ra-2ra-2 Sozialismus und soziale BewegungDie Quintessenz des Sozialismus    
 
GERTRUD BÄUMER
Die soziale Idee
[2/4]
    Einführung
Das soziale Problem der Gegenwart
Der humane Individualismus
H e r d e r
G o e t h e
S c h i l l e r

"Die Konkurrenzfähigkeit der Industrie wird immer die Grenze des Arbeiterschutzes bestimmen. Die Skrupellosigkeit, mit der im wirtschaftlichen Leben der  Vorteil  als einziges Prinzip anerkannt wird, hat auch darin ihren Grund, daß im Großunternehmertum kein eigentlicher Träger moralischer Verantwortung mehr da ist. Der Direktor ist angestellter Beamter und von den Aktionären kann nicht verlangt werden, daß sie sich darum kümmern, unter welchen sozialen Verhältnissen die Dividenden verdient werden - noch ganz abgesehen vom ganz unausweichlichen Zwang der internationalen wirtschaftlichen Zusammenhänge."

2. Das soziale Problem der Gegenwart
[Fortsetzung]

Das Schlimme daran ist der Widerspruch zwischen dieser Arbeit und dem, was das moderne Leben sonst aus dem Arbeiter macht. Eben darin liegt ja die Tragik, daß wir diese entgötterte Arbeit nicht um so viel stumpferen, geistig anspruchslosere Kräften übertragen, sondern im Gegenteil Menschen, die durch unsere Kultur zu einer gesteigerten geistigen Leistungsfähigkeit und verfeinerten Ansprüchen, einem regeren und bedürftigeren inneren Leben, einem energischeren Selbstgefühl und einem lebhafteren und reizbareren Freiheitsbedürfnis erweckt werden. Aus unseren Volksschulen und Fortbildungsschulen gehen Menschen mit relativ hoch entwickelten geistigen Interessen hervor. Durch die populärwissenschaftliche Literatur, das Zeitungswesen, die Politik, das Vereinsleben, durch Volksbildungsbestrebungen jeder Art werden diese Massen weiter geistig gehoben und entwickelt. Und doch bleiben sie für zwölf Stunden an jedem Tag an eine Arbeit geschmiedet, die für so geartete Menschen mehr und mehr zu einer Marter werden muß.

So ist das persönliche Leben in der Schicht der handarbeitenden Bevölkerung durch merkwürdige Extreme, eine eigenartige Formlosigkeit gekennzeichnet. De Arbeiter, den uns eine kürzlich veröffentlichte Selbstbiographie schildert, der tagsüber zwölf Stunden Knöpfe feilt und sich mit seinen Gefährten in der Lungenheilstätte über DARWIN und HAECKEL streitet, ist ein Typus. Ein Typus auch insofern, als er nicht imstande ist - und auch nicht versucht, aus seinen intensiv gepflegten geistigen Interessen ein wenig persönliche Kultur in sein Heim hineinzutragen.

Und das bringt auf eine andere Seite des sozialen Problems der Gegenwart: die Veränderung des Gemeinschaftslebens. Man kann diese Veränderung im allgmeinen in die Formel fassen: die äußere Abhängigkeit der Menschen voneinander, ihr Aufeinanderangewiesensein in wirtschaftlicher Beziehung hat sich verdichtet und vervielfältigt, die  inneren  Beziehungen zwischen ihnen haben sich gelockert. Auch hier bedarf es nur einiger Hinweise, um diese Tatsache zu beleuchten und ihre Tragweite anzudeuten. Eine ungeheuer komplizierte Mechanik der Bedarfsdeckung bringt ganze Schichten von Produzenten und Konsumenten in eine nahezu unübersehbare Abhängigkeit voneinander. Die rheinisch-westfälische Metall- und Hüttenindustrie hängt von der Entwicklung des amerikanischen Stahltrusts ab, der russisch-japanische Krieg oder das Erdbeben in San Francisco erschütterte Börsenwerte, deren Träger direkt garnichts mit diesen Ereignissen zu tun hatten. Und alle diese Abhängigkeitsverhältnisse sind  rein  merkantiler Natur, ohne Verknüpfung irgendwelcher Art, auf nichts gegründet als auf wirtschaftliche Interessen. Sie sind aber zugleich so zwingend, daß sie ohne weiteres und rückhaltlos allen anderen höheren Interessen vorangestellt werden dürfen. Die Konkurrenzfähigkeit der Industrie wird immer die Grenze des Arbeiterschutzes bestimmen. Die Skrupellosigkeit, mit der im wirtschaftlichen Leben der  Vorteil  als einziges Prinzip anerkannt wird, hat auch darin ihren Grund, daß im Großunternehmertum kein eigentlicher Träger moralischer Verantwortung mehr da ist. Der Direktor ist angestellter Beamter und von den Aktionären kann nicht verlangt werden, daß sie sich darum kümmern, unter welchen sozialen Verhältnissen die Dividenden verdient werden - noch ganz abgesehen vom ganz unausweichlichen Zwang der internationalen wirtschaftlichen Zusammenhänge.

