cr-2tb-2Die positivistische PhilosophieIdealismus und Positivismus    
 
HANS ALBERT
Erkenntnis, Sprache und Wirklichkeit
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"Soll der Philosoph sich dazu durchringen, das alles als fiktiv zu erklären? Etwa deshalb, weil er aus anderer Quelle weiß, daß Realismus und Wahrheitsidee illusorisch sind?"

Zur Kritik des Positivismus

Die positivistischen Strömungen der Philosophie pflegen in ihrer Kritik am Realismus vorzugsweise an die Betrachtung der Wahrnehmung - ihre linguistisch orientierten Varianten an die von Wahrnehmungs-, Beobachtungs-, oder Protokollsätzen - anzuknüpfen. Dabei kommt der Gesichtspunkt zur Geltung, daß die Wahrnehmung das eigentliche Fundament der Erkenntnis bildet und daß diese selbst entweder als eine Konstruktion aus Sinnesdaten - oder Sätzen, die solche Daten kodifizieren - ohne jede "transzendente", d.h. das "Gegebene" überschreitende, Bedeutung aufzufassen sei oder daß sie sich jedenfalls auf Sinnesdaten - oder entsprechende Aussagen - gründe, im Sinne induktiver Ableitung oder nachträglicher Verifikation.

Im einfachsten Fall wird sie als eine Ordnung der Sinnesdaten unter den Gesichtspunkten der Einfachheit, der Zweckmäßigkeit oder der Ökonomie charakterisiert. Thesen dieser Art sind als philosophische Aussagen sicher nicht leicht zu widerlegen, etwa in dem Sinne, wie man im Rahmen der empirischen Forschung Einzelbehauptungen zu disqualifizieren pflegt. Sie sind aber auch nicht gegen jede Kritik gefeit, es sei denn, man behandle sie in merkwürdigem Gegensatz zu wissenschaftlichen Aussagen als Dogmen. Ein konsequenter Kritizismus wird auch philosophische Thesen als Hypothesen behandeln und sich fragen, wie sie zu prüfen und zu beurteilen sind.

Dazu wird es sicherlich nicht uninteressant sein, die Resultate der einschlägigen Realwissenschaften heranzuziehen. Der an strenge Einteilungen, scharfe Abgrenzungen und damit verbundene Autonomieansprüche gewöhnte Analytiker wird vielleicht Zweifel anmelden angesichts der These, daß realwissenschaftliche Forschungsergebnisse überhaupt für die Entscheidung philosophischer Fragen ins Gewicht fallen können, aber ihre strikte Ablehnung liefe auf einen Apriorismus hinaus, den gerade positivistisch orientierte Denker sonst weit von sich zu weisen gewohnt sind.

Bisher haben Philosophen aller Richtungen immer wieder de facto den Stand der Erkenntnis in allen für die in Frage stehenden Probleme relevanten Wissenschaften verwertet. Sie haben, wenn es um Wahrnehmungsprobleme ging, auch die Ergebnisse der einschlägigen psychologischen, physiologischen und physikalischen Forschung herangezogen und verwertet. Wer eine empiristische Auffassung als Hypothese vertritt, wird gegen eine solche Praxis kaum Einwände prinzipieller Natur machen können.

Wir tun also vermutlich gut daran, zur Beurteilung solcher Anschauungen zunächst einmal das in Betracht zu ziehen, was wir aus den Realwissenschaften über die Wahrnehmung lernen können. Die uns dort zugänglichen Resultate zeigen deutlich, daß die passivistische Auffassung der Wahrnehmung - etwa als einer Registration des Gegebenen, der Sinnesdaten oder gar der Tatsachen - völlig überholt ist. Schon bei niederen Organismen ist sie vielmehr als eine Aktivität aufzufassen, mit deren Hilfe die laufend auftretenden Orientierungsprobleme gelöst werden, und zwar dadurch, daß nach der jeweils adäquatesten Deutung der verfügbaren Daten gesucht wird.

