p-4L. PongratzR. WillyE. LaasA. RugeA. Trendelenburg    
 
MAX WALLESER
Das Problem des Ich
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"Nur die augenblickliche Gegenwart  ist,  und deshalb ist auch die Aktualität des Bewußtseins stets auf diese beschränkt. Realität kommt nur dem unteilbaren Zeitpunkt zu, der zwischen Vergangenheit und Zukunft liegt. Daher kann auch das Bewußtsein nur in dem punktuellen Moment der Gegenwart wirklich  sein,  und dasselbe gilt auch vom Inhalt des Bewußtseins, gleichgültig, welcher Art dieser Inhalt ist. Hieraus folgt - und dies festzustellen erscheint von Wichtigkeit -, daß auch  nur  der gegenwärtige Bewußtseinsinhalt unmittelbar gegeben ist, nicht aber eine Mehrheit von solchen, wie sie sich etwa im Bewußtseinsablauf darstellt. Der Bewußtseinsablauf  ist  nämlich nicht in der eigentlichen realistischen Bedeutung des Wortes, vielmehr wird die Anschauung desselben durch die apriorische Kategorialfunktion der Zeit als ideelles Gebilde innerhalb eines momentanen und in sich zeitlosen Bewußtseinszustandes erzeugt."

"Die Vorstellung der Zeitlichkeit wird ohne besondere Reflexion auf dieselbe in der Weise erzeugt, daß die lineare eindimensionale Ausdehnung des Bewußtwerdens und des Vorstellens eine durch äußere und innere Bedingungen geregelte Ordnund und Folge der einzelnen bewußten Momente mit sich bringt und daß zu dieser Kategorialfunktion der Kategorialbegriff der Zeit dadurch hinzukommt, daß jene Ordnung und das noch nicht an und für sich bewußte quantitative Verhältnis der zwischen einzelnen Bewußtseinsmomenten verstrichenen Zeitintervalle im Bewußtsein objektiviert wird."

"Der Bewußtseinsablauf ist gar nicht  unmittelbar gegeben,  wenn es mit der genauen Entsprechung des Ausdrucks ernst nimmt, sondern höchstens mittelbar, nämlich vermittelt durch eine Vorstellung, die sich in einem gewissen Zeitpunkt innerhalb der Vorstellungskette bildet. Diese einzelne Vorstellung ist dann auch, wenn wir davon absehen, was der jeweilige Inhalt der Vorstellung ist, das letzte, einfachste und nicht weiter zerlegbare, das einzige, was jeweils dem Bewußtsein  un mittelbar gegeben ist."

Nicht viel anders verhält es sich auch mit der sinnlichen Empfindung, sofern sie auf das Bewußtsein bezogen wird. Stellen wir uns, wie es ja natürlich und uns gemäß ist, auf den Standpunkt unseres Bewußtseins, so bemerken wir, daß eine isolierte sinnliche Empfindung gar nicht existiert, daß wir es nicht nur immer mit einer gleichzeitigen Mehrheit von solchen zu tun haben, sondern daß auch durch die Verstandestätigkeit das Anschauliche hinter das Denkmäßig-Kategoriale zurückgedrängt und selbst inhaltlich modifiziert wird - man denke an die Korrekturen z. B. bei der optischen Wahrnehmung, durch welche sich der Verstand den sinnlichen Stoff assimiliert, um ihn alsdann in die Erfahrung einzuordnen. Auch muß besonders mit Hinsicht auf die sinnliche Empfindung darauf hingewiesen werden, daß das Bewußtsein eine in sich geschlossene, einheitliche und einfache Form ist, daß also eine Mehrheit von nervösen Bewußtseinszentren innerhalb des animalischen Organismus, so wahrscheinlich sie auch ist für unsere Auffassung des Bewußtseins belanglos sein muß. Es kann irgendetwas überhaupt nur dann mit dem Ich in Beziehung gebracht werden, wenn es bewußt geworden ist und zwar nicht in einem der problematischen untergeordneten Zentren des Nervensystems, sondern im höchsten Bewußtsein, welches, nur durch abnorme Geisteszustände unterbrochen, von mir als "mein" Bewußtsein empfunden wird, in dem nur wenige daran denken, daß in einem einheitlichen Organismus verschiedene Nervenzentren mit besonderem Bewußtsein überhaupt vorhanden sein können.

Wenn wir die psychologische Methode in der angegebenen Weise nicht geradezu ablehnen, auch im späteren Verlauf der Untersuchung die Aufgaben der Psychologie gelegentlich streifen werden, so müssen wir umso entschiedener eine andere als für die vorliegenden Zweck unangebracht und sogar ungeeignet verwerfen, nämlich diejenige, welche man als die ontologische bezeichnen könnte. Diese besteht darin, daß sie auf die Abhängigkeit der Erfahrung von subjektiven und transsubjektiven Bedingungen nicht weiter reflektiert, sondern die Erfahrung als erlebte Wirklichkeit objektiviert, die Prinzipien dieser unbesehens und auf guten Glauben hingenommenen Realität als ontologische an die Spitze des Systems stellt, ohne sich durch einen induktiven Nachweis ihrer Richtigkeit und Vollzähligkeit vergewissert zu haben und schließlich nach diesen vermeintlichen Seinsprinzipien die einzelnen Tatsachen und Erscheinungen beurteilt, auch hier wieder, ohne zu bedenken, daß doch erst alles Einzelne genau erkannt sein muß, ehe man zu einer Feststellung von ontologischen Grundsätzen über dasselbe schreiten kann und daß alle Deduktion auf einem mangelhaften Fundament beruth, wenn nicht dieses durch eine sich über alle Einzelfälle erstreckende Induktion zustande gekommen ist. Diese Art des Philosophierens ist es, gegen welche KANT in seinen kritischen Arbeiten sich vornehmlich wendete. Seinem Einfluß ist es auch großenteils zu verdanken, daß die mit dem Anspruch auf apodiktische [unumstößlich gültige - wp] Gewißheit auftretende Ontologie die hervorragende Stellung, die sie noch zu Zeiten KANTs einnahm und der ihr namentlich WOLFF, dieser letzte Ausläufer der Scholastik, verholfen hatte, hat aufgeben müssen und der nüchternen erkenntnistheoretischen Betrachtung gewichen ist. Der Charakter der modernen Philosophie ist im allgemeinen geradezu das Gegenteil von deduktiver Ontologie, nämlich induktiver Empirismus geworden und es wäre wohl überhaupt kein Anlaß für uns vorhanden, zu dieser methodologischen Frage Stellung zu nehmen, wenn nicht neuerdings gerade aus idealistischen Kreisen heraus die alte ontologische Methode wieder in der Behandlung transzendentaler Probleme zur Anwendung gelangte.

Allerdings besteht ein gewichtiger Unterschied zwischen, wenn man so sagen darf, der alten und der neuen Ontologie. Während jene auf die Abhängigkeit der Spekulation vom Denken oder dem Bewußtsein überhaupt nicht oder nur nebenher Rücksicht nahm, kann man sich heute weniger denn je der maßgebenden Bedeutung der subjektiven Faktoren verschließen und bringt dies dadurch zum Ausdruck, daß man die ganze Erfahrung einschließlich der Ontologie subjektiv auffaßt, und zwar in dem Sinne, daß alles Sein überhaupt nichts weiter ist, als Inhalt und Gegenstand des Bewußtseins, genauer noch eines allgemeinen Bewußtseins, nicht etwa eines individuellen, welch letztere Ansicht auf den mit Recht perhorreszierten [abgelehnten - wp] Solipsismus hinausliefe. Wir wollen an dieser Stelle nicht diesem Begriff eines "Bewußtseins überhaupt" kritisch nähertreten. Nur darauf möge hier aufmerksam gemacht werden, daß er nicht etwa induktiv aus einer genauen Prüfung der Erfahrung, aus welcher sich nur ein erkenntnistheoretischer Dualismus von unbewußt-psychischen Funktionen und bewußt-psychischen Zuständen konstruieren läßt, gewonnen wird, sondern entweder als Axiom schlankweg an die Spitze des Systems gestellt wird oder nach der soeben charakterisierten ontologischen Methode von anderen Prinzipien (d. h. Axiomen) abgeleitet wird. In diesem Sinne ist das Ichproblem von REHMKE ("Die Seele des Menschen", 1902) behandelt worden. (1)

Das Eigentümliche der erkenntnistheoretischen Methode nun im Unterschied von der psychologischen und ontologischen ergibt sich in der Hauptsache aus dem, was über diese gesagt wurde. Im Gegensatz zu der ersteren ist sie nicht deskriptiv, sondern analytisch, im Gegensatz zur anderen ist sie nicht deduktiv, sondern induktiv. Als weitere Kennzeichen derselben sind anzusehen die durchgängige Berücksichtigung des subjektiven Elementes der Erfahrung und ferner der spezifisch erkenntnistheoretischen Beziehung zwischen Bewußtseins-Immanentem und -Transzendentem. Es kommt vor allem auch die, wenigstens provisorische, Anerkennung des idealistischen Prinzips, welches mit dem empiristischen nicht gleichbedeutend ist, in Betracht.

Eine Verdeutlichung des Unterschiedes dieser zwei wichtigen Prinzipien dürfte in diesem Zusammenhang umso angebrachter sein, als infolge der Beschränktheit der erkenntnistheoretischen wie überhaupt philosophischen Terminologie die Ausdrücke "ideal" und "empirisch" in außerordentlich zahlreichen und kaum übersehbaren Begriffsnuancen verwendet worden sind, sodaß eigentlich jedem, der sich auf das schlüpfrige Gebiet erkenntnistheoretischer Forschung begibt, die Aufgabe erwächst, sich über den Begriff, genauer über seinen Begriff der Erfahrung und des Idealismus zu äußern. (2)

Zunächst möchte ich den Ausdruck "Prinzip" im obigen Zusammenhang nicht anders aufgefaßt wissen, als im Sinne eines methodologischen Prinzips, d. h. als eine Art von Richtschnur und Leitfaden für die erkenntnistheoretische Untersuchung selber. Daraus ergibt sich, daß, insofern die definitive Grundlage der Untersuchung erst etwas im Laufe oder gar am Ende derselben sich herausstellendes Resultat sein kann, auch die methodologischen Prinzipien, sei es nun das empiristische oder sonst eines, gewissermaßen nur provisorisch und unter Vorbehalt der nachträglichen Widerrufung verwendet werden. Bei der Erkenntnistheorie schwebt zunächst alles in der Luft; man kann anfangen, an welchem Punkt man will, um eine mehr oder minder willkürliche Voraussetzung wird man nicht herumkommen, also dasjenige wird sich schwerlich vermeiden lassen, was in der theoretischen Logik als petitio principii [es wird vorausgesetzt, was erst zu beweisen ist - wp] bezeichnet wird. Betrachten wir von diesem Gesichtspunkt aus die zwei obenbezeichneten Prinzipien, so dürfte es vor allem angebracht erscheinen, eine Definition derselben zu geben, welche die Eigenschaften der genügenden Genauigkeit und der möglichst erreichbaren Kürze verbindet, letzteres deshalb, weil eine erschöpfende Begriffsformulierung so ganz am Anfang überhaupt nicht angängig wäre, aber auch deswegen, weil es bei einer Abgrenzung zweier Begriffe doch wesentlich darauf ankommt, das beiden Gemeinsame und das sie Unterscheidende hervorzuheben und deutlich zu machen.

Was nun das dem empiristischen und idealistischen Prinzip Gemeinsame anbelangt, so können wir, ohne uns auf eine nähere Erklärung derselben einzulassen, von vornherein soviel als von selbst einleuchtend bezeichnen, daß beide von der Realität der Außenwelt abstrahieren. Sie befinden sich daher als subjektive Prinzipien im Gegensatz zum realistischen, welches die Grundlage aller anderen Wissenschaften, in einigem Umfang auch der Psychologie, abgibt. Das Bewußtsein dieses der Erkenntnistheorie natürlichen Verhältnisses ist durch die kritische Richtung der nachkantischen Philosophie einem jeden, der sich ernster mit den einschlägigen Fragen beschäftigt, so vertraut geworden, daß man es als Tatsache konstatieren darf, ohne sich des näheren darüber auszulassen, warum denn gerade die Erkenntnistheorie auf subjektiver Grundlage beruhen müsse. Es genügt, KANT zu nennen, der die Notwendigkeit des Ausgehens vom Bewußtsein nicht gerade als der erste, aber doch am gründlichsten gezeigt hat. Daß dieser Notwendigkeit sich niemand entziehen kann, geht daraus hervor, daß die neuere Erkenntnistheorie ein durchaus subjektivistisches Gepräge hat, zumindest hinsichtlich des Ausgangspunktes, womit allerdings nicht gesagt sein soll, daß der subjektivistische Standpunkt gewahrt bleiben muß. Im Gegenteil: schon der im Subjektiven haftende Anfang der Untersuchung enthält unvermeidlich transzendentale Elemente und weißt auf ein Bewußtseinstranszendentes hinaus, sodaß es überhaupt unmöglich erscheint, das Transsubjektive auch nur zu Beginn zu ignorieren oder zu eliminieren. Das Beunruhigende erkenntnistheoretischen Denkens ist wohl zum großen Teil darauf zurückzuführen, daß trotz aller Bemühungen, fein säuberlich im Subjektiven zu bleiben und von Anfang an allem aus dem Weg zu gehen, was mit der derben Wirklichkeit zusammenhängt, diese immer wieder in den Gang der Gedanken hereintappt und tatsächlich gar nicht ausgeschlossen werden kann, sobald der Begriff des bewußten Seins klar und deutlich gefaßt ist.

