ra-2 Ernst TroeltschBernhard SchmeidlerHeinrich RickertWilhelm Windelband    
 
PAUL BARTH
Fragen der Geschichtswissenschaft
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"Der Wille ist auf seinen frühesten Stufen nur von physischen, auf seinen späteren aber immer mehr von rein geistigen Momenten abhängig, nämlich von Vorstellungen und von Gedanken, die aus Einzelvorstellungen durch geistige Tätigkeit gewonnen sind."

II. Unrecht und Recht der
"organischen" Gesellschaftstheorie

In der Abhandlung: Fragen der Geschichtswissenschaft, I. "Darstellende und begriffliche Geschichte", die im vorigen Jahrgang dieser Zeitschrift erschienen ist, habe ich in Bezug auf die Nachweisbarkeit der Kausalität zwischen dem, was der Einzelne denkt, leidet oder tut und dem, was eine Gesellschaft oder einen bestimmten Teil einer Gesellschaft gemeinsam angeht, einen Unterschied festzustellen gesucht. Eine Tat oder ein Erlebnis eines Einzelnen beruth auf dem Zusammentreffen unendlich mannigfacher, für unser Denken nicht übersehbarer Kausalreihen, auf einer beständig wechselnden, darum für uns unfaßbaren Konstellation, so daß wir nicht imstande sind, von einem einzelnen Ereignis alle ihm unmittelbar voraufgehenden Ursachen zu entdecken und auch dann nicht dazu imstande wären, wenn die Quellen Genaueres und Intimeres berichteten, als sie tun. Zum Beispiel warum THEODOR KÖRNER im Jahr 1813 fiel, nicht wie die meisten anderen Kämpfer den Krieg überlebte, das ist uns ebenso wenig ganz erklärbar, wie nach dem heutigen Stand des Wissens beim Wurf eines Würfels, warum gerade diese und keine andere Seite nach oben zu liegen kommt. Anders schon verhält es sich mit den Ereignissen, die ein ganzes Volk oder wenigstens einen ganzen Staat betreffen. Warum z. B. die Athener im sizilianischen Feldzug unterlagen, dafür liegen die nächsten Ursachen alle klar vor uns, soweit wir nicht durch die Mangelhaftigkeit der Überlieferung auf bloße Analogieschlüsse angewiesen sind. Überall, wo diese Mangelhaftigkeit nicht besteht, wie z. B. in Bezug auf die Umwälzungen des Jahres 1866, da sind uns die nächsten bestimmenden Ursachen der politischen Erfolge und Mißerfolge ganz durchsichtig. Denn diese Ursachen liegen nicht in vereinzelten Vorkommnissen, nicht in schmalen Reihen von Einzeltatsachen, sondern in breiten, dauernden Zuständen, die sich in vielen Einzelzügen verraten, deren Frucht das politische Glück oder das Unglück einer Gesellschaft oder eines Volkes ist. Noch deutlicher aber verraten sich die Ursachen der Wandlungen im inneren Leben einer Gesellschaft - immer die Zulänglichkeit der Überlieferung vorausgesetzt. Warum Rom seine republikanische Freiheit verlor, ist uns durchsichtig, erscheint uns zwingend begründet. Warum die antike Kultur unterging, ist uns ziemlich gewiß und wäre uns ganz gewiß, wenn wir über jene Periode des Untergangs mehr Quellen hätten. Für alles also, was die Gesellschaft betrifft, lassen sich Kausalreihen aufstellen, Vergleiche ziehen, Analogien oder sogar empirische Gesetze gewinnen und darum sogar gewisse Voraussagungen machen. Daß Frankreich "eine große Veränderung und Umwälzung der Regierung" erleiden werde, konnte Lord CHESTERFIELD in seinem berühmten Brief vom 25. Dezember 1753 nach seinen Beobachtungen mit Zuversicht voraussagen, noch zuversichtlicher konnte es im Jahre 1776 in der Unterredung, die er bei seiner Entlassung mit LUDWIG XVI. hatte, der große Politiker TURGOT tun. Aber keiner von beiden konnte vorausbestimmen, daß am 14. Juli 1789 vom Volk von Paris die Bastille zerstört werden würde. Es verhält sich hier ähnlich wie in der Meteorologie. Der Meteorologe kann jetzt, im Januar 1900, nicht voraussagen, ob es am 1. Juli 1901 regnen wird oder nicht, wohl aber kann er die Regenmenge, die während des ganzen Jahres 1901 an einem bestimmten Ort Deutschlands fallen wird, aufgrund früherer Beobachtungen schon jetzt ziemlich genau voraus wissen. Hier ist das Einzelne "zufällig", d. h. in seiner Kausalität fast gar nicht bestimmbar, weil von zu vielen Momenten abhängig, das Allgemeine aber von einigen wenigen konstanten Bedingungen abhängig, darum nach gewissen Regeln bestimmbar. Und aus denselben Gründen ist auch in der Gesellschaft das Einzelne ungewiß, das Allgemein aber in der Vergangenheit sicherer erkennbar, für die Zukunft einigermaßen vorauszusehen.