Diese Unpersönlichkeit der wirtschaftlichen Zusammenhänge wirkt umso stärker, als andererseits  die sozialen Beziehungen,  die solche Elemente ethischer Verantwortung  enthalten,  sich lockern. Der Kapitalismus zersetzt die nationalen Einheiten. Das Kapital entzieht sich dem Vaterland, wenn die Rentabilität internationaler Unternehmungen größer ist. die wirtschaftlichen Interessen übertrumpfen in Konfliktsfällen unter Umständen die patriotische Pflicht.

Wie im großen, so lockert der Kapitalismus auch im kleinen die alten, auf Schutz und Ehrfurcht, Fürsorge und Pietät beruhenden, im Gemütsleben wurzelnden Gemeinschaftsbildungen. Er nagt an den Wurzeln der  Familie.  Seit die Arbeitsstätte aus dem Haus hinausverlegt ist, das Vater und womöglich Mutter morgens verlassen, um abends mit einem Rest von Frische und Genußfähigkeit dahin zurückzukehren, seit in den großstädtischen Mietskasernen Tausende von Familien in Tausenden von einförmigen Stuben - oft nicht einmal zulänglich - behaust sind, seit der Massencharakter aller Gebrauchsgegenstände die Ausprägung persönlicher oder familienhafter Art in der Umgebung unmöglich macht, schwindet mehr und mehr der Inhalt aus dem Rahmen, den dieses Wort  Familie  umfaßt.

Umso mächtiger ziehen neue Gemeinschaftsbildungen der modernen Menschen in ihre Kreise. Die Solidarität der  Klasse,  die durch die Formen des Wirtschaftslebens so ungemein befestigt und erhöht ist, schafft eine Welt ganz neuer sozialer Zusammenhänge. Sie haben sich in den letzten Jahrzehnten als die unbedingt wirksamsten und kräftigsten erwiesen. Das liegt nicht  nur  an ihrer  wirtschaftlichen  Zweckmäßigkeit. Die Vertreter des modernen Syndikalismus wissen, eine wie starke  ethische  Macht im Aufeinanderangewiesensein der wirtschaftlichen Interessengruppen liegt, weil es die Notwendigkeit in sich schließt, füreinander zu handeln. Und dieses Handeln, mag es auch ausschließlich wirtschaftlichen Zielen zugewandt sein, wird doch dadurch in die ethische Sphäre erhoben, daß es unter Umständen aufopfernd, jedenfalls aber immer überpersönlich sein muß und dem Einzelnen nur  die  wirtschaftlichen Vorteile erwirbt, die zugleich für die Gemeinschaft, in und mit der er kämpft, errungen werden. Die unübersehbare Erziehungsarbeit, die das korporative Leben, die Gewerkschaft, der Berufsverein an den Massen geleistet hat, wird vielleicht als geschichtlicher Faktor einmal noch höher bewertet werden als ihre wirtschaftliche Bedeutung. Alle innere und äußere Heimatlosigkeit und Entwurzelung des modernen Proletariers findet hier ihren Ausgleich. Hier weiten sich ihm die Maße seines persönlichen Lebens im Rhythmus einen größeren und bedeutsameren Bewegung, an der er Teil hat. Hier befriedigt sich sein Selbstgefühl im Bewußtsein, die Ordnung der Dinge mit zu gestalten und findet Trost gegen die nagende Pein seines aller schöpferischen Initiative entrückten Daseins. Hier hat er auch den Zugang zu geistigen Gütern, zur Welt und zur Geschichte, zu allen Lebensquellen, die ihm in seiner Arbeit versiegt sind. Seine Selbstachtung, seine Fähigkeit zu einer bestimmten moralischen und sozialen Haltung - das zeigen uns alle Dokumente aus der Welt des modernen Arbeiters - wurzelt zum großen Teil in dieser Zugehörigkeit zur Organisation.

