p-4ra-1 L. PongratzR. WillyM. WalleserC. Sigwart    
 
ERNST LAAS
Die Kausalität des Ich
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"Es sind Tatsachen diese Gesetze, generelle Tatsachen. Sie können zwar in gewissen Fällen unter noch allgemeinere subsumiert und durch Einschaltung von Mittelprozessen in einfachere aufgelöst werden. Aber eine absolute Rationalisierung ist in Bezug auf sie nicht möglich. Letztlich findet man sich immer auf etwas geführt, was ist, weil es ist; auf Kräfte, Verhaltensweisen, die ebenso unauflöslich sind und gleichsam als selbstverständlich hingenommen werden müssen, wie die Tatsachen, daß ruhende Materie sich nicht von selbst bewegt oder daß einmal in Bewegung gesetzte, sich selbst überlassen, Richtung und Geschwindigkeit beibehält."

Erster Artikel
1. Die Kausalität
und das Kausalitätsgesetz

Unter den fast zahllosen Bedeutungen und Anwendungen, die der Terminus Ursache (aition, aitia, causa) seit des ARISTOTELES berühmter Behandlung des Kausalitätsthemas (1) unter den wechselnden Interessen des Lebens und der Wissenschaft, zum Teil auch durch leere Scholastik im Laufe der Jahrhunderte erlangt hat, verdienen diejenigen, welche sich im Kreise des empirisch Gegebenen und Nachweisbaren halten, in jeder Beziehung, an erster Stelle berücksichtigt zu werden.

Die  empiristische, immanente  Kausalitätsbetrachtung geht auf die Tatsache des  Werdens,  der  Veränderung.  Für das  Dasein überhaupt,  für das Fortbestehen  desselben Zustandes  sucht sie keine Ursache.

Die verursachte Veränderung, bzw. Zuständlichkeit heißt  Wirkung.  Der Satz, daß jede Wirkung ihre Ursache habe, ist "a priori" gewiß; denn er ist  tautologisch. 

Die Wirkung ist von ihrer Ursache  "abhängig";  die bedarf ihrer als conditio sine qua non [Grundvoraussetzung - wp] ihrer Existenz.  Abhängigkeit  ist der Gattungsbegriff, dem das Verhältnis, in dem die Wirkung zur Ursache steht, untergeordnet ist. Die  logische  Abhängigkeit der  Folge  vom  Grund  und die  mathematische  der  Funktion  sind die geläufigsten Analoga der kausalen Abhängigkeit, welche  ontologischen  Charakter hat. Das  Kausalgesetz  behauptet die Abhängigkeit aller Veränderungen, alles dessen, was zu existieren anfängt, von Ursachen oder gesetzmäßigen Bedingungen. Diese Behauptung ist  nicht "a priori"  gewiß, sondern ruht auf  empirischem  Grund; sie ist im Übrigen eine unumgängliche Voraussetzung aller ätiologischen Forschung [Ursachenforschung - wp] (2). Innerhalb dieses allgemeinen Schemas wird der Ausdruck Ursache heutzutage in zwei verschiedenen Richtungen verwertet.

Die erste Anwendung nennt Ursache  diejenige Veränderung , bzw. denjenigen aus einer Veränderung hervorgegangenen, veränderlichen  Zustand  (oder den Inbegriff solcher), welcher das gesetzmäßige, unabänderliche Antezendens [Vorher - wp] der vorliegenden Veränderung ist. Das Gesetz, daß jede Veränderung ihre Ursache habe, ist nach dieser Auffassung gleichbedeutend mit dem, daß der Ablauf der Ereignisse gesetzmäßig oder gleichförmig sei.

