ra-3ra-2ra-2W. SombartC. FrantzJ. Eötvösvon MohlTh. Veblen    
 
HEINRICH von TREITSCHKE
Die Gesellschaftswissenschaft
[ein kritischer Versuch]

"In Geschichte und Politik ist die absolute Logik ein Ding von sehr zweifelhaftem Wert."

"Der Adelige verdankt sein Vorrecht der Geburt, der Staat kann das vorhandene nur anerkennen. Aber der Erbadel entsteht in jener dunklen Zeit des Gattungslebens der Völker, wo der Familie als solcher politische Bedeutung innewohnt; der erbliche Vorzug einzelner Geschlechter, die Reinheit des Blutes, ist nur solange von Wert, als der Glaube daran vorhanden ist."

"Neben dem Adel und den Bürgerlichen bildet der sogenannte vierte Stand eine dritte Volksgruppe im Staat, jene Klasse, die Aristoteles am besten charakterisiert hat, wenn er sagt, sie führe ein vorwiegend wirtschaftliches Leben und habe wenig Lust, sich um den Staat zu kümmern. Nicht die Armut bezeichnet ihn, sondern die vorwiegend körperliche, dem geistigen, besonders dem politischen Leben entfremdende Tätigkeit."

"Die staatliche Entwicklung eines Volkes mit gleichmäßig verteilter Bildung ist eine enge, beschränkte, weil die Vorbedingung jedes Fortschreitens, das Dasein starker Gegensätze, fehlt. Erst das Aufkommen einer durch höhere geistige Interessen ausgezeichneten Klasse bringt Leben in einen Staat, aber auch einen aristokratischen Bestandteil, einen Herd des Unfriedens."

1. Einleitung. Die alte Erfahrung, daß in politisch müden Zeiten die sozialen Ansprüche in den Vordergrund des Volkslebens treten, ist uns nicht bloß durch die staatlichen Zustände des letzten Jahrzehnts bestätigt worden. Auch die Staatswissenschaft hat sich wieder als ein treuer Spiegel der öffentlichen Verhältnisse erwiesen. Wir sind mit einer Fülle dankenswerter Forschungen über bisher ganz vernachlässigte soziale Fragen beschenkt worden. Noch mehr, es regen sich Vorschläge zu einem gänzlichen Neubau der Staatswissenschaft: eine neue Lehre - eine Naturgeschichte des Volkes, eine soziale Anthropologie, eine Sozialwissenschaft - soll ihr zur Seite treten oder sie ganz verdrängen. Endlich hat ROBERT von MOHL in seiner Geschichte der Staatswissenschaft diesen weit auseinander gehenden Stimmungen und Bestrebungen einen klaren wissenschaftlichen Ausdruck gegeben. Er verficht die Notwendigkeit, die Lehre von der Gesellschaft, von den je aus einem bestimmten Interesse sich entwickelnden natürlichen Genossenschaften, aus der Lehre vom Staat auszuscheiden. Man durfte erwarten, eine so tief eingreifende Neuerung, vorgeschlagen von einem so kompetenten Beurteiler, werde lebhafte Debatten hervorrufen. Die Versuche, die Staatswissenschaft von einem sozialen Standpunkt aus umzugestalten, sind seitdem vielfach und in sehr abweichender Weise erneuert worden (1). Doch ist ein direktes Eingehen auf MOHLs Vorschläge erst von Wenigen versucht (2) und noch immer nicht überflüssig. Ich werde im Ganzen der Darstellung MOHLs folgen und die Ansichten anderer Sozialtheoretiker nur an einzelnen Stellen erwähnen.

2.  Die Gemeinden.  MOHL rechnet zu den sozialen Genossenschaften, welche ein zwischen dem Privatleben und dem Staat mitten drin stehendes Verhältnis bilden, die Stände, die Gemeinden, Stämme und Rassen, wirtschaftliche, religiöse und andere Verbindungen. Beginnen wir mit den Genossenschaften, welche, gleich dem Staat, durch das Zusammenleben auf gemeinschaftlichem Gebiet entstehen, mit den  Gemeinden.  Die Gemeinde greift fördernd und abwehrend in alle Verhältnisse des Volkslebens ein, soweit sie Raum haben sich in ihrem Kreis zu entfalten; sie schützt ihre Einwohner, sichert ihren Besitz, errichtet gemeinnützige Anstalten. Vom Staat unterscheidet sie sich nur dadurch, daß sie eine souveräne Gewalt über sich hat, daß sie nicht das organisierte Volk, sondern ein Teil desselben ist. Eine Gemeinde unabhängig hingestellt ist selbst Staat. Die Entstehung des Staates und der Gemeinde berühren sich mannigfach: Landgemeinden treten zusammen zu einem Bauernstaat; andere Dörfer vereinigen sich zu einem städtischen Staatswesen; oder auch der Staat löst sich in eine Reihe unabhängiger Gemeinden auf. Es ist wahr, die Gemeinden werden nicht immer vom Staat gegründet; sie scheinen, hat man gesagt (3), aus Gottes Hand hervorzugehen. Sie erscheinen in ältester Zeit als die ersten Anfänge geordneten menschlichen Zusammenlebens, in ihnen entwickelt sich der Keim des höchsten und wesentlichsten Staatszwecks, des Rechts. Ja, selbst dem vorhandenen Staat stehen sie noch eine lange Zeit selbständig gegenüber, in jenen Tagen, wo öffentliche und Privatverhältnisse sich noch nicht geschieden haben, wo der Staat auch den Schutz des Rechts noch nicht allein ausübt. Aber mit den ersten Regungen der Staatsidee bildet sich der schon von den alten französischen Legisten, diesen Pionieren der Staatseinheit, verteidigte Grundsatz: Gemeinden können nur mit Zustimmung des Staates gegründet werden. Diese Anschauung ist dem reifenden modernen Staat unverloren geblieben: unsere Gemeinden können notwendig nur  einem  Staat angehören; "sie sind", sagt ein deutsches Grundgesetzt (4), "die Grundlagen des Staatsvereins; jeder Staatsbürger muß  daher  einer Gemeinde als Bürger oder Beisitzer angehören."

Der Entwicklungsgang der Gemeinde ist dem des Staates analog. Die Nomaden, denen die Vorbedingung staatlichen Daseins fehlt, haben keine Gemeinden. Wo das Volk sich aus dem Gattungsleben erst herausarbeitet, da bildet die Geschlechterverbindung die politische Gemeinde; wo das Land nur ein stehendes Lager ist, da bilden die Heeresabteilungen die Grundlagen des Staates. Ortsverbände werden erst dann politisch bedeutend, wenn der Staat wahrhaft seßhaft geworden ist. Wo die politischen Rechte am Grundbesitz haften, da sind auch die Gemeinden Realgenossenschaften. Die Gemeinde nimmt Teil an allen Entwicklungsphasen des Staates; wo das nicht geschieht, da ist auch die politische Veränderung keine vollständige. Das fränkische Königtum steht, trotz der ungeheuren Umwandlung des Ständewesens, dem altgermanischen Verfassungsleben nur darum so nahe, weil die Gemeinden fast unverändert fortbestanden (5). Alle Versuche zur freien Umgestaltung des französischen Staatswesens waren vergeblich, weil seine Gemeindeverfassung die eines militärischen Despotismus war und blieb. - Ein Staat ist ebensowenig zu verstehen ohne eine Kenntnis seines Gemeindewesens, wie eine Gemeindeverfassung ohne Kenntnis des Staates; ja ich zweifle, ob sich die Staaten nicht schärfer und tiefer durch die Stellung ihrer Gemeinden unterscheiden, als durch die Formen ihrer Zentralgewalt. Wenn die Alten eigentliche Landgemeinden gar nicht kannten (6), so sehen wir darin jenen radikalen Unterschied nicht bloß ihrer Gemeinden, sondern ihres Staatswesens, der unsere modernen Urteile über die hellenischen Stadtstaaten so schief und ungerecht macht. Ein einseitiges Gemeindeleben bedingt einen einseitigen Staat; es ist charakteristisch, daß derselbst ARISTOTELES, der einmal beiläufig (7) den Staat aus Familien und Gemeinden zusammensetzt, ohne Folgerungen daraus zu ziehen, an einer anderen Stelle (8) ebenso beiläufig von der Repräsentation als einer praktischen Maßregel spricht, ohne zu ahnen, daß er es hier mit einer eigentümlichen politischen Idee zu tun hat.

Ist es denkbar, daß Körperschaften, die in einem so engen Zusammenhang mit dem Staat stehen, wirklich nur aus Zweckmäßigkeitsgründen die untersten Verwaltungsbezirke des Staates werden? Müssen sie nicht vielmehr selbst vorwiegend politischer Natur sein? Wir sahen, die Gemeinde ruht, wie der Staat, auf einer lokalen Grundlage; sie ist vielgestaltig wie er - von jenen öden Kantons in Texas bis herauf zu unseren großen Städten -; sie ist kein Naturprodukt, (9) sondern, gleich dem Staat, ein Werk natürlicher Verhältnisse und menschlichen Willens zugleich; sie ist endlich, wie er, universeller Natur, sie hat die Fähigkeit alle Stände, alle Genossenschaften für Partikularzwecke zu umfassen und unter ihre Ordnung zu beugen. Darum werden die Gemeinden in jedem reichentwickelten Volk politische Verwaltungsbezirke. Man stelle sich solche Verwaltungsfunktionen vor in den Händen eines Standes, einer Kirche, einer wirtschaftlichen Genossenschaft: wie einseitig werden sie von diesen unpolitischen Körperschaften ausgeübt werden! Durch diese Vergleichung erhält auch das oben hingeworfene Wort, daß die Gemeinde unabhängig gestellt ein Staat ist, seine Bedeutung. Von anderen sozialen Körpern läßt sich das nicht sagen; sie haben nichts dem Staat Entsprechendes, wie die Gemeinde wenig oder gar nichts hat von der staatsfeindlichen Eigenschaft aller Partikulargenossenschaften, von der  pleonexia [mehr-haben-wollen | wp]. Nur aus der politischen Natur der Gemeinde ist die politische Leidenschaft zu erklären, welche der jüngst erneute Versuch einen Stand vom Gemeindeverband zu eximieren [von einer Verbindlichkeit befreien - wp] hervorgerufen hat. Diese Bewegung entspringt einem gesunden Gefühl: es handelt sich hier um ein Zerreißen nicht bloß des Gemeinde-Verbandes, sondern des Staates. Nur hierdurch wird es ferner klar, warum die Frage: inwieweit ist die Gemeindegewal vom Staat deligiert? noch immer keine Lösung gefunden; warum man sich streitet, ob die Blütezeit der deutschen Polizeigesetze in den Städten des 15. Jahrhunderts als die höchste Ausbildung kommunaler Tätigkeit oder als das Erwachen neuer politischer Ideen anzusehen ist.