Diese Ansicht, die sich unmittelbar aus der Betrachtung der Geschichtsschreibung ergibt, muß durch die soziologische Theorie, wenn sie richtig ist, bekräftigt werden. Das Allgemeine ist ja das, was die Gesellschaft als Ganzes angeht. Eine richtige Theorie der Gesellschaft muß also auch für die komparative Notwendigkeit des Allgemeinen, die zur Zufälligkeit des Einzelnen im Gegensatz steht, eine Begründung enthalten. Und in der Tat gibt es seine solche Theorie: Es ist die sogenannte organische oder organologische Auffassung der Gesellschaft. Es ist offenbar: im Leben des Organismus gibt es ebenfalls Einzelnes, für unser Wissen Zufälliges, z. B. das genaue Datum des Todes, das Gewicht, die Größe, die Zahl der Haare usw. eines Tieres oder eines Menschen, daneben jedoch auch Allgemeines, Notwendiges, wie der Wechsel von Ermüdung und Ruhe, die Erscheinungen des Nahrungs- und des Geschlechtstriebes, das Altern, der Tod usw. Ist also die organische Theorie richtig, so ist auch die obige Unterscheidung des Einzelnen und des Allgemeinen im geschichtlichen Leben richtig und der Glaube an eine gewisse Gesetzmäßigkeit der Geschichte der allgemeinen Zustände und ihrer Veränderungen empfängt eine neue Stütze. Aber bekanntlich wird jene "organologische" Theorie vielfach bestritten. Darum ist es im Interesse der Frage der geschichtlichen Kausalität notwendig, das Unrecht und das Recht jener Theorie genau abzugrenzen.

Es ist offenbar, daß es hier vor allem auf möglichst genaue Bestimmung des Begriffs des Organismus ankommt, wenigsten desjenigen Begriffs davon, der den die Gesellschat als Organismus betrachtenden Theorien zugrunde liegt.

Eine geschichtliche Betrachtung wird am besten seine wesentlichen, spezifischen Merkmale enthüllen. Bei ARISTOTELES, bei dem zwar nicht das Wort "Organismus", wohl aber das Adjektiv "organisch" vorkommt, bedeutet dieses Adjektiv nichts weiter als "werkzeuglich", "mit Werkzeugen versehen" (1). Und  soma organikos  ist ein mit Werkzeugen versehener Körper. Ein Gegensatz zu unbelebten Gegenständen ist in diesem Adjektiv nicht enthalten. Irgendeine Maschine, die, ähnlich wie der tierische Körper, gewisse sich auf die Objekte richtende Anhänge hat, wie der Pflug, die Egge, das Schiff, könnte von ARISTOTELES "organisch" genannt werden.

Dieser Sprachgebrauch dauert fort bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Während desselben besteht im allgemeinen Bewußtsein kein Gegensatz zwischen mechanisch und organisch, so daß man "organische" (natürliche) und Kunstmaschinen  einem  Hauptbegriff unterordnete. (2) Zu den Beispielen, die EUCKEN (3) dafür gibt, kann man noch den mit der Biologie seiner Zeit sehr wohl bekannten Soziologen SAINT-SIMON hinzufügen, der noch im Jahr 1813 die Gesellschaft eine  véritable machine organisée  nennt, ohne in seiner Auffassung sich damit einer contradictio in adjecto [Widerspruch insich - wp] schuldig zu machen.

