe gebildet werden. Folglich sind als Stoff auch nur die staatsrechtlichen Normen des gegenwärtigen deutschen Reichsrechts ins Auge zu fassen. - Daß die bei der wissenschaftlichen Darstellung einer Rechtsordnung bestimmten Begriffe wirklich Begriffe der Wissenschaft dieser Rechtsordnung sind, kann freilich verdunkelt erscheinen. Man kann nämlich jeden Begriff der Wissenschaft irgendeiner besonderen Rechtsordnung als Artbegriff des ihm entsprechenden Gattungsbegriffs der allgemeinen Rechtswissenschaft bestimmen. Man bestimmt diesen Gattungsbegriff etwa den Staatsbegriff der allgemeinen Rechtswissenschaft, und fügt das unterscheidende Merkmal des Artbegriffs hinzu, daß er ein Begriff von Normen dieser besonderen Rechtsordnung, etwa des gegenwärtigen deutschen Reichsrechts, ist. Man läßt dieses weitere Merkmal dann auch noch vielfach unausgesprochen, wo man nämlich wie eben bei der wissenschaftlichen Darstellung der Normenn irgendeiner besonderen Rechtsordnung, annehmen zu dürfen glaubt, daß ein jeder es als stillschweigend hinzugefügt betrachten werde. Die Folge hiervon aber ist, daß die bei der wissenschaftlichen Darstellung einer besonderen Rechtsordnung gegebene Begriffsbestimmung, bei oberflächlicher Betrachtung, der Bestimmung eines Begriffs der allgemeinen Rechtswissenschaft gleichsieht.

Oder wenn es etwa darauf ankommt, die Normen des gegenwärtigen europäischen Rechts über das Eigentum wissenschaftlich zu vergleichen, so muß der hierbei bestimmte Eigentumsbegriff ein Begriff der Wissenschaft dieses besonderen Rechtskreises sein. Denn die wissenschaftliche Vergleichung von Normen verschiedener Rechtsordnungen fordert, daß Begriffe der Wissenschaften dieser verschiedenen Rechtsordnungen durch Unterordnung unter den entsprechenden Begriff der Wissenschaft des von ihnen gebildeten Rechtskreises geordnet werden. Folglich sind als Stoff auch nur die Normen dieses Rechtskreises ins Auge zu fassen. - Auch hier kann es freilich verdunkelt erscheinen, daß die bestimmten Begriffe wirklich Begriffe der Wissenschaft dieses Rechtskreises sind. Denn auch die Begriffe, die der Wissenschaft eines Rechtskreises angehören, können durch die Bestimmung des ihnen entsprechenden Begriffs der allgemeinen Rechtswissenschaft und die stillschweigende Hinzufügung des Merkmals, ein Begriff von Normen dieses besonderen Rechtskreises zu sein, bestimmt werden.

Kommt es schließlich vielleicht darauf an, das wissenschaftlich zu vergleichen, was die Normen der verschiedensten Rechtsordnungen miteinander gemein haben, so muß der hierbei bestimmte Rechtsbegriff ein Begriff der allgemeinen Rechtswissenschaft sein. Denn die wissenschaftliche Vergleichung von Normen der verschiedensten Rechtsordnungen und Rechtskreise fordert, daß Begriffe, welche den Wissenschaften der verschiedensten Rechtsordnungen und Rechtskreise angehören, durch Unterordnung unter den entsprechenden Begriff der allgemeinen Rechtswissenschaft geordnet werden. Folglich sind als Stoff die Normen der verschiedensten Rechtsordnungen und Rechtskreise ins Auge zu fassen.

Hier, wo es darauf ankommt, den ersten Schritt zur wissenschaftlichen Erfassung von Lehren zu tun, welche Recht, Staat und Eigentum überhaupt, nicht etwa nur das Recht, den Staat oder das Eigentum einer besonderen Rechtsordnung oder eines besonderen Rechtskreises, der Beurteilung unterziehen, müssen die Begriffe von Recht, Staat und Eigentum notwendig als Begriffe der allgemeinen Rechtswissenschaft bestimmt werden. Denn die wissenschaftliche Erfassung von Lehren, die sich mit dem gemeinsamen Inhalt, folglich Begrife der allgemeinen Rechtswissenschaft gebildet werden. Als Stoff sind daher die Rechtsnormen und insbesondere die staats- und eigentumsrechlichen Normen der verschiedensten Rechtsordnungen und Rechtskreise ins Auge zu fassen.