Welches ist nun die definitio specifica des empiristischen Prinzips im Gegensatz zum idealistischen? Das erstere besagt an und für sich nichts anderes und nicht mehr, als daß die Grundlage der erkenntnistheoretischen Untersuchung die Erfahrung ist. Das ist ja allerdings etwas ganz Selbstverständliches, insofern alles menschliche Denken auf der individuellen Erfahrung des gerade Denkenden beruth, und daß diese sowohl Materie, Inhalt und Gegenstand des Denkens ist, als schließliches Ergebnis des Denkens, indem die Erfahrung nur die ideelle Summe des Denkens, d. h. der logischen Verarbeitung der sinnlichen und kategorialen Wahrnehmungen darstellt, soweit diese anschaulich und nicht durch besondere Denkakte vermittelt ohne weiteres "gegeben" sind. Erfahrung ist stets mit der Tätigkeit des Denkens verknüpft, und das läßt sich auch recht wohl verstehen, wenn man sich erinnert, daß wir unter einem Gegenstand unserer Erfahrung immer nur derartiges meinen können, was in logische Beziehung, sei es nun die von Ursache und Folge, von Möglichkeit, Notwendigkeit, räumlicher Bestimmtheit oder auch nur zeitlicher Einordnung in den Fluß des Geschehens, mit anderen Erfahrungsinhalten gebracht ist und so seine organische Gliedlichkeit innerhalb des Gesamtorganismus einer individuellen Erfahrung erhalten hat. Auf dieses für den Begriff der Erfahrung äußerst wichtige Verhältnis des Denkens, d. h. der bewußten logischen Geistestätigkeit, als einer conditio sine qua non [Grundvoraussetzung - wp] der Erfahrung überhaupt wird meines Erachtens im allgemeinen nicht genügend Nachdruck gelegt. Man hat im Gegenteil vielfach gerade vom Denken als einem der Erfahrung nicht wesentlichen Element abstrahieren zu können geglaubt, ich erinnere nur an die positivistischen Bestrebungen, eine "reine" Erfahrung mit Ausschluß aller kategorialen Denktätigkeit zu konstruieren; umso mehr muß es daher betont werden, daß die Erfahrung mit der Tätigkeit des Denkens anfängt und endet.

Immerhin bleibt bei der soeben skiziierten Auffassung von der "Erfahrung" noch eine Schwierigkeit, die sich überhaupt als eine crux bei erkenntnistheoretischen Erörterungen, möge nun ihr besonderer Gegenstand sein, welcher er wolle, herauszustellen pflegt, nämlich die Frage, wie man sich das Verhältnis der Zeit zur Erfahrung vorzustellen habe. Gewöhnlich nimmt man sie von vornherein als in dem Sinne gelöst an - ohne sich allerdings dessen immer bewußt zu sein -, daß man die Zeit als etwas tatsächlich Vorhandenes betrachtet, innerhalb dessen die Erfahrung, einen bestimmten Zeitraum umfassend, sich abspielt. Auch subtilere erkenntnistheoretische Untersuchungen stellen sich vielfach ohne weitere Diskussion auf diesen Standpunkt und nur wenige wenden den empiristischen Grundsatz auch auf die Erfahrung selbst an, insofern diese etwas Zeitliches bedeutet und als ein aus der Erfahrung abstrahierter Begriff in unserer Reflexion sich selbst nur als Inhalt und Gegenstand der Erfahrung darstellt. Hier verdient KANT wieder an erster Stelle genannt zu werden, der über das Verhältnis von Bewußtsein und Zeit, wie über so vieles andere, wohl das Tiefste und Richtigste gesagt hat, und der hier bei allen seinen Inkonsequenzen schärfer sah, als viele seiner Nachfolger, die gerade an der Zeitlichkeit der Erfahrung achtlos vorübergegangen sind. Es möge genügen, diese eine Schwierigkeit, welche für die begriffliche Bestimmung und Umgrenzung der Erfahrung besteht, angedeutet zu haben; auf die Frage nach der erkenntnistheoretischen Bedeutung der Zeit werden wir an anderer Stelle zu sprechen kommen, und aus jenen noch folgenden Erwägungen ergibt sich das Fazit in Bezug auf den Erfahrungsbegriff ohne weiteres, sodaß wir diesen Punkt vorläufig wenigstens beiseite lassen können.

Aber noch etwas anderes, was für die Auffassung der Erfahrung von Wichtigkeit ist, muß in Betracht gezogen werden, nämlich der Umstand, daß auch unter Voraussetzung der Realität der zeitlichen Folge der Erfahrungsmomente in einem gegebenen Augenblick nur ein sehr beschränkter Ausschnitt aus dem Feld der Erfahrung dem Bewußtsein dargeboten ist, und daß auch die Gesamtheit aller derjenigen Vorstellungen, die in einem bestimmten Augenblick dem Bewußtsein zugänglich sein könnten, eine im Verhältnis zu der ungeheuren Masse von früheren Wahrnehmungen und Urteilen eine nur sehr bescheidene, quantitativ und qualitativ beschränkte Zahl ausmacht. Es kommt hier nicht auf eine Erklärung dieses Sachverhaltes an, die z. B. AVENARIUS in seiner Theorie der Vitalreihen, HARTMANN in der Teleologie des Unbewußten zu finden glaubte, sondern nur auf die Feststellung dessen, daß die Erfahrung überhaupt nicht etwas Wirkliches oder Aktuelles, sondern etwas Mögliches oder Potentielles ist, da bei der Eindimensionalität und Linienartigkeit des Bewußtseins von einer aktuellen Vielheit nebeneinanderliegenden Vorstellungen überhaupt keine Rede sein kann.

Nach diesen allgemeinen Erörterungen werden wir in der Abgrenzung des empiristischen Prinzips vom idealistischen in anbetracht der mannigfachen Komplikationen des Erfahrungsbegriffs behutsam sein und uns namentlich nicht auf eine erschöpfende Definition dieses letzteren einzulassen gewillt sein, die nur in einer ausführlicheren Darlegung gegeben werden könnte. Soviel indessen dürfte feststehen, daß das empiristische ein echtes Prinzip ist; denn ein Prinzip ist als solches etwas Ursprüngliches, nicht weiter Zurückführbares oder Ableitbares. Daß die Erfahrung diesen Ansprüchen genügt, wurde gezeigt, und ist überhaupt so einleuchtend, daß ein weiterer Nachweis darüber kaum erforderlich sein dürfte. Anders verhält es sich mit dem idealistischen. Allerdings ist auch dieses nach der Ansicht vieler ein echtes, d. h. ein solches, das wirklich diesen Namen verdient; aber die Vertreter dieser Anschauung bedenken nicht, daß es nicht aus sich selber feststeht, sondern daß es erst aufgrund einer induktiven Bearbeitung der Erfahrung gewonnen sein kann. Es kommt nun wesentlich darauf an, wie der Grundsatz des Idealismus formuliert wird. Spricht man ihn etwa mit DILTHEY (3), der ihn als "Satz der Phänomenalität" bezeichnet wissen möchte, in der Weise aus, daß alles, was für mich da ist, unter der allgemeinsten Bedingung steht, Tatsache meines Bewußtseins zu sein, so ist hiergegen nichts einzuwenden, aber es ist zu bedenken, daß durch die Ausschließung alles dessen, was nicht für mich vorhanden ist, vielleicht durch einen Zufall augenblicklich nicht für mich existiert, und dessen Existenz doch gerade problematisch ist, der Satz in dieser Formulierung eigentlich allen Wert verliert. Es ist nur eine leere Tautologie, wenn ich sage, "was für mich das ist, kann nur als Inhalt meines Bewußtseins existieren; ich verstehe eben unter dem "ich" bzw. "mich" nichts anderes, als mein Bewußtsein." Das pronomen personale ist in diesem Zusammenhang nichts weiter als eine Denk- und Sprechabbreviatur, die als solche von großem, man kann sagen, unschätzbarem Wert ist, aber einmal keineswegs eindeutig, wie wir später gelegentlich sehen werden, und dann eine solche von mehr ideeller Bedeutung, wie etwa das  X  einer Gleichung, das an und für sich zwar nicht bekannt ist, mit welchem aber operiert werden kann, ohne daß die mathematische Genauigkeit der Rechnung auch nur im geringsten leidet.

Nicht viel anders als mit der von DILTHEY aufgestellten Formulierung, die als typisch für den neueren Idealismus gelten kann, verhält es sich mit derjenigen SCHOPENHAUERs (4): "Die Welt ist meine Vorstellung." Ich will nicht weiter davon reden, daß der Ausdruck "die Welt" nur eine sehr ungefähre Umschreibung für die Summe von Erfahrungstatsachen ist, die der einzelne Mensch zu seinem Weltbild zusammenfaßt. Aber auch abgesehen von dieser Lizenz des Ausdrucks kann es doch gar keine Frage sein, daß auch hier wieder, insofern der jenen Satz Aussprechende gerade die von ihm vorgestellte Welt, und zwar als vorgestellte, im Auge hat, nichts gesagt wird, als eine triviale Tautologie. Und so ließen sich noch viele Varianten, in denen die idealistische Grundanschauung Ausdruck gefunden hat, anführen, aber kaum eine, für die sich nicht nachweisen ließe, daß die Frage, ob denn wirklich alles Seinende nichts weiter als Bewußtseinsinhalt sei, gar nicht ins Auge gefaßt wird. Namentlich übersehen die Idealisten fast durchgehends, daß dem Vorstellungssein möglicherweise nur ein repräsentatives oder widergespiegeltes Sein innewohnt, während das Reale überhaupt nicht in das Bewußtsein eintreten könnte, - ein Mangel in der erkenntnistheoretischen Anschauungsweise auch heute noch, den besonders VOLKELT und EDUARD von HARTMANN in seiner ganzen Unhaltbarkeit aufgedeckt haben. (5)

Wir wollen indessen die wichtige Streitfrage über die Berechtigung des erkenntnistheoretischen Idealismus auf sich beruhen lassen und nur das eine feststellen, daß die ihm zugrunde liegende Anschauungsweise überhaupt nicht im strengen Sinne als methodologisches Prinzip betrachtet werden kann, als welches wir nur die Erfahrung gelten lassen können, und daß ihm keine höhere Bedeutung als die eines Postulats beizulegen ist. Unter einem Postulat aber versteht man einen Satz, der nicht weiter bewiesen ist, der aber auch ohne besonderen Beweis plausibel genug erscheint, um als gegebene Größe in Rechnung gestellt zu werden. Tatsächlich sind bis jetzt alle Versuche, einschließlich der KANTschen, die Richtigkeit des Idealismus zu beweisen, gescheitert, und wenn trotzdem vielfach mi der größten Zähigkeit an jenen Anschauungen festgehalten wird, so ist der Grund hierfür nicht zum geringsten Teil darin zu suchen, daß derjenige, welcher sich erst einmal von der Richtigkeit des, wie wir gesehen haben, im Grunde tautologischen Satzes der Phänomenalität überzeugt hat, sich in der Regel hartnäckig dagegen sträubt, die Möglichkeit des Realismus zuzugeben und an eine Erweiterung seines einseitigen idealistischen Standpunktes zu einem erkenntnistheoretischen Dualismus zu denken.

Zusammenfassend können wir also sagen: Das empiristische Prinzip ist an und für sich gegen eine erkenntnistheoretische, sei es idealistische, sei es realistische, Ausdeutung indifferent; denn es schließt nicht die Möglichkeit aus, daß manches nicht Gegenstand meiner Erfahrung ist oder werden könne, was aber trotzdem unabhängig von meiner Erfahrung existieren könnte. Erst wenn der tautologische Satz "Alles was für mich da ist, ist Inhalt meiner Erfahrung" durch den Zusatz erweitert wird: "außerhalb der Erfahrung existiert nichts", hat er die für die idealistische Anschauung charakteristische Gestalt des "Satzes der Idealität" angenommen. Nach diesem ist die Welt meine Vorstellung und sonst nichts; dagegen besagt das empiristische Prinzip nur, daß ich der Welt nur in der Erfahrung bewußt und habhaft werde.

