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FRIEDRICH ALBERT LANGE
Geschichte des Materialismus
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"Ist unsere Zeit der Beginn einer großen Übergangsepoche, einer Periode, in welcher sich die definitive Erringung politischer und wissenschaftlicher Freiheit vollzieht, während gleichzeitig Keime eines neuen geistigen Lebens Boden fassen, welches vom Makel der Tyrannei geläutert emporsprießt: dann wird mein Wort seinen Boden finden."

Vorrede

Ein Werk, welches seinen Stoff in einer bisher wenig gebräuchlichen Weise behandelt und dabei in der Ausführung vielfach hinter der ursprünglichen Idee zurückbleibt, kann seinem Verfasser zu so vielen Bemerkungen gegründete Veranlassung bieten, daß aus dem Vorwort wieder ein Buch zu werden droht. Das Bewußtsein dieser Gefahr wird mich zu gedrängtester Kürze bestimmen.

Mein Zweck war kein geringerer, als zu einer  definitiven Erledigung  gewisser Kardinalpunkte in der Streitfrage des Materialismus anzuregen und da diese Punkte gerade den Gegensatz von Materialismus und Idealismus, Wissen und Dichten, Empirie und Transzendenz betreffen, so reicht der Gegenstand des Werkes wohl weiter, als der Titel andeutet. Da ich aber eben nur  anregen,  nicht selbst erledigen will und überhaupt kein  ktema eis aei [Besitz für alle Zeit - wp] geben, sondern nur im Sinn meiner Überzeugung auf die Zeitgenossen wirken möchte, so durfte auch der Titel des Buches, gleich der ganzen Behandlungsweise, das Gepräge der Zeit, der Veranlassung, des Augenblicks tragen.

Da ich im Werk selbst auf die entscheidenden Punkte immer und immer wieder zurückkomme, so ist es nicht nötig, sie hier zusammenzustellen, wohl aber will ich frei bekennen, daß ich der Erledigung derselben die höchste theoretische und praktische Bedeutung beilege. Die Menschheit muß und kann dazu gelangen, wenigstens über die ärgsten Ursachen ewiger Irrungen und Quertreibereien Herr zu werden. Man wird in Zukunft gewisse Fehler des Denkens und der Willensrichtung mit Sicherheit vermeiden oder mit Lächeln in ihrem Entstehen berichtigen, wie man heutzutage bei einer handgreiflichen optischen Täuschung verfährt, mit deren Wesen jedermann vertraut ist. Damit aber können die tief in der menschlichen Natur begründeten Gegensätze der Neigungen und Ansichten unglaublich gemildert und gewissermaßen auf einen harmonischen Antagonismus zurückgeführt werden. Ob man dahin friedlich und allmählich gelangt oder durch einen großen Entscheidungskampf gegen die Mächte, in denen sich der böse Wille konzentriert, steht dahin.