2. Das Recht

Das Recht ist der Inbegriff der Rechtsnormen. Eine Rechtsnorm ist eine Norm, die darauf beruth, daß Menschen ein Verhalten innerhalb eines sie selbst mitumfassenden Menschenkreises allgemein beobachtet wissen wollen. 

1. Die Rechtsnorm ist eine Norm.

Eine Norm ist die Idee eines richtigen Verhaltens. Ein richtiges Verhalten bedeutet ein solches, das entweder dem letzten Zweck allen menschlichen Verhaltens entspricht - unbedingt richtiges Verhalten, z. B. die Achtung fremden Lebens - oder doch irgendeinem zufälligen Zweck - bedingt richtiges Verhalten, z. B. die kunstgerechte Handhabung eines Nachschlüssels -. Die Idee eines richtigen Verhaltens aber bedeutet, daß das unbedingt oder bedingt richtige Verhalten nicht als Tatsache, sondern als Aufgabe, nicht als etwas Wirkliches, sondern als etwas zu Verwirklichendes vorzustellen ist - sie bedeutet nicht, daß ich das Leben meines Feindes tatsächlich schonen werde, sondern daß ich es zu schonen habe, nicht wie der Dieb den Nachschlüssel in Wirklichkeit angewandt hat, sondern wie er ihn hätte anwenden müssen -. Die Idee eines richtigen Verhaltens ist das, was wir als ein Sollen bezeichnen; wenn ich mir ein Sollen vorstelle, so stelle ich mir vor, was zu geschehen hat, um entweder den letzten Zweck allen menschlichen Verhaltens oder irgendeinen zufälligen eigenen Zweck zu verwirklichen. Die Idee eines richtigen Verhaltens bedingt jede Beurteilung vergangenen Verhaltens, dieses kann nur im Hinblick auf sie als gut oder böse, zweckmäßig oder unzweckmäßig bezeichnet werden; sie bedingt auch jede Erwägung künftigen Verhaltens, nur im Hinblick auf sie prüft man, ob es gut oder doch wenigstens zweckmäßig sein wird, sich in einer bestimmten Weise zu verhalten.

Jede Rechtsnorm stellt ein Verhalten als richtig hin, sie erklärt, daß es einem bestimmten Zweck entspricht. Und sie stellt dieses richtige Verhalten als Idee hin, sie bezeichnet es nicht als Tatsache, sondern als Aufgabe, sie sagt nicht, daß sich irgendjemand so verhält, sondern daß man sich so zu verhalten hat. Die Rechtsnorm ist daher eine Norm.

2. Die Rechtsnorm ist eine Norm, die auf einem menschlichen Willen beruth.

Eine Norm, die auf einem menschlichen Willen beruth, ist eine solche, kraft deren man sich irgendwie zu verhalten hat, um sich nicht mit dem Willen bestimmter Menschen in Widerspruch zu setzen und so von der im Dienst dieses Willens stehenden Macht ergriffen zu werden. Eine solche Norm stellt also ein Verhalten nur als bedingt richtig hin, nämlich als Mittel zu dem vielleicht von uns verfolgten, vielleicht aber auch verachteten Zweck, mit dem Willen irgendwelcher Menschen im Einklang und also von der diesem Willen dienenden Macht verschont zu bleiben.

Jede Rechtsnorm sagt uns, daß wir uns irgendwie zu verhalten haben, um nicht dem Willen bestimmter Menschen zuwiderzuhandeln und dann unter ihrer Macht zu leiden. Sie stellt also ein Verhalten nur als bedingt richtig hin und belehrt uns nicht darüber, was gut, sondern nur darüber, was vorgeschrieben ist. Die Rechtsnorm ist daher eine Norm, die auf einem menschlichen Willen beruth.

3. Die Rechtsnorm ist eine Norm, die darauf beruth, daß Menschen ein Verhalten für sich und andere wollen.

Darauf beruth, daß Menschen ein Verhalten für sich und andere wollen, beruth eine Norm dann, wenn der Wille, auf dem die Norm beruth, sich nicht nur auf andere, nichtwollende, sondern zugleich auch auf die Wollenden selbst mit bezieht, wenn diese also nicht nur wollen, daß andere der Norm unterworfen sind, sondern auch selbst ihr unterworfen sein wollen.

