ra-2 Wilhelm OstwaldHermann SchwarzJulius FrauenstaedtFriedrich Albert Lange    
 
JOHANNES FALLATI
Über die sogenannten
materiellen Tendenzen in der Gegenwart


"Das Leben des Altertums, auf dem Boden ursprünglicher Natürlichkeit stehend, aus deren Fesseln sich der Geist der Menschheit erst langsam und stufenweise losmachen konnte, trat aus der Dämmerung des noch halb träumenden Orients in das schöne Morgenlicht von Hellas. Wenn im Orient das ganze Menschheitsleben der üppigen Stamm- und Blattentwicklung der Tropenflora, ihrer in massigen, schattenden Formen sich ausbreitenden Pracht glich, - so war, was sich nun in Griechenland entfaltete, zwar eine herrliche Blüte, aber doch nur eine Blüte des Naturlebens, auf welcher sich die Psyche wiegte. In Rom reifte die Frucht dieser natürlichen Richtung. Indem die römische Welt die Aufgabe zu lösen suchte, dem natürlichen Idealismus der Hellenen gegenüber die reale Seite des Menschengeistes zu entwickeln, fiel sie, weil sie nicht vom Geist ausging, zurück in das geisloseste Naturweben und versank am Schluß des Altertums in den tiefsten Abgrund des Materialismus. Dieses Naturleben war nicht mehr ein träumendes, wie das des Orients, es war ein waches - und darum erfüllte es uns, wie mittägliche Ausschweifungen, verübt in der Glut der offenen Sonne, mit einem Abscheu, den uns die Sinnlichkeit des Orients in ihrem nächtlichen Schleier nicht zu erregen vermag."

Hochzuverehrende Versammlung!

Unter den vielen Vorwürfen, welche der neuesten Zeit gemacht zu werden pflegen, ist einer der am häufigsten gehörten, und der die meisten übrigen in sich schließt, der Vorwurf des Materialismus. In der Tat stehen demselben auch scheinbar so gewichtige Gründe zur Seite, daß man ihn nicht leichthin mit achselzuckender Verweisung auf die in allen Zeiten vernommene Klage der Alten über die Entartung des jüngeren Geschlechtes beseitigen kann. Wohl möchten nämlich die Sprachen der Unzufriedenen sich also vernehmen lassen:

"Schön in der frühesten Jugend gebe unsere Zeit dem Knaben die Richtung auf die Materie; der Unterricht über die höchsten Dinge werde zurückgesetzt, die formelle Bildung durch Anhäufung sogenannten nützlichen Stoffes beeinträchtigt und in der Methode die ernste Zuch des Gedankens durch das sinnliche Spiel der Anschauung verdrängt. Nicht früh genug glaube man die Jugend der Schule entnehmen zu können, weniger damit sie durch das Leben lerne, als daß sie lernend schon vom eigenen Brot lebe. Notwendig werde hierdurch der schöne Idealismus des Jünglingsalters, dieses eigentliche Mark des menschlichen Glücks und die Grundlage einer über den Schmutz der Menge emporragenden Gesinnung, innerlich verkümmert und untergraben. Welch ein Mannes-, welch ein Greisenalter, beide nur zwischen Erwerb und Genuß geteilt, dann folgen müssen, werde die Erfahrung künftig mehr noch, als sie es jetzt schon tue, betätigen."

"Die Zeichen der materiellen Tendenz der Zeit, wie sie in den Lebensaltern der Einzelnen hervortreten," - so fahren die Bedenklichen fort - "erscheinen noch bedenklicher im Leben der verschiedenen Kreis der Gesellschaft. Wer könne leugnen, daß von vielen Seiten her das innere Band der Familie, die Pietät, mit Schimpf und Ernst untergraben werde! Die unehelichen Geburten nehmen zu, die wilden Ehen werden häufiger, die spätere Eingehung der Ehe, selbst eine Folge materieller Rücksichten, befördere beides. Die Gesetzgebung sogar mildere die Strenge der Unzuchts- und Ehebruchsstrafen, erschwere die Nachsuchung der Vaterschaft und erleichtere die Auflösung der Ehen. Über alle Länder verbreitet seien die Produkte jener Schriftsteller, welche von Frankreich ausgehend die Emanzipation der Frauen und des Fleisches predigen. Aber nicht nur vor dem genußsüchtigen, auch vor dem gewinnsüchtigen Egoismus der Einzelnen erblasse überall der Familiengeist. Selbst in der ländlichen Wohnung, wo einst vorzugsweise die Hausgenossenschaft gleich bedürfnisloser Herren und Knechte eine große Familie gebildet, treten mehr und mehr an die Stelle des Gesindes nach Stunde und Glück der Arbeit gedungene, von Tisch und Lager ausgeschlossene Löhner. Noch in weit höherem Grad sei die trennende Eigensucht in Haus und Werkstätte der industriellen Bevölkerung gedrungen: nicht nur geschieden stehen jetzt Meister und Geselle nebeneinander, sondern feindlich Fabrikherr und Fabrikarbeiter einander gegenüber. Und doch", so rufen die Ankläger aus, "werde dieser Industrie, die gebaut sei auf einen durch widersprechende Interessen überall gespaltenen Boden und die nur eine neue schlimmere Sklaverei an die Stelle der alten Knechtschaft der Scholle gesetzt habe, - es werde ihr, eben weil sie der Materie diene, die erste Stelle unter den Interessen der Gegenwart angewiesen. Von Dampf- und anderen Maschinen, von Spindeln und Webstühlen, von Twist und Calico sei des Redes kein Ende, als ob darin die Bestimmung des Menschen aufginge, - und auf den Märkten der Städte verherrliche man in Denkmälern die Heroen der Industrie. Mit ihr teile der Handel die Verehrung der Zeit aus dem nämlichen Grund. Der allgemeine Rausch der Begeisterung, welchen die Eisenbahnen in allen an der Bewegung der Zeit teilnehmenden Ländern erregt haben, sei allein schon ein hellleuchtender Beweis für die weiteste Verbreitung der materiellen Tendenz."