Keine Frage, jene universelle Natur der Gemeinden zeigt nicht immer und auch nicht überall. Insbesondere besteht der tiefgreifende Gegensatz von Dorf und Stadt, ein Gegensatz, der in voller Schärfe notwendig zu sein scheint, um das Aufblühen wirklicher Städte in einem Ackerbaustaat zu ermöglichen. (Über ein Mehr oder Weniger mag sich rechten lassen, wenn man an die englischen Städte denkt.) Nur als Gewerbsgenossenschaften, streng abgeschlossen durch Bannrechte, erwuchsen die germanischen Städte zu einer Blüte, welche den Orientalen und Slawen mit ihren großen Dörfern unerreicht blieb. Dasselbe ökonomische Prinzip lag den Markgenossenschaften zugrunde. Aber sobald der Staat sich vom Feudalismus gänzlich befreit, erlangen auch die Gemeinden durch Gewerbefreiheit und Gemeinheitsteilung eine wesentlich politische Natur (10). Ein gewisser ökonomischer Partikularismus haftet ihnen immer an. Die Sorge für Handel und Wandel ist das erste ihrer Geschäfte; besonders die des Dorfes werden fast ganz von der Landwirtschaft bestimmt. Ebenso wird die Gemeinde ihrer Natur als einer "Apökie [Form der Kolonisation mit dem Ziel der Gründung eines von der Mutterstadt unabhängigen neuen Staates - wp] von Familien" (11) nie ganz vergessen; persönliche Verhältnisse spielen in ihr eine weit größere Rolle, als in rein politischen Institutionen. Überhaupt geht neben dem politischen Leben der Gemeinde ein rein lokales her; hier ist der Punkt, wo auch die Gemeinde partikularistisch ist. Trotzdem bleibt sie ein Glied des Staates; daß ihr Leben nicht ganz in dem seinen aufgeht, überrascht Keinen, der im Staat mehr sieht, als einen Mechanismus. Ist nun diese lokale Seite des Gemeindewesens einer abgesonderten wissenschaftlichen Behandlung fähig? Eine Wissenschaft kann nur betrachten, was den Gemeinden gemeinsam ist, und dies ist die Ausführung der Staatszwecke in eingeren Kreisen; so kommt man vom Wesen der Gemeinden notwendig auf den Staat. Was außerdem jeder einzelnen Gemeinde eigentümlich ist, entzieht sich, als lediglich lokaler Natur, der systematischen Behandlung; solche Tatsachen werden von der Wissenschaft in der Gemeindestatistik verzeichnet, vom Staatsmann als Material in seine Berechnungen aufgenommen. Es können in einer Stadt über persönliche und örtliche Fragen die heftigsten Parteiungen bestehen, die mit politischen Meinungen nichts zu tun haben. Verbreiten sie sich aber über eine Reihe von Gemeinden, so verlieren sie eben dadurch ihre örtliche Beschränktheit; es liegen ihnen dann immer ein politisches Moment (ein Klassenkampf und dgl.) zugrunde.

Keineswegs darf aus der politischen Natur der Gemeinden gefolgert werden, sie seien ihrem Wesen nach der Beherrschung durch Staatsbeamte unterworfen, - ein Schluß, der nur dann zuträfe, wenn Staat und Beamtentum gleichbedeutend wären. Die Gemeinden sind das Feld, wo sich die freie Teilnahme des Volkes an der Verwaltung betätigt. Derselbe Despotismus, der das Verfassungsleben im Willen des Fürsten konzentriert, versucht die Selbständigkeit der Gemeinden zu brechen; und derselbe Drang des Jahrhunderts, der in der Volksvertretung eine Teilnahme der Bürger an der Gesetzgebung erzwang, gab uns durch die Gemeinde-Ordnungen die Selbstverwaltung. Es ist also mehr blendend als wahr, wenn STAHL (12) einen schroffen Gegensatz von Staat und Gemeinde in der monarchischen Richtung des einen, der republikanischen der anderen findet. Monarchische Ordnungen auf kleinem Raum sind immer Karikaturen. Sodann, wenn Staat und Gemeinde beide dieselben Zwecke verfolgen, äußerlich ordnend und fördernd in alle Bestrebungen des Volkes eingreifen: so ist es dieser wesentlich gleichartigen Tätigkeit gegenüber nicht von Belang, ob die damit betrauten Personen von einer Zentralgewalt abhängen oder aus der Wahl kleinerer Kreise hervorgehen. - Am einfachsten und glücklichsten steht es in einem Staat, dessen Institutionen sich an die Gemeinden anlehnen, wo die Gemeinden zugleich politische Wahlkreise, ausgezeichnete Kommunalbeamte politischen Einflusses sicher sind. Das Übermaß der Gewalt, das unsere Städte einst erlangten - besaßen sie doch oft die Vogtei und setzten legale Statuten fest, während sie lediglich verwalten sollten - und später das Übermaß ihrer Bedrückung durch das fürstliche Beamtentum haben uns weit von diesem Ziel entfernt. Was Wunder, daß jetzt die Staatsbeamten sich tatsächlich oder gar gesetzlich (13) dem Kommunalleben ganz entfremden, die Gemeinden im Staat nur den großen Störenfried sehen - mit einem Wort, daß Staat und Gemeinde auseinanderfallen.

Das politische Wesen der Gemeinden wird nicht widerlegt durch die Tatsache, daß die meist fester stehen als der Staat, daß sie oft fortdauern, wenn die Staatsform oder gar der Staat selbst zugrunde geht. Ein kräftiger Staat läßt sich nie gänzlich vernichten; wenn er zur Provinz eines andern wird, bleibt ihm eine Fülle politischer Institutionen und Ideen, die, wo nicht seiner Verfassung, so doch seiner Verwaltung einen durchaus eigentümlichen Charakter geben. Auch der Sprachgebrauch darf nicht täuschen, der so oft die politische Zentralgewalt mit dem Staat verwechselt und den Staat den Gemeinden oder dem Volk entgegenstellt. - Somit gehört die Betrachtung der Gemeinde als eines notwendigen integrierenden Gliedes des Staates in die Staatswissenschaft. Nur die noch übrigen Reste der Zunft- und Markverfassungen werden zugleich im Privatrecht abgehandelt.

3.  Landschaften, Kreise, Provinzen.  Noch einleuchtender wird das Obige, wenn man diejenigen Glieder des Staates betrachtet, die zwischen den Gemeinden und der Zentralgewalt mitten drin stehen,  Provinzen, Landschaften, Kreise.  Schon von anderer Seite (14) ist bemerkt worden, daß MOHL sie konsequenterweise unter seine sozialen Genossenschaften aufnehmen mußte. Auch hier sind auf örtlicher Grundlage ruhende Gemeinschaften, die sich, gleich den Gemeinden, umso eigentümlicher entwickeln, wenn ihre lokale Abgeschlossenheit noch durch eine Stammgemeinschaft verstärkt wird. Auch hier ist ein weites Feld von örtlichen Bedürfnissen und Interessen, Parteiungen und Verdiensten; auch sie stellt der Sprachgebrauch dem Staat gegenüber. Aber auch für sie ist MOHLs Behauptung, ihre lokalen Verhältnisse ständen mit der Einheit des Staatsgedankens und seinem Organismus in keiner Beziehung, nicht zutreffend. Sie sind das Feld, wo sich die Einheit des Staatsgedankens in der Verwaltung kleinerer Kreise verwirklicht. Ich rede hier weder von badischen Kreisen, diesen Notbehelfen eines unfertigen Staates, noch von den durch ein frivoles Zerreißen berechtigter Stammeseigentümlichkeiten entstandenen französischen Departements; ich meine die belgischen, die österreichischen, die Mehrzahl der Preußsischen Provinzen. Der Staat schafft sie nicht, er findet sie vor; er muß solche durch eine Gemeinschaft der Lage, der Abstammung und vor allem der Geschichte eng verbundene Bezirke in ihrer Eigentümlichkeit anerkennen, will er nicht ebenso widernatürliche Zustände hervorrufen, wie durch das Zerreißen bestehender oder die Gründung künstlicher Gemeinden. Freilich wirkt die Zentralgewalt, bei der größeren Gefahr einer Loslösung vom Staat, auf diese Kreise weit intensiver und unmittelbarer als auf die Gemeinden. Trotzdem entsteht in ihnen, selbst wenn sie nur ein Werk politischer Willkür sind, eine Fülle örtlicher Interessen, die nicht durch den Staat hervorgerufen werden. Soll man nun deshalb die Landschaften aus der Staatswissenschaft ausscheiden? Bleibt nicht vielmehr die Verfassung und noch mehr die Verwaltung eines Staates unverständlich, wenn man die Provinzen nur als Institute zur Ausführung des Zentralwillens ansieht, wenn man nicht erwähnt, wie sie in Haß oder Neigung, in Reichtum oder Armut an Interessen und Bedürfnissen sich zum Staat und zueinander verhalten? Kleine Bezirke, als Tummelplätze des öffentlichen Lebens  unter  der Zentralgewalt des Staates, braucht jedes über eine weite Fläche verstreute Volk; merkwürdig, in wie verschiedener Weise dieses Bedürfnis befriedigt wird. In England, wo es wenig wahre Bauern gibt, sind die Gemeinden verkommen; dafür hat Englands Gentry [Adel und gehobenes Bürgertum - wp] in den Grafschaften ein Gebiet gefunden für ihre politische Pflichterfüllung, ihre Selbstverwaltung. Unsere Kreise und Provinzen, ausgezeichnet einst durch ihre partikularistischen Gelüste und das staatsfeindliche Treiben des Adels, führen ein sehr unselbständiges Leben; dafür zeigten in den letzten fünfzig Jahren Bürger und Bauern in den Gemeinden in reichem Maße die Neigung und Fähigkeit zur Selbstverwaltung. Solche Gegensätze sind bezeichnend für die Staaten; sie beweisen, wie Staat, Provinz, Gemeinde wesentlich gleichartig sind, wie der Staat nur gedacht werden kann als eine Einheit lokaler Genossenschaften, die jede in ihrem Kreis noch ein selbständiges Leben führen. - So erscheint der Staat sehr wenig logisch; aber in Geschichte und Politik ist die absolute Logik ein Ding von sehr zweifelhaftem Wert.