Jede Rechtsnorm und von allen Normen nur die Rechtsnorm hat die Eigenschaft, daß der Wille, auf dem sie beruth, über die Wollenden hinausgreift und sie doch mitergreift. Der Satz "Wer eine fremde bewegliche Sache einem anderen in der Absicht wegnimmt, sich dieselbe rechtswidrig zuzueignen, wird wegen Diebstahls mit Gefängnis bestraft" beruth nicht nur auf dem Willen von Menschen, sondern jeder von diesen Menschen ist sich auch bewußt, daß der Satz zwar einerseits andere Menschen, andererseits aber auch ihn selbst betrifft. -

Man könnte vielleicht hier geltend machen, es sei doch nicht immer schon dadurch, daß Menschen ein Verhalten für sich und andere wollen, Recht gegeben, zum Beispiel nicht durch die Bestrebungen der französischen Bonapartisten das Kaisertum in Frankreich. Aber Recht ist ja auch gar nicht mit diesem bloßen Willen gegeben, sondern erst dann, wenn auf diesem Willen eine Norm beruth, das heißt, wenn in seinem Dienst eine so große Macht steht, daß er imstande ist, das Verhalten der Menschen, auf welche er sich bezieht, zu beeinflussen. Sobald sich der Bonapartismus so sehr und in solchen Kreise ausbreiten würde, daß dies einträte, würde die Republick stürzen und damit das Kaisertum in der Tat in Frankreich Recht werden.

Man könnte sich ferner darauf berufen, daß in unumschränkten Monarchien, zum Beispiel in Russland, das Recht lediglich auf dem Willen eines Menschen beruth, für den es doch nicht mitgilt. Aber das russische Recht beruth gar nicht auf dem Willen des Zaren; der Zar ist ein schwacher einzelner Mensch, und sein Wille ist an und für sich ganz ungeeignet, viele Millionen von Russen in ihrem Verhalten zu beeinflussen. Das russische Recht beruth vielmehr auf dem Willen all derjenigen Russen - Bauern, Soldaten, Beamten -, welche aus den verschiedensten Gründen - Vaterlandsliebe, Eigennutz, Aberglauben - wollen, daß das, was der Zar will, in Russland Recht sei. Ihr Wille ist geeignet, das Verhalten der Russen zu beeinflussen; und wenn sie sich jemals so vermindern sollten, daß er hierzu nicht mehr geeignet wäre, so würde auch das, was der Zar will, in Russland nicht mehr Recht sein, wie die Geschichte der Revolutionen beweist.

4. Man hat behauptet, daß die Rechtsnorm noch weitere Eigenschaften hat.

Man hat zunächst gesagt, es gehöre zum Wesen der Rechtsnorm, erzwingbar oder gar auf besondere Art, durch ein gerichtliches Verfahren, staatliche Gewalt, erzwingbar zu sein.

Versteht man hierunter, daß die Befolgung jederzeit erzwungen werden kann, so tritt uns sofort die große Zahl von Fällen entgegen, in denen dies nicht gelingt. Wenn ein Schuldner zahlungsunfähig oder ein Mord begangen ist, so kann die Befolgung der verletzten Rechtsnorm nicht mehr nachträglich erzwungen werden, ihre Geltung aber wird hierdurch nicht beeinträchtigt.

Meint man mit der Erzwingbarkeit, daß die Befolgung der Rechtsnorm durch andere für den Fall ihrer Verletzung gegebene Rechtsnorm gesichert sein muß, so brauchen wir nur von der gesicherten zur sichernden Norm eine Zeitlang weiter zu gehen, um zu Normen zu gelangen, deren Befolgung durch keine weitere Rechtsnorm gesichert ist. Will man diese Normen nicht als Rechtsnormen anerkennen, so dürfen auch die durch sie gesicherten Normen nicht als Rechtsnormen gelten, und so behält man im Zurückschreiten schließlich überhaupt keine Rechtsnorm übrig.

Nur wenn man unter der Erzwingbarkeit der Rechtsnorm verstehen wollte, daß ein Wille, damit eine Rechtsnorm auf ihm beruth, über eine gewisse Macht verfügen muß, so würde man in diesem Sinne allerdings sagen können, daß die Erzwingbarkeit zum Wesen der Rechtsnorm gehört. Aber diese Eigenschaft der Rechtsnorm wäre lediglich eine solche, die aus ihrer Eigenschaft, Norm zu sein, ableitbar wäre, und hätte deshalb keinen Anspruch darauf, dieser Eigenschaft als fernere Eigenschaft hinzugefügt zu werden. -