In rein  theoretischer  Hinsicht sind die Punkte, um die es sich handelt, vielen schon ihrer vollen Bedeutung nach klar. Namentlich ist KANT in neuester Zeit, besonders unter den Naturforschern, zu größerem Ansehen gelangt und das Bleibende in seinem System wird immer mehr zum Gemeingut der leitenden Geister auch außerhalb des engen Kreises der Schulphilosophie. Es mußte jedoch der falsche Absolutismus jenes Systems zerschlagen, der falsche Schein einer zwingenden Deduktion beseitigt werden, um die einfache Wahrheit in gemeinverständlicher Weise hervortreten zu lassen. Daß KANT mit dem Materialismus sehr viel weiter zusammengeht, als seine Anhänger von der dogmatischen Richtung, SCHLEIDEN an der Spitze, einräumen würden, wird aus unserer Darstellung hoffentlich einleuchtend hervorgehen; ebenso aber, daß seine Rettung der Ideen auf praktischem Wege nicht bloßer Schein ist, wie NOACK es darstellt, und auch nicht reine Willkür, wie im Kantianismus, den J. B. MEYER den Materialisten entegenstellt. NOACK, der sich ein großes Verdienst erworben hat durch die scharfe Hervorkehrung der negativen Seite der KANTschen Kritik, welche Unwissenheit und Tendenz stets wieder zu bemänteln suchen, hat eben doch wohl ein wesentliches Element der Anschauung KANTs über Bord fallen lassen, welches in der aufrichtigen - keineswegs schalkhaften, ironischen oder gar weltklugen -  Wertschätzung  der Ideen besteht, deren theoretische Haltlosigkeit KANT dartut. J. B. MEYER faßt diese Wertschätzung viel zu subjektiv, wenn er den "Sprung in das Unbegreifliche" als eine Art metaphysischer MAX STIRNER schlechtweg für seine eigene  Liebhaberei  erklärt. (Zum Streit über Leib und Seele, Seite 122). Nimmermehr kann ich mit NOACK (KANT mit oder ohne romantischen Zopf, Deutsche Jahrbücher II, 2, Seite 254f) glauben, daß KANT, wenn er bis zu unserer Zeit gelebt hätte, in den schwingenden Bewegungen der Physiker das wahre Ding an sich erkannt hätte, da doch diese Bewegungen nur Folgerungen einer räumlich-zeitlichen Ursache aus räumlich-zeitlichen Erscheinungen sind und die empirisch gefolgerten Ursachen, wären sie noch so subtil, mit zum Ganzen der Erscheinungswelt gehören, welchem das von den Bedingungen menschlicher Sinnlichkeit freie "Ding ansich" gegenübersteht. Wohl aber ist sicher, daß KANT nur eine einzige Art der Erkenntnis gelten ließ, die empirische und streng verstandesmäßige, welche zu einer durchaus naturalistischen Weltauffassung führt, daß wir nach seiner Lehre nur wissen, daß diese ganze Erscheinungswelt Produkt unserer Sinne und unseres Verstandes mit einem unbekannten Faktor ist, und daß jeder Versuch diesen zu fassen mit Notwendigkeit mißlingen muß; daß endlich eben deshalb Metaphysik als Wissenschaft Selbsttäuschung ist, während sie als Architektur der Begriffe ihren Wert hat, ja zu den wesentlichsten Bedürfnissen der Menschheit gehört. Unter allen Kantianern ist derjenige, welcher meiner Auffassung am nächsten geht, kein geringerer als SCHILLER und ich bedaure nur, daß der Plan meines Werkes ein näheres Eingehen auf die Philosophie des großen Dichters ausschloß.

Mit Befremden wird vielleicht mancher Leser in meiner Darstellung den Namen SCHOPENHAUER vermissen, um so mehr, da manche Anhänger dieses Mannes in meiner Anschauungsweise viel Verwandtes finden dürften. Ich muß offen gestehen, daß mir viele Schüler dieses Philosophen lieber sind, als der Meister. SCHOPENHAUER selbst konnte ich in meiner Arbeit deshalb keinen Platz einräumen, weil ich in seiner Philosophie einen entschiedenen Rückschritt hinter KANT finde. Die prinzipiellen Fragen mußten dort entschieden werden, wo die große Grenzscheide liegt, zwischen der alten Metaphysik und einer freien, mit der Kritik versöhnten Begriffsdichtung. Der Rückfall eines SCHOPENHAUER war ansich nicht besser oder schlimmer, als der eines FRIES, FICHTE, HERBART; es lag jedoch im Zusammentreffen geschichtlicher Umstände und persönlicher Verhältnisse, daß SCHOPENHAUER, anfangs von der Schulphilosophie beispiellos tot geschwiegen, mehr durch seine Opposition gegen alle bekannteren Systeme Aufsehen erregte, als durch seine eigene Philosophie. Seine Verbissenheit gegen das Professorentum rettete uns mehr von der kritischen Schärfe KANTs, als die Treue der gepriesenen Schüler, Nachfolger und Fortbilder auf sämtlichen deutschen Kathedern. So ist es denn nicht zu verwundern, daß er manchen klaren Kopf für sich gewann, dem das Treiben der gewöhnlichen Schulphilosophie widerwärtig wurde. FRAUENSTÄDTs Schriftchen: "Der Materialismus, seine Wahrheit und sein Irrtum (Leipzig, 1856) gehört unzweifelhaft zum Besten, was über den Materialismus geschrieben ist. Auch die treffliche Schrift von Dr. A. MAYER in Mainz "Zu Verständigung über Materialismus und Spiritismus (Giessen, 1861) ist wohl zu den Früchten der Anregung SCHOPENHAUERs zu zählen, obwohl der Verfasser diesem gegenüber seine Selbständigkeit behauptet.