4.  Stämme, Rassen, Nationen.  Die Erscheinungen, welche das Zusammenleben verschiedener  Stämme  oder  Rassen  in einem Land hervorruft, rechnet MOHL zu den gesellschaftlichen Gestaltungen, welche den Staat zwar vielfach berühren, doch ihrem Wesen nach ihm fremd sind. Ich meine, an solche Verhältnisse knüpfen sich zwei scharf zu trennende Folgen, Kulturfragen und Machtfrage. Wie sich die Rassen nach Abstammung, Sprache, Charakter unterscheiden, wie der Geist eines Stammes durch Berührung mit andern verändert wird oder erstarrt: diese Tatsachen hat sich der Staatsgelehrte vom Historiker, Philologen, Ethnographen erklären zu lassen. Er muß sie kennen, nicht bloß weil jede bedeutende Kulturerscheinung notwendig nach einer Umgestaltung der politischen Verhältnisse drängt, sondern auch weil diese Erscheinungen des geistigen Lebens überraschende Erklärungen und Analogien bieten für politische Fragen, weil das Recht des unterdrückten Stammes in ganz ähnlicher Weise vom Sieger umgestaltet wird wie seine Sprache: der eigentliche Kern des Rechts bleibt, wie der der Wörter, noch lange unverändert, während sein formeller Teil schon früh verwandelt wird (15). Wie aber das Zusammenleben der Stämme auf ihre Machtverhältnisse wirkt, wie hier der eine Stamm sich der Staatsgewalt bemächtigt, um den andern zu knechten, dort beide lose verbunden nebeneinander hinleben usw.: dies begründet die verschiedene Natur der Staaten; dies darzustellen ist eine der reizvollsten Aufgaben der Staatswissenschaft. Jede historische Nation strebt in der Zeit ihrer Kraft danach, sich selbständig politisch zu gestalten; jeder Staat sucht die ihm zugehörigen Stämme mit einem politischen Gesamtbewußtsein zu durchdringen (16). Ob nun ein politisches Volk zugleich eine historische Nation ist, und welche Konflikte sich aus dem Gegenteil entwickeln, das sind rein politische Fragen. Schon rein äußerlich als eine Anstalt zum Schutz der Ordnung betrachtet, schon um des Friedens willen muß er dem aristotelischen Ideal (17) nachstreben, daß keiner seiner Teile wünschen darf, der Staat sei anders. Wie viel mehr, wenn wir den Staat als den Förderer nicht nur, sondern zugleich als das Werk des gesamten Kulturlebens eines Volkes betrachten. Zu einem Staat gehören zwei Momente, seine Institutionen und sein Volk; sonst wäre die politische Wissenschaft mit einigen dynamischen Lehrsätzen am Ziel. Neben die vielfachen Einteilungen der Staaten nach ihren Formen, ihren Zwecken usw. tritt berechtigt die Unterscheidung nach ihrer ethnischen Zusammensetzung. Da finden wir autochthone Völker, von außen unberührt, ohne den Wunsch sich auszubreiten, mit dem Trieb sich in kleine Staaten zu zersplittern. Andere Staaten werden groß und stark durch die Verschmelzung verschiedener Stämme, sei es daß die Sieger allmählich die höhere Kultur der Besiegten annehmen, sei es daß sie das bedrückte Volk seiner natioalen wie seiner politischen Eigentümlichkeit berauben, oder endlich daß beide gegenüber der Gefahr einer gemeinsamen Unterdrückung zusammenhalten und schließlich verschmelzen. Hier gehen die ethnische und die politische Entwicklung parallel; in der Zeit des Übergangs ist der Staat unfertig und unklar, weil das Volk unfertig ist; und in demselben Maß wie die Stammesgegensätze sich mildern und ausgleichen, nimmt der Staat eine freie und ausgebildete Form an. Ich erinnere an die Germanisierung unseres Nordostens. Wieder in anderen Ländern leben verschiedene Stämme nebeneinander; von ihrer ethnische Charaktereigentümlichkeit hängt hier wesentlich der politische Zustand ab. Bald tröstet sich ein Stamm mit seiner individuellen Freiheit über den Mangel an politischer Selbständigkeit hinweg (18). Bald ist keiner stark genug den andern zu vernichten, keiner schwach genug sich zu beugen. Dann ist ein gesunder Staat undenkbar; seine erste Vorbedingung, daß das Volk sich in die politischen Institutionen einlebt, ist unmöglich; der Staat kann jeden Augenblick zerfallen. Hier zeigt es sich, daß Rassengesetze in letzter Instanz sich notwendig politisch verwirklichen. Man denke sich einen Staat mit genau denselben Institutionen, wie die des dänischen Gesamtstaates, aber ohne den tiefwurzelnden berechtigten Nationalhaß seiner Glieder: gewiß, nicht bloß das Volk, nein, der Staat wäre ein ganz anderer. Nicht anders, wo ein Stamm den andern völlig beherrscht. Ist diese Herrschaft rechtlich normiert, so liegt ihre politische Natur auf der Hand: der Süden der Vereinigten Staaten ist eine Massenaristokratie der brutalsten Art, dem Kastenstaat sehr nahe stehend. Auch die tatsächliche Bedrückung eines Stammes unterliegt der politischen Betrachtung. Das Staatsrecht kann solche Zustände freilich nur beiläufig und an der Oberfläche berühren. Aber was wäre das für eine Politik, die uns Irland nur als eine Provinz des Vereinigten Königreichs mit dem Schatten eines Statthalters darstellt und Bewohnern, die den anderen Insassen Großbritanniens rechtlich gleich stehen; die uns die ökonomische Ausbeutung, den religiösen und nationalen Haß der Kelten nicht erklärt, weil das soziale Tatsachen sind? Wie will man dann so unzweifelhaft politische Erscheinungen, wie die irische Propaganda und den Aufstand von SMITH O'BRIEN, verstehen? Ganz recht, die Staatsbehörden versuchen oft umsonst durch strenge Gesetze diesen Rassenhaß zu bändigen. Aber die Staatsbehörden sind noch nicht der Staat. Die Politik betrachtet nicht nur die Institutionen des Staates; gleich wichtig ist ihr die Frage, ob und warum die Gesetze  gebrochen  werden, sie schildert das  Leben  des Staates, seinen Zusammenhang mit dem gesamten Volkstum. Auch die Juden, obwohl sie nur sporadisch verbreitet sind und vor dem Gesetz nicht als Stamm, sondern als Religionsgemeinschaft gelten, kann die Politik da nicht mit Stillschweigen übergehen, wo sie mächtig sind. Und mächtig sind sie zumindest in all den halbbarbarischen Landen, wo sie als Pioniere des Handels auftreten und besonders auf die Gestaltung des Städtewesens bestimmend wirken.

Mit dem Zusammenleben mehrerer Stämme in einem Land sind die Erscheinungen, welche sich hier aufdrängen, noch nicht erschöpft. MOHLs Behauptung (19), ein Stamm, der sich politisch konstituiert, geht im Staat auf, trifft nicht immer zu. Auch ein solcher Stamm kann, besonders unter einer unfreien Verfassung, unabhängig von der Staatsgewalt oder gegen ihren Wunsch, in Liebe und Haß, in Kulturbeziehungen aller Art ein nationales Leben führen, das, in seinem Ursprung nicht politisch, zuletzt notwendig auf den Staat und seine Stellung in der Völkergesellschaft einwirkt.

Weit wichtiger ist die Zerteilung einer Nation unter verschiedenen Staaten. Auch hier zeigen sich Bestrebungen, die weder vom Staat ausgehen noch von ihm anerkannt werden. Meist sind sie dem Staat feindlich und dennoch sind sie politisch; es sind Äußerungen des Dranges jeder kräftigen Nation nach politischer Gestaltung. In einzelnen Fällen kann ein starkes Nationalgefühl die mangelne Staatsform fast ersetzen: der ganz lose Bund der Eidgenossen im Mittelalter erhielt seine Bedeutung erst durch den Kriegsruhm und das Gesamtbewußtsein der Schweizer. Selbst das Staatsrecht muß unterscheiden zwischen einem nationalen und eine völkerrechtlichen Staatenbund (20). Die Politik kann vom deutschen Bund nicht reden, ohne zu erklären, warum er zu Schleswig und der Provinz Preußen in einem ganz anderen Verhältnis steht als zu Ungarn. Nur wenn die Staatswissenschaft den unlösbaren Zusammenhang politischer und nationaler Bestrebungen einsieht, hat sie das Recht, eine der politischen Kardinalfragen unserer Zeit, die nach der Berechtigung der Nationalitäten, vor ihr Forum ziehen.