Ferner hat man es als eine wesentliche Eigenschaft der Rechtsnorm bezeichnet, auf dem Willen eines Staates zu beruhen. Aber auch dort, wo von keinem Staat und Staatswillen überhaupt nicht die Rede sein kann, zum Beispiel bei Nomadenvölkern, gibt es dennoch Rechtsnormen. Außerdem ist jeder Staat selbst ein Rechtsverhältnis, also erst durch Rechtsnormen gegeben, die mithin nicht auf seinem Willen beruhen können. Schließlich können auch die Normen des Völkerrechts, die bestimmt sind, den Willen von Staaten zu binden, nicht auf dem Willen eines Staates beruhen. -

Schließlich und endlich hat man erklärt, es sei der Rechtsnorm wesentlich, dem Sittengesetz zu entsprechen. Wenn dies richtig wäre, so hätte man von den verschiedenen Rechtsnormen, die heute unmittelbar hintereinander in ein und demselben Gebiet oder gleichzeitig in verschiedenen unter denselben Bedingungen stehenden Gebieten gelten, immer nur eine als Rechtsnorm zu betrachten; denn es gibt unter denselben Bedingungen nur  ein  sittlich Richtiges. Man dürfte dann auch nicht von ungerechten Rechtsnormen sprechen, denn wenn sie ungerecht wären, so wären sie ja keine Rechtsnormen. In Wirklichkeit aber erkennt man, auch wenn Rechtsnormen unter denselben Bedingungen ganz verschieden bestimmen, sie dennoch sämtlich als Rechtsnormen an und bezweifelt nicht, daß es neben guten auch schlechte Rechtssätze gibt.

5. Als eine Norm, die darauf beruth, daß Menschen ein Verhalten innerhalb eines sie selbst mitumfassenden Menschenkreises allgemein beobachtet wissen wollen, unterscheidet sich die Rechtsnorm von allen anderen, auch den ihr ähnlichsten Gegenständen.

Dadurch, daß sie auf dem Willen von Menschen beruth, unterscheidet sie sich vom Sittengesetz (dem Gebot der Sittlichkeit), dieses beruth nicht darauf, daß Menschen ein Verhalten wollen, sondern darauf, daß das Verhalten dem letzten Zweck alles menschlichen Verhaltens entspricht. Ein Sittengesetz ist der Satz "Liebet Eure Fenide, segnet die Euch fluchen, tuet wohl denen die Euch hassen, bittet für die die Euch beleidigen und verfolgen"; desgleichen der Satz "Handle so, daß die Maxime Deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten kann" - denn die Richtigkeit eines solchen Verhaltens gründet sich nicht darauf, daß andere Menschen es wollen, sondern darauf, daß es dem letzten Zweck allen menschlichen Verhaltens entspricht.

Dadurch, daß die Rechtsnorm auf dem Willen von Menschen beruth, unterscheidet sie sich auch von der Sitte, diese beruth nicht darauf, daß Menschen ein Verhalten wollen, sondern darauf, daß sie sich selbst irgendwie verhalten. Sitte ist es, daß man sich zu einem Ball im Frack und mit weißen Handschuhen begibt, beim Essen das Messer nur zum Schneiden verwendet, die Tochter des Hauses um einen Tanz oder wenigstens um eine "Extratour" bittet, sich vom Hausherrn und von der Hausfrau verabschiedet und zuletzt dem Diener sein Trinkgeld in die Hand drückt - denn die Richtigkeit eines solchen Benehmens beruth nicht daruf, daß andere Menschen dies von uns verlangen; denen, die etwa mit einer neuen Mode den Anfang machen, ist es oft geradezu unerwünscht, wenn sie in weitere Kreise dringt; sondern lediglich daruf, daß andere Menschen sich selbst in solcher Weise benehmen, und daß wir "uns nicht auszeichnen", "uns nicht auffällig machen", "nicht von den anderen abstechen"; "es ihnen gleichtun" möchten.

Dadurch daß die Rechtsnorm auf einem Willen beruth, der sich zugleich auf andere, nichtwollende und auf die Wollenden selbst bezieht, unterscheidet sie sich einerseits vom Willkürgebot, bei dem jemand nur für andere, und andererseits von dem Vorsatz, bei dem jemand nur für sich selbst will. Ein Willkürgebot ist es, wenn CORTEZ mit seinen Spaniern den Mexikanern die Auslieferung ihres Goldes befahl, oder auch wenn eine Räuberbande einer geängstigten Bevölkerung verbietet, ihre Schlupfwinkel zu verraten - hier ist freilich ein menschlicher Wille maßgebend, aber ein solcher, der sich nur auf andere Menschen, nicht aber zugleich auch auf die Wollenden selbst bezieht. Ein Vorsatz ist gegeben, wenn ich mich entschlossen habe, täglich früh um sechs Uhr aufzustehen oder das Rauchen zu unterlassen oder eine Arbeit innerhalb einer bestimmten Frist zuende zu bringen - hier dient allerdings ein menschlicher Wille als Richtschnur, aber er bezieht sich nur auf den Wollenden selbst und gar nicht auf andere Menschen.