Dabei werden die einlaufenden sensorischen "Informationen" als Anzeichen für vorhandene Gegenstände und ihre Beschaffenheiten - ihre Eigenschaften und die zwischen ihnen existierenden Beziehungen - verwertet. Wir können die Wahrnehmng als als einen Zeichendeutungsprozess auffassen, der zum Aufbau einer Gegenstandswelt führt. In diesem Prozess werden laufend - ohne daß das normalerweise ins Bewußtsein tritt - Deutungshypothesen ausprobiert, d.h. entworfen und unter Verwendung der einlaufenden sensorischen Signale kontrolliert. Wenn der höhere Organismus bestimmte "Tatsachen zur Kenntnis nimmt", dann ist diese Kenntnisnahme selbst ein Ergebnis komplizierter Deutungsprozesse, bei dem die ganze sensorische Apparatur und das Zentralnervensystem beteiligt sind.

Schon in der vorsprachlichen Wahrnehmung werden also offenbar Deutungen produziert, in denen das Vorhandensein von Objekten mit bestimmten Beschaffenheiten "angenommen" wird. Die in diesem Zusammenhang auftretenden Konstanzannahmen haben sich offensichtlich in normalen Umgebungen weitgehend bewährt, weil sie im allgemeinen zu richtigen Erwartungen geführt haben. Das bedeutet unter anderem, daß wir es schon in der Wahrnehmung mit einer "Transzendenz" des Gegebenen - der sensorischen Daten - zu tun haben.

Weiter wird in der Wahrnehmung stets schon vorhandenes "Wissen" zur Deutung ausgenutzt. wobei dieses Wissen in primitiven Fällen in angeborenen Dispositionen verkörpert und mitunter schwer revidierbar ist. Die Wahrnehmung ist in hohem Maße kontextabhängig, und zu dem für sie relevanten Kontext gehören früher aufgebaute "Überzeugungen" der betreffenden Individuen. Damit hängt die Tatsache zusammen, daß sie zu Fehlleistungen - etwa Halluzinationen oder Illusionen - imstande ist, die zu Irrtümern führen können.

Der Wahrnehmungstheoretiker erklärt also die Wahrnehmung als eine kognitive Leistung des Organismus auf vorsprachlicher Ebene. Diese Leistung ist - wie alle anderen kognitiven Leistungen - kontextabhängig, prinzipiell fehlbar, und sie transzendiert das Gegebene in Richtung auf eine objektive Welt, in der eine Orientierung des Verhaltens möglich ist. Schon in dieser Leistung scheint eine der Wahrheitsidee analoge Steuerungsnorm wirksam zu sein, die das Lernen aus Erfahrung - durch Versuch und Irrtum - ermöglicht.

Soll der Philosoph sich dazu durchringen, das alles als fiktiv zu erklären? Etwa deshalb, weil er aus anderer Quelle weiß, daß Realismus und Wahrheitsidee illusorisch sind? Soll er etwa die Erklärungen des Wahrnehmungsforschers als bloße Ordnungen der Sinnesdaten ohne reale Bedeutung interpretieren? Oder soll er den von diesem postulierten Deutungscharakter der Wahrnehmung auf der Ebene der Erkenntnistheorie suspendieren?

Vermutlich ist es sinnvoller, dessen Forschungsergebnisse als ernst zu nehmende Beiträge zur Lösung der ihn selbst interessierenden Erkenntnisproblematik aufzufassen, denn die kognitiven Leistungen, die da untersucht werden, gehören ja keineswegs in einen anderen Erkenntnisbereich. Die Wahrnehmungen, die ihn selbst als Erkenntnistheoretiker interessieren, sind nicht von anderer Art als die in der Wahrnehmungsforschung behandelten.

Und wenn er der Ansicht sein sollte, daß diese nur Tatsachenfragen, er aber Gültigkeitsprobleme zu behandeln habe, dann muß er sich erstens entgegenhalten lassen, daß man zwar beide Arten von Fragen tunlichst unterscheiden, aber nicht vorschnell jeden Zusammenhang zwischen ihnen leugnen sollte, und zweitens, daß auch der Wahrnehmungsforscher es in gewißem Maße mit beiden Arten von Fragen zu tun hat.