Diese Unterscheidung zwischen empiristischen und idealistischen Voraussetzungen erschien notwendig, um dem Ichproblem, welches uns in der vorliegenden Arbeit beschäftigt, von vornherein diejenige genauere Formulierung zu geben, die es vor mißverständlicher Auffassung zu schützen imstande ist. Das Problem kann nämlich sowohl auf empiristischen als auf idealistischen Boden gestellt werden. Im ersteren Fall wird es sich darum handeln, ob und in welchem Umfang das Ich unter den allgemeinen Begriff der Erfahrung überhaupt fällt; im andern, ob es durch den Satz der Idealität betroffen wird oder nicht. Daß man gerade hinsichtlich des Ich, das doch dem unbefangenen Menschen unmittelbar zugänglich, offenbar und von einer exzeptionellen Realität zu sein scheint, diese Zweifel erheben kann, hängt mit der soeben zum Ausdruck gebrachten Ausnahmestellung des Ich zusammen. Auch dürfte kein philosophischen Begriff in widerspruchsvoller Weise ausgedeutet und daher verworrener sein, als der des Ich. Die Untersuchung wird daher die empiristische und phänomenalistische Erörterung des Ich prinzipiell trennen müssen; diese Scheidung wird auch in der Folge beobachtet werden, wenn sie auch nicht gerade immer im äußeren Gang derselben, d. h. methodisch, zum Ausdruck kommt.

Das Ichproblem beruth also nach dem Gesagten in der Schwierigkeit, den Widerspruch einer unmittelbar wahrgenommenen Realität des Ich als eines Dings ansich mit dem empiristischen Prinzip, daß kein Ding ansich Gegenstand der Erfahrung werden kann, und mit dem Satz der Idealität, nach welchem ein Ding ansich überhaupt nicht existiert, aufzulösen. Der zweifellos vorhandene Widerspruch spitzt sich dahin zu, daß Ideales und Reales in der Identität der Ichvorstellung untrennbar vereint erscheinen, - ein Dilemma, welches SCHOPENHAUER gut zum Ausdruck brachte, wenn er es als den "unerklärlichen Weltknoten" bezeichnete. (6) Jedenfalls ist von vornherein so viel ersichtlich, daß die Schwierigkeit nur dann gehoben werden kann, wenn mindestens eine der Voraussetzungen: entweder die Annahme einer Realität des Ich oder die Unmittelbarekeit der Ichwahrnehmung oder das idealistische Prinzip unrichtig ist. Es wird demnach darauf ankommen, diese drei Positionen auf ihre Haltbarkeit zu prüfen. Zunächst möge aber diejenige Auffassung des Ich auf ihre Stichhaltigkeit untersucht werden, nach welcher dieses tatsächlich nichts wäre, als Bewußtseinsinhalt, und in einer subjektiven Vorstellung aufginge.

Ich glaube nicht, daß in der okzidentalischen Philosohie, abgesehen vielleicht von der streng positivistischen Schule HUMEs und MILLs (vgl. VOLKELT, Erfahrung und Denken, Seite 107), der Satz der Phänomenalität, insofern er zugleich eine transphänomenale Wirklicheit leugnet, mit voller Entschiedenheit auf das Ich angewendet worden ist. KANT hat zwar entsprechend seinem Grundsatz, nach welchem die Existenz der Dinge in der Zeit eine bloße Erscheinung ist, geschlossen, daß auch das Ich nichts ins Bewußtsein treten könne. Aber er ging nicht so weit, das Ich schlankweg zu leugnen; vielmehr hat er in transzendental-realistischer Absicht dem Ichbewußtsein die "transzendentale Synthesis der Apperzeption", oder, wie er es auch nannte, das "transzendentale Ich" oder "transzendentale Subjekt" zugrunde gelegt. durch diese Annahme entging er der absurden Konsequenz des Idealismus, welche die späteren "konsequenten" Vertreter dieses Standpuntes hätten ziehen müssen: ein Substrat des Bewußtseinsprozesses zu leugnen. Auch dieses ist, idealistisch betrachtet, nichts als Vorstellung und unterscheidet sich hierin nicht von den äußeren Gegenständen der Sinne. Das einzige, was man zugunsten einer unvermittelteren Realität des Ich geltend machen könnte, und womit z. B. auch ERHARDT (Metaphysik I, Seite 425) argumentiert, ist der Umstand, daß die Ichvorstellung den Vorzug der Unräumlichkeit vor den Objekten der sinnlichen Anschauung voraushabe. Aber wie könnte das gegen die unbedingte Gültigkeit des idealistischen Grundprinzips ins Gewicht fallen? Ich kann in allen diesen Versuchen, die Realität des Ich auf idealistischer Grundlage zu retten, nur eine verzweifelte und aussichtslose Bemühung sehen, der Absurdität des erkenntnistheoretischen Nihilismus zu entgehen. Wenn der Idealist folgerichtig seine Prinzipien zu Ende denkt, darf er beim Ich so wenig stehen bleiben, wie bei Kausalität, Raum und Zeit. Es bleibt auf diesem Wege nichts Reales mehr übrig, nicht einmal die momentane Vorstellung, sei es als Bewußtseinsinhalt oder als Funktion. Denn der erstere ist an und für sich ideal und aus diesem Greund das konträre und kontradiktorische Gegenteil von "real", die letztere ist ihrem Begriff nach bewußtseinstranszendent und für die bewußte Vorstellung selbst unerreichbar, ist aber für den erkenntnistheoretischen Idealisten immanent, da er sich, wenn sie nicht bewußtseinsimmanent wäre, derselben auch nicht bewußt werden könnte, oder, mit anderen Worten, da sie nur als bewußtseinsimmanente für ihn existiert.

Der Widerspruch der unmittelbaren Ichwahrnehmung mit dem Satz der Phänomenalität ist also nicht dadurch zu überwinden, daß man letzteren in konsequent idealistischem Sinn, welcher eine transzendentale Korrelation ausschließt, festhält. Es ist eben nicht an der logischen Notwendigkeit vorbeizukommen, für eine Vorstellung, insofern sie eine passive Bewußtseinserscheinung ist, einen Träger, ein Subjekt zu hypostasieren [einem Gedanken gegenständliche Realität unterschieben - wp]. Dieser Zwang ist so stark, daß auch die modernen Vertreter der idealistischen Konsequenzen KANTs vor einer Inkonsequenz nicht zurückschrecken, indem sie, wie oben erwähnt, das Ich, das sie mit der "Seele" identifizieren (vgl. z. B. ERHARDT, a. a. O. Seite 425f), ohne weiteres als real hinnehmen. Sie sind zu dieser naivrealistischen Annahme genötigt, da die in ihr enthaltene Lösung des Ichproblems ihnen die einzige Möglichkeit bietet, sich vor dem absoluten Jllusionismus zu retten. Es zeigt sich eben auch hier die Machtlosigkeit, mit ungenügend induzierten Prinzipien (und ein solches ist das idealistische Grundprinzip, daß alles nur im Bewußtsein existiere) gegen die Logik der Tatsachen anzukämpfen. Jede Überlegung über das erkenntnistheoretische Verhältnis führt zu dem unabweisbaren Postulat einer ihr zugrunde liegenden Funktion. Auch wenn diese in den Blickpunkt des Bewußtseins gerückt wird, so hört sie damit, daß sie sich im ideellen Sein spiegelt, nicht auf, ein für eben dieses Sein Transzendentes zu bleiben. Sie wird davon gar nicht berührt, ob sie vorgestellt wird oder nicht.

Das Nebeneinanderbestehen des idealistischen Grundprinzips und des unmittelbaren Ichbewußtseins ist also in keiner Weise aufrecht zu halten, und es ist auch in der Tat weder von KANT, der das Ich transzendental-realistisch ausdeutet, noch von den modernen Vertretern des Idealismus, die das Ich als selbstverständliche Realität auffassen, der Versuch gemacht worden, die Möglichkeit davon nachzuweisen. Wohl aber können wir die Perspektive andeuten, zu welcher der Versuch einer Überbrückung des in jenen zwei Sätzen liegenden Widerspruchs unter Festhaltung beiden Seiten führen müßte: es bliebe nichts übrig, als das transzendentale Korrelat der Ich-Vorstellung, dasjenige, was KANT "transzendentales Ich" nennt, mit der Ich-Vorstellung selbst, oder gar mit dem jeweiligen Bewußtseinsinhalt, ohne Rücksicht darauf, was gerade Bewußtseinsinhalt ist, zu identifizieren. Die Argumenation wäre etwa folgende: Der wechselnde Bewußtseinsinhalt wird als idealer unmittelbar wahrgenommen, real ist nur die Tatsächlichkeit des Bewußtseins: aber auch das Ich ist eine unmittelbar wahrgenommene Realität; eine Vereinigung dieses letzteren Satzes mit demjenigen von der alleinigen Realität des Bewußtseins ist aber nur angängig unter der Voraussetzung der Identität des Ich mit dem Bewußtsein, bzw. mit dem, was in einem gegebenen Zeitpunkt bewußtes Sein ist, Das ist nun ein so hirnverrücktes Ergebnis, daß seine Bestandteile sich nicht einmal zusammen denken lassen. Eben durch das Unlogische dieser Schlußfolgerung wird aber diejenige Anschauung vom Ich ad absurdum geführt, die für den Idealisten die allein konsequente ist. Wie überall, hebt auch im Hinblick auf das Ich der Idealismus sich selber auf und mündet in einen absoluten Nihilismus, sobald er die letzten Konsequenzen seines einseitigen Standpunktes zieht. Das gibt auch RICKERT zu, wenn er sagt ("Der Gegenstand der Erkenntnis", 1892, Seite 14), "daß der erkenntnistheoretische Idealismus, konsequent entwickelt, zur ausdrücklichen Leugnung des individuellen Subjekts führen muß, da genau betrachtet alles Individuelle im Subjekt immanentes Objekt ist". Nur ist er im Irrtum, wenn er glaubt, über die vorliegende Schwierigkeit durch die Hypothese eines "Bewußtseins überhaupt" (Seite 14) oder wie er sich an anderer Stelle (Seite 79 und 81) ausdrückt "unpersönlichen Bewußtseins" oder (Seite 36 und 78) "erkenntnistheoretischen Subjekts" - man wird hier unwillkürlich an FICHTEs "überindividuelles" Ich erinnert (vgl. WINDELBAND, Geschichte der neueren Philosphie II, Seite 208f). - hinauszukommen. Denn dieses ist letzten Endes ebenso Bewußtseinsinhalt, wie alles übrige, und genau in demselben Sinne dem "Satz der Phänomenalität", wie ihn DILTHEY genannt hat, unterworfen, wonach "Alles, was für mich da ist, unter der allgemeinsten Bedingung steht, Tatsache meines Bewußtseins zu sein". Dieser von RICKERT, SCHUPPE, REHMKE, NATORP u. a. erstrebte Neufichteanismus nimmt in der Gegenwart eine hervorragende Stellung ein und hat namentlich die Logik und Erkenntnistheorie in vieler Hinsicht wertvoll bereichert; da sie indessen die soeben angedeutete Fundamentalschwierigkeit nicht ernstlich ins Auge zu fassen wagt und wohl auch mit dem besten Willen nicht beseitigen könnte, dürfte sie letzten Endes doch nur als Übergangsstadium für die Entwicklung der Philosophie in Betracht kommen.

Die letzten Konsequenzen seines Prinzips hat also, wie gesagt, noch kein Idealist gezogen. Wohl aber finden sich vielfach Theorien, welche als Kompromisse zwischen idealistischer Weltanschauung und Realität des Ich gelten können. Besondere Berücksichtigung scheint mir diejenige ERHARDTs zu verdienen, einmal, weil die im ersten Band seiner "Metaphysik" enthaltene erkenntnistheoretische Grundlegung die meines Wissens ausführlichste und sachlichste Begründung der Idealität der Zeit, dieser für das Ichproblem wichtigsten formalen Kategorie, geliefert hat, und dann auch, weil er dem Verhältnis des Ich zum Bewußtsein selbst eine eingehende Erörterung widmet (Seite 425 - 434). Meine nachfolgenden Bemerkungen schließen sich an diese Stelle an.