Mit Recht, wie mir scheint, schreibt EUCKEN KANT einen wesentlichen Einfluß auf die Änderung es in der Philosophie gangbaren Begriffs des "Organischen", auf seine Entgegensetzung gegen das "Mechanische" zu. In der 1790 erschienen "Kritik der Urteilskraft" sind Organismus und Mechanismus streng geschieden.

Vom Mechanismus der Natur scheidet KANT das Reich der Zwecke, das zweierlei bedeutet:
    1. daß jedes organisierte Wesen selbst ein Zweck der Natur ist, die seine Gestalt, sein Ganzes zu bilden und zu erhalten strebt;

    2. daß jedes Ding einem anderen, als seinem Zweck, dient, und so von der unbelebten Natur bis zum höchsten Gebilde der Schöpfung, dem Menschen als moralischem Wesen, der ihr Endzweck ist, ein System der Zwecke besteht.
Nur die erste, die "innere" Teleologie, wie KANT sie im Gegensatz zur zweiten, der "äußeren", nennt, betrifft das Wesen des Organischen, das KANT mit dem Lebenden identifiziert. Seine drei wesentlichen Merkmale sind:
    1. "daß die Teile (ihrem Dasein und der Form nach) nur durch ihre Beziehung auf das Ganze möglich sind", daß dieses Ganze also einheitlich und unteilbar, vor den Teilen vorhanden und wirksam sein muß, seine Kausalität mithin von der des Mechanismus der Natur, in welchem das Ganze aus und nach den Teilen entsteht, verschieden und nur durch die Analogie der einen, unteilbaren menschlichen Vorstellung, die in der Zwecksetzung ebenfalls den einzelnen, zum Zweck führenden Handlungen vorausgeht, zu begreifen, unserem Verständnis näherzubringen ist;

    2. daß die Teile des organisierten Körpers "sich dadurch zur Einheit eines Ganzen verbinden, daß sie voneinander wechselseitig Ursache und Wirkung ihrer Form sind", daß sich die Teile "ihrer Form sowohl als auch ihrer Verbindung nach" wechselseitig hervorbringen;

    3. daß das Ganze - nicht bloß der Form und Verbindung, sondern auch der Materie nach - ein neues Ganzes hervorbringt, daß also ein organisiertes Wesen "nicht bloß Maschine ist - denn die hat lediglich bewegende Kraft -, sondern in sich bildende Kraft besitzt und zwar eine solche, die es den Materien mitteilt, welche sie nicht haben."
Mit dieser Unterscheidung eines Prinzips, das neben denen der Mechanik selbständig wirkt, hat KANT wieder auf eine Wahrheit hingewiesen, die schon zu ARISTOTELES' Auffassung der Form mitgewirkt hat, der Form als der Bildnerin des Stoffes, die vor ihm sei und in allen seinen Wandlungen als das unteilbare Ganze, als die unveränderliche Substanz beharre. Freilich ist im Mittelalter der Begriff der Form sehr ausgedehnt und auch auf Erscheinungen angewendet worden, wo wir nur elementare mechanische Kräfte wirken sehen. Es war z. B. die "Form" der Wärme, daß sie die Körper ausdehnt. So wurde dieser Begriff zu einem leeren Schema, unter das man die komplizierteren Erscheinungen tautologisch subsumierte, anstatt sie auf einfachere Erscheinungen zurückzuführen. Es ist daher sehr begreiflich und sehr verdienstlich, daß die Philosophen der Renaissance, die nach wahrer Erkenntnis strebten, Gegner des ARISTOTELES wurden und wie TELESIUS und seine Nachfolger nicht "Formen", sondern "Kräfte" in der Natur such zu müssen meinten. Und die Untersuchung der einfachen Kräfte und des räumlichen Verhaltens ihrer Wirkungen, die Wissenschaft der Mechanik, machte bald so große Fortschritte, daß alles in der Welt, auch die lebenden Wesen, nach ihren Prinzipien erklärt wurde. Für CARTESIUS, HOBBES und viele andere waren die großen Lebewesen große, die kleinen kleine Maschinen, für LEIBNIZ, WOLFF und den ganzen deutschen Rationalismus waren große Organismen nur Vereinigungen kleiner Maschinen.