In gewissem Maße gilt das, was hier mit besonderer Beziehung auf die Berufsgemeinschaft gesagt ist, auch für andere korporative und politsche Gemeinschaften und damit für  alle  Glieder der modernen Gesellschaft. Für Deutschland ist neuerdings durch eine Erhebung des Kaiserlichen statistischen Amtes die rapide Zunahme korporativer Zusammenschlüsse aller Arten und Zwecke festgestellt. Die fast eben so rasch fortschreitende Verstaatlichung und Kommunalisierung von Aufgaben, die früher rein privater Natur waren, kommt hinzu, um das Leben jedes einzelnen Menschen mit Verpflichtungen gegen die Gemeinschaft zu durchsetzen. Natürlich liegt darin neben mannigfachen Kulturwerten auch die Gefahr einer Veräußerlichung des persönlichen Lebens. Die Kraft, die früher der Familie, den Angelegenheiten eines kleinen Kreises ausschließlich diente, die half, rein persönlicher Zusammenhänge zu schaffen und zu festigen, muß heute zum Teil den Angelegenheiten weiter Gemeinschaftskreis, in der Gewerkschaft, in Berufsvereinen usw. gewidmet werden. Ohne Zweifel besteht dabei die Gefahr, daß mit der Verbreiterung der Interessen eines Menschen für den anderen ihre Intensität zurückgeht, daß sich die sozialen Bedürfnisse in rein äußeren Beziehungen befriedigen und darum für die persönlichen nicht viel übrig bleibt. Rechnet doch auch in diesen großen Gemeinschaftsbildungen der Mensch nicht als Person, sondern nur als das, was er für die Gemeinschaft bedeutet, als Bürger, tritt er ja in diese Beziehung ein; er läßt sich selbst draußen. Und wenn in dieser Tendenz der Zeit zur großen Zusammenschlüssen die Möglichkeit einer erhebenden Ausweitung des persönlichen Lebens liegt, so hat dieser Kulturwert des korporativen Handelns doch darin seine Schranke, daß der Einzelne im Spezialistentum seines Berufs oder eines anderen sozialen Interessenkreises stecken bleibt und, da die ganze Welt der sozialen Zusammenhänge für ihn doch unübersehbar bleibt, mit seinen überpersönlichen Bedürfnissen sich ausschließlich in dieser Sphäre festklammert. Gerade diese Eigentümlichkeit zeigt sich ja im Charakter unserer modernen Politik mit trauriger Deutlichkeit.

Ein letztes und höchstes Kriterium für das soziale Problem der Gegenwart gewinnen wir, wenn wir fragen, ob der Organismus der modernen Gesellschaft das zuwege bringt, was wir im engsten Sinne des Wortes "Kultur" nennen. Der Historiker LAMPRECHT umschreibt diesen höchsten und umfassendsten Ausdruck der Wirkungen einer Zeit mit den Worten: "die spezifische geistige Behauptung der Welt, das Unvergängliche, weil unbedingt Traditionsfähige im Leben der Völker". Wir können es auch einfacher bezeichnen als die  Form,  den  Stil  der  Persönlichkeiten.  Haben wir heute in der Folge der glänzenden zivilisatorischen Leistungen des 19. Jahrhunderts eine gesteigerte Kultur, eine Verfeinerung, Erhöhung und bestimmtere, reinere Formung der Persönlichkeit? Oder muß man nicht vielmehr sagen, daß die Menschen, mindestens die Deutschen, vor hundert Jahren einen ausgeprägteren geistigen Charakter, einen höheren inneren Wert hatten, daß der Prozentsatz von Menschen mit kraftvoller und eigentümlicher Bildung in unserem Volk und zwar in allen seinen Schichten, größer war? Der Deutsche des Klassizismus und der Romantik, so heißt es bei LAMPRECHT mit Recht, war "eine wohl zu definierende Persönlichkeit". Er besaß das, was uns heute fehlt, einen seelischen Stil, d. h. Zusammenhang aller Äußerungen seiner inneren Persönlichkeit durch gewisse einheitliche Grundgedanken und Willensrichtungen. Die Meinung über den Menschen der Gegenwart geht nun dahin, daß die Rückwirkungen der Zivilisation auf die Mächte persönlicher Bildung sich an ihm eher herabsetzend und lähmend als, zunächst wenigstens, fördernd und befreiend gezeigt haben.