5.  Die Stände.  Unter  Ständen  verstehen wir die großen Gruppen des Volkes, welche durch eine Gleichheit der Lebensweise, infolgedessen der Ideen und Sitten, oft auch gewisser Rechtsverhältnisse verbunden sind. Zur vollen Blüte gelangt das Ständewesen wo jeder Bürger einem Stand angehören muß und nur  einem  Stand angehören kann, wo jeder Stand nach eigenem Recht lebt. Hier geht der Staat offenbar in den Ständen auf, er ist nur ein Konglomerat [Anhäufung - wp] von Ständen. Mit Recht konnte deshalb noch das preußische Landrecht (21) von Ständen  des Staates  reden, obwohl damals der Kampf der modernen Staatsidee mit dem alten Ständewesen bereits begonnen hatte. Umgekehrt wo ein Volk ein vorwiegend politisches Leben führt, gehen die Stände im Staat auf; den Alten sind sie Teile des Staates (22). Seit der moderne Staat den großen Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz aufgestellt hat, hat der Begriff des Standes eine schwankende und vielsinnige Bedeutung erhalten. Überall finden sich einzelne Volksklassen, innerhalb deren für die aus ihrem Beruf entspringenden eigentümlichen Verhältnisse ein besonderes Privatrecht gilt: sei es daß dieses Partikularrecht als ein vom gemeinen Recht des Landes unabhängiges Standesrecht gilt und sogar durch besondere Gerichtshöfe geschützt wird: sei es - was, nach Englands Beispiel zu schließen, dem Wesen des einheitlichen Staates mehr entspricht - daß gewisse Institute des gemeinen Rechts tatsächlich nur auf einzelne Berufsklassen Anwendung finden. Solche Stände - darf man sie überhaupt so nennen - werden allein und erschöpfend von der Wissenschaft des Privatrechts betrachtet. Verschieden hiervon sind die historischen Volksstände, die sich von einander sondern durch eine Eigentümlichkeit der Lebensweise und der Ideen und besonders durch die Rolle, welche sie in der politischen Geschichte spielen, mag ihr politischer Einfluß rechtlich begründet oder nur tatsächlich vorhanden sein. In beiden Fällen finden sie ihren Platz in der Politik, im ersten Fall auch im Staatsrecht. Die geistige Atmosphäre, worin sich jeder dieser Stände bewegt, hat für die Staatswissenschaft zunächst nur den Wert einer Tatsache, welche sie voraussetzen und kennen muß, weil sich die politische Wirksamkeit der Stände wesentlich an ihr Kulturleben anknüpft. Wie sich aber die Elemente politischer Macht - Reichtum, Bildung und Teilnahme am staatlichen Leben - unter die Stände verteilen, dies ist für die Staatswissenschaft von höchster Wichtigkeit. Jeder Stand ist seinem Wesen nach selbstsüchtig, er strebt danach sich der Staatsgewalt zu bemächtigen, auf daß er selbst herrsche oder daß zu seinem Vorteil geherrscht wird. Ob dies gelingt, ob die Staatsgewalt in den Händen eines Standes die durch Natur und Geschichte gegebenen Verschiedenheiten in Rangunterschiede verwandelt, oder ob die Idee der Staatseinheit im Kampf mit den ständischen Sonderbestrebungen durchdringt, daraus ergeben sich wichtige Unterscheidungen zwischen den Staaten. Die Prinzipien der Aristokratie und der Demokratie, Abschließung und Gleichheit, beziehen sich vorwiegend auf das Verhältnis der Stände. Wo eine schroffe Sonderung der Stände besteht ist das ganze Volksleben aristokratisch. Tritt dazu noch jene Fülle nationaler, religiöser, ökonomischer Momente, welche die krasseste Ausartung des Ständewesens, die indischen Kasten, verstärken, so ist die aristokratische Richtung für Volk und Staat ein für allemal vorgezeichnet. Hindustan hat, seit es seine Kasten besitzt, nie andere als aristokratische Verfassungen gehabt. Der Staat war hier oft eine Aristokratie mit despotischer Spitze, aber niemals eine reine Monarchie oder gar Demokratie. Seine Eroberer verschmolzen entweder mit den obersten Kasten oder sie bildeten - bald rechtlich bald tatsächlich - eine neue Kaste über ihnen, wie jetzt die Briten. Im Vergleich mit diesem durch das Ständewesen gegebenen Charakter von Volk und Staat ist die Frage nach der Herrschaftsform des Staates von geringerer Bedeutung. Man halte das Frankreich von heute mit dem Reich LUDWIGs XIV. zusammen. In beiden ein schrankenloser Despotismus. Trotzdem ist eine Parallele zwischen ihnen nicht zu ziehen, nicht wegen des Schattens einer parlamentarischen Körperschaft, die neben dem Thron NAPOLEONs III. steht (bestand doch ein ähnliches Gegengewicht in anderer Form, aber mit mehr realer Macht, unter den Bourbonen), sondern wegen der völligen Umgestaltung der Volksstände. -

Nicht bloß aus dem Begriff  einzelner  Staatsgattungen, wie des Patrimonialstaates, ergibt sich von selbst eine bestimmte Stellung der Stände: der gesamte Kampf der Stände, der sich in den meisten Staaten unter den verschiedensten Formen wiederholt, ist eine politische Machtfrage. Das Verhältnis der Stände zueinander wird durch ihre Stellung zur Staatsgewalt bestimmt; daraus ergibt sich die Unterscheidung von herrschenden und beherrschten Klassen. Und wieder unter den Beherrschten treten einzelne Stände ausgezeichnet vor den übrigen hervor, wenn sie mit der Staatsgewalt in einer näheren Verbindung stehen; ich erinnere an die russischen Kronbauern, an unsere weiland königlichen Hintersassen. Jede Änderung der Macht eines Standes verändert sowohl das Volk wie auch den Staat. Wenn ein herrschender oder bevorzugter Adel abnimmt an Reichtum, Bildung und politischer Aufopferung oder wenn die übrigen Stände ihn in all diesen Beziehungen erreichen, so verliert der Adel die innere Berechtigung zur Herrschaft, der Staat wird krank und eine Verwandlung der Verfassung ist unvermeidlich. Gerade diese allmählichen Veränderungen der Tatsachen, dieses Umschlagen der Vernunft in Unsinn zu beobachten, ist die Aufgabe der Wissenschaft von der Politik; sie kann nicht erfüllt werden, wenn die Staatswissenschaft nicht auch die inneren Verhältnisse der Stände betrachtet. - Volk und Staat sind da am glücklichsten wo es der Staatsgewalt gelungen ist, alle Stände unter das gemeine Landesrecht zu beugen, wo infolgedessen der Kampf der Stände, die roheste und häßlichste aller inneren Fehden, erstirbt und die politischen Parteien die Stände durchschneiden. Hier bildet sich ein öffentlicher Stand, dessen Leben in einer politischen Machtübung besteht, der nicht kraft des eigenen Rechts, sondern kraft des Auftrages der Staatsgewalt regiert. Hier ist, weil die auf subjektiven Standesrücksichten ruhenden Ungleichheiten gefallen sind, desto mehr Raum für die Verschiedenheiten, welche aus objektiven Gründen hervorgehen und von einem reichen, täglich neue Berufe und Bestrebungen erzeugenden Volksleben täglich neu geschaffen werden. Hier vor allem zeigt der Staat sein universelles, über den Ständen stehendes, alle gleichmäßig förderndes Wesen. Es läuft also der Wahrheit schnurstracks entgegen, wenn RIEHL meint (23), der Staatsmann müsse, je nach seiner politischen Doktrin, nicht an das ganze Volk, sondern vorwiegend an  eine  Gesellschaftsgruppe modellierend Hand anlegen. Das heißt: eine, nun gottlob bald überwundene unreife Periode unserer staatlichen Entwicklung theoretisch verewigen.

Sollte nun in solchen Staaten, wo ein gemeines Recht über allen Ständen steht, wo auch die Ehre eine gemeine, keine ständische ist, das innere Leben der großen Volksschichten ganz außerhalb der politischen Betrachtung stehen? Das wäre vielleicht der Fall, wenn die Staatswissenchaft im Staatsrecht aufginge. Für die Politik ist es aber von höchster Bedeutung, wie der rechtlich feststehende Grundsatz der Berufsfreiheit durch die Standessitten tatsächlich eingeschränkt wird, wie die scheinbare individuelle Willkür in der Wahl des Berufes in Wahrheit ein Akt innerer Notwendigkeit ist (24). Die Politik muß ferner fragen, in welchem Verhältnis jener öffentliche Stand der Beamten zu den großen Volksständen steht, aus welchem von ihnen er hervorgeht. Der Gegensatz des englischen und deutschen Staatslebens beruth zum Teil darauf, daß wir eine aus dem Beamtentum hervorgehende Gentry, England ein auf der Landgentry ruhendes Beamtentum besitzt (25). So gewiß diese Tatsache vom Staatsrecht nur oberflächlich begriffen werden kann, so gewiß ist ihre Erklärung Aufgabe der Politik. Ferner soll sie fragen, wer die Männer sind, die in der Volksvertretung, in der Selbstverwaltung von Kreis und Gemeinde für den Staat wirken; welche Ideen und Interessen sie beherrschen; ob sie unabhängig genug sind, durch Bildung, Besitz und Gesinnung, um einer drängenden Gewalt zu widerstehen usw. Und wenn die Regierten [haller] ebenso notwendig zum Staat gehören wie die Regierenden, wenn die Politik die gesamten Kräfte des Staates kennen soll, so kann sie sich auch der Betrachtung der niederen Klassen nicht entschlagen. Ist doch die Lösung der sicherlich politischen Frage nach Zensus und allgemeinem Stimmrecht ohne eine Psychologie unseres vierten Standes gar nicht möglich. - Ohne Zweifel gehen diese großen Volksklassen nicht gänzlich im Staat auf, jede von ihnen lebt in einer Welt von Ideen und Sitten, die scheinbar gar nichts mit dem Staat zu tun haben. Doch zeigt die nähere Beobachtung, daß das soziale Leben jedes Volksstandes durch seine politische Stellung wesentlich bedingt ist. Der Adel wird kleinlich und servil [untertänig - wp] wo er aufhört politisch mächtig zu sein; die von RIEHL so idyllisch geschilderte Schwerfälligkeit unserer Bauern hängt großenteils ab von der Jahrhundete langen politischen Unmündigkeit, der sie sich erst jetzt allmählich entwinden; endlich, wie hat sich der ganze Gesichtskreis unseres Mittelstandes verändert, seit er aufgehört hat, ein ergebener Diener des Adels und der Höfe zu sein! - Ganz irrig ist es, mit RIEHL (26) die Rechtsordnung des Staates und die auf der Sitte ruhenden natürlichen Stände als Gegensätze anzusehen. So wenig es einen natürliche Staat gibt, so wenig gibt es natürliche Stände; beide sind historisch geworden. Der von RIEHL als "künstlich" mit unverhohlener Verachtung behandelte Beamtenstand ist für das 19. Jahrhundert ebenso gewiß natürlich, wie der "naturwüchsigste" der Stände, der Bauernstand, in der Zeit, wo unsere Väter Nomaden waren, unmöglich, also unnatürlich war. Sodann, Recht und Sitte sind kein Gegensatz (27). Auch der von der Rechtsordnung eines Staates geschaffene Stand der Beamten führt ein eigentümliches Leben in Ideen und Sitten, das vom Staat nicht hervorgerufen ist. Man denke an die Ehrbegriffe unseres Offiziersstandes, die doch nur einer ganz flachen Auffassung als ein Wust alter Vorurteile erscheinen können; an JOSEPHs II. vergebliches Ankämpfen dagegen; an die mannigfache Durchlöcherung der Gesetze, welche sie veranlassen. Und doch können wir die politische Bedeutung des Soldatenstandes, können wir alle die glorreichen Blätter der politischen Geschichte, die wir ihm verdanken, ohne Kenntnis seines sozialen Lebens nicht verstehen. - Nun frage man sich: wie groß ist die Bedeutung dessen, was die Stände eines Volkes  scheidet,  im Vergleich mit dem, was sie, anderen Völkern gegenüber,  vereinigt?  Es bedarf wohl keines Beweises, die ständischen Unterschiede sind verschwindend klein gegenüber den politisch-nationalen. Im Mittelalter, wo die Staatsgewalt sich erst bildete, konnte man wohl von einem westeuropäischen Adel und Bürgertum reden. Doch dieselben Monarchen, welche die Einheit des Staatsgedankens zuerst mächtig durchführten, brachen die Solidarität der über den Staat hinausstrebenden Standesinteressen. Heute, wo der damals begonnene Prozeß der nationalen und politischen Sonderung schon so lange gedauert hat, ist es nicht viel mehr als eine  fable convenue [als Tatsache geltende Theorie - wp], wenn man deutschen und englischen Adel zusammenstellt. Nur noch einige Überreste ihrer gemeinsamen mittelalterlichen Geschichte, einige heraldische [wappentechnische - wp] Liebhabereien haben sie miteinander gemein; ihre politische Bedeutung, ihre Ideen, ihr Familiensinn, ihre wirtschaftlichen Verhältnisse bieten nicht mehr Analoges, als die Geschichte ihrer Staaten. Ist also das Wesen jedes Standes zum großen Teil abhängig vom Staat, zu dem er gehört, so läßt sich vollends die wichtigste Seite des Ständewesens, das Verhältnis der Stände zueinander, vom sozialen Standpunkt gar nicht erörtern. Sozial betrachtet ist jeder Stand eine Welt für sich; seine Beziehung zu den anderen Ständen hängt ab von seiner Bedeutung für die politische Einheit.