Wir können dieser Ansicht, obwohl sie durch drei der gegenwärtig wirksamsten Philosophen vertreten wird (3), nicht beipflichten. Sie verwickelt sich gegenüber solchen Vorkommnissen, wie die regelmäßige Abfolge von Ebbe und Flut, von Tag und Nacht, in Schwierigkeiten. Sie muß ferner, wenn sie konsequent sein will, auch in der dem GALILEIschen Trägheitsgesetz gemäß erfolgenden Bewegung das jedesmal vorhergehende Differential der durchlaufenden Bewegungslinie für die Ursache des folgenden ansehen. Was das Schlimmste ist: sie zerrt Ursache und Wirkung  zeitlich  auseinander. Die volle Ursache muß aber mit dem Anfang ihrer Wirkung exakt koinzident [übereinstimmend - wp] gedacht werden. Die selbstverständliche Fortsetzung einer einmal angefangenen Wirkung und eine gewisse kontinuierliche Kausationen, wie die NEWTONsche Attraktion, sind völlig hinlänglich, um den SCHOPENHAUERschen Verdacht abzuwehren, als müsse eine Theorie, welche  die zeitliche Koinzidenz von Ursache und Wirkung  lehrte, die Linie des Geschehens aus Punkten zusammensetzen wollen. Unsere Gewohnheit andererseits, den ganzen der zu effektuierenden Veränderung vorangehenden, sozusagen intransitiven [nicht übergehenden - w] Prozeß mit zur Ursache und die ganze selbstverständliche Folge einer Veränderung mit zur Wirkung zu rechnen, erklärt das Aufkommen des Scheins und der Meinung, als ob die Wirkung der Ursache nachfolge. Im Übrigen ist das aus jener Auffassung als richtiger Kern herauszuschälen, daß Kausalität immer zwei zeitlich aufeinander folgende Vorgänge, bzw. veränderliche Zustände voraussetzt, daß sie die in der Zeit ablaufenden Veränderungen betrifft.

Die zweite Ansicht, der wir den Vorzug geben, glaubt für die Ansetzung der Ursache vor allem einer  Sache,  eines  Dinges, einer Substanz  zu bedürfen, um demnächst von einem gesetzmäßigen Verhalten, Wirken einer solchen Substanz das ätiologisch zu erklärende Ereignis abhängig zu denken. Das Kausalgesetz besagt nach dieser Auffassung, daß alles, was wird, von wirkenden Substanzen,  Agentien  abhängig ist. Das Agens gilt in dem Moment als  kausativ,  als  aktiv,  wo es das bisherige Verhalten einer anderen Substanz verändert; die in ihrem Zustand veränderte Substanz gilt als  passiv;  der neue Zustand als  kausiert, erlitten.  Aktivität und Passivität sind im übrigen ohne alle anthropomorphistischen Nebenvorstellungen zu denken; es handelt sich nur um Abhängigkeit, Bedingtheit. Ursache ist dasjenige Verhalten einer Substanz, von dem ein verändertes Verhalten einer anderen abhängig ist. (4)

Wo auch immer im Leben oder in der Wissenschaft nach Ursachen ausgeschaut wird, immer gilt ein vorangehender Zustand als - absolut oder für die gegenwärtige Betrachtung -  selbstverständlich.  Die einzige Art von Veränderung, welche wissenschaftlicherseits für absolut selbstverständlich gehalten wird, ist die Fortsetzung einer einmal angefangenen Bewegung im Sinne des GALILEIschen Trägheitsgesetzes. (5) Doch findet es auch die Wissenschaft fortwährend  zweckmäßig,  die Kausalitätsfrage auf einzelne Seiten des vielverschlungenen Spiels der Weltereignisse zu beschränken, in Beziehung auf die übrigen Seiten aber vorläufig das Geschehen wie selbstverständlich hinzunehmen. (6) Andererseits gebiert oft  eine  Ursachenangabe sofort eine Reihe weiterer Fragen; und im Prinzip muß bei jeder Erklärung dieser Art der regressus in infinitum [Teufelskreis - wp] offen bleiben; womit nicht gesagt ist, daß auf diesem Wege immer noch konkrete und determinierte Tatsachen anzugeben und anzutreffen sein müßten. (7)