Und zwar in vielfacher Weise.

Die ungeheure Vermehrung und Erweiterung aller der Dinge und Interessen, die heute "zum Leben gehören", das raschere Tempo des geistigen Verkehrs, der regere Austausch, der alles an alle heranbringt, zwingen den Menschen, seine ganze Kraft in der bloßen  Aufnahme  all dieser Stoffe aufzubrauchen. Der Intellekt, das  Wissen  wird einseitig in Anspruch genommen. Welche geistige Leistung bedeutet heute schon die wirkliche innere Aufnahme und Verarbeitung eines einzigen Zeitungsblattes, in der unübersehbaren Vielfältigkeit der Probleme und Interessen, die es in seine Spalten zwingt! Und es geht uns allmählich auf - dem Pädagogen, Sozialwissenschaftler und Kulturhistoriker, dem Dichter und Künstler -, daß dem Wissen, in das sich heute die geistigen Leistungen der Menschen vor allem einsetzen, kein so hoher Bildungswert zukommt, daß es sich nicht so in persönliche Kraft umsetzen kann wie andere geistige Betätigungen. Es kommt hinzu, daß Wissen immer Stückwert, immer etwas Halbes bleiben muß und heute mehr denn je. Eine vorwiegend intellektuelle Kultur, bei der der Akzent auf dem Wissen liegt, muß bei der großen Mehrzahl der Menschen  Halbbildung  werden. Die Möglichkeit, etwas zu beherrschen, etwas Ganzes zu haben, ist dabei ja doch ausgeschlossen, während jede Form von künstlerischer, praktischer, ethischer Kultur diese Abrundung und in sich geschlossene Vollkommenheit ohne weiteres zuläßt. Der Begriff der Halbbildung ist etwas Modernes. Man kann sagen, daß es zu GOETHEs Zeit keine halbgebildeten Leute in diesem Sinn gegeben hat. Heute bilden sie die Majorität, weil sie das notwendige Produkt einer Kultur sind, in der alles vom Intellekt abhängt und doch jedes einzelne Lebensgebiet stofflich so kompliziert geworden ist, daß nur wenige etwas Ganzes wissen und zu der Höhe gelangen können, auf der auch aus dem Wissen Kultur werden kann. Die Ausbreitung unseres geistigen Horizontes ist so rasch gegangen, daß ihr die Methoden geistiger Verarbeitung nicht so schnell folgen konnten. Und so hat man provisorische Methoden erfunden, die es den Einzelnen ermöglichen sollen, wenigstens von den Dingen zu reden und sich nicht vom geistigen Austausch ausgeschlossen zu fühlen: die des Schlagwortes, der für Massen geprägten Programme. Und indem sich die Menschen daran gewöhnen, diese schnell geprägten Münzen in Kurs zu setzen, geht ihnen vielfach de  Begriff,  die  Forderung  persönlicher Bildung, eines persönlichen Lebensstils ganz und gar verloren. Sie gewöhnen sich an das oberflächliche Hantieren mit Worten, die einander ja doch so schnell ablösen, daß es kaum lohnend ist, sich wirklich in ihren Besitz zu setzen.