6. Was in der Begriffsbestimmung der Rechtsnorm kurz zusammengefaßt ist, das läßt sich, wenn man die zu dieser Begriffsbestimmung gegebenen Erläuterungen in Betracht zieht, folgendermaßen entwickeln.

Menschen wollen, daß ein bestimmtes Verhalten innerhalb eines sie selbst mitumfassenden Menschenkreises allgemein beobachtet werde, und ihre Macht ist so groß, daß ihr Wille imstande ist, die Menschen dieses Kreises in ihrem Verhalten zu beeinflussen. Wenn die Dinge so liegen, ist eine Rechtsnorm gegeben.


3. Der Staat

Der Staat ist ein Rechtsverhältnis, kraft dessen in einem Gebiet eine höchste Gewalt besteht. 

1. Der Staat ist ein Rechtsverhältnis.

Ein Rechtsverhältnis ist das in Rechtsnormen gegebene Verhältnis desjenigen, dem ein Verhalten vorgeschrieben ist, des Verpflichteten, zu demjenigen, um dessen willen es ihm vorgeschrieben ist, dem Berechtigten. So ist zum Beispiel das Rechtsverhältnis des Darlehens ein Verhältnis des Entlehners, der durch die Rechtsnorm über das Darlehen gebunden ist, zum Darleiher, um dessen willen er gebunden ist.

Der Staat ist das Rechtsverhältnis all der Menschen, die durch Rechtsnormen einer höchsten Gebietsgewalt unterworfen sind, zu all denen, um deren willen sie ihr unterworfen sind. Hierbei ist der Kreis der Berechtigten und der Verpflichteten ein und derselbe; der Staat ist eine Gebundenheit aller zugunsten von allen. -

Man könnte vielleicht hiergegen geltend machen, der Staat sei kein Rechtsverhältnis, sondern eine Person. Aber daß eine Vereinigung von Menschen Person im Rechtssinn und daß sie Rechtsverhältnis ist, verträgt sich durchaus miteinander; ja ihre Eigenschaft als Person beruth zumeist auf ihrer Eigenschaft als besonders geartetes Rechtsverhältnis; daran, daß Menschen untereinander durch ein besonderes Rechtsverhältnis verbunden sind, knüpft das Recht an, indem es ihre Vereinigung in ihren äußeren Beziehungen als Person betrachtet. Die Aktiengesellschaft ist Person, nicht obwohl sie ein Rechtsverhältnis, sondern  weil  sie ein Rechtsverhältnis eigener Art ist. Und daß der Staat Person ist, ist gleichfall mit seiner Eigenschaft als Rechtsverhältnis nicht nur vereinbar, sondern es ist sogar durch seine Eigenschaft als eigenartiges Rechtsverhältnis begründet.

2. Seinen Bedingungen nach ist dieses Rechtsverhältnis ein unfreiwilliges.

Ein freiwilliges Rechtsverhältnis liegt vor, wenn Rechtsnormen den Eintritt des Rechtsverhältnisses durch Handlungen des Verpflichteten bedingen, deren Zweck die Herbeiführung des Rechtsverhältnisses ist, zum Beispiel den Eintritt des Mietverhältnisses durch den Abschluß des Mietvertrages. Dagegen liegt ein unfreiwilliges Rechtsverhältnis vor, wenn Rechtsnormen den Eintritt des Rechtsverhältnisse durch keine solche Handlungen des Verpflichteten bedingen, sie zum Beispiel der Schutz einer Erfindung durch keine Handlung des Verpflichteten und der Strafansprucht gegenüber dem Verbrecher wenigstens durch keine auf seine Herbeiführung gerichtete Handlung des Verpflichteten bedingt ist.

Wäre der Staat ein freiwilliges Rechtsverhältnis, so könnte eine höchste Gewalt nur für diejenigen Bewohner eines Gebietes bestehen, welche sie anerkannt hätten. Die höchste Gewalt besteht aber für alle Bewohner des Gebietes, egal ob sie sie anerkannt haben oder nicht, und das Rechtsverhältnis ist also ein unfreiwilliges.