"Diese Bewunderung des Materiellen" - fragen die Gegner - "greife sie nicht auch aufs Verderblichste in das eigentlich politische Leben ein? Verkannt und unfruchtbar gescholten werden die Bestrebungen des Liberalismus, weil er Recht und Freiheit der Völker über das gemeine Wohlsein des Leibes stelle; verziehen werde der Treuebruch der Gewalthaber, wenn sie nur den Mammon der Untertanen schonen; schamlose Stimmen dürfen laut werden, welche die Konstitutionen für Chimären erklären, weil sie die Regierung nicht wohlfeiler gemacht haben." Das aber deucht den Ängstlichen der Rückweg durch Verweichligung zur politischen Unmündigkeit der Völker, zur Despotie der Fürsten. So im Inneren der Staaten. Doch auch im Verkehr der Völker sehen die Besorgten den Tag des achtzehnten Jahrhunderts sich verdunkeln und bejammern den Untergang der Sonne des kosmopolitischen Philanthropismus und der allgemeinen Handelsfreiheit. Sollte jener ein geistiges, diese ein natürliches Band um die ganze Menschheit flechten, so werde nun an die materielle Sonderung der einzelnen Staaten, an trennende Nationalvorurteile und hemmende Zolllinien von Neuem gemahnt.

"Glücklich aber" - sprechen jene seufzend weiter - "glücklich, wenn sich die materielle Richtung auf das Gebiet des äußeren Lebens beschränkte, und nicht in die eigensten Gebiete des Geistes dränge, wo sie die Brunnquellen des Lebens vergifte. Im Feld der Wissenschaft seien es die Naturwissenschaften, welchen die Gunst des Zeitalters, Ruhm und Ehrenzeichen vor allen anderen zuteil werden, und unter ihnen halte man wiederum die am höchsten, die eine unmittelbare Anwendung im Berg- und Ackerbau und den Gewerben erleiden. Wer hier durch den zufälligen Ausgang experimtierender Spielerei nutzbare Ergebnisse gewonnen, der schlinge sich selbst den Lorbeerkranz um die Stirn und ihn verehre die stoffgläubige Menge. Nächst ihnen schätze man am meisten die nützliche Jurisprudenz. Unbegünstigt erscheinen neben jenen die eigentlichen Wissenschaften des Geistes, die Theologie und die Philosophie! Was aber weit schlimmer ist, als der Mangel an Gunst der Niedrigdenkenden, - das sei: daß in die Philosophie und selbst in die Theologie die Hingebung an die Materie eingeführt wurde, indem an die Stelle eines außerweltlich-freischaffenden Gottes die notwendige Selbstentwicklung des Weltalls gesetzt, und der Menschenseele statt persönlicher jenseitiger Unsterblichkeit nur das bewußtlose Aufgehen im ewigen All und das diesseitige Fortbestehen der Ergebnisse ihres irdischen Wirkens gelassen werden wolle! Davon zu schweigen, daß überhaupt in der Richtung des Studiums aller Disziplinen immer mehr die geistige Würde der Wissenschaft an den Nutzen verkauft werde, so daß man sich nicht entblöde, ernsthaft von Brotstudium zu sprechen und die Verwandlung der freien Asyle der Wissenschaft in Dressuranstalten für die Rekruten des Zivildienstes anzuempfehlen. Ob es besser mit der Kunst stehe? Sei sie nicht zur Dienerin des Luxus geworden und komme nicht die Sinnlichkeit der Künstler den lüsternen Anforderungen des Publikums zuvorkommend entgegen? In der schönen Literatur fessle nur noch das stoffliche Interesse des Romans; in der Musik der äußere Reiz der Oper; in der bildenden Kunst die greifbare Gewöhnlichkeit dieses Genre, höchstens die weltliche Historie! Als unendlich bedeutsamer noch - weil alle Richtung des Menschen von der Art und dem Grad seines Gottesbewußtseins abhänge - müsse es betrachtet werden, daß die Religion, teils selbst und in ihren Dienern mißachtet sei, teils durch materialistische Wendung- durch Muckertum und weltkluge Frömmelei von Seiten der Gläubien - durch Pfründensucht und aristokratischem Hochmut, Streben nach weltlicher Macht und Untergrabung staatlicher Ordnung von Seiten ihrer Diener, in ihren eigenen Eingeweiden wühle."

"Endlich", - denn noch ist das Maß der Anklage nicht gehäuft - "komme zu all dem die beklagenswerte Tatsache, daß jene materialistische Tendenz nicht nur vereinzelt im Leben der Individuen, der Gesellschaft und des Geistes, in jedem Kreis für sich, hervortrete, sondern daß sie bereits die umfassendsten, das ganze menschliche Dichten und Trachten begreifenden, zum Teil mit großem Scharfsinn und gewaltige Fantasie entwickelten Systeme besitze, und diese in die Wirklichkeit, wenn nicht schon übertragen habe, doch zu übertragen eifrigst bemüht sei. Die Vereine der unter dem gemeinsamen Namen der Sozialisten bekannten Anhänger FOURIERs und OWENs, von welchen die ersten einen Teil der Reste der Saint-Simonisten in sich aufgenommen haben, mit den letzten aber in Frankreich die Kommunisten verwandt seien, - diese Vereine, die in ihren Propheten und Aposteln, ihren Märtyrern und geheimen Mitgliedern den ganzen Apparat einer friedlichen Welteroberung besitzen, sollen keinen anderen Zweck haben, als die absolute Herrschaft des Vorteils und der Sinnlichkeit überall und über alles zu gründen."