Auch in früheren Zeiten war natürlich die Menge der Menschen nicht imstande, sich aus eigener Kraft eine innere Einheit für ihr Leben zu erarbeiten. Aber man versuchte es auch nicht; man überließ sich der Führung von historischen Mächten, die das ganze innere Leben einer Zeit in eine Form zu gießen verstanden und den Einzelnen in diese Form aufnahmen, die er sich selbst nicht hätte schaffen können. Diese Bedeutung hat im Mittelalter die Kirche gehabt, hatte gegen Ende des 18. Jahrhunderts, wenn auch für eine viel kleinere Gemeinde, die Kultur des Klassizismus. Heute ist der Wille des Menschen, sich in ein solches System aufnehmen zu lassen, für sein inneres Leben die geprägten Formen zu übernehmen, verschwunden. Und zwar deshalb vor allem, weil die vorhandenen Mächte nicht mehr imstande sind, das geistige Leben unserer Zeit wirklich zu umspannen, weil es keine Macht gibt, die diese Aufgabe löste, aber auch, weil eben diese Vielfältigkeit unserer Zeit, die jeden Tag neue Systeme, neue Weltanschauungen produziert, den einzelnen Menschen mißtrauisch dagegen gemacht hat, sich einer einzigen gefangen zu geben. Das Suchen, bei dem man in jedem Augenblick seine innere Selbständigkeit durchaus bewahrt, ist im Bewußtsein unserer Zeit zu einer moralischen und intellektuellen Pflicht geworden, trotzdem wir uns sagen müssen, daß es für die große Mehrzahl der Menschen schlechthin fruchtlos und erfolglos bleiben muß.

Und noch ein weiterer Mißstand hängt damit zusammen, daß die Kultur unserer Zeit vor allem intellektuell ist. Er beruth darauf, daß jede auf Wissen, auf intellektueller Bildng beruhende Vervollkommnung des Menschen absolute Trennungen zwischen ihm und dem minder Begünstigten schafft. Es gibt wenig Verständigungen zwischen Menschen, die auf einer verschiedenen Intelligenzstufe stehen, wenn diese Verständigungen eben in der Sphäre des Intellektuellen gesucht werden müssen. Künstlerische, ethische, religiöse Kultur wirkt vereinheitlichend und gemeinschaftsbildend. In ihrem Zeichen ist es möglich, den Menschen der einfachen und den der verfeinertsten Kultur zusammenzubringen. Unterschiede der  Bildung  wirken absolut trennend und die Unmöglichkeit, die sich bei unserer ganzen sozialen Arbeit immer wieder zeigt, eine wirkliche Verständigung zwischen den einzelnen Schichten des Volkes zu schaffen, hängt vor allen Dingen mit dem absolut aristokratischen Charakter jeder intellektuellen Kultur zusammen.

Diejenigen Geister nun der Gegenwart, in denen als in ihren Führern die moderne Kultur "zu sich selbst kommt", denen ihre Problematik und Zwiespältigkeit bewußt ist, haben eine zwiefache Form der Selbstbehauptung ihr gegenüber gefunden. Die eine ist die Flucht. Nicht eigentlich "zurück zur Natur", wie früher die Parole lautete, wenn eine Zeit an sich selbst irre wurde, sondern in ein Höhenreich höchst kultivierter Lebenskunst. Von allem Trüben, Verkehrten, Mißglückten der Zeit, von den laut und vulgären Ausdrucksformen, in denen sich die wachsende Macht der Masse ausspricht, von der inneren Unreinlichkeit, die das Wesen der Halbbildung bezeichnet, trennt diese Wenigen der luftleere Raum der "Distanz". Der ganze quellende Reichtum der Jahrhunderte, die der Gegenwart ihre Schätze hinterließen, soll, von ihnen in edle Brunnen gefaßt, ein im höchsten Sinne wertvolles Dasein erhalten und nähren. Dem Lärm und der Pein des Gedränges entzogen, wollen diese erlesenen Zirkel die Form des Lebens unverkümmert und unverzerrt, in ihrer vollen Reinheit darstellen, alle seine Grenzen erfüllen, seine Kräfte entfalten, all seine Werte zur höchsten und einfachsten Harmonie vereinigen. Und in der Tat hat wohl nie eine Aristokratie der Bildung und des Geschmacks Sinne und Nerven durch so vielfältige Kulturgüter verfeinern können, keine hat über solche Mittel verfügt, eine so universale Eindrucksfähigkeit und Assimilationskraft in sich zu erziehen. Und doch haftet es dieser Kultur der Exklusivität an, daß sie sich gewaltsam isoliert. Denn das Gefühl der Sonderart und die unausgesetzte Bemühung um die "Distanz" gibt ihr etwas im schlechten Sinn Priesterliches, eine gewisse kleinliche Sorglichkeit um ihre Würde. Was sie erzeugt, ist im tiefsten Wesen unnaiv und unvolkstümlich - eben deshalb aber auch kraftlos. Denn es entsteht nicht aus einem unmittelbaren, einfachen und offenen Verhältnis zur Welt, sondern aus dem Lebensgefühl der Überlegenheit. Die künstlerischen, dichterischen oder essayistischen Ausdrucksformen dieser Kreise sind alle irgendwie bestimmt und geprägt von diesem Hochmut. Ihre Ironie, ihre Frivolität, ihre spielerische Eleganz und ihre Müdigkeit, ihre absichtliche Simplizität und Schlichtheit, ihr kühles Ästhetentum und ihre weltschmerzlich Wehmut - das sind alles im Grunde Mittel der Absonderung von den anderen. Und darum ist auch die erzieherische Bedeutung der geistigen Aristokratie heute so gering. Ihre kritische Stellung - man lese etwa SCHEFFLERs "Idealisten" - zur Gesamtkultur ist unbarmherzig, was etwas anderes ist als streng, und unsozial, insofern sie eben nur darauf ausgeht, sich selbst zu salvieren und außer Verantworung zu erklären und sich darin gefällt, die Entfernungen größer zu machen als sie sind. Die Kulturkritik dieser Kreise, die so fruchtbar sein könnte, wenn sie ein wenig liebevoller und großmütiger wäre, bekommt dadurch etwas Nörgeliges und Prezisöses, wie eine alte, vornehme, sehr gepflegte und wundervoll bekleidete Dame, die Kinderlärm und Sonnenschein, laute Stimmen und vitale Bewegungen nicht ertragen kann.