3. Der Inhalt dieses Rechtsverhältnisses ist der, daß in einem Gebiet eine höchste Gewalt besteht.

In einem Gebiet besteht kraft eines Rechtsverhältnisses eine Gewalt, wenn nach den das Rechtsverhältnis begründeten Rechtsnormen der Wille irgendwelcher Menschen - oder auch nur eines einzigen - für die Bewohner dieses Gebietes maßgebend ist. Eine höchste Gewalt aber besteht kraft des Rechtsverhältnisses in einem Gebiet, wenn nach jenen Rechtsnormen der Wille irgendwelcher Menschen für die Bewohner des Gebietes in letzter Instanz maßgebend ist, das heißt bei der Uneinigkeit mehrerer Gewalten entscheidet. Das, was hier als höchste Gewalt bezeichnet wird, sind also nicht die Menschen, auf deren Willen die in einem Gebiet geltenden Rechtsnormen beruhen, sondern vielmehr ihre obersten Bevollmächtigten, deren Willen sie innerhalb des Gebietes in letzter Instanz maßgebend wissen wollen.

Was für Menschen es sind, deren Wille für die Bewohner eines Gebietes kraft eines Rechtsverhältnisse in letzter Instanz maßgebend ist - zum Beispiel Angehörige eines Fürstenhause nach einer gewissen Erbfolge nach einer gewissen Wahlordnung - das hängt von den Rechtsnormen ab, in denen das Rechtsverhältnis gegeben ist. Von eben diesen Rechtsnormen hängt es auch ab, in welchen Grenzen der Wille dieser Menschen maßgebend ist - ohne daß diese Begrenztheit der Gewalt ihrer Eigenschaft als höchste Gewalt entgegenstände, der oberste Bevollmächtigte braucht darum noch kein unumschränkter Bevollmächtigter zu sein. -

Hier könnte man vielleicht einwenden, daß doch in Bundesstaaten, zum Beispiel im Deutschen Reich, den Einzelstaaten nicht die höchste Gewalt zusteht. Sie steht ihnen aber in Wirklichkeit zu. Denn wenn es auch eine Fülle von Gegenständen gibt, hinsichtlich deren sich im Deutschen Reich die oberste Gewalt der Einzelstaaten der Reichsgewalt zu beugen hat, so gibt es doch auch genug Gegenstände, über welche die oberste Gewalt der Einzelstaaten in letzter Instanz entscheidet. So lange es solche Gegenstände gibt, besteht in den Einzelstaaten eine höchste Gewalt; wenn es sie eines Tages nicht mehr geben sollte, so könnte auch nicht mehr von Einzelstaaten die Rede sein.

4. Als ein Rechtsverhältnis, kraft dessen in einem Gebiet eine höchste Gewalt besteht, unterscheidet sich der Staat von allen anderen, auch den ihm ähnlichsten Gegenständen.

Dadurch, daß er ein Rechtsverhältnis ist, unterscheidet er sich einerseits von Einrichtungen, wie sie in einem denkbaren Reich Gottes oder der Vernunft aufgrund des Sittengesetzes bestehen würden, andererseits auch von der Herrschaft eines Eroberers im eroberten Land, die immer nur Willkürherrschaft sein kann.

Indem der Staaat ein unfreiwilliges Rechtsverhältnis ist, unterscheidet er sich ebensowohl von einer denkbaren Vereinigung von Menschen, die durch Vertrag eine höchste Gewalt unter sich errichtet hätten, wie auch von den völkerrechtlichen Verbänden, bei denen aufgrund des Vertrages eine höchste Gewalt besteht.

Daß kraft dieses Rechtsverhältnisses eine Gewalt über ein Gebiet gegeben ist, unterscheidet den Staat von der Stammesgemeinschaft der Nomadenvölker und von der Kirche; denn bei jener ist eine Gewalt über Menschen bestimmter Abstammung, bei dieser über Menschen bestimmten Glaubens, bei keiner von beiden aber über die Bewohner eines bestimmten Gebietes gegeben. Darin endlich, daß diese Gebietsgewalt eine höchste Gebietsgewalt ist, liegt die Verschiedenheit des Staates von den Gemeinden, Kreisen und Provinzen; bei diesen ist allerdings auch eine Gebietsgewalt errichtet, aber eine solche, die sich schon nach dem Sinn der Errichtung vor einer höheren Gewalt zu beugen hat.

5. Was in der Begriffsbestimmung des Staates kurz zusammengefaßt ist, das läßt sich, wenn man einerseits die zuerst gegebene Begriffsbestimmung der Rechtsnorm, andererseits die zur Begriffsbestimmung des Staates gegebenen Erläuterungen in Betracht zieht, folgendermaßen entwickeln.