Der kritische Realismus hat keine Mühe, diese Forschungsergebnisse in seinem Sinne zu verwerten. Seine Deutung der wissenschaftlichen Erkenntnis kann an die in ihnen enthaltene Interpretation der Wahrnehmung anknüpfen. Der Anzeichencharakter der Sinnesdaten ist auch für seine Deutung relevant. Er kann die Konstruktion, Verwendung und Prüfung wissenschaftlicher Theorien als eine Fortsetzung der in der Wahrnehmung vollzogenen Leistungen mit teilweise anderen Mitteln - unter Verwendung von komplexen Symbolsystemen wie der menschlichen Sprache - auffassen.

Die Überwindung des naiven Realismus wird vor allem durch den Gebrauch der Mittel möglich, mit deren Hilfe man zu einer korrigierenden Erklärung der Leistungen unserer Sinnesorgane gelangen kann, einer Erklärung, die diese als mehr oder weniger adäquate Approximationen deutet.


Die Rolle symbolischer Systeme

Die moderne Wissenschaftslehre hat sich bisher vor allem um sprachlich kodifizierte Erkenntnis gekümmert und deren statische Aspekte analysiert. Probleme dieses Bereichs lassen sich durch logisch-semantische Untersuchungen klären und haben daher das Interesse derjenigen Theoretiker auf sich gezogen, die in der logischen Analyse die einzige philosophische Methode identifizieren zu können meinen. Das daraus resultierende Bild der wissenschaftlichen Erkenntnis mit seiner Akzentuierung formaler Züge abgeschlossener theoretischer Systeme war von erheblicher Einseitigkeit und ist daher nun mit Recht einer Kritik ausgesetzt, in der die dynamischen Aspekte der Forschung betont werden.

Die Kritik am neoklassischen Empirismus, der bis vor kurzer Zeit die wissenschaftstheoretische Szene beherrscht hat, gibt nun den hermeneutischen Strömungen des philosophischen Denkens Gelegenheit, sich in diese Diskussion einzuschalten und die in ihrem Bereich vorliegenden Auffassungen zu Deutungsproblemen zur Geltung zu bringen, wobei gewisse Affinitäten zwischen analytischen und hermeneutischen Konzeptionen zum Vorschein kommen. Diese bisher einander fremden Richtungen des philosophischen Denkens scheinen nun in einer Weise zusammenzuwirken, die einer realistischen Wissenschaftsauffassung den Garaus machen soll.

Die Kuhnsche Analyse wissenschaftlicher Revolutionen hat dazu ermuntert, mit einem Begriff des Paradigmas zu operieren, der es zu erlauben scheint, weitgehend beliebige Deutungen als wissenschaftliche Theorien zu akzeptieren, ein Umstand, der vor allem gewissen Strömungen im Bereich der Sozialwissenschaften sehr zustatten kommt. Als neuestes Wahrheitskriterium wir der Konsens der an der Diskussion Beteiligten unter gewissen Bedingungen angeboten, als ob ein solches Indiz irgendeine wesentliche Beziehung zum Inhalt kognitiver Aussagen haben könnte, es sei denn durch höhere Fügung.

Und das Basisproblem für wissenschaftliche Theorien wird so gelöst, daß man von der Annahme ausgeht, jede Interpretation einer Beobachtungssituation lasse sich ohne Schwierigkeiten durchhalten, so daß nur gemeinsame Beschlüsse der Forscher - offenbar ohne jeden Anhaltspunkt in der Realität - die Wissenschaft vor dem Chaos der Meinungen retten können. Ein Kollektivsubjektivismus hermeneutisch inspirierter Erkenntnissubjekte, die sich gegenseitig ihrer Wahrhaftigkeit versichern und dem gewählten Paradigma die Treue halten, scheint die moderne Lösung der Erkenntnisproblematik zu sein. Ich habe nicht den Eindruck, daß eine derartige Auffassung als brauchbare Lösung anerkannt zu werden verdient.