Was vor allem an ERHARDTs Darlegungen auffällt, ist die Unbestimmtheit der Ausdrucksweise, soweit das Ich in Frage kommt. Es ist ihm oft gleichbedeutend mit "Seele", an anderen Stellen wieder mit "Bewußtsein", wie überhaupt diese zwei letzteren Ausdrücke ohne Rechtfertigung gelegentlich promiskue [vieldeutig - wp] gebraucht werden, während anderen Orts hinwiederum die Seele der "Träger des Bewußtseins" ist. Nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch ist nur die letzte der angegebenen Bedeutungen angängig; unter "Seele" versteht man im allgemeinen das selber nicht ins Bewußtsein tretende Substrat der psychischen Prozesse eines organischen Wesens. Ob ein solches Substrat überhaupt vorhanden ist, ist eine Frage für sich, die mit der Definition des Seelenbegriffs nichts zu tun hat. Jedenfalls muß sich aebr der Erkenntnistheoretiker dessen bewußt sein, daß er von der Seele nicht unmittelbar weiß.

Indessen ist diese unmittelbare Selbstwahrnehmung gerade dasjenige, was ERHARDT beweisen will und zugleich schon durch seine Identifikation von "Seele" und "Bewußtsein" voraussetzt. Für ERHARDT wäre ein Beweis seiner Behauptung eigentlich überflüssig, da sie ja einen Teil seiner Voraussetzungen bildet. Sein Beweis stützt sich nun im wesentlichen darauf, daß wir "bei der inneren Erfahrung, die wir von unserer eigenen Seele, von den Zuständen unseres eigenen Bewußtseis haben, dem wahren Sein der Dinge um so viel näher stehen, als wir von demselben bei äußeren Wahrnehmungen unter dem Einfluß der Raumvorstellung weiter entfernt sind; denn anstelle der letzteren tritt bei der inneren Wahrnehmung ja nicht etwa eine andere beschränkende Auffassungsform. Wenn also die Seele auch Erscheinung wäre, so würde sie doch hinsichtlich des ihr zukommenden Grades von Realität nicht auf eine Stufe mit der Materie zu stellen sein. Schon hierin liegt ein bedeutsamer, von KANT nicht gewürdigter Unterschied; dieser Unterschied stellt sich aber als noch größer heraus, wenn wir bedenken, daß Materie und Seele nicht etwa in gleicher Weise einem dritten Subjekt, sondern daß die Materie der Seele und diese sich selbst erscheint."

Der Kern dieser Argumentation besteht in der schon eben erwähnten Ansicht, nach welcher unräumliche Bewußtseinsinhalt vor räumlichen den Vorzug größerer Unmittelbarkeit haben sollen. Man mag dies im allgemeinen zugeben, aber gerade für ERHARDT, der vom idealistischen Apriori der Raumanschauung durchdrungen ist, verliert dieser Unterschied der räumlichen und unräumlichen Vorstellung jede Bedeutung. Auch der Raum ist ja nichts als Produkt einer apriorischen Funktion, und wie sollte es auch anders sein, da ja eine transzendente Kausalität, und damit die Möglichkeit, daß irgendetwas Transzendentes - vorausgesetzt, daß es existiert - in das Bewußtsein treten könne, a limine geleugnet wird. Übrigens ist die Räumlichkeit nur eines der vielen kategorialen Verhältnisse, mit denen die äußere Erfahrung behaftet ist; und wenn man auch von der Räumlichkeit abstrahieren wollte, so bliebe noch vielerlei als Objekt des Bewußtseins übrig, und diesem allem, z. B. den modalen, kausalen, substantialen Beziehungen der objektiv-realen Sphäre würde dann wegen ihrer Raumlosigkeit nach ERHARDTs Theorie dieselbe Unmittelbarkeit der Wahrnehmung zukommen müssen, wie der "Seele". Man sieht, es läßt sich vom idealistischen Standpunkt aus überhaupt kein wesentlicher Gegensatz zwischen innerer und äußerer Erfahrung konstruieren.

Aber selbst wenn wir ERHARDT den von ihm behaupteten "bedeutsamen Unterschied" zugestehen, so scheitert doch seine Deduktion an der Unrichtigkeit seiner anderen Annahme, die darin besteht, daß "die Seele sich selbst erscheint". Schon mit Hinsicht auf seine eigenen subtilen Ausführungen über die Nicht-Existentialität der Zeitlichkeit (Seite 376f) hätte er daran Anstoß nehmen müssen, mit einem Begriff zu operieren, der, wie "Seele", eine reale Zeitlichkeit involviert. Denn "Seele" ist eben einmal etwas Zeitliches und das ist ohne Zweifel auf ERHARDTs Meinung. Für das Momentane des subjektiven Geschehens hätten andere Ausdrücke zur Verfügung gestanden, wie "Bewußtseinszustand", "Erscheinung" für die ideal-phänomenale Seite, "Funktion" oder "Prozeß" für die transzendent-reale. Dasjenige nun, was ERHARDT über die Irrealität des Zeitlichen am Bewußtseinsablauf gesagt hat, muß ich für vollkommen zutreffend halten. Ich glaube nicht, daß jemals die Idealität und Apriorität der Zeit, welche vom Bewußtsein als die Form seines eigenen Geschehens vorgefunden wird, eine exaktere und glücklichere Darstellung gefunden hat, als gerade bei ERHARDT. Er hat gezeigt, daß die subjektive Zeit einer ursprünglichen Anlage des Subjekts entspringt, die zu ihrer Entwicklung zwar bestimmter Anregungen bedarf, aber deshalb nicht das Erzeugnis dieser Anregungen ist (Seite 387), und daß der unmittelbare Bewußtseinsinhalt seine Stelle immer in der Gegenwart hat, die ganz gleichgültig alles das umfaßt, was wirklich im Bewußtsein vorhanden ist (Seite 396). Umso befremdender ist die Art und Weise, wie mit dem Seelenbegriff operiert wird. Hätte ERHARDT das im Auge gehabt, was er wenige Seiten zuvor über das Jllusorische einer unmittelbaren Wahrnehmung des Bewußtseinsablaufs gesagt hat, so wäre er jedenfalls gegen den Rückfall in den unkritischen Realismus, den er mit seiner unmittelbaren Ichwahrnehmung begeht, geschützt gewesen. So bleibt aber nichts übrig, als zur Widerlegung ERHARDTs auf dessen eigene Untersuchungen zu verweisen, wenn man nicht selbst diese ausführlich wiederholen will.

Aber noch durch eine andere Ungenauigkeit leidet ERHARDTs Beweisführung zugunsten einer unmittelbaren Anschauung des Ich, nämlich durch seine Nichtunterscheidung von Stoff und Materie. Sie besteht darin, daß er unter "Materie" den mit den sinnlichen Qualitäten behafteten Stoff versteht, und das reale Substrat des Stoffes, also das, was die realistische Philosophie gemeinsam mit der Naturwissenschaft als Materie bezeichnet, als Idealist leugnet oder vielmehr ignoriert, da er sich des erkenntnistheoretischen Unterschiedes des kraftlosen, in Qualitäten aufgelösten, phänomenalen und subjektiv-idealen Stoffes von der transzendent-realen, durch ihre Kraft wirksamen Materie nicht bewußt ist. Nur so ist es zu erklären, wenn ERHARDT sagt (Seite 426): "Die Materie geht darin auf, Erscheinung für ein anderes Subjekt, nämlich die Seele zu sein". Auf diese Weise muß er dazu gelangen, der "Seele" eine überragende Bedeutung beizulegen; sie wird der Träger der Welt, und es ist nur zu verwundern, daß ERHARDT nicht zur Konsequenz des Solipsismus fortschreitet. Daran hindert ihn aber die Vielheit der Seelen, durch die er im Widerspruch mit seiner idealistischen Tendenz zu einer realistischen Deutung des Raums, als des principium individuationis, getrieben wird. Doch würde es an dieser Stelle zu weit führen, den komplizierten Gedankengängen des lehrreichen Philosophen weiter nachzugehen. Nur das eine möchte ich hier noch bemerken, daß, wie mir scheint, dieser Fortschritt zu transzendental-realistischen Theorien eine weit glücklichere Lösung des Ichproblems durch ERHARDT erhofffen läßt, wie wenn er sich dem Allbewußtseinsstandpunkt zugewandt hätte. Eröffnet er doch die Möglichkeit, die erkenntnistheoretische Zweiteilung, die bei der äußeren Erfahrung schon teilweise vollzogen ist, auch auf die innere zu übertragen, sodaß das vorgestellte Ich vom vorstellenden unterschieden wird.

Wir sind mit dieser Kritik des Seelenbegriffs dem Ziel unserer Untersuchung schon wesentlich näher gerückt. Jedenfalls ist das, was sich im Bewußtsein als Seele oder als Substrat des Denkens darbietet, nicht selbst etwas Reales. Denn ein Bewußtseinsinhalt kann unter keinen Umständen real sein. Das vorgestellte Ich ist daher auch nicht etwas Tätiges oder Wirkungsfähiges, denn der Bereich des Wirkens ist die bewußtseinstranszendente Wirklichkeit, und das vorgestellte Wirkens ist keines mehr, da alle Wirklichkeit, und das vorgestellte Wirken ist keines mehr, da alle Wirksamkeit beim Eingehen in die Form des bewußten Seins getötet und nur durch Nachbildungen in Gestalt von Bewgungserscheinungen oder sonstigen Empfindungen für das Subjekt repräntiert wird. Dem vorgestellten Ich mangelt aber schließlich auch die begriffliche Einheitlichkeit, d. h. die Fähigkeit, uno obtutu [mit einem Blick - wp] erfaßt zu werden, was sich zur Genüge erhellt, wenn man versucht, sich klar zu machen, was man eigentlich unter "Ich" versteht.

Wenn sich aber so der Begriff des Ich als im höchsten Grade unanschaulich und daher unrealisierbar herausstellt, liegt es nahe, zwecks Gewinnung eines festen Punktes zu den ihn konstituierenden Elementen weiterzuschreiten bzw. herabzusteigen, und als solche erweisen sich die Bewußtseinsvorgänge. "Der einfachste Blick auf mein eigenes Bewußtsein lehrt mich, daß ich ein Wissen von meinen eigenen Bewußtseinsvorgängen besitze" (VOLKELT, Erfahrung und Denken, Seite 28). Dieser Satz drückt eine unbestreitbare Wahrheit aus, indessen bedarf er für unsere Zwecke noch in einer Beziehung einer genaueren Bestimmung; denn unter "Bewußtseinsvorgängen" kann man ebensowohl die einzelnen Bewußtseinsinhalte und -zustände verstehen, als die dem Bewußtsein zugrunde liegenden und von demselben begleiteten psychischen Vorgänge oder Funktionen, die selbst nicht bewußt werden. Von diesen zwei Bedeutungen ist nun die letztere selbstverständlich ausgeschlossen, da ich von etwas nicht-Bewußtem nur mittelbar etwas wissen kann. Wenn das Wort "Bewußtseinsvorgang" im gegebenen Zusammenhang einen Sinn haben soll, so kann es nur der von "Bewußtseinszustand" sein, was also dafür eingesetzt werden könnte.

Aber auch bei Bewußtseinszuständen, d. h. einem zeitlich geordneten Nebeneinander oder Nacheinander, kann man nicht stehen bleiben, wenn es darauf ankommt, das Elementarste des Bewußtseins festzustellen. Unmittelbar gegeben ist nämlich nicht ein zeitliches Auseinander des Bewußtseins, sondern jeweils nur der momentan gegenwärtige Bewußtseinsinhalt. Nur die augenblickliche Gegenwart  ist,  und deshalb ist auch die Aktualität des Bewußtseins stets auf diese beschränkt. Realität kommt nur dem unteilbaren Zeitpunkt zu, der zwischen Vergangenheit und Zukunft liegt. Daher kann auch das Bewußtsein nur in dem punktuellen Moment der Gegenwart wirklich  sein,  und dasselbe gilt auch vom Inhalt des Bewußtseins, gleichgültig, welcher Art dieser Inhalt ist. Hieraus folgt - und dies festzustellen erscheint von Wichtigkeit -, daß auch  nur  der gegenwärtige Bewußtseinsinhalt unmittelbar gegeben ist, nicht aber eine Mehrheit von solchen, wie sie sich etwa im Bewußtseinsablauf darstellt. Der Bewußtseinsablauf  ist  nämlich nicht in der eigentlichen realistischen Bedeutung des Wortes, vielmehr wird die Anschauung desselben durch die apriorische Kategorialfunktion der Zeit als ideelles Gebilde innerhalb eines momentanen und in sich zeitlosen Bewußtseinszustandes erzeugt. Eine Zeitreihe von passiven Vorstellungen ergibt sich für das Bewußtsein ebensowenig aus einer Summierung aktueller zeitloser Bewußtseinszustände, wie sich die räumliche Anschauung aus einer Summe unräumlicher Empfindungen bildet. Zur Erklärung der Genesis der Raumanschauung hat man seine Zuflucht zu Lokalzeichen genommen, ähnlich wird man - beiläufig gesagt - die Entstehung der Zeitanschauung durch eine Art von Temporalzeichen erklären müssen, wenn auch nicht abzusehen ist, wie man sich diese vorzustellen hat. Denn wie könnte die zeitliche Ordnung des Gewesenen in der Erinnerung möglich sein, wenn nicht durch eine selbst unbewußt bleibende Ordnung, welche irgendwie mit der realen Entstehung der Bewußtseinsvorgänge in Beziehung und stetem Zusammenhang sich befindet? Im einzelnen Bewußtseinsmoment kann der Grund dieser zeitlichen Anordnung jedenfalls nicht gefunden werden, und daher erscheint mir auch die Ablehnung einer derartigen Temporalzeichentheorie durch ERHARDT, dessen sonstigen Ausführungen über die Apriorität der ideellen Zeitlichkeit ich im übrigen durchaus beistimme, nicht genügend begründet.