Die  Substanzen,  die bei der empiristischen Kausalitätserklärung eine Rolle spielen, sind weit davon entfernt, das Gewicht des spinozistischen Substanzbegriffs tragen zu können. Sie sind erstens phänomenale Substanzen: eingespannt in die für unser Erlebnis und für unser Vorstellen - wenn auch nicht für unser "Denken" - absolut unzerreißbare Korrelativität allen empirischen Seins; (8) selbst die kosmischen Massen, mit denen die kopernikanisch-newtonsche Weltansicht operiert, sind nicht ohne ein Achsensystem vorstellbar, auf das ihre jedesmaligen Raumlagen  bezogen  gedacht werden; in welchem Achsensystem - wenn auch in äußerster Verflüchtigung - schließlich das Analogon unserer eigenen leiblich-geistigen Lebensexistenz versteckt liegt. (9) Sie sind ferner auch insofern nicht "in se" [in sich selbst - wp] und nicht "per se" [durch sich selbst - wp] konzipierbar, als sie mit all ihrem "Wirken" der allseitigen kosmischen Wechselwirkung angehören, welche auf dem Boden der mechanischen Bezüge in der Newtonschen Gravitationslehre ihren universalsten und großartigsten Ausdruck empfangen hat. Sie sind auch nur zum geringsten Teil absolut  permanent  und sich  selbst gleich.  Zwar ruht die bis auf den letzten Grund bohrende wissenschaftliche Betrachtung nicht eher, als bis sie die nur auf Zeit konstanten und unvollkommen mit sich selbst identischen Dinge in absolut permanente Agentien, in die sogenannten "Atome" aufgelöst und als temporäre Aggregat und Effekte derselben nachgewiesen hat. Aber nur in einer fast verschwindenden Minderzahl von Fällen greift die Wissenschaft und das praktische Leben greift mit der Kausalerklärung des Geschehens nie auf die Atome zurück. Mögen doch die letzten Massenbestandteile von Erde, Mond und Sonne nach newtonschem Gesetz so oder so zueinander schwingen: wir wollen jetzt wissen, wie sie selbst, die großen Konglomerate sich gegenseitig ihre Lage bestimmen, welchen Einfluß Sonnen- und Mondstellung auf die Ebbe- und Flutperioden haben usw.; und doch sind Erde, Mond und Sonne in der Zeit entstanden, wandeln fortwährend mit der Zeit Quantum und Quale und werden, wenn ihnen nicht etwas Außergewöhnliches hilft, einst wieder vergehen. Mögen doch Sauerstoff und Wasserstoff allein, wie sie wollen, sich weiter zu den anderen chemischen Elementen verhalten: wir untersuchen jetzt die mechanischen, die optischen, die chemischen Eigenschaften und Wirkungsweisen ihres Produkts, des Wassers. Wir studieren die aktive und passive Geschichte der so vergänglichen Proteinformen, der Pflanzen und Tiere, des Menschen, des Einzelnen und jener Gruppen, die wir als Familie, Sippe, Horde, Gemeinde, Staat, Nation bezeichnen (10); teilweise ihr Verhalten als grundwesentliche, sozusagen selbstevidente Äußerungsweise ihrer Natur zur Erklärung für anderes in Rechnung stellend, es teilweise selbst als Veränderung, gleichsam "Störung" fundamentalerer Zustände betrachtend. -