Irgendwelche Bewohner eines Gebietes sind so mächtig, daß ihr Wille imstande ist, die Bewohner dieses Gebietes in ihrem Verhalten zu beeinflußen, und diese Menschen wollen, daß für alle Bewohner des Gebietes, für sie selbst wie für die anderen, der Wille in gewisser Weise bestimmter Menschen in gewissen Grenzen in letzter Instanz maßgebend sei. Wenn die Dinge so liegen, ist ein Staat gegeben.


4. Das Eigentum

Das Eigentum ist ein Rechtsverhältnis, kraft dessen es jemanden innerhalb eines Menschenkreises ausschließlich zusteht, über eine Sache in letzter Linie zu verfügen. 

1. Das Eigentum ist ein Rechtsverhältnis.

Ein Rechtsverhältnis ist, wie bereits dargelegt, das Verhältnis dessen, dem in Rechtsnormen ein Verhalten vorgeschrieben ist, des Verpflichteten, zu dem, um dessen willen es ihm vorgeschrieben ist, dem Berechtigten.

Das Eigentum ist das Rechtsverhältnis aller der Mitglieder eines Menschenkreises, die durch Rechtsnormen davon ausgeschlossen sind, über eine Sache in letzter Linie zu verfügen, zu demjenigen - es können auch mehrere sein -, um dessen willen sie davon ausgeschlossen sind. Hierbei ist der Kreis der Verpflichteten viel weiter als der der Berechtigten; jener umfaßt etwa alle Bewohner eines Gebietes oder alle Angehörigen eines Stammes, dieser nur diejenigen unter ihnen, bei welchen gewisse weitere Bedingungen, z. B. Übertragung, Ersitzung, Aneignung, erfüllt sind.

2. Dieses Rechtsverhältnis ist seinen Bedingungen nach ein unfreiwilliges.

Ein freiwilliges Rechtsverhältnis liegt, wie bereits auseinandergesetzt, dann vor, wenn Rechtsnormen den Eintritt des Rechtsverhältnisses durch Handlungen des Verpflichteten bedingen, deren Zweck die Herbeiführung des Rechtsverhältnisses ist; ein unfreiwilliges Rechtsverhältnis dagegen dann, wenn sie den Eintritt des Rechtsverhältnisses durch keine solchen Handlungen des Verpflichteten bedingen. Wäre das Eigentum ein freiwilliges Rechtsverhältnis, so könnten nur diejenigen Mitglieder eines Menschenkreises davon ausgeschlossen sein, über eine Sache in letzter Linie zu verfügen, welche in diese Ausschließung eingewilligt hätten. Ausgeschlossen sind aber alle Mitglieder des Menschenkreises, zum Beispiel alle Bewohner eines Gebietes, alle Angehörigen eines Stammes, gleichviel ob sie eingewilligt haben oder nicht.

3. Der Inhalt des Rechtsverhältnisses besteht darin, daß es jemanden innerhalb eines Menschenkreises ausschließlich zusteht, über eine Sache in letzter Linie zu verfügen.

Daß es jemanden innerhalb eines Menschenkreises ausschließlich zusteht, über eine Sache in letzter Linie zu verfügen.

Daß es jemanden innerhalb eines Menschenkreises kraft Rechtsverhältnis ausschließlich zusteht, über eine Sache zu verfügen, bedeutet, daß dieser Menschenkreis von der Sache zu seinen Gunsten ausgeschlossen ist, das heißt ihn nicht hindern darf, mit der Sache nach seinem Willen zu verfahren, noch auch selbst entgegen seinem Willen mit ihr verfahren darf. Nun kann aber mehreren die ausschließliche Verfügung über eine Sache innerhalb eines Menschenkreises in der Weise zu getrennten Teilen kraft Rechtsverhältnis zustehen, daß sie einigen von ihnen - es kann auch nur einer sein - in dieser oder jener einzelnen Beziehung, zum Beispiel hinsichtlich des Fruchtgenusses, zusteht, einem aber - es können auch mehrere sein - in allen übrigen nicht schon einzeln vergebenen Beziehungen. Wem so innerhalb eines Menschenkreises die ausschließliche Verfügung über eine Sache in allen nicht einzelne vergebenen Beziehungen zusteht, dem steht es innerhalb des Menschenkreises ausschließlich zu, über die Sache in letzter Linie zu verfügen.