Die Frage nach dem Wesen und der Entstehung des Zeitbewußtseins ist von zu großer Bedeutung für das uns beschäftigende Problem, als daß ich eine mit den obigen Ausführungen in teilweisem Widerspruch befindliche Hypothese unerwähnt lassen könnte, die von einer Seite aufgestellt worden ist, welcher wir besonders wertvolle Untersuchungen über das Ich verdanken. Ich meine die in HARTMANNs "Kategorienlehre", Seite 83f, entwickelte Lehre von der Entstehung der subjektiven Zeit. Hiernach bilden "die unmittelbar über der Unterschiedsschwelle liegenden Zuwachse" von Zeitempfindungen die letzten unüberwindlichen Einheiten, aus deren Aggregation sich mosaikartig die subjektive Zeitwahrnehmung zusammensetzt. Ob und inwieweit HARTMANNs Theorie mit anderweitigen Ergebnissen der physiologisch-psychologischen Forschung übereinstimmt oder vereinbar ist, kommt hier nicht in Betracht, wohl aber, daß es selbst eine Theorie ist, die mit anderen wissenschaftlichen Hypothesen zur Erklärung des Zeitgefühls die Eigenschaft teilt, daß sie die reale Zeit außerhalb des Bewußtseins schon voraussetzt. Dadurch verliert aber HARTMANNs Annahme ihre Bedeutung für die erkenntnistheoretische Frage, ob die Zeit lediglich eine Form des Bewußtseins oder zugleich eine bewußtseinstranszendente reale Form ist. HARTMANN (7) nimmt an, daß die Zeitlichkeit des Bewußtseinsablaufs unmittelbar wahrgenommen wird, befindet sich aber hiermit im Widerspruch mit seinem im übrigen konsequent durchgeführten erkenntnistheoretischen Dualismus, nach welchem überhaupt nichts in seinem Ansich-sein wahrgenommen werden kann. Ich kann daher auch HARTMANNs gelegentliche Gleichsetzung von konsequentem Idealismus mit "Traumidealismus" (8) nicht für richtig halten, insofern beim Traum die Realität des Bewußtseinsablaufs und hiermit auch der Zeit nicht eliminiert ist. Allerdings gibt HARTMANN streng genommen eine Realität des Bewußtseinsablaufs nicht zu, sondern (laut brieflicher Mitteilung) "nur ein Sein im Sinne der Tatsächlichkeit oder des unmittelbaren Gegebenseins, das nur einen idealen Ablauf hat; die Realität des zeitlichen Ablaufs steckt erst in der realen, unbewußten, bewußtseinerzeugenden Tätigkeit". Nach meiner Ansicht wird indessen durch diese Formulierung, nach welcher "das Sein im Sinne der Tatsächlichkeit" des Bewußtseins einen "idealen Ablauf habe", das Wesentliche des von mir erhobenen Einwandes nicht entkräftet, indem der Bewußtseinsablauf, mag er als "ideal" oder als "real" bezeichnet werden, im obigen Zusammenhang vom unmittelbar gegenwärtigen Bewußtseinszustand, der allein tatsächlich gegeben ist, nicht umspannt gedacht wird, vielmehr im Verhältnis zum momentan gegenwärtigen Bewußtseinszustan das Umspannende und daher Transzendente ist. Tatsächlich gegeben ist eben nur meine momentane Vorstellung; alles was über dieselbe hinausliegt, ist nicht, ist daher nicht-seiend im absoluten Sinne des Wortes, und ich kann daher auch nicht, ohne über das Tatsächliche und unmittelbar Gegebene hinauszugehen, sagen, daß jenes zu diesem irgendeine Beziehung "habe", denn hierin liegt schon eine mit dem streng empiristischen Prinzip unverträgliche Hinausprojizierung eines Bewußtseinsimmanenten in eine supponierte transzendente Sphäre.

Es ist ja in der Tat sehr verführerisch, den Empfindungsablauf als unmittelbar zeitlich gegeben zu betrachten. Dem steht aber entgegen, daß der Satz der Phänomenalität, nach welchem alles Sein mir nur als Inhalt einer Vorstellung gegeben ist, auch auf ihn Anwendung findet, daß er zwar in einem gegebenen Moment als bewußtseinsimmanentes Objekt sich darbietet, in seinem Ansich-sein aber ebenso wenig zugänglich ist, wie sonst irgendein Gegenstand der Erfahrung. Das ist aber auch schon aus dem Grund ausgeschlossen, weil die Vorstellungen des Bewußtseinsablaufs - und nur mit der Vorstellung haben wir überhaupt zu rechnen - das Ergebnis einer Synthese vergangener d. h. irrealer Bewußtseinszustände ist, welche sich nur dadurch realisieren läßt, daß jene Zustände in einer simultanen Anschauung verknüpft werden. Wenn aus einer solchen Anschauung nun irgendetwas herauskommen soll, wie Zeitempfindung, die unzertrennlich ist von der Wahrnehmung extensiver Unterschiede der Dauer, so müssen in den psychischen Elementen, aus welchen das Zeitbewußtsein konstruiert wird, jene Unterschiede repräsentative enthalten sein, aber jedenfalls nicht als zeitliche, da keine unmittelbare Beziehung zwischen einem Gegenwärtigen und Vergangenen, d. h. Seienden und Nichtseienden, denkbar ist. Die ins Bewußtsein fallende Vielheit von Zeitmomenten setzt im Substrat dieser Vorstellung eine Verschiedenheit voraus, die aber selbst nicht zeitlich ist. Es verhält sich hier ähnlich, wie bei der unbewußten Produktion der Räumlichkeit, deren psycho-physische Elemente auch nicht selbst schon räumlich sein können. Es ist LOTZEs Verdienst, diese Tatsache festgestellt und in seiner Theorie der Lokalzeichen niedergelegt zu haben. Es ist nur ein naheliegender Analogieschluß, wenn man, wie ich dies schon angedeutet habe, entsprechend den Raumzeichen auch Zeitzeichen annimmt. Ist es auch vielleicht nur eine Hilfshypothese, mittels derer wir uns ewig verschlossene Verhältnisse nahe zu bringen suchen, so ist es doch eine solche, die nach dem Stand unserer Kenntnisse logisch gefordert ist, und die, wie ich glaube, von jedem, der einmal Sinn und Bedeutung davon erfaßt hat, als unabweisliche wird anerkannt werden müssen.

Auf die Bedeutung der Zeit mit Hinsicht auf das Zustandekommen der Erfahrung wurde schon an anderer Stelle hingewiesen. Es wurde dort schon ausgeführt, daß die genannte Kategorie die allererste Stelle unter den für das Bewußtsein in Betracht kommenden Kategorien einnimmt, und zwar deswegen, weil sie die conditio sine qua non des Bewußtseins ist, und weil sogar die Vorstellung und der Begriff des Bewußtseins nicht zustande käme, wenn die Vorstellung und der Begriff der Zeitlichkeit nicht schon zuvor als etwas positiv Gegebenes vorhanden wäre und für die Bildung der komplizierteren Begriffe zur Verfügung stände. Es ist wohl nicht zuviel gesagt, wenn man es als eine allgemein gültige Tatsache behauptet, daß in jedem Begriff, mag er im besonderen sein wie er wolle, ein zeitliches Element enthalten ist, welches vielleicht nicht immer im Blickpunkt des Bewußtseins steht, das sich aber jederzeit aus seinem impliziten Verhältnis durch logische Zergliederung des Begriffs explizieren ließe. Die Zeitlichkeit des Bewußtseins, Denkens, Vorstellens und infolge dessen auch des Handelns ist demnach für eine naive Betrachtung als etwas Selbstverständliches und keiner weiteren Erklärung Bedürftiges unmittelbar gegeben, und über dieses unmittelbare Gegebensein wird sich auch kein Zweifel geltend machen können, da das Denken auch im angestrengtesten Denken über sich selbst nie an einem Punkt angelangt, welches den Kategorialbegriff der Zeit nicht schon voraussetzte. Indessen gibt die Kategorie der Zeit doch noch zu verschiedenen kritischen Fragen Anlaß, und zwar zunächst zu einer mehr psychologischen, als erkenntnistheoretischen, was denn das Eigentümliche und Wesentliche der Zeitkategorie sei, alsdann, wie sie zustandekomme, und schließlich, in welchem Verhältnis die erkenntnistheoretisch immanente Zeit zu einer problematischen transzendenten Zeit stände. Da wird man sich dann vor allem darüber klar sein müssen, daß unser Begriff, Anschauung, Vorstellung (oder wie man es sonst bezeichnen mag) der Zeit genau ebenso wie jeder andere Abstraktionsbegriff aufgrund der Erfahrung gewonnen ist, wobei für den Begriff der Erfahrung abgesehen von der Zeitlichkeit derselben das Bestehen aus einer Vielheit von einzelnen Wahrnehmungen oder Erfahrungselementen wesentlich ist. Die Vorstellung der Zeitlichkeit wird ohne besondere Reflexion auf dieselbe in der Weise erzeugt, daß die lineare eindimensionale Ausdehnung des Bewußtwerdens und des Vorstellens eine durch äußere und innere Bedingungen geregelte Ordnund und Folge der einzelnen bewußten Momente mit sich bringt und daß zu dieser Kategorialfunktion der Kategorialbegriff der Zeit dadurch hinzukommt, daß jene Ordnung und das noch nicht an und für sich bewußte quantitative Verhältnis der zwischen einzelnen Bewußtseinsmomenten verstrichenen Zeitintervalle im Bewußtsein objektiviert wird.

Der Kategorialbegriff der Zeit ist also nicht mit der Kategorialfunktion der Zeit zu verwechseln. Abgesehen davon, daß ersterer eine Abstraktion aus einer Vielheit von Erfahrungstatsachen ist, während die Kategorialfunktion das erzeugende Prius eben dieser Erfahrung ist (dessen wir allerdings auch erst durch induktive Bearbeitung der Erfahrung bewußt werden), ist uns, d. h. für unser Bewußtsein und Denken, nur der Begriff der Zeit unmittelbar als Teil und Glied unseres Bewußtseinsinhaltes gegeben, während die von der zufälligen subjektiven Vorstellung unabhängige zeitliche Anordnung der Erfahrung selbst nicht in ihrem Ansichsein in das Bewußtsein eingehen kann, sondern nur durch die besonderen Vorstellungen des zeitlichen Geschehens gedacht wird, behaftet mit der dem Vorstellungs- und begrifflichen Sein eigentümlichen Form. Es liegt also eine Korrelatin zwischen bewußtseinsimmanenter und -transzendenter Zeit ohne Zweifel vor, und auch der Idealist kann sich gegen diese Tatsache nicht auflehnen: die Zeit erweist sich hier als dem idealistischen Prinzip überlegen und selbst wenn es gelingt, die Frage nach der Existentialität, oder was dasselbe heißt, Bewußtseinstranszendenz der Zeit in ihrer ganzen Tragweite zu überschauen, so kann doch auch das wiederum nur unter der Voraussetzung geschehen, daß man gegen den zeitlichen Ablauf des zu einer derartigen Überlegung erforderlichen Gedankenprozesses, also gegen die Zeitlichkeit des Denkens selbst, vorübergehend willkürlich die Augen verschließt.