Und hiermit, weil der Sozialismus solchen, die sich vorzugsweise als Anwälte des Geistes betrachten, als die Blüte und Vollendung der materiellen Tendenzen der Zeit erscheinen mag, können wir sie ihre vielpunktige Anklageakte füglich beschließen lassen. Nicht alle Punkte werden von allen unterschrieben werden, aber keiner der Klageartikel wird in irgendeiner größeren Versammlung der Bestimmung eines oder des anderen Hörers ermangeln und jeder Punkt wird, sei es diesen, sei es jenen anreizen, auf die Beklagte den Stein, und ihrem Anwalt den Handschuh hinzuwerfen. -

Ich nehme den Handschuh auf; - aber um jedem Mißverständnis von vornherein entgegenzutreten, sage ich sogleich, in welchem Sinn. Es kann nicht meine Meinung sein, Tatsachen in Abrede zu stellen, die vor aller Augen liegen, noch auch einer sklavischen Hingebung des Geistes an die Materie, sofern sie wirklich in jenen Tatsachen liegt, das Wort zu reden. Nur über die Bedeutung der Tatsachen rechte ich mit den Anklägern. Was ich behaupte, ist: daß vor einer tieferen Auffassung unserer Tage, das Verdammungsurteil derselben, als einer durch materielle Tendenz zu charakterisierenden, destruktiven Zeit nicht bestehen kann, - daß sie vielmehr zu bezeichnen ist als eine Zeit der realen Tendenzen: weil ihr Ziel die praktische Verwirklichung der Idee, zumal in der bürgerlichen Gesellschaft, und ihr Weg dazu die Vergeistigung der Materie ist; - ich behaupte, daß sie eine Zeit des Morgenrots eines neuen Tages der Geschichte ist und in diesen Frühestunden nichts zu Grabe tragen wird, was sich nicht vorher schon selbstmörderisch dem Untergang geweiht hat, - und daß, was sich von wirklichem, der Freiheit des Geistes widersprechenden Materialismus allerdings die Fülle in ihr findet, entweder dem im historischen Fortschritt unvermeidlichen, Rückstoß gegen den subjektiven und abstrakten Idealismus vergangener Tage angehört, oder unserer Zeit nicht mehr als irgendeiner anderen, wohl aber der Gebrechlichkeit menschlicher natur in aller Zeit zur Last zu schreiben ist. - Und wenn ich das behaupte, tue ich es fürwahr nicht als Einzelner und ohne den Rückhalt einer öffentlichen Meinung: ich fasse nur zusammen und spreche aus, was manche Stimme da und dort hat laut werden lassen, was viele in ihrer Weise gewiß schon gedacht haben, mehrere noch, sich selbst unklar, in der suchenden Brust bewegen.

Es liegt in der Natur des Themas, nicht bloß in meiner Stellung als Mitglied der staatswirtschaftlichen Fakultät und in der durch die Sitte dem Redner zugemessenen Zeit, eine wohlbegründete Aufforderung zur besonderen Konzentration der Streitfrage auf die Reform des ökonomischen Lebens. Da aber diese Reform und ihre Bedeutung keineswegs von der übrigen Entwicklung der Zeit losgerissen ist, so muß, wie der Angriff, so die Verteidigung der Gegenwart, auch die um diesen Mittelpunkt sich lagernden Gebiete, wenngleich kürzer, berühren. Denn die feurige Kraft, welche aus den Tiefen der noch ungeborenen Zukunft den Boden unserer Zeit bewegt, hat zwar ihren stärksten Herd im wirtschaftlichen Gebiet, aber ihr Erschütterungskreis ist von viel weiterem Umfang. Sei es demnach zunächst vergönnt in kurzen Wehrstößen die bedeutendsten der mehr zur Seite liegenden Angriffe der Gegner abzuwenden, - alsdann aber die wirtschaftliche Bewegung der Zeit etwas näher zu würdigen. Die übrigbleibenden von den vorgebrachten Einwürfen mögen wir, soweit sie nicht durch das Ganze unserer Ausführung als widerlegt erscheinen, unbeschadet unserer Hautansicht, als Ausnahmen und materialistische Verunstaltungen den Gegnern zugestehen.