Fragt man nach den einzelnen Ständen, so ist es durchaus notwendig, sich streng an die Tatsachen zu halten. Mag man mit RIEHL Gruppen des sozialen Beharrens und der sozialen Bewegung oder mit WINTER (28) universelle und individuelle Stände scheiden oder mit SCHMITTHENNER (29) dem längst untergegangenen Gegensatz von Nähr-, Wehr- und Lehrstand anhängen, der nie für das gesamte Volk Geltung hatte: - jede theoretische Einteilung  erschafft  erst eine Kluft zwischen Staat und Gesellschaft, die in Wahrheit nicht vorhanden ist, da weder der eine noch die andere sich theoretisch entwickelt haben. Noch irriger ist es den Ständen eine bestimmte Gesinnung zuzuschreiben; so wenn RIEHL (30) das Proletariat den nackten Menschen, die Aristokratie den Gesellschaftsbürger im historischen Kostüm suchen läßt. Dadurch werden Bestrebungen und Verirrungen, die in vorübergehenden Strömungen der Zeit ihren Grund haben, zum Wesen der Stände gemacht. Dahin gehört auch die scheinbar unwiderlegliche Behauptung STEINs (31), das erhaltendes Prinzip sei die Gesinnung derer, welche gesellschaftliche Güter besitzen, und umgekehrt. Die Geschichte des englischen Adels und des deutschen Mittelstandes ist ein schlagender Gegenbeweis.

Insbesondere der Adel ist ein durchaus politischer Stand. Sein Wesen ist der Besitz politischen Einflusses; wo er diesen verliert, verkümmert er sittlich und rechtlich, bis ihm schließlich nichts mehr bleibt als einige unklare Traditionen. Schon seine Entstehung ist ganz politisch. Ein kriegerischer Stamm unterwirft eine Nation von niederer oder veralteter Bildung und bildet den Adel des neu entstehenden politischen Volkes (32); die Verwandten des fürstlichen Hauses, die Geschlechter, aus denen Fürsten hervorgegangen sind, gelangen zu erblichem Ansehen; die Umgebung des Monarchen, sein Hofgesinde, die Insassen seiner Güter, genießen persönlicher Auszeichnung, woraus sich allmählich ein höherer Familienrang entwickelt; einzelne Geschlechter erheben sich durch die Verwaltung hoher Staatsämter oder durch eine bevorzugte Handhabung der ersten politischen Funktion in rohen Zeiten, des Waffenrechts usw. Auch die Veränderungen, denen der Adel unterliegt, schließen sich eng an politische Ereignisse. Es ist bekannt, wie, gestützt auf die Waffenführung, die Ministerialen sich einst über die Gemeinfreien emporhoben; wie das Aufkommen der stehenden Heere den Adel hier innerlich brach, dort in andere Bahnen lenkte; wie jene Vermischung und Verwechslung des sogenannten hohen und niederen Adels in Deutschland ihren Grund hatte in der gemeinschaftlichen Ausübung wichtiger politischer Rechte, des Waffendienstes und der Besetzung der geistlichen Kurwürden; (33) wie mit dem Aufkommen des monarchischen Einheitsgedankens der Adel hier seine soziale Verfassung änderte, sich unter das gemeine Recht des Landes beugte und sich mächtig erhielt durch politische Tätigkeit - dort auf verlebte Vorrechte trotzend herabsank zum Hofadel und zur Vormauer des Absolutismus gegen die Ansprüche der niederen Stände. Alle sozialen Eigentümlichkeiten des Adels, seine Familienverfassung, seine Standesehre, seine wirtschaftliche Stellung sind entweder Ergebnisse seiner politischen Macht oder dienen nur dazu, sie zu festigen; sie haben ihr gegenüber keine selbständige Bedeutung. Es ist wahr, der Adelige verdankt sein Vorrecht der Geburt, der Staat kann das vorhandene nur anerkennen. Aber der Erbadel entsteht in jener dunklen Zeit des Gattungslebens der Völker, wo der Familie als solcher politische Bedeutung innewohnt; der erbliche Vorzug einzelner Geschlechter, die  limpieza [Reinheit - wp] des Blutes, ist nur solange von Wert, als der Glaube daran vorhanden ist. Je mehr - eine notwendige Folge steigender Gesittung - persönliches Verdienst und politische Pflichterfüllung zu politischem Einfluß berechtigen, desto mehr schwindet das Sonderrecht der Adelsfamilien. Der englische Adel hat jede kastenmäßige Sonderung aufgegeben, er ist mächtig durch staatliche Tätigkeit. Wie der deutsche Adel durch die Sorge für seine Familien an Macht verloren, wie er es verschmäht hat, durch politischen Pflichteifer die moderne Staatsidee mit dem Anachronismus seines Ursprungs zu versöhnen, das liegt vor jedermanns Augen. Meist entsteht bei hochgebildeten Völkern an der Seite oder an der Stelle des alten Erbadels eine neuer bevorzugter Stand, mitten drin stehend zwischen Personal- und Erbadel, ruhend auf der Teilnahme am politischen Leben, auf dem Grundprinzip jedes gesitteten Volkstums, der Arbeit. Ich erinnere an die auf das römische Patriziat folgenden Optimaten, an die neben der  nobility [höherer Adel - wp] stehende englische  gentry [niederer Adel - wp], schließlich - so viel freier es auch organisiert ist - an das deutsche monarchische Beamtentum. Es ist entstanden, nicht gerade, wie man gemeint hat, (34) aus dem Ministerialen, wohl aber in ähnlicher Weise wie diese; es hat eine starke Zahl der altritterschaftlichen Geschlechter in sich aufgenommen; es bestehen in ihm eine Reihe von Familien, die einen zwar maßvoll ausgeübten, aber bedeutenden und berechtigten Einfluß auf das politische Leben besitzen. Solche Stände sind im Staatsrecht nur oberflächlich zu begreifen: die römische Oligarchie wurde rechtlich begrenzt erst als sie ihre Macht verloren hatte (35). Umso eingehender muß sich die Politik über ihre tatsächlichen Machtverhältnisse verbreiten. - Es ist wahr, der Adel hat oft eine Standesehre, welche der Staat weder zu schaffen noch anzuerkennen braucht; sie kann selbst fortbestehen wenn der Adel seine politische Macht verloren hat. Aber sie kann nicht ohne diese entstehen, sie ist ganz besonders eine Folge des Waffenrechts und schwindet meist bis auf wenige Äußerlichkeiten wo der Adel dies verloren hat. - Es ist wahr, der Reichtum des Adels ist von Wichtigkeit; in allen Flächenstaaten, welche eine feudale Periode hinter sich haben, ist der Adel großer Grundbesitzer; die wirtschaftliche Unabhängigkeit befähigt ihn besonders dem Absolutismus zu widerstehen. Aber sie kann seine politische Macht nur festigen, nicht ersetzen. Es ist unvergessen, daß der dänische Adel neun Zehntel des dänischen Bodens besaß, als das Königsgesetz ihn aus dem Staats- und Volksleben ausstrich: er hatte seinen politischen Beruf vergessen, in kriegerischer Zeit sich feig auf seine Güter zurückgezogen. - Wo sich der Adel erhält, da entwickelt sich mit der Zeit seine politische Bedeutung so scharf, daß man schließlich in jedem Staat mit dem Wort  Adel  einen ganz anderen Begriff verbindet. Es ist irrig, wenn RIEHL (36) meint, die Opposition des deutschen Liberalismus gegen den Adel entspringe sozialen Gründen, da ja - nach Englands Beispiel - ein kräftiger Adel ein fester Hort sei gegen den Absolutismus. Diese Opposition ist eine rein politische, weil der Liberalismus in der deutschen Adelsgeschichte das Gegenteil der englischen findet. Alle sozialen Fragen, welche sich an den Adel knüpfen, sind zugleich politisch. Der Streit über die Familien-Fideicommisse berührt die Grundlagen des modernen Staates, die Rechtseinheit und jenen echt-humanen Grundsatz, der Rechte nur gegen eine Übernahme von Pflichten zuerkennt.

Die politische Natur des Adels zeigt sich nicht überall in voller Reinheit: der Versuche, einen Adel zu schaffen ohne politische Macht, kennt die Geschichte viele, von den englischen  baronets  bis zum deutschen Briefadel. Ein Adel ohne politische Macht befindet sich in einem ähnlichen unhaltbaren Übergangszustand wie eine vertriebene Dynastie. Dieser Zustand muß enden, indem der Adel entweder seinen politischen Einfluß wieder erlangt oder in der übrigen Volksmenge verschwindet. Der Adel hält noch lange, wenn er die Macht oder die innere Berechtigung dazu verloren hatte, an seinen alten Standesbegriffen fest - eine Erscheinung, die von großer staatlicher Wichtigkeit sein kann, wenn der Adel dadurch mit dem Geist von Volk und Staat in Widerspruch gerät. Endlich trägt die in den Anfängen ähnliche, in ihrem Fortgang grundverschiedene Geschichte der europäischen Adels- und Fürstengeschlechter zur Verwirrung der Anschauungen bei. Der praktische Instinkt der Parteien der Gegenwart hat trotzdem gefühlt, daß es entweder einen politischen oder gar keinen Adel gibt. Wenn - je nach ihrer Denkweise über ihn - die  einen  den Adel zum herrschenden Element der Volksvertretung machen, die  andern  ihn ganz davon ausschließen möchten, so liegt darin das Zugeständnis, daß die Teilnahme an Verfassung und Verwaltung des Staates der einzige Weg ist den Adel zu erhalten. Für die Wissenschaft dagegen ist auch hier das Generalisieren örtlicher und zeitlicher Verhältnisse eine Quelle von Irrtümern geworden. Wenn ein geistreicher Schriftsteller (37) für den Adel außer einer äußeren Auszeichnung noch eine "Realität", nämlich Hofrang und Titel, aber nicht notwendig politische Rechte verlangt, so kann man nur sagen: es ist irrigm einen Idealstaat zu konstruieren, aber gewiß noch irriger, das Wesen des Adels vom deutschen Adel zu abstrahieren, dem auch seine eifrigsten Verehrer nur nachrühmen, er sei noch einer Reform  fähig.  Wenn schließlich Andere (38) im Adel des Mikrokosmos der Gesellschaft sehen, so läßt sich nur antworten, daß jeder Stand seiner Natur nach partikularistisch ist, einen solchen Beruf mithin nicht haben kann.