Wer diese Behandlung der Probleme zu beurteilen wünscht, tut gut, sich daran zu erinnern, daß die Theoriebildung - wenn nicht ein sehr eingeschränkter spezieller Theoriebegriff in Betracht gezogen werden soll - nicht erst mit dem sprachlich artikulierten Denken oder gar mit der sprachlichen Kodifizierung hochentwickelter Aussagensysteme beginnt. Sie fängt vielmehr innerhalb der Wahrnehmungstätigkeit - d.h. im vorsprachlichen Bereich - an. Wie KARL BÜHLER feststellt, ist die "sprachliche Fixierung und Fassung der wahrgenommenen Sachverhalte (...) vorbereitet und verwurzelt in den Prozessen, die wir Wahrnehmungen zu nennen und unsachlich scharf von einer  nachfolgenden sprachlichen Fassung zu trennen pflegen."

Er weist darauf hin,
    "daß dieselben semantischen Funktionen, die dem Analytiker der Sprache deutlich werden, daß die Signal-, Anzeichen- und Symbolfunktionen in voller Entfaltung den Sinnesdaten des Menschen auch dort und unter solchen Umständen zukommen, wo eine Intervention des Sprachapparates nicht in Frage steht".
Schon innerhalb der Wahrnehmungsaktivität wird ja, wie ich oben schon erwähnt habe, mit Annahmen mehr oder minder allgemeinen Charakters operiert, in denen bewährte Invarianzen der Wahrnehmungswelt zum Ausdruck kommen. Dabei können sicherlich relativ unstrukturierte Situationen auftauchen, in denen ein erheblicher Spielraum für verschiedene Deutung durch die Mechanismen der Sinneswahrnehmung besteht. Eine völlige Willkür in diesem Bereich scheint aber durch die Struktur der Sinnesapparate ausgeschlossen zu sein.

Der "Transzendenz der Darstellung", die schon bei singulären Aussagen - also auch sogenannten Basis-Aussagen - zu konstatieren ist, weil in ihnen Allgemeinbegriffe auftreten, entspricht, wie schon erwähnt wurde, eine ganz analoge "Transzendenz der Wahrnehmung", da auch in ihr schon ein gesetzmäßiges Verhalten der wahrgenommenen Gegenstände "angenommen" wird. Das bedeutet keineswegs, daß Aussagen durch Erlebnisse "verifiziert" werden können, sondern nur, daß schon die Wahrnehmung selbst mit "Hypothesen" arbeitet, in denen Invarianzen bestimmter Art postuliert werden, und daß diese Deutungsleistung in den an sie anknüpfenden kognitiven Aktivitäten höheren Niveaus nicht annuliert, sondern bestenfalls korrigiert werden kann.

Die Sprache ist ein Instrument der Darstellung, das eine weitergehende Objektivierung kognitiver Leistungen durch ihre Kodifikation mit Hilfe in ihrer Verwendung normierter Symbole ermöglicht, eine Kodifikation, die überdies die Kritik und Korrektur solcher Leistungen erleichtert. Mit ihren Mitteln können die schon in der Wahrnehmung wirksamen Annahmen explizit gemacht, geprüft und unter Umständen revidiert werden, was teilweise schon im Alltagsleben geschieht.

Die Theoriebildung in den Wissenschaften ist nur eine Fortsetzung dieser Erkenntnispraxis mit verfeinerten Mitteln - teilweise unter Verwendung der in der Mathematik aufgebauten symbolischen Systeme. Sie transzendiert die in der Wahrnehmung erreichbare Erkenntnis und sucht nach allgemeineren Gesetzmäßigkeiten - und zwar auch im Bereich der Organisation kognitiver Leistungen selbst, als der Wahrnehmung, des Denkens, der Symbolverwendung -, mit deren Hilfe unsere Erfahrung erklärt werden kann. Die dadurch erzielten Erklärungen involvieren gleichzeitig eine Kritik der Erfahrung - der Wahrnehmung und des Alltagsdenkens -, soweit sie die in ihr enthaltene Deutungsleistung in Frage stellen und korrigieren.