Wie nahe oder wie entfernt auch die ätiologische Analysis empirischer Veränderungen die "wirkenden" Dinge suchen mag: immer muß sie sich auf ein naturgesetzliches Verhalten derselben stützen, welches Verhalten in einer geläufigen Abbreviatur [Abkürzung - wp] als  permanente Eigenschaft,  als  Kraft  jener Dinge bezeichnet wird: es ist ihre Eigenschaft, sie haben die Kraft, unter solchen und solchen Umständen solches und solches zu tun und zu leiden. Die genannten Eigenschaften zusammen mit den hic et nunc [hier und jetzt - wp] gegebenen Verhältnissen bilden den vollen  Realgrund  des fraglichen Ereignisses. Alle Gesetze, nach denen sich das aktive und passive Verhalten der Agentien richtet, müssen durch empirische Forschung eruiert [herausgefunden - wp] werden. Es sind  Tatsachen  diese Gesetze,  generelle  Tatsachen. Sie können zwar in gewissen Fällen unter noch allgemeinere subsumiert und durch Einschaltung von Mittelprozessen in einfachere aufgelöst werden. Aber eine absolute Rationalisierung ist in Bezug auf sie nicht möglich. Letztlich findet man sich immer auf etwas geführt, was ist, weil es ist; auf Kräfte, Verhaltensweisen, die ebenso unauflöslich sind und gleichsam als selbstverständlich hingenommen werden müssen, wie die Tatsachen, daß ruhende Materie sich nicht von selbst bewegt oder daß einmal in Bewegung gesetzte, sich selbst überlassen, Richtung und Geschwindigkeit beibehält oder daß die materiellen Agentien gerade in dieser Anzahl und in diesem Verhältnis ursprünglich durch den Raum verteilt sind. (11)

Die Wissenschaft darf mit Ruhe je nach Bedürfnis und Bequemlichkeit anstatt der absolut permanenten Atome deren (wiederauflösbare) Aggregate und Verbindungen erster, zweiter, n-ter Ordnung (12) und die tatsächliche Naturbeschaffenheit derselben ihrer Kausalerklärung zugrunde legen, da auch die atomistische Behandlung zuletzt auf nicht weiter erklärbare Tatsachen, auf die mechanischen und chemischen Kräfte der Agentien rekurrieren [Bezug nehmen - wp] muß. Übrigens sind Atome als solche, isoliert, nirgends und niemals anzutreffen.


2. Die mechanische Kausalität und die Bedenken,
die sie erregt. Beschwichtungsversuche.

Die große Tendenz der modernen Naturwissenschaft ist, "sich in  Mechanik  aufzulösen" (13), d. h. alle Kausalerklärung des Geschehens auf mechanische Prinzipien zu gründen: ein Gedanke, der andererseits weithin ein gewisses Grausen erregt.

Es liegt an diesem Punkt so sehr die Wurzel aller theoretischen und praktischen Zwiespältigkeiten und Zerwürfnisse der Gegenwart, daß keine Mühe verloren scheint, welche hier auch nur um ein Kleines nach der Seite der Einheit und Verständigung zu wirken vermag. Die vorliegende Arbeit hat diese Tendenz.