Diese Eigentümlichkeit der auf das Wesen der Zeit gerichteten erkenntnistheoretischen Überlegung ist indessen geeignet, auf den Punkt hinzuführen, an welchem der Hebel zur Beseitigung der vorliegenden Schwierigkeiten angesetzt werden muß. Es hat tatsächlich keinen Wert, über die Zeitlichkeit des äußeren Geschehens, des Handelns oder anderer komplizierter Vorgänge zu disputieren und zu reden, solange nicht festgestellt ist, wie es sich mit der Zeit im inneren Geschehen des subjektiven Bewußtseinsablaufs verhält. Statt also der Frage: "Wie ist Zeit möglich?" im Sinne KANTs durch Erwägungen allgemeiner Art und durch den Versuch, eine von vornherein in Aussicht genommene erkenntnistheoretische Stellungnahme durch Beweise zu rechtfertigen, näher zu treten, empfiehlt es sich aus der Natur der Sache heraus, zunächst unter Absehung von allem Äußerem nichts weiter zu berücksichtigen als den Bewußtseinsablauf nach seiner rein-formalen Seite und durch Zergliederung desselben in seine Elemente dessen habhaft zu werden zu suchen, was als das eigentliche Material, aus dem sich der Begriff des Bewußtseins bildet, angesehen werden kann.

Da ist es dann von entscheidender Bedeutung, daß man sich darüber klar ist, daß der Bewußtseinsablauf, soweit wir uns desselben bewußt sind, - und nur als spezielles Objekt des Bewußtseins kommt selbstverständlich der Bewußtseinsablauf für uns in Betracht, - die Zeit als begriffliches, vorgestelltes, ideales Element in sich enthält, daß wir aber zur Bildung einer derartigen Vorstellung, welche das Zeitliche am Bewußtseinsablauf zum Gegenstand hat, auf eine ganz spezielle und momentane Vorstellung angewiesen sind; denn, als Begriff und Vorstellung betrachtet, macht der Bewußtseinsablauf von der Regel, daß die begrifflichen Einzelvorstellungen momentan sind, keine Ausnahme. Man nehme z. B. gerade die Erörterung, in welcher wir uns eben befinden: die verschiedensten Begriffskombinationen lösen sich ab, neue Begriffe treten hinzu und verbinden sich zu neuen Vorstellungsgebilden; auch der "Bewußtseinsablauf" ist einer von diesen Begriffen, aus welcher sich der Text unserer Betrachtung unter mannigfacher Verschlingung der Fäden webt. Die ganze Überlegung vollzieht sich als ein zeitlicher Ablauf der Gedanken, aber wenn innerhalb derselben von einem "Bewußtseinsablauf" die Rede ist, so wissen wir, daß wir beides nicht in einen Topf werfen dürfen, daß der zeitliche Ablauf dieser Untersuchung mit Bezug auf den Gegenstand dieser letzteren transzendent ist und bleibt, während der Begriff des Bewußtseinsablaufs als Gegenstand der Überlegung nicht gut anders als immanent sein kann.

Der Bewußtseinsablauf ist demnach gar nicht  unmittelbar  "gegeben", wenn es mit der genauen Entsprechung des Ausdrucks ernst nimmt, sondern höchstens mittelbar, nämlich vermittelt durch eine Vorstellung, die sich in einem gewissen Zeitpunkt innerhalb der Vorstellungskette bildet. Diese einzelne Vorstellung ist dann auch, wenn wir davon absehen, was der jeweilige Inhalt der Vorstellung ist, das letzte, einfachste und nicht weiter zerlegbare, das einzige, was jeweils dem Bewußtsein  un mittelbar gegeben ist. Des weiteren entnehmen wir dieser Betrachtung, daß deswegen, weil kein Grund vorhanden ist, eine Vorstelung der andern über- bzw. unterzuordnen, weil also die Vorstellungen als Glieder einer in sich geschlossenen und einheitlichen Reihee einanander gleichwertig sind, vom spezifischen Charakter der einzelnen Vorstellungen abstrahiert werden darf, und die Vorstellung, ganz im allgemeinen betrachtet, als das Grundelement des Bewußtseins, wie überhaupt alles subjektiven Seins, aufzufassen ist. Des weiteren folgt aus dem Gesagten, daß sich die Frage des Verhältnisses des Bewußtseins im allgemeinen zur Zeit auf die nach dem Verhältnis der einzelnen Vorstellung zur Zeit reduzieren läßt.

Allerdings so ganz einfach und durchsichtig ist das Zeitverhältnis auch auf dieser elementareren Stufe noch nicht. Verschiedenes muß erwogen werden. Zunächst ist die einzelne Vorstellung von wenn auch noch so geringer zeitlicher Dauer? Oder tritt die Vorstellung, ihrem ideellen Inhalt nach, der ja vom zeitlichen Eingeordnetsein der betreffenden Vorstellung nicht tingiert [gefärbt - wp] ist, vollkommen aus dem zeitlichen Verhältnis heraus, wäre also selber unzeitlich und würde nur nachträglich und mittels einer besonderen späteren Reflexion in den Vorstellungsablauf eingeordnet? Und ferner, wie läßt sich denn, vorausgesetzt, daß die einzelne Vorstellung eine gewisse Dauer hat, das Zeitintervall zwischen Anfang und Ende derselben bestimmen? Ist das nicht wiederum nur durch andere Empfindungen und Vorstellungen, also ideelle Zustände, möglich, sodaß aus einem circulus vitiosus insofern gar nicht herauszukommen wäre, als man Gleiches mit Gleichem zu messen gezwungen wäre? Wie ist außerdem eine solche andauernde Vorstellung möglich? Ist sie zusammengesetzt aus unendlich vielen Zeitdifferentialen, die unter sich gleich oder jeweils nur minimal voneinander abweichend ein einheitliches Gesamtbild ähnlich zustande bringen, wie der Anblick einer raschen Folge von Momentaufnahmen eines in der Bewegung begriffenen Gegenstandes? Oder steht sie mit einem Schlag da, um nach einiger Zeit zu erlöschen? Alle diese Fragen hängen eng miteinander zusammen, und nur die Rücksicht auf die enge Begrenzung des unserer Arbeit gesteckten Zieles kann es entschuldigen, wenn wir unter möglichstem Fernhalten psychologischer Erwägungen das, was für die erkenntnistheoretische Betrachtung des Zeitproblems von Wichtigkeit erscheint, hervorheben.

Und da ergibt sich, wenn man dieses Verhältnis von Zeitlichkeit und Einzelvorstellung in seinem ganzen Umfang vom Standpunkt der Erkenntnistheorie aus erwägt, als ein von selbst einleuchtendes, nicht weiter deduzierbares, sondern nur durch eine Art von nicht-sinnlicher Anschauung erfaßbares wichtigstes Resultat die Einsicht, daß die Zeit im Bewußtsein nicht anders vorliegt, wie irgendein anderes Bewußtseinsobjekt: sie ist eben für uns nur ideal und bewußtseinsimmanent, und sowenig wir mit Bezug auf einen sinnlichen Gegenstand apodiktisch etwas darüber aussagen können, ob dem vorgestellten Gegenstand ein wirklicher entspreche, so wenig können wir dies mit Hinblick auf die Zeit. Es bewahrheitet sich also auch hier der empiristische Grundsatz, daß uns alles nur in der Erfahrung gegeben ist, und daß wir mit dem besten Willen über etwas Bewußtseins-Transzendentes nichts mit Gewißheit aussagen können. Mit Wahrscheinlichkeit, ja! In vielen Fällen sogar mit einer Wahrscheinlichkeit, die an Gewißheit grenzt, und die für uns den Wert der Gewißheit annehmen kann, ohne daß wir befürchten müßten, unser Rechnungsansatz würde deswegen falsch werden. Diese Wahrscheinlichkeit besteht auch, und zwar in sehr hohem Maße mit Hinsicht auf die erkenntnistheoretische Korrelation der vorgestellten und der wirklichen Zeit. Daß eine der vorgestellten Zeit entsprechende bewußtseinstranszendente und von der besonderen Form des ideellen Seins unabhängige Zeit, oder, vorsichtiger ausgedrückt, eindimensionales Verhältnis besteht, ist eine Annahme, die nach dem Gesagten nicht weiter zu beweisen und daher nur Axiom ist. Sie ist aber, im Gegensatz zum idealistischen Axiom, von dem wir früher sprachen, von einer so hohen Wahrscheinlichkeit, daß ein Beweis hier ebenso überflüssig erscheint, wie für den geometrischen Satz, daß die Gerade die kürzeste Linie zwischen zwei Punkten ist.

Es liegt mir also durchaus fern, durch meine kritische Stellungnahme gegenüber HARTMANN dessen erkenntnistheoretischen Resultate, welche auf die Behauptung einer transzendentalen Beziehung der bewußtseinsimmanenten Zeit zu einer transzendenten abzielen, irgendwie in Abrede stellen zu wollen. Im Gegenteil glaube ich, daß der Idealismus nur durch die strikte Darlegung dessen endgültig zu überwinden ist, daß er, wenn er konsequent sein will, nicht einmal von einer Mehrheit oder einem zeitlichen Ablauf von Vorstellungen reden darf, daß er sich also zum Bekenntnis des absoluten Nihilismus reduziert sieht, was noch weniger bedeutet als "Agnostizismus" oder "der Begriff des absoluten Scheins", mit welchem HARTMANN die letzten Konsequenzen des erkenntnistheoretischen Idealismus charakterisiert hat ("Kritische Grundlegung des transzendenten Realismus", 3. Auflage, Seite 47). Und andererseits glaube ich, daß der Standpunkt des kritischen Realismus nur dann gegen alle idealistischen Einwände gefeit ist, wenn er die Anwendbarkeit des Satzes der Phänomenalität auf alles und jedes, was Inhalt der Erfahrung ist (und außerhalt derselben existiert ja nichts für uns als bewußte Wesen), also auch auf den Bewußtseinsablauf, zugibt. Solange der transzendentale Realismus diese Notwendigkeit nicht einsieht, ist er rückständig und hat keine Erwiderung auf den von idealistischer Seite geführten Nachweis der Apriorität der Zeit, den er nur anzunehmen braucht, um eine neue Waffe gegen den Idealismus zu besitzen. Das Grundprinzip für die Widerlegung des transzendentalen Idealismus beruth aber in dem von VOLKELT proklamierten Prinzip der logischen oder Denknotwendigkeit, welche für die Mannigfaltigkeit des Erfahrungsinhaltes eine Erklärung fordert und diese nur in der Annahme einer bewußtseinstranszendenten Verschiedenheit und Vielheit findet. Aus diesem Prinzip, wenn es auf die Vielheit der von einer Bewußtseinseinheit umspannten Vorstellungen angewendet wird, ergibt sich die notwendige Anerkennung einer realen zeitlichen Ordnung, welche sowohl für den subjektiven Bewußtseinsablauf, wie für den Ablauf der materiellen Veränderung unserer Umgebung maßgebend ist. Man mag sich allerdings fragen, wie das transzendente Korrelat der vorgestellten Zeit zu dieser sich ihrer Wesenhaftigkeit nach verhält, und auch zu jenen physischen und psychischen Zustände, welche, wie wir annehmen müssen, die subjektive Kategorialfunktion der Zeit und unser Zeitgefühl aus sich hervortreiben und so das Mittelglied zwischen bewußtseinstranszendenter und -immanenter Zeit bilden. Aber wenn wir schon inbezug auf die psycho-physische Grundlage des Bewußtseins auf Hypothesen angewiesen sind (vgl. z. B. von KRIES, Die materielle Grundlage des Bewußtseins, Freiburg 1900), so wird man sich im Hinblick auf das Wesen der transzendenten Zeit erst recht mit einem non liquet [es ist nicht klar - wp] bescheiden müssen. Die Frage danach involviert eine unlösbare Aufgabe, weil man zu ihrer Beantwortung aus dem Bewußtsein heraustreten müßte. Jedenfalls wird aber als Postulat der angestellten Erörterung gelten dürfen, daß eine transzendente Zeit zwar existiert, daß sie aber nicht ohne weiteres in unser Bewußtsein eingeht.