Eine zweite große politische Volksgruppe bildet der Mittelstand, die Gesamtheit jener Bürger, welche im Besitz einer höheren Bildung sind und wirtschaftlichen Beschäftigungen obliegen, die ihnen Sinn und Muße übrig lassen für geistige Interessen und besonders für die politische Tätigkeit. Das Schwankende und von den jeweiligen nationalen Ideen Abhängige dieses Begriffs ist einleuchtend; ebenso klar die Folgerung, daß eine dauernde rechtliche Abgrenzung dieses Standes nicht möglich ist. Zu seiner Charakteristik läßt sich etwa sagen: Er sucht den Frieden und zeigt damit ein echt politisches Streben; nur bei innerem Frieden kann sich sein reiches von den mannigfachsten geistigen und wirtschaftlichen Elementen bewegtes Leben frei entwickeln. Darum haßt er alle schroffen, verletzenden ständischen Gegensätze. Wie er sich gern unter einen wahrhaft politischen, nicht streng abgeschlossenen Adel beugt, so ist gegenüber einem Adel, der nur Vorrechte kennt, sein Streben, alles, was über ihm ist, auf sein Niveau herabzudrücken, alles was unter ihm steht auf seine Höhe zu erheben (39). Es ist falsch, wenn RIEHL (40) ihm einen universalistisch ausebnenden Geist zuschreibt und ihn deshalb den Mikrokosmos der modernen Gesellschaft nennt. Das Assoziationswesen fand und findet vielmehr in ihm seine reichste Entwicklung: eine Erinnerung an STEPHAN MARCEL und die Geschichte der deutschen Austräge, ein Blick auf das moderne Vereinswesen genügt dies zu belegen. Wahr dagegen ist, daß er gar kein Bedürfnis hat, sich nach unten abzuschließen. Wie seine Mitglieder sich ihre Stellung meist durch Arbeit und Verdienst erhalten oder erworben haben, so hat er keinen Grund Anderen die freie Bahn zu Macht und Wohlstand zu versperren: der vierte Stand verdankt die meisten seiner Reformen dem Mittelstand und der auf diesen gestützten Monarchie. Der Mittelstand in hohem Maße jene von ARISTOTELES (41) gepriesene Fähigkeit zu herrschen und zugleich beherrscht zu werden; er strebt nach einer Teilnahme am Regiment in den oberen Kreisen des Staates, wie in Provinz und Gemeinde. Er kämpft meist mit geistigen Waffen, insbesondere durch die Macht der Meinung. Er ist beweglich und empfänglich für Ideen; doch hindert ihn seine feste wirtschaftliche Unterlage, ein Spielball jeder rasch vergehenden Meinung zu werden. Aus dieser Beweglichkeit folgt keineswegs eine bestimmte politische Gesinnung, etwa der Liberalismus, des Mittelstandes, sondern im Gegenteil seine Fähigkeit in alle politischen Parteigegensätze zu zerfallen. Er ist endlich unfähig, ein rein soziales Leben zu führen, über den Verlust der Freiheit sich durch wirtschaftliches Behagen auf die Dauer zu trösten. Man mag ihm wohl das Lob des großen Stagiriten (42) gönnen, so viel davon auch auf Rechnung der mechanischen aristotelischen Auffassung der Tugend, als einer Mitte zwischen zwei Extremen, kommen mag. - Es ist klar, daß schon die Existenz einer solchen Volksklasse von politischer Bedeutung ist: sie ist auf die Dauer unvereinbar mit einem Adel, der nur Vorrechte kennt, und mit einem autokratischen Regiment. Wie der Mittelstand in das monarchische Beamtentum, in die Volksvertretung eindringt, wie ihn die Anhäufung massenhafter Reichtümer, die unbedingte Abhängigkeit der unteren Klassen verderben kann, wie all das auf den Staat wirkt, das sind politische Fragen, die man ohne Betrachtung der geistigen und wirtschaftlichen Eigenschaften dieses Standes nicht beantworten kann. Hinsichtlich der Bildung allein wird es schwer sein, ihn als ein Ganzes aufzufassen. Was ihn nach dieser Seite vom Adel trennt, ist gering gegen das, was er mit ihm gemein hat. Wirtschaftlich betrachtet zerfällt er in eine Reihe verschiedener Gruppen, von denen einige mit denen des Adels oder des vierten Standes mehr gemein haben, als miteinander. Was ihn zu einem Ganzen macht, ist wesentlich seine Rolle in der politischen Geschichte. - Der Mittelstand ist geschichtlich hervorgegangen aus dem Bürgerstand des Mittelalters und hat sich allmählich so weit auch über das flache Land ausgebreitet, daß man heute vom Bürgerstand, als von den Städtebewohnern, (nach BLUNTSCHLIs feiner Bemerkung (43) nur noch beim Gemeindewesen reden kann. Man mag dieser Auffassung beipflichten; bewährt sich doch hier das Gesetz vom Kreislauf aller historischen Dinge: das Bürgertum tritt damit in jene neutrale Stellung außerhalb des politischen Ständekampfes zurück, welche es schon am Anfang des Mittelalters einnahm, ehe noch der Gegensatz von  noble [Adel - wp] und  roturier [Bürgerliche - wp] den Staat bewegte. Nur ist nicht zu vergessen, daß der Unterschied von Stadt- und Landbewohnern täglich mehr verschwindet.

Eine dritte Volksgruppe im Staat bildet der sogenannte vierte Stand, jene Klasse, die ARISTOTELES am besten charakterisiert hat, wenn er sagt, sie führe ein vorwiegend wirtschaftliches Leben und habe wenig Lust, sich um den Staat zu kümmern (44). Nicht die Armut bezeichnet ihn, sondern die vorwiegend körperliche, dem geistigen, besonders dem politischen Leben entfremdende Tätigkeit. Zu ihm gehören der größte Teil des Landvolkes, die kleinen Handwerker, die Arbeiter aller Art. Auch diese Begriffe sind in den Fluß der Zeit zu stellen. Es ist ganz materialistisch und erinnert stark an die französische Lehre von den  classes dangéreuses [gefährlichen Klassen - wp], wenn RIEHL (45) unter  viertem Stand  "die zum sozialen Bewußtsein erwachte Armut" versteht, darin eine eigentümliche Erscheinung der modernen Zeit findet und ohne Gnade den Leutnant, wenn er arm ist, den Schriftsteller, wenn er hungert, diesem "unfindbaren  X  der modernen Gesellschaft" zuweist. Wenn RIEHL sich rühmt, seine Sozialtheorie "erwandert" zu haben, so muß er  diesen  vierten Stand in einem Land gesehen haben, von welchem unsere Reisebeschreiber nocht nichts wissen. In Wahrheit sind ökonomische Gegensätze nur in Zeiten der ärgsten sittlichen und wirtschaftlichen Verwilderung - und auch dann nur vorübergehend - mächtig genug, um alle Gegensätze der Bildung und Geschichte zu überwuchern. Der Wunsch, seine wirtschaftliche Lage zu verbessern, und die, in erregten Zeiten bei den Armen allerdings oft vorhandene, Empfänglichkeit für sozialistische Hirngespinste bildet noch nicht jene Gemeinsamkeit des Fühlens und Denkens, ohne welche ein Stand des Volkes nicht denkbar ist. Daß weder die Massenarmut, noch der Sozialismus etwas durchaus Neues ist, wurde schon längst einleuchtend bewiesen (46). Es sind nun an tausend Jahre, daß jener Priester sang:  hoc genus afflictum nil possidet absque labore.  [Dieses gebeugte Geschlecht von Menschen hat nichts als seine Arbeit. - wp] Nun gar, der  wirkliche  vierte Stand ist so wenig ein Werk unserer Zeit, daß vielmehr der patriarchalische Absolutismus der deutschen Kleinstaaten im vergangenen Jahrhundert gänzlich auf ihm ruhte. Eine so unwürdige Staatsform war nur möglich bei einem Volk von Bauern und Handwerkern, dessen wenige gebildete Elemente, durch die kleinlichen Umgebungen verkümmert, gegen das politische Leben gleichgültig waren; sie mußte fallen mit dem Aufblühen eines durch Reichtum und Einsicht mächtigen Mittelstandes. Schon dieses Beispiel zeigt des vierten Standes politische Bedeutung. Wenn MOHL (47) sagt, mit der Kenntnis des Wahlrechts zu den Ständeversammlungen, der Abgaben, des Heimatrechts der arbeitenden Klassen sei ihr Wesen noch nicht erschöpft, so ist hinzuzufügen: nicht einmal ihre politische Seite, ihr Verhältnis zum Staat, ist damit ergründet. Die Politik muß weiter fragen: welchen Gebrauch machen diese Klassen von ihren politischen Rechten? Um dies zu verstehen, muß sie zeigen, wie das Dichten und Trachten dieses Standes vorwiegend durch seine wirtschaftliche Lage bedingt ist, wie daher alle seine nachhaltigen Fortschritte bisher an ökonomische Reformen anknüpften. Sie soll zeigen, wie der eine Teil dieses Standes, die Bauern, durch sein mit der Wirtschaft eng verwachsenes Gemeindewesen regen Anteil nimmt am öffentlichen Leben; wie darum alle nicht utopischen Pläne zur Reform der industriellen arbeitenden Klassen zuletzt zu dem Vorschlag gelangen, aus den Arbeiterassoziationen politische Gemeinden zu bilden (48) oder zumindest ein Standesbewußtsein in ihnen zu erwecken (49). Sie soll nachweisen, daß diese Stände von allen geistigen Interessen für die religiösen am meisten empfänglich sind, daß darum die politische Macht der Kirche hier ihre Hauptwurzel hat. Gerade aus dem Wesen des vierten Standes wird sie die zwei entgegengesetzten Erscheinungen erklären: warum ein Bauernvolk, wenn es sich selbst überlassen bleibt, zwar ein sehr stabiles Staatswesen mit sehr niedrigen Zwecken bildet, aber das Freiheitsgefühl bis zum großartigsten Heldenmut in sich entwickelt: - und warum andererseits ein ebensolches Volk von Bauern und Kleinbürgern, wenn es einmal unter eine monarchische Gewalt gefallen ist, den ganzen Jammer des Absolutismus willenlos über sich ergehen läßt und nur schwer und langsam den Sinn für das politische Leben wiedergewinnt. Sie soll die Staatskrankheiten betrachten, welche entstehen, wenn ein wirtschaftlich ganz abhängiger vierter Stand die Wahlen zur Volksvertretung in seiner Hand hat, und umgekehrt, wenn er den anderen Klassen selbständig gegenübersteht und dennoch durch einen willkürlichen Zensus in seiner Mehrzahl für politisch mundtot erklärt wird. Sie wird schließlich zeigen, daß ein ausschließlich oder vorwiegend politisches Leben der höheren Stände nur möglich ist, wo die wirtschaftlichen Bestrebungen fast ganz in den Händen der niederen Klassen und diese selbst durchaus abhängig sind.