Früher lag das Schreckhafte der mechanischen Erklärungen in der Aussicht und Absicht, alle Veränderungen im letzten Grund als Effekte des Zugs und Stoßes zu fassen. (14). Seit NEWTONs Gravitationslehre (15) und der Rekonstruktion und Weiterbildung der Atomistik haben sich die mechanischen Vorstellungen viel großartiger, aber noch viel unheimlicher gestaltet. Überläßt man sich den Direktiven dieser neuen Lehren ohne alle weiteren Rücksichten und andersartigen Gednaken, so müßte all das bunte Veränderungsspiel, in das wir uns selbst mit unserem Leib auf unauflösliche Weise verkettet finden, für Augen, die metamikroskopisch fein und metateleskopisch weitsichtig genug wären, in unablässige Bewegungen von Atomen auseinandertreten, die nach Funktionen ihrer Masse und Distanz gegeneinander und gegen ein unsichtbares kosmisches Koordinatensystem stetig ihre Lagen veränderten. All das andere aber, was wir mit unserem ins Grobe und Große gehenden und für praktische Zusammenfassungen interessierten Auge wahrnehmen, wäre nur ein täuschender Zauber, in Bewußtseinen erzeugt, die unter unausweichlich determinierten Kollokationen [Anordnungen - wp] der Weltatome hier und dort in gesetzmäßig bestimmten Arten und Helligkeitsgraden aus dem Weltfonds hervortreten, die sich aber irren, wenn sie glauben, an dem was da hinter und unter der bunten Wahrnehmungswelt schwingt und schwebt, irgendetwas bestimmen oder ändern zu können. Es geschähe vielmehr nichts, was nicht durch die ursprüngliche Stoffverteilung und das Gravitationsgesetz von Ewigkeit  mechanisch prädeterminiert  [vorherbestimmt - wp] wäre. Alle Kristallformen, alle Blütenpracht, alles, was Menschen logisch korrekt denken und künstlerisch und entzückend dichten und bilden, wäre abhängig, wäre Funktion von Bewegungen, welche tote Massen, von Anbeginn an tatsächlich auf das subtilste darauf abgestimmt, nach dem Fatum ihrer Konstellatioin und Masse blindlings und mit gleichsam astronomischer Unausweichlichkeit von selbst vollziehen.

Gewiß! die Großartigkeit einer solchen Weltmaschine überträfe an Erhabenheit alles, was uns die wahrnehmbare Natur darbietet, alles was Menschenphantasie je entworfen hat. Aber der Eindruck wäre im Grunde doch nicht erhebend, sondern niederschmetternd. Da ist nichts, was Du mit selbsteigener Tat  ändern  könntest; nein: Alles, was Du draußen von Dir und anderen mittels leiblicher Organe bewirkt wähnst, sowie alles, was Du erdenkst, wills beabsichtigst, ist von todeskalten Bewegungen abhängig, die sich genau so vollziehen würden, auch wenn kein Bewußtsein von ihren Erfolgen Reflexe empfinge. (16)

Es genügt nicht, um dem Unbehagen und der Melancholie dieser Vorstellung zu entfliehen, daß man sich ins Gedächtnis ruft, wie ja jene NEWTONsche Weltverfassung zunächst selbst doch nichts weiter sei, als eine Vorstellung desselben Bewußtseins, das in all seinen Höhen und Weiten nur als gehorsamer Diener oder nachgezogener Schatten jener prädeterminierten Lagenverschiebungen von Atomen und Molekülen angesehen werden soll. Nur allzu leicht nistet sich der Verdacht ein, daß, was in dieser Weise vorgestellt wird, gerade in dem, was so unheimlich berührt, gerade in seiner wundersamen, nie versagenden Gesetzmäßigkeit, das adäquate Abbild dessen sein möchte, was wir jenseits der "Erscheinung", jenseits des korrelativen Verhältnisses von Subjekt-Objekt als das "Ansich" allens Seins und Geschehens zu denken haben. Und selbst wenn man ihm eine solche Dignität nicht beilegte, diesem NEWTONschen Weltschema; selbst wenn man es in der niedrigeren Sphäre der bloßen Vorstellung beließe: würde es nicht beunruhigend bleiben, wenn nach diesem unerbittlichen und geistlosen Schema alles Sein und Handeln letzten Grundes bestimmt, von Ewigkeit vorherbestimmt wäre?

Es genügt auch nicht, in gläubiger Verehrung auf die überaus kunstvolle Urausteilung der Massen hinzublicken, welche doch zu allem Schönen und Guten, was wir genießen und suchen, von vornherein die naturgesetzliche, mechanische Möglichkeit enthalten haben muß. Wir wollen nicht bloß anstaunen und bewundern, was mit uns und vor uns blindlings von selbst geschieht, nachdem es einmal, so wie es ist, da ist; wir wollen selbst dazu mitwirken, daß das Gute in der Welt erhalten werden, wachse und um sich greife. Und nicht dem Automaten, dessen kunstvolle Maschinerie den Schein des Lebens vortäuscht, geben wir den Preis, sondern dem lebendigen, fühlenden, von sich aus Zwecke setzenden und Zwecke verwirklichenden Menschen.