Wir sind übrigens mit dieser Betrachtung an einem Punkt angekommen, wo das rein logische Verfahren plötzlich im Stich läßt, und der Verstand durch die Alternative, in welche er durch die Wahl zwischen Wahrscheinlichkeit und Unwahrscheinlichkeit, oder vielmehr zwischen höherem und niederem Grad von Ungewißheit gebracht wird, auf die Mitwirkung eines anderen seelischen Faktors angewiesen ist, auf die er sonst im allgemeinen mit Recht verzichtet, nämlich des Gefühls. Daß dieses als die tiefste Triebfeder für die Gestaltung philosophischer Weltanschauungen entscheidend ist, ist seit HEGEL wiederholt und durchaus richtig ausgeführt worden. (9) In dieser Art und Weise, wie sich der einzelne zum erkenntnistheoretischen Grundproblem verhält, realistisch oder idealistisch oder sonstwie, kommt diese Macht des Gefühls und der charakterologischen Veranlagung gerade an den Grenzen, welche der Gewißheit gezogen sind und an denen das weite Gebiet des Möglichen anhebt, zur Geltung - für den Vorsichtigen eine Warnung und zugleich eine Aufforderung, die kritische Erwägung des Problems nach einer anderen Richtung hin fortzusetzen. Im vorliegenden Fall wird es sich darum handeln, festzustellen, in welcher logisch-begrifflichen Beziehung das Ich zum Subjekt des Bewußtseins steht. "Subjectum" war die nicht ganz genaue Übersetzung des griechischen  hypokeimenon,  eines grammatischen Ausdrucks, welcher den der Satzaussage "zugrunde liegenden" Substantialbegriff bezeichnet. Das Wort  hypokeimenon  war indessen nebenher auch ein philosophischer Terminus, wurde aber im Verein mit einem anderen Synonym,  ousia,  durch "Substanz" oder, weniger schulgemäß, durch "Substrat" wiedergegeben. Diese verschiedenen lateinischen Termini haben nun wieder eine wechselreiche Geschichte, die auch heute noch insofern nicht abgeschlossen ist, als die von ihnen betroffenen philosophischen Anschauungen sich noch im Fluß befinden und in absehbarer Zeit auch nicht dazu gelangen werden, in den Zustand der Stabilität einzutreten. Uns interessiert diese terminologische Entwicklungsgeschichte erst von KANT an. KANT steht gewissermaßen auf der Scheidegrenze zwischen der Scholastik, die in ihren letzten Ausläufern durch die Schule WOLFFs repräsentiert wird, und der modernen Philosophie. Er hat die alten scholastischen Bezeichnungen verwendet, aber für  andere  erkenntnistheoretische Begriffe, und er war dazu gezwungen, da ihm für sein vollkommen neues und vielverästeltes System keine anderen Terminie zur Verfügung standen. Er paßte also die alt-ererbten wohl oder übel seiner neuen Erkenntnistheorie an. Eine Kritik des Subjektbegriffs wird sich demnach vor allem auf den kantischen Sprachgebrauch beziehen müssen.

Bei KANT sind nun zwei verschiedene Beziehungen des Subjektbegriffs zu unterscheiden, was mit der erwähnten Doppelseitigkeit seiner historischen Stellung zusammenhängt. In erster Linie ist für ihn Subjekt dasjenige, was wie die  prote ousia  des ARISTOTELES (10), "nicht zu einer Bestimmung oder zum Prädikat eines andren Dinges gebraucht werden kann." (11) Demgemäß entspricht die Vorstellung des Ich "dem Subjekt, dem Gedanken nur als Bestimmungen inhärieren" und welches selbst "nicht als Bestimmung eines anderen Dinges gebraucht werden kann"(ebd.). Aus dieser logischen Auffassung des Subjektbegriffs, die in der bisherigen Philosophie üblich gewesen war und die bis auf die Kategorienlehre des Aristoteles zurückgeführt werden kann, erklärt sich auch, daß KANT das Problem einer Vielheit von bewußten Subjekten einfach ignorieren konnte. "Daß das Ich der Apperzeption, folglich in jedem Denken, ein  Singular  sei, der nicht in eine Vielheit der Subjekte aufgelöst werden kann, mithin ein logisch einfaches Subjekt bezeichne, liegt schon im Begriff des Denkens" (Kritik der reinen Vernunft, 2. Auflage, Seite 407). KANT hat also die Frage, ob es nur ein oder ob es mehrere erkenntnistheoretische Subjekte gibt, vom Standpunkt der reinen Vernunft aus monistisch beantwortet. Jedenfalls spricht er von Subjekt immer nur im Singular. Hierin zeigt sich wohl eine Art von Reminiszenz an den früheren Schulgebrauch, wo "Subjekt" auch nie anders als im Sinne des  hypokeimenon  und der Einheit verwendet wird.

Viel wichtiger aber, als diese rein logische Beziehung des Subjektbegriffs, ist für dessen Auffassung meines Erachtens der Umstand, daß "Subjekt", abgesehen vom logischen Verhältnis zum Prädikat, das erkenntnistheoretische Korrelat des "Objekts" bezeichnet. "Objekt" ist, um uns kurz zu fassen, das gegenständliche Sein, die Erscheinungen im Sinne der empirischen Realität und als Inhalt der Erfahrung, "Subjekt" dagegen dasjenige, dem die Dinge phänomenal entgegentreten, d. h. der Träger der Erscheinungswelt. Von besonderen und nebensächlichen Begriffsnuancen möge hier abgesehen werden. Die angegebene Definition ist nun aber nur in relativem Sinne als eine solche anzuerkennen; man könnte sie als eine Art von negatiger oder disjunktiver Definition bezeichnen, indem gar keine positiven und eigentümlichen Merkmale des zu Definierenden angeführt werden. Die Definition erschöpft sich darin, daß wir erfahren: Subjekt ist das, was nicht Objekt ist. Objekt ist aber der gesamte Inhalt der Erfahrung. Das Subjekt ist also nicht in der Erfahrung enthalten, muß aber als ein integrierender Bestandteil einer logischen Weltanschauung zu jener hinzugedacht werden, ohne daß sich aber etwas Spezielles darüber sagen ließe. Es ist daher ein Grenzbegriff der reinen Vernunft, und wenn auch KANT den Begriff des Subjekts nicht ausdrücklich als einen solchen charakterisiert hat, so würde doch diese Auffassung ohne Zweifel derjenigen KANTs entsprechen.

Und auch darin gehen wir schwerlich fehl, wenn wir die Rekonstruktion des Subjektbegriffs bei KANT durch die Heranziehung eines anderen Grenzbegriffs unterstützen, nämlich des "transzendentalen Ich". Es ist KANT hoch anzurechnen, daß er sich der Konsequenzen seines idealistischen Standpunktes in einem solchen Umfang bewußt war, daß er auch vor dem Ich, als dem Produzenten des bewußten Seins, nicht halt machte. Er unterschied recht wohl zwischen der transzendentalen Ichvorstellung, welche im "ich denke" enthalten ist, und dem transzendenten Ich, als dem Korrelat jener Vorstellung. Er antizipierte also auch in dieser Kategorie des dem Bewußtsein zugrunde Liegenden den über den konsequenten Idealismus hinausschreitenden und ihn durchbrechenden Korrelativismus oder erkenntnistheoretischen Dualismus (vgl. besonders die "Kritik des vierten Paralogismus der transzendentalen Psychologie", Kr. d. r. V., 1. Auflage, Seite 367f). KANT hat in der Tat seinen prinzipiellen Standpunkt gerade an den entscheidenden Punkten beiseite geschoben und der natürlichen Anschauung ihr Recht werden lassen. Und diese Konnivenz [stillschweigende Duldung - wp] ist deshalb von so außerordentlicher Tragweite, weil die von KANT mehr hypostasierten als in genauerer Ausführung definierten Grenzbegriffe des transzendentalen Ich und des Subjekts - wir werden sofort sehen, daß beide auf dasselbe abzielen und begrifflich nahezu äquivalent sind - die Grundlage zu einem Korrelativismus auch noch anderer Bewußtseinskategorien abgeben, sodaß ein idealistisches Element nach dem anderen durch die logische Konsequenz, welche die "Grenzbegriffe" nach sich ziehen, hinfällig wird.

KANT hat sich selber nicht über das gegenseitige Verhältnis der in seiner Vernunftkritik eine beträchtliche Rolle spielenden Begriffe des Subjekts und des transzendentalen Ich geäußert. Indessen weist die von ihm öfters gebrauchte Verbindung "transzendentales Subjekt", darauf hin, daß beide Begriffe hinsichtlich der Einheitlichkeit des Gegenstandes, auf den sie bezogen sind, unterschiedslos gebraucht werden, nur daß bei jedem der beiden eine besondere Bestimmung  mehr  hervortritt. Beim Subjekt ist dies die Beziehung zum Objekt, beim "transzendentalen Ich" einerseits die in "transzendental" enthaltene zur Ich-Vorstellung, andererseits die implizite und unausgesprochene zu anderen "Ichen". Nach dem, was wir früher vom Subjekt als einem im allgemeinen nur im Singular gebrauchten Ausdruck gesagt haben, könnte man vermuten, daß das "Ich" wesentlich mit Bezug auf eine mögliche Mehrheit von Bewußtseinsträgern verwendet wird. uns wenigstens wird nichts hindern, durch die Identifizierung von "Subjekt" und "transzendentalem Ich" einerseits die Audrucksweise KANTs, die ja doch für die Erkenntnistheorie in vieler Hinsicht noch heute vorbildlich und maßgebend ist, beizubehalten, andererseits aber in Verfolgung der im bisherigen Lauf der geführten Untersuchung geknüpften Gedanken die logischen Konsequenzen erwägen, welche sich aus einer Gleichung ergeben, deren zwei Glieder das Subjekt und das Ich sind.

Für die Annahme eines Ich ist das Vorhandensein einer Bewußtseinseinheit, auf welche die Vorstellungen aus auf ihr gemeinsames Substrat bezogen werden, bestimmend. Das Zustandekommen des Ich hängt ferner davon ab, ob das Bewußtsein sich bis zum Punkt steigert, daß jene Einheitlichkeit selbst zum Bewußtsein gebracht wird. Erst dann, wenn das der Fall ist, kann man von Selbstbewußtsein reden. Selbstbewußtsein ist aber zugleich auch Bewußtsein eines andern, das nicht Selbst ist, das sich vielmehr außerhalb des Selbstes und zwar in einer realen Opposition zu demselben, befindet. Das Ichbewußtsein entsteht also erst durch eine Spannung und einem Gegensatz, in welchem sich das Bewußtsein vorfindet. Da aber diese Realopposition nur wieder durch andere ähnliche Einheiten hervorgerufen sein kann, setzt sie eine Mehrheit von Bewußtseinseinheiten voraus, die miteinander in Beziehung stehen, aber deswegen nicht notwendig voneinander abhängig sind. Aus demselben Grund ist aber auch für das Entstehen des Selbst- bzw. Ichbewußtseins eine Individuation, durch welche die vom Bewußtsein unabhängige Vielheit möglich wird, Voraussetzung. Die Individuation liegt also schon logisch vor, ehe es zum Ich kommt. Durch die Individuation könnte daher das Ich erklärt werden, nicht aber umgekehrt die Individuation durch das Ich. Die Untersuchung des Ichproblems sieht sich demnach auf eine vorhergehende Untersuchung des Individuations-Problems angewiesen. Denn die Anwendbarkeit der quantitativen Kategorie der Zahl auf das Ich liegt ohne Zweifel vor, die Tatsache vieler sich jeweils als Ich bezeichnenden bewußten Individuen ist nicht zu bestreiten, - man sieht, die Frage wird auf ein ganz anderes Gebiet hinübergespielt, indem die objektive Sphäre, in der die Individuation zustande kommt, als das logische Prius des Ich erkannt wird.

Die Individuation, als die Bedingung des Zustandekommens von Bewußtseinseinheiten, kann nun aber nicht wieder in das subjektive Gebiet hinübergeschoben werden, wie dies wohl SCHOPENHAUER meinte, wenn er die Vorstellungswelt materialistisch als ein Produkt des Gehirns und das Gehirn idealistisch als phänomenale Erscheinung im Bewußtsein auffaßte. Denn schließlich muß man doch immer wieder darauf zurückkommen, daß das Entstehen des Bewußtseins an die Materie gebunden ist, die als das Erzeugende nicht vom Erzeugten (Bewußtsein) erzeugt gedacht werden kann. Die Individuation setzt also eine bewußtseinstranszendente Sphäre voraus, die uns nicht in ihrem Ansichsein gegeben ist, sondern nur durch eine Art von Projektion in das Bewußtsein in diesem nachgebildet wird. Der erkenntnistheoretische Idealismus dagegen ist völlig unfähig, dem Individuationsproblem gerecht zu werden; er wird die Pluralität als eine subjektive Kategorie auffassen, dieselbe auf die subjektive Sphäre beschränken, dabei aber zur Annahme einer einzigen Bewußtseinseinheit sich genötigt sehen, kann dies aber nur, wenn er der Tatsache einer Mehrheit von Individuen gegenüber die Augen verschließt, also das "Ich" im individualistischen Sinn schlankweg leugnet, bzw. das "Ich" mit einem hypostasierten Allbewußtsein oder unpersönlichen Bewußtseins identifiziert, wobei aber immer noch zu erklären bleibt, wie der Schein einer Mehrheit von Individuen überhaupt nur möglich ist.