Der Übergang von der Kritik zur Aufstellung  praktischer Lebensgrundsätze  kann nie so sicher sein, wie die Grundzüge der Kritik selbst. Während KANT in seiner Kritik der reinen Vernunft bleibende Grundlagen für alle späteren Untersuchungen dieser Art geschaffen hat, kann das Resultat seiner Kritik der praktischen Vernunft von vornherein nur exemplifikatorische Bedeutung haben. Ich kann mich hier am bequemsten in Kürze verständlich machen, wenn ich an seinen Satz NOACKs anknüpfe: "Man vergaß oder übersah (bisher) ganz und gar, daß KANT den Standpunkt und das Lehrgespinst einer von den erfahrungsmäßigen Bedingungen und Verhältnissen des Menschen absehenden und sich auf die Möglichkeit eines reinen Willens oder einer sogenannten transzendentalan Freiheit steifenden Sittlichkeit, wie sie nun einmal im Schwange gehe, mit ihren leeren Ansprüchen und hohlen Forderungen eben nur entwickelt, um sie zu  kritisieren,  d. h. um die dabei von der reinen praktischen Vernunft gemachten Voraussetzungen von der Wirklichkeit einer transzendentalen Freiheit des Ich und eines vermeintlich unbedingt gebietenden Sittengesetzes, mitsamt den weiter darauf gebauten Forderungen eines höchsten Gutes, eines rein übersinnlichen Reiches der Zwecke, einer Unsterblichkeit der Seele und eines moralischen Welturhebers in ihrer Wurzel als unbegründet und unhaltbar aufzuzeigen." (a. a. O., Seite 257f). Dieser Satz scheint mir wieder vollkommen berechtigt, gegenüber denjenigen, welche behaupten, KANT habe in der praktischen Vernunft den unerschütterlichen Boden gewonnen, um die ewige Wahrheit jener Ideen beweisen zu können. Ich kann jedoch nicht umhin bei der Ansicht stehn zu bleiben, daß KANT selbst diese Ideen trotz ihrer praktischen wie theoretischen Unbeweisbarkeit als Grundlage seiner eigenen Sittlichkeit festhielt, daß er nicht eine Art von Karikatur, sondern ein echtes und wahres Bild einer sittlichen Weltanschauung geben wollte, wie sie sich für ein nach Konsequenz und Klarheit ringendes Gemüt aus gewissen Grundsätzen ergeben müsse, die sich uns aufdrängen, obwohl wir ihre Berechtigung nicht erweisen können.

Ich habe die Teile meines Werkes, in welchen diese Ansicht von KANT und seiner Lehre dargestellt, verallgemeinert und gerechtfertigt wird, mit dem vollen Bewußtsein einer großen Gefahr niedergeschrieben, die für den Leser sich ergibt, wenn er ohne den rechten inneren Halt diesen Gedanken folgt. "Es ist also wahr," könte er sagen, wenn er mir aufmerksam bis zu Ende gefolgt ist, "es ist also wahr, daß der Mensch in einem schaffenden, dichtenden, offenbarenden Trieb seines Geistes die Berechtigung findet, sich, wie es von jeher in der Dichtkunst geschehen ist, so auch auf dem Gebiet der Religion und Metaphysik, Vorstellungen hinzugeben, sich in ganze Systeme von Vorstellungen zu versenken, die ansich unbegründet und unhaltbar sind und nur dazu dienen, in ihrer Gesamtheit gleichsam einen symbolischen Kultus jenseitiger und unerreichbarer Wahrheiten darzustellen? Es ist also wahr, daß diese Dichtung des Göttlichen in ihrer Form und in der Rückwirkung dieser Form auf das Gemüt des Sterblichen einen Wert hat; ja, daß eben dieser Trieb zur Hervorbringung des Göttlichen  dem jenseitigen Wesen der Dinge durch seine tiefe Wurzel in der menschlichen Natur ebensowohl verwandt ist, wie der Verstand mit all seinen Schätzen?  Ist dann nicht mit einer leichten, fast unmerklichen Wendung wieder jede beliebige Religionsform, jede Form von Aberglauben gerechtfertigt, sobald sie etwas ästhetisch Bedeutendes, sobald sie wahrhaft ideellen Gehalt hat? Kann uns ein solcher Standpunkt nicht schnurstracks in den Katholizismus des Mittelalters zurückführen und wird nicht die ganze Frucht der modernen Aufklärung mit ihrer ungeheuren Verbesserung aller Zustände des Volkslebens mit der Vernichtung bedroht, wenn in dieser Weise der extremste Radikalismus des kritischen Verstandes sich mit den bunten Gebilden einer großartig wilden Gothik der Phantasie versöhnt? Ist nicht aufgrund deiner Philosophie eine schlimmere und nachhaltigere Reaktion möglich, als sie durch HEGELs vernünftige Wirklichkeit vermittelt wurde?"