Es genügt auch nicht, auf dem Gedanken zu verweilen, daß, was in unserem Leben und Streben Interesse, Wert und Bedeutung habe, nicht im Reich der untermenschlichen, bloß mechanischen Prozesse, nicht in der Schatten- und Nachtwelt der Atome liege. Es genügt nicht, mit den Mitteln poetisierender oder frommer Rhetorik die in allen Regenbogenfarben schimmernde "Tagesansicht" (17) der Warhnehmung und des Gefühls dem düsteren Nachtbild des bloß vorgestellten Atomengewirrs empfehlend und selbstverzückt gegenüber zu halten. Abgesehen davon, daß diese "Tagesansicht", wie wir sie aus Wahrnehmungsfetzen mit ihren perspektivischen, individuellen und momentanen Inkongruenzen allmählich zurecht machen (18), zunächst doch auch nur in der "Vorstellung" existiert: was sollte und könnte sie mit ihrer bunten Reichhaltigkeit für einen Trost und Frieden gewähren, wenn doch auch sie letztlich in funktioneller Abhängigkeit vom Nachtschema stände? Was könnte die Schilderung ihrer köstlichen Licht- und Klangfülle weiter erzeugen, als kindliche oder romantische, naive oder absichtliche Selbsttäuschungen? Dem kühleren Verstand würde der Stachel verbleiben, daß aller Farbenschmelz des Tages und alle Harmonie der Nacht, daß alles, was wie in Frische und Selbständigkeit neu geboren zu sein scheint, von Urbeginn in einem toten Mechanismus der absoluten Finsternis beschlossen, angelegt und vorbereitet sein soll. Wir wünschen nicht bloß ein reichhaltigeres Dasein, als das demokritisch-newtonsche Weltschema darbietet: wir wünschen vor allem den diamantenen Ring, der über "Siriusfernen" die Weltsysteme binden mag, wenigstens auf dem engeren Theater, das unsere Interessen und unsere Geschichte trägt durchbrochen zu sehen.

So wenig Aussicht ist, schon im Kreis der Naturpotenzen denjenigen Durchbruch des fatalistischen Ringes, der das Gemüt umpreßt, vollzogen zu finden, so ist es doch eine gute Vorbereitung auf das, was definitiv über das Thema zu sagen ist, sich zu erinnern, daß die Natur selbst neben der Gravitation noch Kräfte enthält, welche das, was aus dem Gesetz der Schwere  allein  folgen würde, sozusagen zugunsten eines bunteren, volleren Weltgeschehens wirksam zu durchkreuzen, wirklich zu  durchbrechen  scheinen. Es ist eine müßige Frage, ob nicht bei bloßer Aktion der Schwere eine Anzahl und Verteilung kosmischer Elementarmassen durch den Raum "möglich" wäre, welche durch ihre eigene Wechselwirkung jede dem Fortbestand der Bewegung gefährliche Annäherung und Zusammenballung auszuschließen vermöchte. Jetzt ist jedenfalls dem bewegungsfeindlichen Aneinanderrücken der diskreten Urstoffe in denjenigen der Schwere entgegenwirkenden Prozessen, die wir als "Wärme" ("Licht", "Elektrizität" usw.) empfinden, ein Riegel vorgeschoben. Fortwährend ziehen Bewegungen dieser Art die umliegenden Teile in sympathische Mitschwingung. Auf lange hin - und setzen wir, wie wir hoffentlich müssen, das Reale als unendlich - auf ewig ist keine Gefahr, daß diese Mitteilungs- und Ausgleichungsprozesse einer toten "Entropie" jemals die Herrschaft überlassen werden.