Aber wie der Wind, der über das Meer gekommen ist, Salzluft und Tanggeruch mit sich führt, so trägt doch der Geist unserer Zeit etwas vom Wesen der Massen in sich, die sie ins Leben gestellt und zu mächtigen und drängenden Kulturansprüchen erweckt hat. Nur in einem Treibhaus könnte man sich der Berührung mit diesem Element entziehen. Und wer dort sitzt, leidet doch im geheimen unter dem beunruhigenden Wissen in sich, daß draußen etwas Entscheidendes und Bedeutsames vorübergeht, an dem er keinen Anteil hat.

Daß das Vorhandensein dieser beiden Extreme: eines nach der rein ästhetischen Seite übersteigerten und eines von Formlosigkeit, Trivialität und allerhand Halbheiten gezeichneten Bildungstypus eine große kulturhistorische Aufgabe in sich schließt, davon sind die sozial gesinnten Menschen der Gegenwart durchdrungen. Diese zweite Partei ist ziemlich groß und sehr vielgestaltig. In politischen Programmen, kunstpädagogischen Bestrebungen, in der Volksbildungsbewegung, in Körperschaften wie der Evangelisch-soziale Kongreß und der Volksverein für das katholische Deutschland, in Staatswissenschaft und Nationalökonomie prägen sich ihre Ideen und Pläne für eine auf die "neudeutsche Wirtschaft" gegründete "neudeutsche Kultur" aus. Es handelt sich darum, in den neuen Lebensformen und durch sie der Persönlichkeit wieder zu ihrem Recht zu verhelfen. Die praktischen Ansätze im einzelnen sind mannigfach: im politischen Leben Weiterentwicklung der Demokratie, die Stärkung des staatsbürgerlichen Sinns, im wirtschaftlichen die Lösung des Arbeitszeitproblems, die Lohntarifbewegung, die Erhöhung des Niveaus der industriellen Arbeit zur Qualitätsarbeit, soziale und künstlerische Erziehung des Konsumenten usw. Aber es fehlt diesen mannigfachen Versuchen und Ansätzen an bewußter Einheitlichkeit. Das liegt daran, daß sie vielfach mehr aus einem instinktiven Gefühl für das Notwendige und für die gegebene Richtung des Fortschritts hervorgehen, als aus einer klaren sozialen Wertidee. Und noch viel mehr leidet die  Aufnahme  all dieser Bemühungen durch die Gebildeten unter der vorhandenen Unklarheit der sozialen Anschauungen. Es erwächst ihnen keine sichere zuverlässiege Resonnanz, weil weder der Wille noch auch die Einsicht der einflußreichen Kreise bei uns durch eine dem modernen Gemeinschaftsleben genügende Sozialethik beherrscht wird.