Die Erkenntnispraxis der Wissenschaften ist, das braucht heute kaum noch besonders betont zu werden, ebenso prinzipiell fehlbar wie die in der Wahrnehmung enthaltene Deutungstätigkeit. Sie operiert ebenso wie diese mit Hypothesen, allerdings mit solchen, die durch sprachliche Fixierung in stärkerem Maße objektiviert und damit der Kritik zugänglich gemacht werden.

Die Methodologie, die in diesem Bereich praktiziert wird, ist nur zu verstehen, wenn man davon ausgeht, daß die Tätigkeit, auf die sie sich bezieht, darauf abzielt, die objektive Beschaffenheit der Wirklichkeit - beziehungsweise der ins Auge gefaßten Realitätsausschnitte - und damit auch die für sie gültigen Gesetzmäßigkeiten zu erforschen. Damit ergibt sich gleichzeitig die Bedeutung der regulativen Idee der Wahrheit für die Erkenntnispraxis, einer Idee, die wie ich schon erwähnt habe, zur Darstellungsfunktion der Sprache gehört und ohne die Leistungen in diesem Bereich schwerlich zu beurteilen sein dürften.

Die methodischen Vorkehrungen, die in den Realwissenschaften getroffen werden, um willkürliche Deutungen nach Möglichkeit auszuschalten und die Immunisierung von Theorien und Erklärungen gegen relevante Kritik zu verhindern, sind an der Idee zutreffender Darstellung orientiert und daher ohne sie kaum sinnvoll zu deuten. Die Tatsache, daß die in diesem Zusammenhang entwickelten Kriterien selbst prinzipiell nicht unbezweifelbar sind und daher der Kritik zugänglich gemacht werden können, hat keineswegs zur Folge, daß man einen - unter sehr problematischen hypothetischen Bedingungen angeblich erzielbaren - Konsens der an der Forschung Beteiligten selbst zum Kriterium erheben muß.

Ein solcher Vorschlag involviert vielmehr jene merkwürdige Verbindung von Skeptizismus und Dogmatismus, die sich daraus ergibt, daß man fragwürdige Konsequenzen aus dem Zusammenbruch des klassischen Rationalismus zieht, indem man die für die Erkenntnis unumgängliche Komponente dieser Auffassung, nämlich die Idee der objektiven Wahrheit, opfert und ihre unhaltbare Komponente, die Idee der zureichenden Begründung, zu retten sucht.


Das Problem der Hermeneutik

Soweit sprachliche Mittel in der menschlichen Erkenntnis eine Rolle spielen, ergibt sich ein Problem, um das sich die Geisteswissenschaften seit langer Zeit bemüht haben: das Problem des Verstehens der Produkte sprachlicher Aktivitäten. Die methodologische Disziplin, die sich mit diesem Problem befaßt, die Hermeneutik, hat sich bisher vor allem auf Texte konzentriert und sich als Kunstlehre der Auslegung von Texten verstanden. Erst seit relativ kurzer Zeit beginnt sich eine allgemeine Sprachtheorie abzuzeichnen, die mit den üblichen Methoden der Realwissenschaften arbeitet und sich als Teildisziplin einer theoretischen Lehre von den Zeichen und Zeichensystemen überhaupt auffassen läßt.

Man unterscheidet etwa zwischen Symptomen, Signalen und Symbolen, wobei diese Zeichenarten den Dimensionen des Ausdrucks, des Appells und der Darstellung zugeordnet werden, und differenziert zwischen einfachen Systemen und zweiklassigen Systemen vom Typus der Sprache, die eine Darstellung in zwei Schritten - Wortwahl und Satzbau - aufzubauen imstande sind und in zwei Feldern - dem Zeig- und Symbolfeld - operieren. Systeme dieser Art scheinen die Grundlage für alle höheren Kulturleistungen zu bilden.

Die Lehre vom Verstehen wird wohl nur im Zusammenhang mit der Theorie der Zeichen und der Zeichensysteme weiterentwickelt werden können, denn Zeichen - als Komponenten der Wahrnehmungswelt - bilden das objektive Substrat für Leistungen dieser Art, die darauf gerichtet sind, den damit verbundenen Sinn zu erfassen. Sie hat die Aufgabe, die menschliche Deutungsaktivität und ihren Erfolg oder Mißerfolg auf theoretischer Grundlage zu erklären. Diese Deutungsaktivität kann aber selbst als ein Sonderfall der Wahrnehmung aufgefaßt werden, die ja, wie wir gesehen haben, an sich schon als Zeichendeutungsprozeß anzusehen ist, wenn sie auch im allgemeinen nur Anzeichen (Symptome) - nicht Symbole - verwertet.