Freilich nähern sich fortwährend Stoffe, z. B. infolge von Abkühlung heißerer Regionen, über ihr früheres Entfernungsmaß. Aber überschreitet die Annäherung eine gewisse Grenze, so kommen - plötzlich -  neue, "molekulare"  Kräfte ins Spiel, welche gleichfalls aus dem Schema der Gravitation heraustreten. (19) Die  Kohäsionen  [Zusammenhangskraft - wp] "gleichartiger" und die Adhäsionen [Oberflächenhaftung - wp] "ungleichartiger" Stoffe ermöglichen weiter dann all jenes Ziehen und Stoßen, welches einst als der Typus alles mechanischen Geschehens galt, welches nun aber auch seinerseits dadurch Wert erhält, daß es die Monotonie der sich selbst a distante regulierenden Gravitationsmaschine gewaltsam nach eigengesetzlicher Mechanik  durchbricht.  Und immer wieder bringen äußere Gewalt und selbstwirkende freigelassene Schwere unter bestimmten Druck- und Wärmegraden Elementarstoffe in solche räumliche Beziehung zueinander, daß jene  kristallinischen  Formen und jene  chemischen  Verbindungen entstehen, welche den Beweis dafür zu liefern scheinen, daß die Natur der Weltagentien mit der Schwere nicht erschöpft ist und daß hinter den quantitativen Verhältnissen der Masse noch  verborgene Qualitäten  anzusetzen sind, die freilich auch mechanisch wirken, wie die Schwere und deren Wirksamkeit doch nicht nach dem Regulativ der Schwere läuft. Oder sollte jemand, wenn sich z. B. Wasserstoff mit Sauerstoff verbindet oder Wasser gefriert, die Geschwindigkeit, mit welcher die Atome aufeinander stürzen und die dadurch erzeugte Wärme oder ihr mechanisches Äquivalent aus dem GALILEIschen Fallgesetz deduzieren wollen? (20)