Für die Erziehung nehmen wir - ich und die Gleichgesinnten - als entschiedenen Fortschritt der Gegenwart in geistvoll realer Richtung die Verbannung eines, seinem Gegenstand ebensowenig als der Fassungsgabe der Kinder angemessenen Formalismus in Anspruch, die Auffindung einerseits der Keimpunkte des Geistes im natürlichen Wesen des Kindes, andererseits der bildenden Momente auch an den Gegenständen des gemeinen Lebens. Hierauf war eine Unterrichtsmethode gegründet, welche allerdings die sinnliche Natur und den praktischen Nutzen mehr als frühere beachtet, aber nur um desto wirksamer und in umso weiteren Kreisen der Gesellschaft den Geist aus der Knechtschaft der Materie zu befreien. - Ein ähnlicher Sinn ist zum Teil in demjenigen Streben verborgen, welches als Entheiligung der Familie wurde, und in seinen vielfachen Verirrungen von uns wie von andern verdammt wird. Der Abscheu vor der Ehe, so mißverstanden er in Wahrheit ist, erscheint dennoch als ein sittlicher, sofern er durch die Korruption dieses Verhältnisses in jüngst entschwundener Zeit oder in einzelnen Ländern und Ständen hervorgerufen ist; und es ist mit großem Unrecht namentlich den englischen Sozialisten vorgeworfen worden, eine sittenlose Vermischung der Geschlechter zu erstreben, während in der Tat die Realität der Idee der liebeserfüllten Ehe es ist, die unabhängig sei von irdischen Gütern und äußeren Satzungen, welche OWEN zu erreichen wünscht. - Wer kann ferner auf dem Gebiet der Wissenschaft, um auch hier nur einiges anzudeuten, - wenn er mit unbefangenem Sinn hinzutritt, verkennen: daß die Naturwissenschaft der Gegenwart eben durch ihre so kühn als erfolgreich an die Natur gestellten, sozusagen peinlichen Fragen, einen Beweis der siegreichen Gewalt des Geistes über die Materie von schwer zu übertreffender Bündigkeit liefert? Wer kann, wenn er aufmerkt, übersehen, daß sich in der Jurisprudenz und Historie ein deutliches Hinwirken auf Geltendmachung des allgemeinen Inhalts im Besonderen und Einzelnen findet, ein Streben, zwischen der bloßen Rechts- und Geschichtsphilosophie und der bloß positiven und chronistischen Auffassung zu vermitteln? Und ließe sich dieses Streben nicht als Tendenz der realen Mitte passend bezeichnen? Wie auch in der Philosophie das konkrete Prinzip einer geistigen Weltordnung, der die wirkliche Versöhnung des Göttlichen und Irdischen enthaltene Begriff, der gesuchte Stein der Weisen ist, und keineswegs das abstrakte Gesetz eines bloßen Mechanismus der Materie, das kann für diejenigen, welche der philosophischen Entwicklung folgen, keines Beweises bedürfen, - der andererseits wirkungslos an denen vorübergehen würde, deren Art es ist, die Philosophie ungehört zu verurteilen. - Nicht anders liegt in der Beschäftigung der modernen Kunst mit den gewöhnlichen und weltlichen Verhältnissen des Lebens, wie oft sie auch dabei auf trockenem Sand festsitzen mag, eine Anerkennung der ästhetischen Bedeutsamkeit und eine Begeistigung auch der scheinbar niedrigsten Gegenstände; zugleich ist es diese Richtung, welche das Verständnis der Kunst vielen sonst ihr verschlossenen Geistern ermöglicht. - Mag es hier unterbleiben, in Beziehung auf den Vorhalt der Irreligiosität zu untersuchen, inwiefern nicht die teilweise Gleichgültigkeit oder Opposition der Zeit gegen kirchliche Interessen in einer Vermischung der Religion mit ungeistlichen Dingen mit Recht gegründet ist; das aber möge zur Verteidigung einer großen Anzahl der beschuldigten Zeitgenossen in Erinnerung gebracht werden, daß, wenn das Wesentliche der Religion das Bewußsein ist, sie es des Lebens aller Kreatur in Gott oder der Abhängigkeit von ihm, dann der Blitz des Anthems, wie kühn er auch geworfen werde, Tausend nicht trifft, auf die man ihn zu schleudern gewohnt ist, weil sie bestimmte Dogmen nicht anerkennen können, welche anderen, ihrer individuellen Bildung zufolge, wahr und zu ihrer Sittlichkeit und Beruhigung unentbehrlich sind; - es möge daran gemahnt werden: daß es etwas anderes ist, einer bestimmten Form des Geistes, die in früheren Jahrhunderten aus einer früheren Stufe seiner Entwicklung hervorging, etwas anderes aber, dem Geist selbst entgegenzutreten; und endlich, daß die nicht neue, aber in unserer Zeit wie in alle Ewigkeit lebendige Überzeugung, es müsse das wahre Gottesbewußtsein ein in der Tat und im Leben verwirklichtes sein, keine materielle, wohl aber eine real-religiöse Tendenz genannt werden kann! -

Diese reale Richtung, welche vom Geist ausgehend, ihn gleichwohl, eingedenk des menschlichen Doppelwesens, nicht in widernatürlicher Abgetrenntheit seitwärts stellen, sondern die Natürlichkeit und das praktische Leben den Anforderungen der Idee immer mehr nähern will, tritt nun aber notwendig am deutlichsten hervor auf dem Gebiet der ökonomischen Tätigkeit. Wo die Gewinnung und Erzeugung sachlicher Güter der unmittelbare Zweck geistiger und körperlicher Kraftäußerung des Menschen ist; wo sein Ziel das ist, dem Schoß der Erde ihre leblosen Schätze zu entreißen, zu Erzeugung ihrer lebendigen Gaben sie mitwirkend zu veranlassen, beide vielfach zu formen und auszutauschen, damit sie all die mehr oder minder sinnlichen Bedürfnisse befriedigen, welche teils die Notwendigkeit des Triebes, teils, in willkürlicher Nachahmung desselben und in unendlicher Mannigfaltigkeit, die Laune zu erzeugen nie aufhört, - da muß auch vor allem, sofern irgendein Geist hier wirkt, der Geist in realer Weise erscheinen. Ich will hier keineswegs das größte Gewicht darauf legen, daß der Geist der Materie zu sich erhebt, indem er dieselbe sich dienstbar macht und ihr seinen Stempel in tausend bis in die Regionen der Kunst hinaufsteigenden Gestalten aufdrückt. Es wäre ja möglich, daß dies alles bloße geschähe, damit die gewonnenen, verarbeiteten und ausgetauschten Güter zur Speisung der tierischen Natur des Menschen oder zur Stillung irgendeines Kitzels der Sinne dienten. Wäre dies der Fall, dann müßte man jenen außerordentlichen Aufwand von Geist, der in der rationellen Landwirtschaft der neuesten Zeit, - in einem riesenmäßigen und doch bis ins Kleinste durchgebildeten Betrieb der mit Maschinen arbeitenden Industrie - in der Ausbildung der Kommunikations- und Transportmittel, - im ganzen, von der feinsten Berechnung und der großartigsten Umsicht gleich sehr zeugenden Gewebe des Welthandels uns entgegentritt, - einen Aufwand von Geist, von welchem die Meisten, welche hochmütig auf diese Gebiete herabsehen, keine Ahnung haben - man müßte ihn, sage ich, eine beklagenswerte Verschwendung, wo nicht einen schmählichen Mißbrauch und eine Entwürdigung des Göttlichen im Menschen nennen. Aber Gottlob, dem ist nicht so! Wie wenig auch die Mehrheit der wirtschaftlich Beschäftigten zur Zeit noch wissen mögen, was sie tun, - denn es ist bis jetzt die Weise der Weltgeschichte durch die Generationen, ihnen selbst oft unbewußt, fortzuschreiten, - es liegt eine ganz anderer Kern in dieser reichen Fülle der Erscheinung. Mir deucht, daß zunächst die charakteristische Bedeutung der Industrie unserer Zeit, als ihrer eigentümlichen Geburt, sich so ausdrücken läßt: daß sie keine durch die gesteigerten Bedürfnisse einer verzehrenden reichen Minderheit der Völker hervorgerufene Produktivität ist, sondern daß in ihr die Produktion siegend vorangeht, deren Hauptwirkung es ist, einerseits erst eine Konsumtion hervorzurufen, und zwar eine Konsumtion in den weitesten Kreisen derjenigen Klassen der Menschen, die früher nur für andere zu produzieren berufen schienen, - andererseits aber zugleich durch die Teilnahme am Ertrag der Produktion, in deren erweiterte Reihen sie die Massen hereinruft, ihnen jene Konsumtion erst möglich zu machen, welche die unentbehrliche Grundlage aller höheren Entwicklung der Menschen ist: die Konsumtion von wenigstens etwas mehr als der äußersten Notdurft des Leibes. In wie frühen Zeiten erkannt, wie einfach, und doch wie wenig bisher für die Gestaltung der Gesellschaft im Großen benutzt, ist die Wahrheit: daß die Armut, die eigentliche bittere Armut, eine Hauptquelle der Unwissenheit, der Laster und der Verbrechen, ein Stein des Sisyphus ist, der immer wieder auf die Brust dessen zurückfällt, welcher ihn vor sich herzuwälzen verdammt ist, und der auf den Höhen der Intelligenz und Sittlichkeit Fuß zu fassen Millionen von Menschen verhindert! Die lähmende Erdschwere der Armut entfernen, heißt das Geschlecht der Menschen, wie es nun einmal ist, erst fähig machen die Fittiche seines Geistes und Gemüts zu entfalten: ihm hierzu behilflich sein soll die industrielle Tendenz unserer Tage, deren Wahlspruch so gefaßt werden könnte: die Produktion für die Armen und durch die Armen.