Dieses Bedenken wiegt in meinen Augen ungleich schwerer als das entgegengesetzte der Dogmatiker von der äußersten Rechten bis zur äußersten Linken, die alle eine absolut wahre Religion haben wollen und keine prinzipielle Verschiedenheit von Wissen und Glauben zugeben. Denn in der Richtung des Fortschritts der Menschheit möchte ich gearbeitet haben und wenn meine Kritik des Materialismus dazu führen könnte, indirekt dem Rückschritt zu dienen, so würde ich jeden Satz streichen, der auch nur mit einer leisen Andeutung den Boden der starren Skepsis verläßt.

Ich verlasse mich auf die Richtigkeit der  signatura temporis [Zeichen der Zeit - wp], wie ich sie verstehe; obwohl in diesen Dingen nur von einer praktischen und subjektiven Sicherheit und nicht von einer objektiven Gewißheit die Rede sein kann. Ist unsere Zeit der Beginn einer großen Übergangsepoche, einer Periode, in welcher sich die definitive Erringung politischer und wissenschaftlicher Freiheit vollzieht, während gleichzeitig Keime eines neuen geistigen Lebens Boden fassen, welches vom Makel der Tyrannei geläutert emporsprießt: dann wird mein Wort seinen Boden finden. Meine Absicht ist, im Sinne der Aufklärung und Versöhnung auf meine Zeitgenossen zu wirken, aber nicht die Augen von den großen Kämpfen abzuwenden, die den nächsten Generationen bevorstehen. Je blinder wir im Strudel der Zeit diesen Kämpfen entgegentreiben, desto leidenschaftlicher und verwüstender müssen sie werden. Es ist nicht Zufall, wenn ich meine Arbeit mit einem Abschnitt über  praktische Fragen  beschließe; vielmehr liegt es in der Natur und Konsequenz meiner ganzen Kritik, daß sie auf eine rein praktische Lösung jener Fragen hinweist, die der Materialismus unserer überlieferten Denkweise entgegenwirft. Ich sehe in der Geschichte des Materialismus eine Geschichte der berechtigten Reaktionen des Verstandes und der Sinnlichkeit gegen das Wuchern der Ideendichtung, zugleich aber auch die Geschichte der einfachsten und konsequentesten Naturauffassung, welche dem Menschen, so lange er nicht über die Natur der Sinnenwelt ins Klare kommen konnte, überhaupt möglich ist. Eben weil die kräftigste Reaktion gegen den Idealismus sich immer wieder an die einfache Auflösung der Welt in Atome und ihre Bewegung angeknüpft hat, glaubte ich auch in der Geschichte grade dieser ganz bestimmten Weltanschauung ein Mittel zur allmählichen Entwicklung einer Kritik zu finden, die dem Verstand und den Sinnen ihr volles Recht zu wahren, aber dennoch einen weiteren, alle menschlichen Bestrebungen umfassenden Gesichtskreis zu gewinnen und zu behaupten sucht. Man wird es deshalb erklärlich finden, daß ich nicht ausführlicher auf die Erscheinungen des pantheistischen Naturalismus eingehen konnte, die man so häufig mit dem Materialismus zusammenwirft. Eher wäre eine ausführlichere Berücksichtigung der  Skepsis  an der Stelle gewesen, doch wird man für die Unterlassung im Abschnitt über KANT, sowie in manchen Bemerkungen zu HUME, COMTE und anderen einigen Ersatz finden. Materialismus und Skeptizismus stellt auch KANT stets zusammen, wo er von denjenigen philosophischen Richtungen spricht, welche rein dem Verstand und den Sinnen entstammen; ihnen gegenüber ist der Pantheismus schon eine Form des Idealismus.