So tauchen schon im Bereich der scheinbar so unheimlichen "Nachtansicht", die eine nur in mechanischen Bezügen laufende, farb- und klanglose Welt vor sich hat, Potenzen auf, welche nicht bloß in die starre Einförmigkeit einer bloß von der "Schwere" normierten Welt eine wohltuende Abwechslung bringen, sondern dieselbe auch mit Gesetzen und Wirkungsweisen unterbrechen, welche der Hoffnung Bahn machen, es möchte auch wohl für Aktionen noch feinerer und edlerer Qualität, vielleicht sogar für solche, die dem Gemüt volle Befriedigung gewähren, Möglichkeit und Gelegenheit offen stehen.
LITERATUR - Ernst Laas, Die Kausalität des Ich, Vierteljahrsschrift für wissenschafliche Philosophie, Bd. 4, Leipzig 1880
    Anmerkungen
    1) Vgl. außer den naheliegenden Stellen der Metaphysik und Physik auch de gen. et corr. I, 6 - 10. Über PLATON siehe § 7 Schluß.
    2) Vgl. des weiteren meine Schriften "Kants Analogien der Erfahrung", Berlin 1876, Seite 194f, 208, 215f; ferner "Idealismus und Positivismus", Berlin 1879, Seite 132f
    3) Nämlich durch KANT, SCHOPENHAUER und JOHN STUART MILL. Vgl. Kants Analogien, Seite 139f
    4) Wenn ein in identischer Richtung und mit gleichbleibender Geschwindigkeit sich fortbewegender Körper durch Stoß oder Attraktion von seiner Bahn abgelenkt oder in seiner Geschwindigkeit modifiziert wird, so ist der stoßende, bzw. attrahierende Körper in Beziehung auf den in seinem Verhalten alterierten aktiv; sein Stoß, bzw. seine Anziehung ist die Ursache der veränderten Bewegung des andern. In den Lagenveränderungen der Mitglieder eines Sonnensystems verteilt sich das Maß der Aktivität nach den Massen- und Distanzverhältnissen.
    5) Vgl. Kants Analogien, Seite 141
    6) So kann man die elliptische Bewegung der Erde um die Sonne als selbstverständlich zugrunde legen, um nur die etwaigen "Störungen" ätiologisch ins Auge zu fassen. Man kann sich bei der Tatsache, daß gewisse aus Lösungen sich abscheidende und aus Schmelzungen erstarrende Körper eine bestimmte Kristallform annehmen, wie bei einem ursprünglich Letzten beruhigen und nur, wenn die regelmäßige Kristallbildung gehemmt erscheint, nach den Ursachen dieser Irregularität fragen. Man kann überhaupt jedes regelmäßige Verhalten einer Sache, z. B. das fortschreitende Wachstum einer Keimzelle als selbstverständlich hinnehmen und nur die Abweichung von der Regel, z. B. das Erkranken oder Ersterben des bisher normal entwickelten Organismus, der Ursachenfrage unterwerfen.
    7) Hat man in der Kurve der Planetenbahn zwei Komponenten erkannt, von denen die eine auf konstante Kausation des Zentralkörpers, die andere auf einen tangentialen Impuls zurückgeführt werden muß, so fragt man sofort weiter nach der Quelle dieses tangentialen Antriebs. Wird er in der vorzeitlichen Lostrennung des Planeten vom Zentralkörper gefunden, so steht sogleich die Frage nach der Ursache dieser Lostrennung vor der Tür; diese ruft die Frage nach der Ursache der Rotation der gasförmigen Urmasse wach; et sic in infinitum [und so weiter ins Unendliche - wp].
    8) Vgl. LAAS, Idealismus und Positivismus Seite 180f; Kants Analogien, Seite 234f
    9) Vgl. Idealismus und Positivismus, Seite 94 und 186, Anmerkung 2
    10) Vgl. LAAS, Kants Analogien, Seite 253
    11) Vgl. LAAS, Kants Analogien, Seite 227f
    12) Vgl. LAAS, Kants Analogien, Seite 252 und 264
    13) Vgl. HELMHOLTZ, Populärwissenschaftliche Vorträge II, Seite 193
    14) Vgl. PLATON, Phaedon 99 B; Simplicius in Phys. Arist. Fol. 96; LANGE, Geschichte des Materialismus, 2. Auflage I, Seite 20, 313f und öfter.
    15) Es darf vielleicht daran erinnert werden, daß EPIKUR und LUKREZ in der "Schwere" einen ersten Anfang der Befreiung von der schlimmsten Form mechanischer Notwendigkeit sahen: Pondus enim prohibet, ne plagis omnia fiant,  externa quasi ui  [Eigene Schwere verhindert, daß äußere Wirkung des Stoßes alles allein nicht vermag. - wp] LUKREZ II, Zeile 288f
    16) Vgl. LANGE, Geschichte des Materialismus I, Seite 275, 370f, 440f, 518; und was CICERO von EPIKUR sagt: veritus est, ne si semper atomus  gravitate  ferretur  naturali ac necessaria,  nihil liberum nobis esset. [Wenn ein Atom immer durch die natürliche und notwendige Schwerkraft nach unten fällt, uns nichts freies sei - wp] de fato, 10, 23
    17) Vgl. GUSTAV THEODOR FECHNER, Die Tagesansicht gegenüber der Nachtansicht, Leipzig 1879
    18) Vgl. LAAS, Kants Analogien, Seite 230f
    19) Vgl. JOHN TYNDALL, Die Wärme betrachtet als eine Art der Bewegung, deutsche Ausgabe, 2. Auflage 1871, Seite 59, 104f, 170f, 186f
    20) Vgl. TYNDALL, a. a. O., Seite 186f und ROBERT MAYER, Die Mechanik der Wärme, 1874, Seite 44f