Dies ist der Kern der neuen Bewegung auf dem Feld der Industrie. Aber die Industrie ist nicht das ganze ökonomische Gebiet und so zeigt jenes Ziel der Industrei auch nicht die ganze Bedeutung der in diesem sich vorbereitenden Umwälzung. Diese nämlich geht auf nichts Geringeres aus, als auf eine Organisation der Welt des Interesses, auf eine endliche harmonische Verschmelzung der bis jetzt spröde in ihr geschiedenen Gegensätze zwischen Produktion und Konsumtion, zwischen Arbeit, Kapital und Intelligenz, - zugleich auf eine Vermittlung dieser ganzen kleineren Welt mit der größeren, deren Teil sie ist, so daß nicht bloß der privatökonomische Zwiespalt möglichst gelöst, sondern auch durch die politische Ökonomie eine Einigung der politischen und ökonomischen Zwecke der Völker befördert werde: damit der Bau des gesellschaftlichen Organismus im Interesse wie im Recht sichere Grundsteine habe und zur immer würdigeren Werkstätte des gesamten Geistes der Menschheit sich füge. Einen solchen Organismus der Welt des Interesses durch eine mit besonderer Rücksicht auf die Armen unternommene Reform der Sozietät herbeizuführen, das ist der eigentliche Sinn der Bestrebungen eines SAINT SIMON, eines FOURIER und muckle1.htmlOWEN.

Wie wenig sie alle drei noch das Rätsel gelöst, dessen Wort zu finden auch der nächsten Zukunft nicht vergönnt sein wird; wie viel zu überwiegennd auch der Wert sei, den sie der Wirtschaft beigelegt; wie sehr sie im Einzelnen geirrt haben über Bedeutung der Familie, des Eigentums, des Kapitals und der höheren geistigen Potenzen, wie manche Beschränktheit auf einer, an Wahnsinn grenzende Fantasterei auf der anderen Seite ihnen vorgeworfen werden könne, - dennoch bleibt ihnen der Ruhm, die soziale Aufgabe der Gegenwart scharf erfaßt, und, ihrem Zeitalter voraneilend, zum Teil die Kraft ihres Lebens an deren Entzifferung gesetzt zu haben. Die Gerechtigkeit der zukünftigen Geschichte wird ihnen die Palme reichen, welche allen Vorläufern großer Weltbegebenheiten von der Menge der Mitlebenden immer versagt, von der Nachwelt niemals vorenthalten worden ist.

In der Tat sollte aber schon die Geschichte der Vergangenheit dem aufmerksamen Zeitgenossen genügen, das Verständnis dieser ökonomischen Richtung und der allgemeinen realen Tendenz, welcher sie angehört, aus ihr zu entnehmen, und auf beider Berechtigung daraus zu schließen, daß sie sich als Konsequenz der bisherigen Geschichte der Menschheit dartun. Um inwiefern dies der Fall sei, nachweisen zu können, muß ich um die Erlaubnis bitten, aus den entferntesten Zeiten, wenn auch nur in vorüberfliegenden Andeutungen, mit einer hochzuverehrenden Versammlung, der Gegenwart entgegenzuschreiten.