Hier gelangen wir zur Betrachtung der Sklaverei, deren politische Bedeutung niemand leugnen wird. Wenn es allgemein anerkannt ist, daß nächst der städtischen Beschränktheit des antiken Staates vorzugsweise sein Sklavenwesen ihn vom modernen Staatsleben unterscheidet, wenn uns die zunehmenden Freilassungen im römischen Kaiserreich das allmähliche Absterben der antiken Staatsidee andeuten: so kann sich die Betrachtung des modernen Staates sicher nicht mit der Tatsache begnügen, daß unsere niederen Stände rechtlich frei sind. Die Sklavereei ist entweder Hörigkeit, enstanden durch die Unterwerfung eines ganzen Stammes; daß sich hierdurch eine ganz eigentümliche Staatsform bildet, ist wohl außer Frage. Aber auch die Unfreiheit, entsprungen aus der Besiegung des Einzelnen im Krieg und fortgepflanzt durch die mannigfachen Ursachen, hat politische Bedeutung. Das Verhältnis des einzelnen Herrn zu seinem Sklaven ist allerdings zunächst ein privatrechtliches. Doch die Sklaverei als Ganzes, als ein Bestandteil des Volkslebens betrachtet, hängt mit den wichtigsten politischen und nationalökonomischen Tatsachen zusammen: sie ist eine andere, wo der Knecht an der Scholle haftet, als wo er bewegliches Eigentum ist; eine andere, wo sie erhalten wird durch die politische Denkweise der höheren Klassen, als wo sie ihren Grund hat in der Natur des Bodens. Schon oben wurde angedeutet, daß die Sklavenstaaten Nordamerikas Massen-Aristokratien sind, und zwar nicht bloß, weil ein Teil ihrer Bewohner von jeder politischen Tätigkeit ausgeschlossen ist, sondern mehr noch wegen der Kastensonderung, die das ganze Volksleben durchzieht, wegen der undemokratischen Stellung des Sklavenbesitzers auch den Weißen gegenüber, schließlich wegen der unfreien und unsittlichen Ideen, die in einem christlichen Sklavenstaat unvermeidlich sind. Mit vollem Recht nennt MOHL in einer früheren ausgezeichneten Arbeit (50) die Emanzipation der Sklaven in den englischen Kolonien eines der wichtigsten  politischen  Ereignisse der Neuzeit.

Schon vorhin wurde die heterogene Natur der Bestandteile des vierten Standes hervorgehoben. Insbesondere steht in vielen Ländern das Landvolk durch die Stabilität seines Lebens den anderen Klassen sehr schroff gegenüber; im Gemeindewesen kann man in sehr vielen Teilen Deutschlands von einem Bauern stand  reden. Doch ist RIEHLs Behauptung, die Bauern seien der Stand des sozialen Beharrens, in dieser Allgemeinheit unhaltbar der Tatsache gegenüber, daß kein Teil unseres Volkes im letzten halben Jahrhundert größere soziale Umwälzungen durchgemacht hat, als die Bauern. Ebenso irrig ist es, die industriellen Arbeiter als die natürlichen Ruhestörer der Gesellschaft zu betrachten. Die kurze Geschichte dieser Klassen erlaubt es nicht schon jetzt ein abschließendes Urteil über ihren Charakter zu fällen; doch - wo nicht die bitterste Not drängt oder unverständige Gesetze aufreizen - läßt sich ihnen weit eher das Gegenteil nachrühmen. - Gemeinsame Eigenschaft  aller  dieser Gruppen bleibt die verhältnismäßig geringe Teilnahme am staatlichen Leben.

Diese drei großen Gruppen: Adel, Mittelstand und vierter Stand, mögen jene Bestandteile des Volkes sein, die sich - bald lebenskräftig, bald nur in schwachen Anfängen oder Überresten - in den meisten Staaten Westeuropas vorfinden. Es kann nicht scharf genug hervorgehoben werden, daß eine staatsrechtliche Scheidung derselben - bei der Fruchtbarkeit unseres Kulturlebens an sozialen Gestaltungen - nur von Übel sein kann. Die Politik aber muß den Charakter und die Mischung dieser Gruppen in den einzelnen Staaten kennen, weil ohne dies ein Urteil über die Verfassungsformen unmöglich ist.

6.  Gebildete und Ungebildete.  Die hier geschilderten Volksklassen weichen ab von den Ständen nach MOHLs Auffassung, deren Begriff in der Verschiedenheit des Rechts liegt (51). Desto mehr berühren sie sich mit einer anderen gesellschaftlichen Erscheinung, welche MOHL aufführt,  "den Genossenschaften, welche aus dem Besitz höherer Bildung,  im Gegensatz zu den Unwissenden,  entstehen."  Mir scheint, aus dem gemeinsamen Besitz höherer Bildung entsteht für die dadurch verbundenen zunächst nur ein reger geistiger Verkehr, eine Ähnlichkeit des Denkens und Empfindens - Beziehungen, welche ausschließlich dem Privatleben angehören und zugleich so formloser, individueller Art sind, daß sie systematisch gar nicht, sondern lediglich als Tatsachen begriffen werden können. Daß höhere Bildung allein zu einer dauernden Zusammenscharung und Abschließung geführt hätte, davon kennt die Geschichte kein Beispiel. Den cambrischen Adel oder die Priesterherrschaft in Theokratien wird man nicht entgegenhalten wollen; hier wirkten offenbar wichtige religiöse, wirtschaftliche und politische Momente mit jenen rein geistigen zusammen; und wahrscheinlich war es auch ein theokratisches Element, das den mythischen Philosophenschulen der hellenischen Vorgeschichte eine so große Macht gab. Wo eine tiefe Kluft die Gebildeten und Ungebildeten eines Volkes dauernd trennt, da ist es nicht die Bildung allein, da ist es auch die wirtschaftliche Lage, die Verschiedenheit der ganzen Lebensweise, welche die Volksklassen scheidet. Auch dies ist eine historische Tatsache, welche die Staatswissenschaft nicht zu erklären hat. Bildung ist aber zugleich ein Element politischer Macht; an sie schließen sich politische Erscheinungen, welche die Politik untersuchen muß, immer bedenkend, daß die Bildung nichts Isoliertes ist. Die staatliche Entwicklung eines Volkes mit gleichmäßig verteilter Bildung ist eine enge, beschränkte, weil die Vorbedingung jedes Fortschreitens, das Dasein starker Gegensätze, fehlt. Erst das Aufkommen einer durch höhere geistige Interessen ausgezeichneten Klasse bringt Leben in einen Staat, aber auch einen aristokratischen Bestandteil, einen Herd des Unfriedens. Wo eine Klasse die Ideen des Volkes beherrscht, mit anderen Worten, wo sie die oft geleugnete und doch so handgreiflich reale Macht der öffentlichen Meinung in ihren Händen hat, da muß sie sich entweder der Staatsgewalt bemächtigen, oder die politische Geschichte wird zu einer Reihe von Kompromissen zwischen den Herrschenden und jenen geistigen Mächten. - Die Staaten unterscheiden sich sehr bedeutend nach der Geltung der Bildung in ihnen. Schon aus der inneren Verwandtschaft der geistigen Aufklärung mit dem Streben nach politischer Unabhängigkeit erhellt sich, daß der religiöse wie der rein egoistische Absolutismus ihr natürlicher Gegner, der aufgeklärte Despotismus dagegen, indem er sie zugleich fördert und bedrückt, eine sich selbst widersprechende und vorübergehende Staatsform ist. Die konstitutionelle Monarchie setzt ein gebildetes Volk voraus; schon um ihrer selbst willen muß sie der Volkserziehung eine besondere Pflege, den gebildeten Klassen großen Einfluß einräumen.

Die meisten politischen Systeme fragen nur: Wie befördert der Staat direkt die Volksbildung? und beschränken sich auf die Fragen nach der Emanzipation der Schule vom Staat und dgl. Aber was man (52) von der Volkswirtschaft gesagt hat, sie sei weit weniger abhängig von der zu ihrer unmittelbaren Förderung und Leitung bestimmten Staatstätigkeit als vom allgemeinen Charakter des Staates - das gilt mit gleichem Recht von  allen  Kulturbestrebungen des Volkes. Nicht bloß bei den Nationen, wo das Volksleben ganz im Staat aufgeht, wo der Gesetzgeber als der praktische Ethiker gilt, ist die Art der Volksbildung ein Hort der Dauer der Verfassung (53). Oder wäre es ein Zufall, daß in kräftig rohen Kriegerstämmen eine gemeinsame Erziehung des Körpers und Charakters den ganzen Stamm verbindet? daß die Bildung höherer Kasten streng von der der niederen gesondert ist? ein Zufall, daß die großen Lehranstalten im Mittelalter selbständige Korporationen waren, heute Staatsanstalten sind? daß die Erziehung englischer Gentlemen, obgleich großenteils Privathänden anvertraut, durchaus im Zusammenhang steht mit der politischen Tätigkeit der englischen Gentry? Wie die reiche rein menschliche Bildung der Deutschen eng verknüpft ist mit unserem kaum wieder erwachten politischen sinn; wie nicht bloß die äußere Organisation der Schulen, nein, das innerste Wesen der französischen Bildung noch heute krankt unter der Nachwirkung des napoleonischen Militärstaates, das liegt vor aller Augen. - Zu allen Zeiten gibt es gewisse Ideen, auf deren unzweifelhafter Anerkennung die Existenz des Staates ruht. Das antike Volksleben, so herrlich es sich entwickelte, war doch, wegen der allumfassenden Macht des Staates, ein sehr enges. Für einen SOKRATES hatte es keinen Raum. Dort konnte man auch durch sein Privatleben dem Staat gefährlich werden (54); dort galt das echt antike Wort eines Römers der Neuzeit (55), daß der gute Bürger nur durch den Staat bedeutend werden darf. Dem theokratischen Staat sind religiöse Ideen am gefährlichsten. Der moderne Staat tritt in eine eigentümliche Beleuchtung, wenn wir uns gestehen müssen, er fürchte und hasse nichts so sehr wie gewisse wirtschaftliche Ideen. - Wie bezeichnend ferner ist die verschiedene Geltung der Bildung, der Ideen für die Perioden der politischen Geschichte! Da finden wir Zeiten des Aufschwungs, wo die Ideen über den Staat eine Macht gewinnen, worauf sie in einer so äußerlichen Ordnung keinen Anspruch haben, und wieder Zeiten der Flucht vor den Ideen, wo nur die Beschäftigung mit dem Handgreiflichen, Alltäglichen für politisch ungefährlich gilt - Erscheinungen, wovon das England KARLs II. auch das Deutschland von heute zu erzählen wissen. - Wie wichtig schließlich ist die Art der Bildung für den internationalen Verkehr: welche Gegensätze von nationaler und von kosmopolitischer geistiger Entwicklung!