Und doch haben die Weltanschauungen des 19. Jahrhunderts mit dem Problem der Gemeinschaft ehrlich gerungen - und mehr als das: Prinzipien geschaffen, die wohl geeignet sind, uns das "Sein" des gegenwärtigen Gemeinschaftslebens durch ein "Sollen" zu klären. Es ist ein eigentümliches Schauspiel, wie sich die nach einer solchen Klärung bedürftigen Menschen heute mit Surrogaten zweifelhaftester Art zufrieden geben oder mit abgeleiteten, second hand erstandenen Gedanken, denen man gar nicht mehr ansieht, wo sie eigentlich heimatberechtigt sind und in welchen Zusammenhängen sie ihre ursprüngliche Bedeutung hatten. Die großen Weltanschauungen dagegen, in denen die soziale Idee im Zusammenhang einer einheitlichen Auffassung von Welt, Leben, Entwicklung und Persönlichkeit bestimmt worden ist, sind vergessen oder sie gelten als "überwunden".

Das ist begreiflich. Hat doch die deutsche Philosophie in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderst allzuschnell vor dem Ansturm der materiellen Dingen die Flinte ins Korn geworfen, sich selbst preisgegeben. In den Worten, mit denen im Jahr 1857 der Philosoph RUDOLF HAYM seine Vorlesungen über HEGEL einleitete, bekommen wir ein Bild dieser Generalkapitulation des deutschen Idealismus vor dem Maschinenzeitalter. Da heißt es:
    "Diejenige Philosophie, an welche unser deutscher Spiritualismus sich zuletzt anlehnte, hat die ihr gestellte Probe nicht bestanden. Die Interessen, die Bedürfnisse der Gegenwart sind über sie mächtig geworden. Sie ist mehr als widerlegt: sie ist gerichtet worden. Sie ist nicht durch ein System - sie ist einstweilen durch den Fortschritt der Welt und durch die lebendige Geschichte beseitigt worden. Und sie hat damit nicht etwa ein apartes, sondern das wahre und allgemeine Schicksal aller Systeme gehabt. Nicht immer flutet der Fortschritt der Geschichte so gewaltsam über die dogmatischen Gebäude der Menschen her: immer unterliegen dieselben dem Gericht der Zeit; immer ist der Hergang der, daß der reelle Lebensgehalt einer Epoche über die Engen des Systems hinauswächst und es auf diese Weise beiseite schiebt oder zertrümmert. - Das HEGELsche System und dessen Herrschaft war nach der glänzenden Epoche unserer klassischen Poesie die letzte große und universelle Erscheinung auf dem rein geistigen Gebiet, welche unser Vaterland hervorgebracht hat. Nichts dem Ähnliches ist seitdem dagewesen. Ja, mehr noch. Wir befinden uns augenblicklich in einem großen und fast allgemeinen Schiffbruch des Geistes und des Glaubens an den Geist überhaupt."
Seitdem haben die versunkenen Glocken längst wieder zu klingen begonnen. Heute ist das Vertrauen, aus dem Kulturbesitz des 19. Jahrhunderts das soziale Ideal der Gegenwart herausarbeiten zu können, allgemein gewachsen. In einer Diskussion über "neudeutsche Kultur und neudeutsche Wirtschaft" wurde vom Evangelisch-sozialen Kongreß geradezu die Parole ausgegeben - von SCHULZE-GAEVERNITZ und NAUMANN - zum deutschen Idealismus zurückzukehren und zu versuchen, ob er nicht imstande sei, dem neuen Gesellschaftskörper eine Seele zu schenken.

Auf das neue Vertrauen zur Idee als einem notwendigen und sicheren Führer auch durch die wirtschaftlich-sozialen Zustände rechnet der folgende Versuch, die philosophischen Lösungen der sozialen Frage im Lauf des 19. Jahrhunderts zu skizzieren.
LITERATUR: Gertrud Bäumer, Die soziale Idee in den Weltanschauungen des 19. Jahrhunderts - Grundzüge der modernen Sozialphilosophie, Heilbronn 1910