Das Leben des Altertums, auf dem Boden ursprünglicher Natürlichkeit stehend, aus deren Fesseln sich der Geist der Menschheit erst langsam und stufenweise losmachen konnte, trat aus der Dämmerung des noch halb träumenden Orients in das schöne Morgenlicht von Hellas. Wenn im Orient das ganze Menschheitsleben der üppigen Stamm- und Blattentwicklung der Tropenflora, ihrer in massigen, schattenden Formen sich ausbreitenden Pracht glich, - so war, was sich nun in Griechenland entfaltete, zwar eine herrliche Blüte, aber doch nur eine Blüte des Naturlebens, auf welcher sich die Psyche wiegte. In Rom reifte die Frucht dieser natürlichen Richtung. Indem die römische Welt die Aufgabe zu lösen suchte, dem natürlichen Idealismus der Hellenen gegenüber die reale Seite des Menschengeistes zu entwickeln, fiel sie, weil sie nicht vom Geist ausging, zurück in das geisloseste Naturweben und versank am Schluß des Altertums in den tiefsten Abgrund des Materialismus. Dieses Naturleben war nicht mehr ein träumendes, wie das des Orients, es war ein waches - und darum erfüllte es uns, wie mittägliche Ausschweifungen, verübt in der Glut der offenen Sonne, mit einem Abscheu, den uns die Sinnlichkeit des Orients in ihrem nächtlichen Schleier nicht zu erregen vermag. Finden wir doch auch am Tier gleichgültig, was wir am bewußten Menschen verdammen. - Da erschien das Christentum, rettete die entwürdigte Menschheit und begann eine zweite Periode der Geschichte, indem es in allgemeinem Gegensatz gegen die natürliche Basis des Altertums, den Geist zum Grund des Lebens erhob, eben damit die freie Persönlichkeit des Menschen, als solchen, anerkannte, und eine fortdauernde Erlösung der Welt aus den Banden der Materie durch den heiligen Geist verkündete. Diesen Weg wirklich zu betreten, nicht bloß geahnt zu haben und auf ihm aller Zukunft mit einer leuchtenden Fackel vorangeschritten zu sein, bleibt des Christentums ewiger Ruhm. Übrigens machte die christliche Welt, in besonderer Opposition gegen die unmittelbar vorangegangene, dem materiellen Objekt hingegebene Entäußerung und Verderbnis, den Geist zunächst in der Form der subjektiven Innerlichkeit und Askese geltend, und indem sie diese Richtung im gesamten Leben des Mittelalters durchführte, gründete sie die Weltherrschaft der Kirche. Würde das Bild nicht zu niedrig gefunden werden, so möchte man das Mittelalter die Mittagsruhe des Erdgeistes nennen. Es war unausbleiblich, daß sich von ihr die Menschheit zu neuer objektiverer Tätigkeit erhob, denn die Absonderung des zusammenvorhandenen Geistes und Stoffes ist in der Welt wie im einzelnen Menschen nur auf kurze Zeit, und in dieser nicht völlig möglich, wie sich dann auch im Mittelalter die reale Tätigkeit schon vielfach regte. Aber erst mit dem Ende des fünfzehnten Jahrhunderts fing sie an ein welthistorisches Gewicht zu gewinnen, und aus der Gährung in Religion, Wissenschaft, Kunst, im Handel und im Leben der Staaten und Völker begannen neue Bildungen zu entstehen. Doch nicht zugleich konnten sich alle diese Kreise entwickeln, jeder bedurfte seiner Zeit zum Heranreifen und konnte alsdann erst an seinem Ort in die Gesamtentwicklung der Zeit als vorherrschend lebendiger treten.

Da diese ganze christliche Weltperiode vom Geist ausgeht, so war sie zuvörderst darauf angewiesen, den Geist von einem innerlichen Bann zu befreien, der im Mittelalter ihm nur eine einseitige Bewegung gestattete. So verließ dann die freie Persönlichkeit die sie umschließende Puppe zuer in Wissenschaft, Kunst und Religion, nicht ohne Vorwiegen des religiösen Bewußtseins, als der vom Mittelalter her gewohnten Form des Geistes. Erst als diese innere Befreiung begonnen war, konnte der Geist, wenn er anders auf sich selbst bauen wollte, in das Gebiet des wirklichen Lebens bildend übertreten. Dies geschah seit der Zeit des dreißigjährigen Krieges, in welchem der religiöse Zwiespalt nur noch in zweiter Linie bedeutsam ist, - abermals noch in scheuer Entfernung des Geistes von der Materie, - durch das Streben nach Verwirklichung der abstrakten praktischen Freiheit, oder des politischen Rechts. Die Revolution des achtzehnten Jahrhunderts brachte diese Richtung zur Reife. Nun war im fortschreitenden Sieg der Geist genug erstarkt, um ohne Gefahr für sich selbst den Kampf für die freie Persönlichkeit, für die Freiheit überhaupt, auch im eigentlichen Gebiet der Materie selbst zu eröffnen. Während jene rein politische Richtung von den einen eifrig verfolgt wurde, begann sich ihr seit ungefähr zwanzig Jahren auf ähnliche Weise eine andere Tendenz zu unterschieben, wie das im dreißigjährigen Krieg im Verhältnis der politischen Interessen zu den religiösen geschehen war. Wie damals die Macht der Ereignisse die Menschen, ehe sie selbst es recht zu fassen vermochten, darauf hinwies, daß die staatliche Reform es sei, um die es sich fortan handle: so finden sich unsere Zeitgenossen jetzt ebenso mächtig, und zum Teil ebenso widerwillig und verwundert darauf verwiesen, die ökonomische Reform der bürgerlichen Gesellschaft als den eigentlichen Mittelpunkt der Bestrebungen der Gegenwart anzuerkennen. Und wie das siebzehnte und achtzehnte Jahrhundert gezwungen waren, faktisch zuzugeben, daß für die geistige Freiheit keine Garantie des Wachstums und der Dauer vorhanden sei, ohne die Ausbildung einer ihr entsprechenden Ordnung des politischen Lebens, so wird das neunzehnte Jahrhundert genötigt werden zuzugeben, es sei keine politische Freiheit im Sinne der neueren Zeit, und rückwirkend keine gesicherte und im christlichen Sinn allgemeine Bildung des Menschengeschlechts möglich, ohne die Befreiung der großen Masse desselben aus den Banden der Armut und ohne eine demgemäß unternommene organische Reform der bürgerlichen Gesellschaft.