Wem dieses kraft Rechtsverhältnisses zusteht - ob zum Beispiel auch demjenigen, der eine Sache zu einer neuen Sache verarbeitet hat -, das hängt von den Rechtsnormen ab, in denen das Rechtsverhältnis gegeben ist. Von ihnen hängt es auch ab, in welchen Grenzen ihm dies zusteht - die Verfügungsgewalt dessen, dem es innerhalb eines Menschenkreises in letzter Linie zusteht, ausschließlich über eine Sache zu verfügen, ist nicht nur durch die Verfügungsgewalt derer begrenzt, denen die ausschließliche Verfügung innerhalb des Menschenkreises in erster Linie zusteht, sondern außerdem auch noch durch die Schranken, in denen überhaupt jemanden innerhalb des Menschenkreises eine solche Verfügungsgewalt zusteht. Namentlich hängt es auch von diesen Rechtsnormen ab, ob sowohl einzelnen Menschen wie Körperschaften oder ob nur Körperschaften und ob ihnen über jede oder nur über die eine oder andere Art von Sachen eine ausschließliche Verfügung in letzter Linie zusteht.

4. Als ein Rechtsverhältnis, kraft dessen es jemanden innerhalb eines Menschenkreises ausschließlich zusteht, über eine Sache in letzter Linie zu verfügen, unterscheidet sich das Eigentum von allen anderen, auch den ihm ähnlichsten Gegenständen.

Dadurch, daß es ein Rechtsverhältnis ist, unterscheidet es sich von allen den Verhältnissen, in denen jemanden lediglich durch die Vernünftigkeit der ihn umgebendenn Menschen oder lediglich durch seine eigene Gewalt die letzte Verfügung über eine Sache ausschließlich gewährleistet ist, wie es etwa in einem denkbaren Reich Gottes oder der Vernunft der Fall sein würde und in einem eroberten Land vielfach der Fall ist.

Indem das Eigentum ein unfreiwilliges Rechtsverhältnis ist, unterscheidet es sich von solchen Rechtsverhältnissen, kraft deren es jemanden lediglich aufgrund Vertrages und lediglich gegenüber den anderen vertragschließenden Teilen zusteht, ausschließlich in letzter Linie über eine Sache zu verfügen.

Daß es kraft dieses Rechtsverhältnisses jemanden innerhalb eines Menschenkreises ausschließlich zusteht, in letzter Linie über eine Sache zu verfügen, unterscheidet das Eigentum vom Urheberrecht, kraft dessen jemanden innerhalb eines Menschenkreises nicht die Verfügung über eine Sache, sondern etwas anderes auschließlich zusteht; ferner auch von den Rechten an fremder Sache, kraft deren jemanden innerhalb eines Menschenkreises zwar die Verfügung über eine Sache, nicht aber die letzte Verfügung über die Sache ausschließlich zusteht.

5. Was in der Begriffsbestimmung des Eigentums kurz zusammengefaßt ist, das läßt sich, wenn man einerseits die zuerst gegebene Begriffsbestimmung der Rechtsnorm, andererseits die zu der Begriffsbestimmung des Eigentums gegebenen Erläuterungen in Betracht zieht, folgendermaßen entwickeln.

Irgendwelche Menschen sind so mächtig, daß ihr Wille imstande ist, einen sie umschließenden Menschenkreis in seinem Verhalten zu beeinflussen, und diese Menschen wollen, daß kein Mitglied dieses Kreises ein in gewisser Weise bestimmtes Mitglied innerhalb gewisser Schranken hindert, mit einer Sache nach seinem Willen zu verfahren, noch auch selbst innerhalb dieser Schranken mit der Sache entgegen dem Willen jenes Mitgliedes verfährt, soweit nämlich hinsichtlich der Sache nicht bereits in einzelnen Beziehungen der Wille eines anderen Mitgliedes in gleicher Weise wie der Wille jenes Mitglieds maßgebend gemacht ist. Wenn die Dinge so liegen, ist Eigentum gegeben.
LITERATUR: Paul Eltzbacher, Der Anarchismus, Berlin 1900
    Anmerkungen
    1) Die aus nichtdeutschen Schriften angeführten Stellen sind deutsch wiedergegeben. Die Stellen aus nichtrussischen Schriften sind mit dem Bemühen übersetzt worden, nach Möglichkeit ihrer Eigenart gerecht zu werden. Bei den Stellen aus russischen Schriften sind fremde Übersetzungen benutzt, aber, soweit sie dem Sprachgefühl gar zu sehr widerstrebten, mit Vorsicht überarbeitet worden.