Nicht minder liegt es im ursprünglichen Plan, die Geschichte des Materialismus für eine Periode nach KANT in eine Kritik der Naturwissenschaften mit eingehender Berücksichtigung der wichtigsten Streitfragen auslaufen zu lassen. Hier erst kann sich die auf geschichtlichem Weg gewonnene Anschauung bewähren und hier ist auch der einzig fruchtbare Angriffspunkt, um dieser Anschauungsweise einige Geltung unter dem lebendigen Teil der Zeitgenossen verschaffen zu können. Allerdings hatte ich ursprünglich vor, auch dem gegenwärtigen materialistischen Streit ein eigenes literarisch-kritisches Kapitel zu widmen; allein je mehr Streitschriften ich las, desto undankbarer erschien mir für mich und den Leser diese Beschäftigung. Allerdings sind sehr viele unserer heutigen Polemiker an Bildung, Gewandtheit und Beherrschung des positiven Wissens unserer Zeit den KNUTZEN, FRANTZEN, TRALLEs und wie die biederen Kämpen des vorigen Jahrhunderts alle heißen, weit überlegen; allein diese letzteren haben den Vorzug, gewissermaßen als Typen ganze mächtige, wenn auch im Hinschwinden begriffene Zeitrichtungen zu vertreten. Unsere gegenwärtigen Bekämpfer des Materialismus bieten aber, sowohl im Ganzen, als auch die meisten Einzelnen für sich genommen, ein solches Bild von Zerfahrenheit und Verschwommenheit dar, daß sie fast in nichts, als in der Negation des Materialismus übereinstimmen und mit Ausnahme einiger ultramontaner Produkte nicht einmal eine mächtige Partei oder eine weit verbreitete Zeitrichtung vertreten. Es ist diese ganze Polemik auch nur ebenso ein Symptom der Zersetzung aller Grundanschauungen in unserem Zeitalter, wie der Materialismus und seine Ausbreitung selbst. Einem einzigen der theologischen Gegener des Materialismus, FABRI nämlich, möchten wir hier aus besonderem Grunde noch einige Wort widmen. Sind auch seine viel gelesenen  Briefe über den Materialimus  eins der deutlichsten Beispiele jener Zerfahrenheit und inneren Hohlheit, welche fast diese ganze Literatur charakterisiert, so möchten wir doch einen Angriff nicht unerwähnt lassen, der sich ausdrücklich gegen ein Prinzip wendet, dem wir, freilich in einem viel weiter gehendem Sinne als FABRI es verstand, die höchste Wirklichkeit zuschreiben. FABRI richtet gegen die "moderne Rede von einem  Gegensatz des Glaubens und des Wissens  seinen achten Brief. Nach einer Einleitung über das Verhältnis der Reformation zu dieser Frage kommt er zu der Behauptung, es handle sich bei der Apologie [Verteidigung - wp] der christlichen Wahrheit nicht um einen Kampf des Wissens mit dem Glauben, sondern um einen Kampf des religiösen Glaubens mit dem irreligiösen Glauben oder um den Kampf des religiösen Wissens mit dem irreligiösen Wissen. Die Trennung von Glauben und Wissen, welche doch geschichtlich von Gläubigen ausging, hält er für eine Schalkheit der Kinder dieser Welt. "Die Operation ist klug," meint er, "und die Autorschaft dieser listigen Taktik reicht wohl noch weiter, als in das phosphoriszierende Gehirn FEUERBACHs und seiner Freunde." Nach diesen unnützen Verdächtigungen folgt ein überraschendes Geständnis des eigenen Unglaubens:  "Laßt euch nur erst die Natur entreißen und zur unbestrittenen Domäne eines gottleugnenden Materialismus werden, laßt diese Überzeugung in der Menge sich ungestört befestigen - nun so werdet ihr mit dem gar freundlich euch überlassenen Gebiet des blinden Köhlerglaubens nicht nur wenig Zeichen und Wunder mehr tun, sondern auch mehr und mehr, wo ihr anklopft, als die Betrogenen lächelnd die Türe gewiesen bekommen."  Der Apostel PAULUS sagt 1. Kor. 2, 2-5: "Denn ich hielt mich nicht dafür, daß ich etwas wüßte unter euch, ohne allein Jesum Christum, den Gekreuzigten. Und ich war bei euch mit Schwachheit und mit Furcht und mit großem Zittern. Und mein Wort und mein Reden war nicht in vernünftigen Reden menschlicher Weisheit, sondern  in Beweisung des Geistes und der Kraft,  auf daß euer Glaube bestehe  nicht  auf Menschen Weisheit, sondern auf Gottes Kraft."' Diesen Standpunkt hält das neue Testament überall fest, und die Reformation war vollkommen konsequent, wenn sie den Glauben als einen Akt geistiger Verbindung mit Gott festhielt und aus der Wissenschaft ruhig werden ließ, was unter dem Einfluß des Geistes CHRISTI daraus werden mußte. Jeder Versuch, dem Glauben durch naturwissenschaftliche Erörterungen Bahn zu machen, ist dem Geist CHRISTI und der Apostel zuwider und wenn er vollends mit einem Zweifel an der genügenden Wirksamkeit des schlichten, nicht wissenschaftlichen Köhlerglaubens verbunden wird, so ist er eben nur ein Symptom der inneren Haltlosigkeit des Apologeten [Rechtfertiger - wp]. Allerdings kann man der Ausbreitung der weltlichen Wissenschaft durch hinterlistige Angriffe auf ihrem eigenen Gebiet, die nur Verwirrung bezwecken und nichts Positives an die Stelle setzen, sehr nachteilig sein; man kann auch durch solches Treiben dem äußeren Kirchentum Vorschub leister, da dies sich immer auf eine große Masse stützt, die weder lebendigen Glauben noch gediegenes Wissen hat; alle diese Rücksichten sind jedoch ein bloßes Zeichen des Verfalls, denn der lebendige Glaube treibt nicht nur sein Werk direkt durch "Beweisung des Geistes und der Kraft", sondern er imponiert auch den Massen, die sein inneres Wesen noch nicht begreifen, weit wirksamer, als die Entfaltung einer Vielwisserei, von der ohnehin jeder weiß, daß sie dem Wissen der ungläubigen Fachmänner eben doch nicht gleichkommt. Wenn daher FABRI klagt, daß die Mehrzahl der heutigen Christen zwischen dem Heidentum des Kopfes und dem Christentum des Herzens in der Schwebe bleibt, so müssen wir vor allen Dingen ihm selbst dieser Mehrzahl zuzählen, denn ein solcher Zwiespalt läßt sich nicht mit den dürftigen Sophismen flicken, die FABRI uns über Glauben und Wissen vorbringt. Er versucht zuerst einen  biblischen  Beweis, indem er es nach Art der Sophisten wohlweislich unterläßt, die vielen gegen ihn sprechenden Stellen zu erwähnen, deren eine wir oben angeführt haben. Vielmehr dreht sich sein ganzer Beweis darum, daß nach Aussage der Schrift aus dem Glauben nicht nur nur Friede und Freude folgt, sondern auch Licht und Weisheit. Er führt jedoch keine einzige Stelle an, in welcher sich die aus dem Glauben folgende Stärkung der Vernunft auf weltliche und wissenschaftliche Dinge bezöge; dafür vollends, daß ein Wissen über die Natur zur Sicherung des Glaubens erforderlich wäre, wird auch nicht einmal ein Scheinbeweis geführt. Sodann will FABRI auf  spekulativem  Weg dartun, daß alles Wissen überhaupt auf dem Glauben beruhe und daß das christliche Wissen in derselben Weise auf dem christlichen Glauben beruhe, wie jedes Wissen auf einem ihm entsprechenden Glauben. Er meint, auch der radikalste Unglaube habe mit dem Christentum  und überhaupt jeder positiven Religion  ein und dasselbe Erkenntnisprinzip gemein - das Prinzip des Glaubens. Er beruft sich auf PILGRAM, welcher den Ungläubigen einen Widerspruch vorwirft, weil sie auf religiösem Gebiet dasselbe reale Erkenntnisprinzip (den Zeugnisglauben) verwerfen, welches sie sonst überall praktisch anerkennen und tatsächlich verfolgen. Wären diese Argumente richtig, so würde jeder Glaube schon als solcher wahr sein; es würden auch, ganz wie die alten Sophisten lehrten, entgegengesetzte Behauptungen gleich wahr sein können, sobald sie sich nämlich auf das Prinzip des Glaubens stützten. Das Sophisma PILGRAMs beruth auf dem Taschenspielerkunststückchen einer Vertauschung von Subjekt und Prädikat im Obersatz des Schlusses, einem Kunststück, das den Logikern viel zu plump erschienen ist, um es unter den Formen der Trugschlüsse einer besondern Behandlung zu würdigen. "Alles begründete Wissen ruht auf Glauben." Nun ruht der Inhalt der Religion auf Glauben; ergo ist er ein begründetes Wissen." Und um dieses Stückchen anwendbar zu machen, mußte FABRI erst noch den Begriff des Glaubens so ungebührlich erweitern, daß er sogar die unmittelbare Selbstgewißheit des Denkens, sofern wir bloß von der Wirklichkeit unseres Denkens, abgesehen von dessen Inhalt, Überzeugung haben, mit zum Glauben rechnet. Es ist aber klar, daß der Glaube in dieser Allgemeinheit ebensowohl das Fundament des Irrtums wie des Wissens der Wahrheit ist und daß sonach das Kriterium des Wahren nicht wieder der Glaube sein kann.