Mit diesem gradweisen Hervortreten des modernen Geistes aus der innerlichen Ruhe des Mittelalters in die geräuschvolle äußere Welt, mit diesem stufenweisen Herantreten desselben an den zu bewältigenden Stoff durch die intellektuelle, künstlerische und religiöse Reform zur politischen, und durch die politische zur ökonomischen Organisation, - ist nun aber keineswegs zugleich eine jedesmalige Vollendung jeder einzelnen dieser Richtungen ausgesprochen. Vielmehr ist es ein anderes, zu behaupten, es habe sich der Menschengeist in irgendeinem Zeitalter zuerst mit reifer Tätigkeit vorzüglich nach einer Seite hin entwickelt, - und ein anderes, zu sagen: er habe die Entwicklung dieser Richtung vollendet. Nur im raschen Feuer der erwachsenen Jugendkraft nach lange vorbereitender Kindheit, pflegen in der Geschichte der Menschheit wie im Leben der Einzelnen neue Kräfte und Entdeckungen sich mit Geräusch geltend zu machen, - haben sie einmal festen Fuß gefaßt, und sehen ihre Bedeutung anerkannt, dann bewegen sie später, nach Art des bedächtigeren Mannesalters, sich ruhiger ihrer vollen Ausbildung entgegen. So war in jener Zeit des Erwachens zu Anfang der neueren Zeit die intellektuelle, ästhetische und religiöse Befreiung des Geistes nicht vollendet, sie trat nur zurück, als ihre Macht im Leben anerkannt war, um in der größeren Stille am Grund künftiger Zeiten weiter und weiter zu bauen. So ist auch die freie Ordnung des Staates und des Völkervereins mit jener Epoche der Revolution allerdings nichts weniger als durchgeführt, sondern es bleibt unserer Zeit und der Zukunft, wie in jenen geistigeren Gebietn, so auch in den übrigen noch unendlich viel zu tun, - so viel, daß wenn wir richtig ahnen, nach dieser zweiten christlichen Periode der allmählichen Evolution des Geistes aus der Innerlichkeit, erst in einer dritten Periode der Weltgeschichte, nach vorausegangnem Sie der dreien Wissenschaft, das gesamte Leben der Menschheit auf einem vorwiegend objektiven Standpunkt mit Bewußtsein und Freiheit harmonisch sich ordnen wird.

Jedenfalls widerspricht die neueste Richtung jenen älteren Richtungen der neueren Zeit so wenig, daß sie vielmehr zum Weiterschreiten des Geistes in jenen anderen Gebieten mittelbar beiträgt. Wenn nämlich der fortschreitende Geist in seiner zeitlichen Entwicklung je ein anderes Gebiet betritt und hier eine neue Richtung verfolgt, so verzichtet er nicht nur nicht auf den Fortschritt in jenen zeitlich zurückstehenden Kreisen, soweit es deren besonderem Wesen nach möglich ist, zur Erscheinung kommen. Deswegen gibt jede in irgendeiner Zeit herrschende Erscheinung ihrer ganzen Zeit den Charakter, der selbst doch wiederum nichts ist, als der allgemeine Ausdruck dessen, wodurch diese Zeit aber einer vorangegangenen steht. Deswegen ist namentlich auch - und dies führt uns zum Ziel dieser Blicke in die Geschichte - das in unseren Tagen ins eigentlich materielle Gebiet getretene Streben des Geistes nach Freiheit, zugleich von tongebendem Einfluß auf den realen Charakter der übrigen Erscheinungen des gesamten Lebens der Zeit; aber dieser Einfluß findet nur deswegen statt, weil nach der Bestimmung der ganzen neueren Zeit, den Geist zu verwirklichen, jede dessen Herrschaft im Leben weiter ausdehnende Tätigkeit ein allgemeiner Fortschritt ist. Indem daher die neueste Zeit in das Gebiet der materiellen Interessen vergeistigend vorschritt, konnte es nicht anders sein, als daß ein allgemeiner Zug der Sehnsucht nach organisch-reformierender Entwicklung, im Gegensatz zu den Abstraktionen des vorigen Jahrhunderts sich zu offenbaren anfing; denn jedes Streben des Geistes muß umso entschiedener den organisierenden - von einem Mittelpunkt aus, in Wechselwirkung der Radien unter sich und mit dem Zentrum, wirkenden - Charakter annehmen, je mehr es mit der Materie in engeren Verband tretend, die geistige Einheit im Leben der Wirklichkeit festzuhalten ein stärkeres Bedürfnis fühlt. Ohne diesen Zug zur Organisation würde unsere Zeit allerdings des Materialismus beschuldigt werden können, mit diesem Zug aber, als der Blüte der realen Tendenz, gibt sie Zeugnis ihres höheren Geistes und die Hoffnung einer herrlichen Frucht.