In der zwischenmenschlichen Kommunikation pflegen aber alle drei Zeichenarten - Symptome, Signale und Symbole -, und zwar teilweise am gleichen stofflichen Träger, aufzutreten. Eine Äußerung des Gesprächspartners wird etwa gleichzeitig als Ausdruck seines seelischen Zustandes und als Appell aufgefaßt, wobei ihr Inhalt nur dadurch zu identifizieren ist, daß der Darstellungssinn gewisser Zeichen verstanden wird.

Die theoretische Durchleuchtung des Zeichengebrauchs und des Verstehens im Rahmen der Realwissenschaften macht keine Suspendierung der allgemeinen Methodologie dieser Wissenschaften für diesen Bereich notwendig, wenn sie natürlich auch bereichsspezifische Forschungstechniken erfordert. Insofern ist der methodologische Autonomieanspruch, der für die Geisteswissenschaften immer wieder erhoben wurde, illusorisch.

Man darf überdies erwarten, daß die Hermeneutik als Technologie des Verstehens von den Ergebnissen der Zeichen- und Sprachtheorie nur profitieren kann, denn hier ist ebenso wie auf anderen Gebieten zu erwarten, daß tieferdringende Erklärungen unsere bisherigen Auffassungen zu korrigieren imstande sind und darüber hinaus zu technologischen Verbesserungen führen. Wer für diesen Bereich den kritischen Realismus aufrechterhalten möchte - und es gibt, soweit ich sehen, keinen Grund, ihn hier aufzugeben -, der wird die bereichsspezifische Methodologie der sogenannten Geisteswissenschaften - im Sinne einer Lehre spezieller Forschungstechniken - nicht gegen mögliche Kritik von seiten der einschlägigen theoretischen Realwissenschaften immunisieren wollen.

Vor allem gewisse Sonderansprüche, die zuweilen für das Verstehen erhoben worden sind, können auf Grund unserer heutigen Kenntnisse über die menschliche Deutungstätigkeit zurückgewiesen werden. Wenn zum Beispiel die Rede davon ist, daß dem Verstehen unter gewissen Umständen eine "Evidenz" zukomme, die die dadurch erzielte Einsicht unanzweifelbar mache, so braucht man nur auf die oben erwähnte Kontextabhängigkeit und den hypothetischen Charakter solcher Leistungen hinzuweisen, um diesen Anspruch fragwürdig zu machen.

Soweit in den Kultur- und Geisteswissenschaften verstehende Methoden verwendet werden, sind sie als hochkomplexe Fälle der Zeichendeutung aufzufassen, wie sie auch sonst in der menschlichen Wahrnehmung auftauchen, und es besteht kein Grund, sie mit höheren Gewißheitsansprüchen auszustatten, als sie gemeinhin für Beobachtungen erhoben werden. Ich habe übrigens den Eindruck, daß Tendenzen dieser Art heute nur noch selten festzustellen sind.

Eine andere Tendenz dagegen scheint sich immer deutlicher abzuzeichnen, nämlich die, den hermeneutischen Gesichtspunkt zur Leitidee der gesamten Erkenntnis zu erheben. Während die theoretische Zeichen- und Sprachwissenschaft ihren Gegenstandsbereich als Realitätsausschnitt in der üblichen Weise der Realwissenschaften behandelt, wird in dieser Version des hermeneutischen Denkens die Sprache zum transzendentalen Faktor und darüber hinaus zum archimedischen Punkt der Erkenntnis erhoben. Sicherlich wäre IMMANUEL KANT erstaunt gewesen, wenn er diese Entwicklung hätte vorausahnen können.
LITERATUR - Hans Albert, Kritische Vernunft und menschliche Praxis, Stuttgart 1977