Aber auch bei der Anerkennung des erkenntnistheoretischen Dualismus ist eine Lösung der Frage nicht ohne weiteres gegeben. Die Schwierigkeit besteht hier darin, daß es erst genauerer Prüfung bedarf, ob und in welchem Umfang die subjektiven Kategorien mit den Kategorien des transzendenten Seins übereinstimmen. Es ist möglich, daß einzelne subjektive Kategorien im Transzendenten ganz fehlen, wie das ja bei der Qualität der Empfindung und des Gefühls mit Bestimmtheit anzunehmen ist, möglich auch, daß die Korrelation ungenau ist und eher auf das Verhältnis einer variablen Funktion hinausläuft. Mit Hinsicht auf das Ich sind also unter erkenntnistheoretisch-dualistischen Voraussetzungen zwei Möglichkeiten vorhanden. Entweder entspricht der vorgestellten Vielheit von Individuen eine reale, dann wäre der Pluralismus gerechtfertigt, oder diese Vielheit ist nur transzendentaler Schein, dann hätten wir für die objektive Sphäre ein einziges Subjekt (hypokeimenon) des Bewußtseins anzunehmen, und eine monistische Auffassung wäre die logisch geforderte, und zwar eine konkret-monistische, im Gegensatz zur abstrakt-monistischen der Allbewußtseinslehre.

Wenn wir indessen dieser Frage mit dem Bewußtseins näher treten, daß unsere Anschauungsweise notwendig subjektiv ist und daß daher die erkenntnistheoretische Methode konsequenterweies stets die Beziehung zum Subjektiven im Auge haben muß, werden wir, anstatt sie einem empirisch-induktiven Verfahren zu unterwerfen, welches die transzendentale Gültigkeit der subjektiven Werte, die doch erst nachgewiesen werden soll, voraussetzt, bemüht sein, auch die Berechtigung des Pluralismus nach einem subjektiven Prinzip zu beurteilen. Dieses Erkenntnisprinzip beruth darin, daß die in der Erfahrung vorgefundene Verschiedenheit erklärt werden muß, und daß diese nur durch eine außerbewußte Verschiedenheit erklärt werden kann. Wir haben uns dieses Arguments schon einmal bedient, als es uns darauf ankam, das Zeitbewußtsein, welches wir durch eine momentane Synthese von gleichzeitig existierenden Differenzen, die aber selbst nicht zeitlich sein können und die wir uns durch den Hilfsbegriff der Temporalzeichen zu verdeutlichen suchten, in seinem erkenntnistheoretischen Verhältnis zu erkennen (Seite 33f). Eben jene Betrachtung kann uns aber auch dahin führen, das Wesen der bewußtseinstranszendenten Verschiedenheit und Vielheit zu verstehen. Die Zeitlichkeit kann zwar aus Gründen, die schon ihre eingehende Erörterung an anderer Stelle gefunden haben, als reales principium individuationis nicht mehr in Betracht kommen. Denn die Zeit ist nur eine Form der Anschauung, die nach außen verlegt wird, ohne daß die Gewißheit einer Berechtigung hierzu vorhanden wäre. Da wir vielmehr logisch gezwungen sind, die Vorstellung der zeitlichen Verhältnisse durch an sich selbst unzeitliche transzendente Verhältnisse - etwa der räumlichen Lagerung der Gehirnmoleküle und der Intensitätsverschiedenheit der chemischen Innervations[Nervenimpulse - wp]prozesse - begründet anzunehmen, und da die Zeit, insofern sie Beziehungen zwischen der aktuellen Gegenwart einerseits und der absolut irrealen Vergangenheit und Zukunft andererseits enthält selber gar nichts Reales sein kann, werden wir als principia individuationis innerhalb des Transzendenten zunächst den Raum, und außer diesem, da er aus sich selbst die Veränderung des im Raum Befindlichen nicht zu erklären vermag, die Verschiedenheit der dynamischen Intensität annehmen dürfen. Durch die letztere scheint auch die Hypothese einer transzendenten aktuellen Zeit vollständig überflüssig geworden zu sein, da die Veränderung des objektiven Weltbildes durch die räumliche Konstellation sowie die Intensitätsverschiedenheit dynamischer Zentren ausreichend erklärt wird und die Zeit sehr wohl nur die subjektive Form sein kann, unter der sich jene transzendenten Funktionen im Bewußtsein darstellen.

Aber auch nach Elimination der Zeit aus der transubjektiven Sphäre verbleiben dieser in der Räumlichkeit und dynamischen Intensität eine Mehrheit von Prinzipien, bei welcher die Vernunft sich nicht beruhigen kann. Auch jetzt noch handelt es sich darum, den philosophisch unbefriedigenden Pluralismus zu überwinden. Aber die endgültige Entscheidung zwischen Pluralismus und Monismus liegt außerhalb der eigentlichen Erkenntnistheorie. Auch hier läßt die rein logische Arbeit im Stich und wir sehen uns auf eine induktive Feststellung der objektiven Verhältnisse angewiesen, da nur so Aussicht vorhanden ist, jenes metaphysische Dilemma zu lösen. Der Pluralismus ist empirisch das Nächstliegende, der Monismus hat aber den Vorzug, metaphysisch mehr zu befriedigen, denn "bei einer ursprünglichen Vielheit kann sich nun einmal das Denken nicht befriedigen" (VOLKELT, Das Unbewußte und der Pessimismus, Seite 191); und wenn in Betracht gezogen wird, daß auch die Naturphilosophie letzten Endes mit einer monistischen Weltanschauung sich nicht nur recht wohl vereinbaren läßt, sondern daß sie eine Reihe von Beweisgründen zugunsten des Monismus liefert - ich erwähne nur die Einheitlichkeit der in der Natur sich offenbaren Zweckmäßigkeit und den Umstand, daß die im Aufeinanderwirken der Krafteinheiten sich aktualisierenden dynamischen Beziehungen nur unter der Voraussetzung eines höheren umspannenden Prinzips denkbar sind, - wird man diesem den höheren Grad der Wahrscheinlichkeit vor einer Ansicht einräumen, nach welcher die Vielheit nicht weiter auf ein logisch Erstes reduziert werden kann.

Wenn übrigens das Individuationsproblem ganz im allgemeinen die Vielheitlichkeit und Vereinzelung in der Erscheinungswelt zu erklären sucht, so liegt schon in der Problemstellung, daß die Vielheit nicht als das Ursprüngliche angesehen wird. Denn erklären heißt nichts anderes, als eine gegebene unverstandene Tatsache auf eine oder mehrere verständlichere als auf ihren Grund zurückführen. Und wenn jemand die vorliegende Vielheit für der Erklärung bedürftig hält, so stellt er sich hiermit ohne weiteres schon auf einen ganz bestimmten metaphysischen Standpunkt, nämlich den monistischen, über den er sich also eigentlich rechtfertigen müßte,  bevor  er sich an die Lösung des sich ihm darbietenden Individuationsproblems macht.

Dieses hat in der Tat für alle diejenigen keinen Sinn, welche mit dem Positivismus und metaphysiklosen Naturalismus oder Empirismus die Vielheit der Individuen als etwas nicht weiter Zurückführbares erklären und sich damit begnügen, die innerweltlichen Verhältnisse festzustellen, zu registrieren, und eine Erklärung für dieses höchstens insoweit für wünschenswert oder notwendig erachten, als sie durch andere bekannte intramundane [in der Welt - wp] Verhältnisse geliefert werden kann. Insofern diese Art von Erklärung sich prinzipiell auf die Beziehung von Ursache und Wirkung erstreckt, ist sie aetiologisch [ursachenlogisch - wp], aber noch nicht teleologisch, und erst recht nicht philosophisch oder metaphysisch. Das Individuationsproblem fällt uns aus der Aetiologie heraus. Daher besteht es für die empirischen Wissenschaften nicht; denn was die Entstehung der einzelnen organischen Individuen und Arten aus anderen derselben Gattung anbelangt, so hat dies mit der Individuation nichts gemein, als einen Anklang der sprachlichen Bezeichnung.

Der Unterschied zwischen beiden Betrachtungsweisen erhellt sich am deutlichsten aus demjenigen, welcher zwischen der Beziehung Ursache und Folge einerseits, und Grund und Begründetem andererseits besteht. Die erstere ist zeitlich, indem mit dem Ausdruck "Ursache" der frühere, mit "Folge" der spätere Zustand bezeichnet wird. Das andere kausale Verhältnis dagegen, dessen erstes Glieder der "Grund" ist, für welchen ein genau entsprechender Korrelationsbegriff fehlt, beruth auf einem räumlichen Verhältnis, genauer noch auf dem Verhältnis zweier oder mehrerer Dinge, welches mittels der räumlichen Lage, bezogen auf einen gemeinsamen Anziehungspunkt, hervorgebracht wird. Der "Grund" im eigentlichen Sinne ist dasjenige, was durch seine Masse dem Gegenstand von geringerem Gewicht einen solchen Widerstand bietet, daß der leichtere durch jenen in den Zustand der Ruhe übergeführt und in diesem erhalten wird. Man denke an einen Stein, der auf dem Boden liegt. Letzterer ist der "Grund", der Stein dagegen "ruht" auf dem Boden. Gewöhlich aber verstehen wir das durch "Grund" und "begründet" oder "beruhend" bezeichnete kausale Verhältnis im übertragenen Sinne, und dann fällt nicht nur das spezifisch Dynamische, sondern auch das Räumliche des ursprünglichen Bildes weg. Und in dieser metaphorischen, unräumlichen und unsinnlichen Bedeutung ist es zu verstehen, wenn das Problem der Individuation als dasjenige definiert wird, welches den "Grund" der Vielheit zu erkennen strebt. Unter dem Grund der Vielheit verstehen wir also dasjenige, von welchem alles Vielheitliche abhängig ist und auf welchem es als dem gemeinsamen Urprinzip beruth, also das "Eine" im Gegensatz zum "Vielen". Die metaphysische Einheit wird daher schon vorausgesetzt, bevor man sich über die Vielheit den Kopf zerbricht, es müßte denn gerade sein, daß man von vornherein noch andere Möglichkeiten im Auge hätte, die das unlogische Moment einer ins Unendliche gehenden Vielheit durch die Ausschaltung derselben beseitigten. Derartige Lösungsmöglichkeiten wären durch dualistische Theorien geboten, und selbst eine beschränkte Mehrheit von Prinzipien ist als Übergangsstadium von Pluralismus zu Monismus recht wohl denkbar.
LITERATUR: Max Walleser, Das Problem des Ich, Karlsruhe 1902
    Anmerkungen
    1) Vgl. JOHANNES VOLKELT, Erfahrung und Denken, Seite 202f, 47f, 127
    2) Vgl. VOLKELT, a. a. O. Seite 53
    3) WILHELM DILTHEY, Beiträge zur Lösung der Frage vom Ursprung an die Realität der Außenwelt und seinem Recht (Sitzungsbericht der königlich preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, 1890, Seite 977f). - Vgl. auch RICKERT, Gegenstand der Erkenntnis, Seite 12
    4) ARTHUR SCHOPENHAUER, Die Welt als Wille und Vorstellung I, § 1
    5) Vgl. EDUARD von HARTMANN, Grundproblem der Erkenntnistheorie, Seite 113f
    6) SCHOPENHAUER, Der Satz vom zureichenden Grund3, § 42
    7) Ebenso DREWS "Das Ich als Grundproblem der Metaphysik", 1898: "Der transzendentale Zeitfolge entspricht in unserem Bewußtsein die subjektive Zeitfolge von Empfindungen, und nur das kann Gegenstand der Untersuchung sein, auf welche Art wir eine Vorstellung der Zeitverhältnisse gewinnen. ... Die Zeit ist sonach keine apriorische Funktion der Seele, weil es ohne Zeit auch keine Empfindung geben könnte."
    8) Vgl. E. von HARTMANN, "Grundproblem der Erkenntnistheorie", Seite 58f: "Der konsequente transzendentale Idealismus kann auch Traumidealismus genannt werden." Anderswo macht sich eine richtigere Einsicht in die wahren Konsequenzen des Idealismus geltend, so (Seite 65): "Der transzendentale Idealismus kann eigentlich immer nur mit der momentanen Gegenwart des absoluten Lebenstraumes rechnen", wo nur das "eigentlich" nicht am Platz und durchaus überflüssig ist. Vgl. ferner "Kritische Grundlegung des transzendentalen Realismus", 3. Auflage, Seite 46 - 48, wo aber mehr das Jllusionistische als das Nihilistische der idealistischen Konsequenzen zum Ausdruck gebracht wird.
    9) Vgl. VOLKELT, Erfahrung und Denken, Seite 462f
    10) EDUARD von HARTMANN, Geschichte der Metaphsik I, Seite 54
    11) KANT, Kritik der reinen Vernunft, Seite 349f