Gerne hätte ich die  ethischen  und  politischen  Wissenschaften in derselben Ausführlichkeit wie die Naturwissenschaften in ihrem Verhältnis zum Materialismus geprüft und namentlich in diesem Teil eine  Kritik der Volkswirtschaft,  für welche die Grundgedanken längst bei mir feststehn, in rein theoretischer Weise gegeben; allein hier mußte ich nicht nur der dringenden Notwendigkeit der Abkürzung huldigen, sondern ich fürchtete auch einigermaßen unwillkürlich zu tief in spezielle Streitfragen zu geraten, die mich in den letzten Jahren in Folge meiner Tätigkeit auf sozialem Gebiet lebhaft beschäftigt haben. So wurde dieser ganze Teil denn nun mit dem Abschnitt über  praktische  Fragen verschmolzen. Sollten dadurch einige wesentliche Momente meiner Kritik einen unverdienten Schein von Subjektivität erhalten, so muß ich mir das einstweilen gefallen lassen und hoffen, daß die wichtigsten Gedanken dieser Kritik, die mir nun einmal in unserer Zeit zu liegen scheinen, bald von einem befähigteren Arbeiter in einem anderen Zusammenhang zur Geltung gebracht werden mögen. Daß der Behandlung der praktischen Fragen selbst eine stark subjektive Färbung mit Notwendigkeit anhaften muß, folgt aus meiner eigenen in diesem Werk so oft dargelegten Grundanschauung. Ich hoffe nur auch hier nicht ganz vereinsamt zu stehen und den Gesinnungen eines größeren oder kleineren Kreises Ausdruck zu geben. Es werden vielleicht nicht die Klügsten sein, die es mit mir halten, aber gewiß nicht die Schlechtesten.