Daß diese Hoffnung noch nicht erfüllt, selbst durch tiefe Schatten verdunkelt ist, könnt Ihr daraus unserer Zeit und ihrer ökonomischen Richtung einen begründeten Vorwurf machen wollen? Ist doch die neue Epoche erst im Anfang ihres Anfangs! Und sagt selbst, ihr idealen Idealisten, würdeit ihr zugeben, daß die Religion nicht von Einfluß auf die Versittlichung der Menschheit sei, weil es Gottlose gibt, trotz ihr und ihrer Diener? oder daß in der Poesie kein göttlicher Funke liege, geeignet in der menschlichen Brust ein heiliges Feuer zu zünden, weil Tausende stumpf an ihr vorübergehen? - Und würdet ihr politischen Idealisten es für gerecht halten, der Verschiedenheit der Staatsformen allen Einfluß, den freien Verfassungen allen Wert abzusprechen, weil noch keine geleistet was sie versprochen hat und noch überall die Menge, auch wo sie frei war, sich der Freiheit unwürdig zeigte? - Nun denn, wenn jene Erziehungsmittel der Menschheit, alle älter, zum Teil um Jahrtausende, als dieses neueste der ökonomischen Reform, ihr Ziel noch nicht erreicht haben, warum soll diese jüngste Tochter der Geschichte schon so große Werke aufzuweisen verpflichtet sein? Dennoch ist sie, obgleich so jung, doch nicht so tatenleer als viele meinen. Sie hat einen großen Schritt getan zur Bildung der Massen, indem sie den Druck der Armut um Vieles gemildert hat, in Nahrung, Wohnung, Kleidung und ganzer Lebensart des Volkes; sie hat auf ihrem Gebiet eine weite Arena zu einem Wettkampf der Intelligenz eröffnet, an welchem die Massen teilzunehmen fähig sind, und wirklich in freier, nur noch ungeregelter Bewegung teilnehmen; sie hat die Vernichtung der Negersklaverei ins Werk zu setzen begonnen; sie hat in den Staatshaushalt sonst ungekannte Grundsätze der Billigkeit eingeführt; sie wird von Tag zu Tag mehr das Mittel einer freien Verbrüderung der Völker, indem sie die Nationalitäten kräftigend abschließt, und zugleich die Nationen verbindet; sie bewirkt jetzt schon, daß die Tore am Tempel des Janus nicht so häufig, wie einst, geöffnet werden können. Und was wir als Deutsche hinzuzufügen nicht vergessen dürfen, sie hat namentlich angefangen, die Stämme des deutschen Volkes wieder enger zusammenzuschließen - und wenn dies für jetzt ein Anfang bleiben sollte, so wird nicht sie, sondern daß man ihre wahre Bedeutung verkannte, die Schuld daran tragen.

Daß dieser Beginn der ökonomischen Reform in allen Beziehungen seinem Ziel näher geführt werde, ist jetzt in erfreulicher Weise die Sorge Vieler, in der Verwaltung und in der Tagespresse, wie in der Wissenschaft. Insbesondere ist es der Beruf der staatswirtschaftlichen Fakultäten, die Aufgabe der Zeit auf dem Weg der Wissenschaft und der fürs Leben wirkenden Lehre lösen zu helfen. Sie sind ein unentbehrliches Element der Universitäten geworden, seit der Kreis des Lebens, den wissenschaftlich zu fassen und zu gestalten ihnen obliegt, seinen Platz in der Runde der legitimen weltherrschenden Mächte genommen hat. Sie stehen mit dem Anspruch ebenbürtigen, obgleich jüngeren Adels in der Reihe ihrer älteren Schwestern und wenn sie einen Vortritt von sich ablehnen, den die Farbe der Zeit ihnen anzuweisen scheinen könnte, so tun sie es nicht im demütigenden Gefühl geistloser Unwürdigkeit, sondern in Erkenntnis des Wesens der Wissenschaft, die auf ihrem Gebiet, als im wahren Land der Freiheit und Gleichheit, keine, von den wandelnden Phasen der äußeren Entwicklung der Dinge abhängige Rangfolge ihrer einzelnen Gebietsteile anzuerkennen vermag.

Nur  eines  bleibt mir nun noch zu sagen übrig. Es betrifft die Stellung, welche ich und die mir Gleichgesinnten denjenigen gegenüber einnehmen, welchen die reale Tendenz der Gegenwart auf allen Gebieten des Geistes und Lebens, und insbesondere das derzeitige Übergewicht der ökonomischen Entwicklung, nicht, wie uns, im Wesentlichen und für jetzt als ein wahrer und heilbringender Fortschritt erscheint, sondern welche von dieser Richtung Unheil, sei es für Glauben und Sittlichkeit, für die Höhe der Kunst, für die Reinheit und Würde der Wissenschaft, sei es für die politische Freiheit fürchten zu müssen meinen. Es möchte wohl schon im Ganzen unserer Rede liegen, aber es ist vielleicht doch nicht überflüssig es auszusprechen: daß wir vollständig erkennen, wie groß die Gefahr sei, und wie wenig sie von vielen vermieden werde, vom Weg der realen Tendenzen in einen Materialismus abzuirren, der ein Verrat am Geist und an der Mannesehre ist, und daß wir darum es für die gute Sache nur wünschenswert erachten können, wenn sich als Gegengewicht gegen eine solche Verirrung der Zeit andere zu besonderen Vertretern mehr idealistischer Richtungen und formell reinerer politischer Theorieme aufwerfen. Darum auch reichen wir die Hand rechts und links jedem Ehrenmann, der in gutem Glauben und mit offenem Visier gegen unsere Ansicht steht, und glauben ernstlich Friede mit ihm halten zu können, inwiefern es sich von seiner Seite nur davon handelt, Richtungen, deren eigentümlichen Wert auch wir anerkennen, neben den unsrigen, ohne diese in ihrem Mark zu verwunden, kräftig geltend zu machen. Sofern es aber andere nicht sollten umgehen zu können glauben, unsere Weltansicht als eine, die unterdrückt und vertilgt werden müsse, heimlich oder öffentlich zu bekämpfen, so sind auch wir bereit, sobald uns eine wirkliche Gefahr des zeitlichen Rückschritts klar wird, zum Kampf vorzutreten: denn gut ist der Friede, aber besser ist der Sieg des Fortschritts!
LITERATUR: Johannes Fallati, Über die sogenannten materiellen Tendenzen in der Gegenwart - eine akademische Rede gehalten in der Aula zu Tübingen am 1. September 1842, Tübingen 1842