Blicken wir zurück und fragen: kann gemeinsame geistige Bildung den Kern abgeben zu besonderen gesellschaftlichen Gestaltungen? Wenn Unterschiede der Bildung dauernd und tiefeingreifend werden, so haben sie notwendig eine politische Bedeutung. Dies - und dies allein - ist ihre öffentliche Seite; alles andere fällt in die Sphäre des Privatlebens. Irrig ist es, wenn AHRENS (56) meint, es sei ein Unvollkommenheit unserer Entwicklung, daß nur Staat und Kirche, nicht auch Wissenschaft, Erziehung, Kunst zu einer selbständigen gesellschaftlichen Organisation gelangt sind. In diesen rein geistigen Sphären liegt gar keine Autarkie, gar kein Bedürfnis äußerer Macht. Ihr Leben ist ein innerliches; schon um der Subsistenz willen müssen sie sich dem ökonomisch-politischen Verband und dem gemeinen Recht des Staates beugen. Wenn AHRENS (57) die gänzliche Emanzipation der Schule vom Staat als ein Ziel besonders für den konstitutionellen Staat hinstellt, so verwechselt er die Unabhängigkeit der Schule vom Staat und die Unabhängigkeit der Schule von den politischen Parteischwankungen. Die erstere wird immer mehr unmöglich, je höhere Ziele sich der Staat steckt, je mehr er auf die Bildung seiner Bürger rechnet; die letztere ist ein gerechtfertigtes Verlangen, führt aber auf eine nicht hierher gehörende Frage, auf die korporative Selbständigkeit der Schulbehörden.
LITERATUR: Heinrich von Treitschke, Die Gesellschaftswissenschaft, Leipzig 1859
    Anmerkungen
    1) Nach den bei MOHL (a. a. O., Bd. 1, Seite 67-110) angeführten Schriften sind erschienen: LORENZ von STEIN, System der Staatswissenschaft, Bd. 2: die Gesellschaftslehre, Abt. 1. - ETHBIN HEINRICH COSTA, Einleitung in ein System der Gesellschaftswissenschaft und eine Reihe von Aufsätzen in der deutschen Vierteljahrsschrift.
    2) Beiläufig von LAURENT in der "Heidelberger kritischen Zeitschrift für Rechtswissenschaft, Bd. III, Heft 3; ausführlicher von BLUNTSCHLI in der "Münchner kritischen Überschau", Bd. III, Heft 2
    3) TOCQUEVILLE, Über die Demokratie in Nordamerika
    4) Württembergische Verfassung § 62
    5) WAITZ, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 1, Seite 257
    6) Qui vico ortus est eam patriam intelligitur habere cui rei publicae vicus ille respondet. [Die Dörfer haben, politisch betrachtet, durchaus keine Selbständigkeit, indem sie stets zu einem Stadtgebiet gehören. - wp]
    7) ARISTOTELES, Politik. lib. 1, cap. 2 (ich zitiere nach der Ausgabe von IMMANUEL BEKKER, Berlin 1855).
    8) a. a. O., 6, 14
    9) So scheint AHRENS die Gemeinde aufzufassen, wenn er sie in seiner Tabelle der gesellschaftlichen Körper als ein Mittelglied zwischen Familie und Volk hinstellt. ("Naturrecht", Seite 348, "Organische Staatslehre", Bd. I, Seite 67)
    10) Es ist also das gerade Gegenteil der Wahrheit, wenn man gemeint hat, eine Gilde, eine religiöse Genossenschaft werde zur Gemeinde, sobald der Staat das Gewerbswesen, die Religion in den Kreis seiner Tätigkeit zieht (BRACKENHÖFT in WEISKEs "Rechtslexikon", Bd. IV, Seite 491f)
    11) ARISTOTELES, Politik, 1, 2.
    12) FRIEDRICH JULIUS STAHL, Rechtsphilosophie, zweite Auflage, Bd. 3, Abschnitt 1
    13) Die preußische Städte-Ordnung von 1831, § 16 entbindet die Staatsbeamten von der  Pflicht  Stadtbürger zu werden; eine Bestimmung, zu der sich in den meisten deutschen Gemeindegesetzen Parallelstellen finden lassen.
    14) von LAURENT, a. a. O.
    15) Vgl. die tiefsinnigen Worte JAKOB GRIMMs in der Einleitung zu den deutschen Rechtsaltertümern.
    16) LORENZ von STEIN, Die Gesellschaftslehre, Seite 33, nennt diese Tatsache, wohl nicht ganz klar, "das Gesetz des staatsbildenden Volkes und des volksbildenden Staates".
    17) ARISTOTELES, Politik, 6, 9.
    18) Diese Resignation einer verzweifelnden Nation stellt EÖTVÖS, Einfluß der Ideen auf den Staat" [19jhd], Bd. 1, als das Normale dar.
    19) MOHL, a. a. O., Bd. 1, Seite 89, Anmerkung
    20) WAITZ, Das Wesen des Bundesstaates, Kieler Monatsschrift, 1852.
    21) Preußisches Landrecht, Teil 1, tit. 1. § 6. 7.
    22) ARISTOTELES, Politik, 6, 4.
    23) WILHELM HEINRICH RIEHL, Naturgeschichte des Volks, Bd. II, Seite 126.
    24) Es ist wohl richtiger, in dieser Erscheinung ein Symptom hoher Ausbildung des Ständewesens zu sehen, als - mit HEGEL, Philosophie des Rechts (Ausgabe GANS, zweite Auflage) Seite 267 - Das  Wesen  der Stände darin zu suchen.
    25) Vgl. GNEIST, Englisches Staatsrecht, Bd. I, Seite 693f - ein Werk, dem ich überhaupt vielfach zu Dank verpflichtet bin.
    26) RIEHL, a. a. O., Bd. II, Die Familie, Seite 115 und 273
    27) Das Wesentliche von RIEHLs Theorie kann erst später, im zwölften Abschnitt besprochen werden.
    28) AUGUST WINTER, Die Volksvertretung in Deutschlands Zukunft, Seite 170
    29) FRIEDRICH SCHMITTHENNER, Zwölf Bücher vom Staate, Bd. 1, Seite 200f
    30) RIEHL, a. a. O., Bd. II, Seite 125
    31) LORENZ von STEIN, a. a. O., Seite 135
    32) GERVINUS hält dies für den einzigen Fall, in welchem eine dauernde aristokratische Herrschaft möglich ist (Historische Schriften, Bd. VII, Seite 616)
    33) Vgl. SAVIGNY, Zur Rechtsgeschichte des Adels in Europa (Abhandlung der Berliner Akademie von 1836)
    34) HEINRICH WILHELM BENSEN, Die Proletarier, Seite 485
    35) THEODOR MOMMSEN, Römisches Staatsrecht, l. 44. D. de ritu nuptiarum [die Trauung - wp] (23, 2)
    36) RIEHL, a. a. O., Bd. II, Seite 170
    37) von TÜRCKHEIM, Betrachtungen über Verfassungs- und Staatenpolitik, Bd. 1, Seite 243.
    38) RIEHL behauptet dies an verschiedenen Stellen vom Adel des Mittelalters; der Aufsatz über "den modernen Adelsbegriff" in der deutschen Vierteljahrsschrift, 1856, Nr. 75 (von LORENZ von STEIN?) sieht darin das Wesen des Adels.
    39) Dies ist nach THIERRY, Recueil des monument inédits de l'hist. du tiers État, tom I. Seite XXXI, das Prinzip des dritten Standes.
    40) RIEHL, a. a. O., Bd. II, Seite 196
    41) ARISTOTELES, Politik, 6, 11.
    42) ARISTOTELES, Politik, 6, 11. 12. 8, 4.
    43) Deutsches Staatswörterbuch, Artikel "Bürgerstand".
    44) ARISTOTELES, Politik, 8, 8 (vgl. 7, 4)
    45) RIEHL, a. a. O., Bd. II, Seite 377 und an anderen verschiedenen Stellen.
    46) Meines Wissens zuerst von ROSCHER, Über Sozialismus und Kommunismus in SCHMITDTs Zeitschrift für Geschichte, Bd. 3 und 4.
    47) MOHL, a. a. O., Bd. I, Seite 96
    48) HUBER im deutschen Staatswörterbuch, Artikel "Assoziation und arbeitende Klassen".
    49) FALLATI, Über Arbeitervereine, Zeitschrift für Staatswissenschaft, Jahrgang 1844.
    50) ROBERT von MOHL, Über die Aufhebung der Sklaverei, Zeitschrift für Staatswissenschaft, Bd. 1, Seite 483
    51) MOHL, Geschichte der Staatswissenschaft, Bd. 1, Seite 139
    52) KARL KNIES, Die politische Ökonomie nach historischer Methode, Seite 93
    53) ARISTOTELES, Politik, 8, 9 vgl. 8, 8.
    54) ARISTOTELES, Politik, 8, 8.
    55) MACCHIAVELLI, Istorie Fiorentine, Bd. II, edt. Italia 1813, Seite 142.
    56) AHRENS, Organische Staatslehre, Bd. I, Seite 56
    57) AHRENS, Naturrecht, Seite 224.