In Beziehung auf die historisch-literarischen Grundlagen meiner Arbeit bemerke ich, daß ich natürlich den Anforderungen an eine geschichtliche Monographie im Ganzen nicht entsprechen konnte und wollte; weil ich dann nicht die Verbindung zwischen den Resultaten verschiedener Zweige des Wissens und der Lebenserfahrung hätte herstellen können, die ich zur Lösung meiner Aufgabe bedurfte. Was auf der einen Seite gewonnen wurde, mußte auf der anderen geopfert werden. Andererseits ist meine Arbeit auch keine bloß sekundäre. Meine Detailstudien reichten immerhin aus, um mich für die wichtigsten Angelpunkte: LUKREZ, GASSENDI, HOBBES, de LAMETTRIE u. a. völlig unabhängig zu machen und mir ein begründetes Urteil über die Grenzen der Brauchbarkeit der wichtigsten Vorarbeiten zu verschaffen. Wo ich solche benutzt habe, ist es in der Regel im Text durch ein eingeflochtenes Wort der Anerkennung oder Beziehung angedeutet. Anmerkungen und Zitate entsprachen dem Zweck meiner Arbeit nicht.

In der Kritik der einzelnen Wissenschaften konnte ich nicht umhin, öfter ein Resultat eigener Studien vorzubringen, ohne daß der Zusammenhang eine ausführliche Begründung erlaubt hätte. Hinsichtlich der mathematischen Psychologie HERBARTs habe ich mir durch eine besondere kleine Broschüre geholfen; einige Punkte der Volkswirtschaft finden in meinen sozialpolitischen Flugschriften Erwähnung; bei manchen anderen Fragen verlasse ich mich darauf, daß ich nach Kräften in der Richtung des tatsächlichen Fortschritts der Wissenschaften vorgegangen bin und daß ich daher von besser gerüsteten Nachfolgern eher eine Bestätigung hoffen, als eine Zurechtweisung fürchten darf.

Duisburg im Oktober 1865
A. LANGE
LITERATUR Friedrich Albert Lange, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, Iserlohn 1866