Auch für KANT ist die mechanistische Erklärungsweise aller Erscheinungen, selbst derer des Lebens, die erste. Es ist der Beruf des Forschers, "alle Produkte und Ereignisse der Natur, selbst die zweckmäßigsten, soweit mechanisch zu erklären, als es immer in unserem Vermögen steht", aber er findet doch einen solchen Unterschied der Kausalität der Erscheinungen der belebten und der unbelebten Natur, daß die mechanistische Erklärung nicht durchzuführen ist, daß wir für jedes lebende Wesen der Hypothese eines einheitlichen, von einer zweckverfolgenden Intelligenz festgehaltenen und durchgeführten Planes bedürfen, um die Organismen auch nur "zureichend kennen zu lernen", (4) daß also diese Hypothese mindestens heuristischen Wert hat.

Diese Betonung der Verschiedenartigkeit - um es kurz zu bezeichnen - einerseits der mechanischen, andrerseits der organischen Kausalität (5) bildet den der Erfahrung entsprechenden Kern der KANTschen Lehre. Für die Mineralwelt und für die Pflanzenwelt wird nun freilich die Kausalität der Einheit der dem Einzelwesen innewohnenden Idee immer eine Hypothese bleiben müssen, eine Hyothese freilich, die solange notwendig ist, bis möglich sein wird, aus den Bewegungen und aus der chemischen Affinität der Atome und der Moleküle Kristall- und Pflanzenformen abzuleiten. Anders verhält es sich bei allen animalischen Wesen. Hier sind es zwei wirksame Faktoren, welche in der Tat in das rein mechanische Spiel der von außen kommenden Reize und der darauf folgenden Reaktionen eingreifen und die Alleinherrschaft der mechanischen Prinzipien aufheben: die Lust und die Wahl des Willens.

Auf den tiefsten Stufen der Hierarchie der animalischen Welt ist es die Lust oder das Aufhören einer Unlust, was - nach einem aus dem höheren Leben notwendig zu machenden Rückschlüsse - gewisse Bewegungen vor anderen auszeichnet. Nach einem weiteren Rückschlüse werden diese Bewegungen so oft als möglich wiederholt, diejenigen aber, die Unlust bringen, eben dadurch so sehr als möglich unterdrückt. Und nach einer wahrscheinlichen Hypothese sind die Tätigkeiten des niederen Tieres, die von Lust oder vom Aufhören der Unlust begleitet sind, zugleich diejenigen, die seinen Organismus erhalten und wachsen lassen. (6) Nach Lust aber strebt jedes Lebewesen. Es strebt also auch das niederste nach seiner Erhaltung. Infolge seiner Begabung für Lust und Unlust hört es auf, ein rein mechanisches Wesen zu sein, die Empfänglichkeit für beides ist eine tatsächliche Einrichtung, die, dem Zweck der Erhaltung dienend, eine neue Kausalität, nämlich die Wiederholung des Zweckmäßigen, die Nichtwiederholung des Unzweckmäßigen, einführt. Durch den begleitenden Ton der Lust oder Unlust unterscheidet sich die Triebbewegung von jedem bloß mechanischen Vorgang, der dieses inneren Charakters entbehrt, wie sehr sie auch äußerlich ihm ähnlich sein mag. Die Lust ist also - falls die oben erwähnte Hypothese richtig ist - der Anzeiger, daß die von ihr begleitete Handlung der Erhaltung und dem Wachstum des Ganzen dient, der Anzeiger der Herrschaft des Zwecks.

Während aber diese Bedeutung der Lust als der Auswählerin des Zweckmäßigen nur eine - allerdings sehr begründete - Hypothese ist, bildet die bewußte Wahl des Willens - von einer gewissen Stufe der Tierreihe angefangen - eine unzweifelhafte Tatsache. Das Bewußtsein wird weiter, die Empfindung läßt Reste zurück, nicht bloß die gegenwärtigen Handlungen, sondern auch die Erinnerungen an frühere sind vorhanden und nicht bloß an die Handlungen selbst, sondern auch an die unmittelbar oder mittelbar mit ihnen verbunden gewesene Lust oder Unlust. Wenn überschüssige Kraft vorhanden ist, so werden sogar im Spiel der Tiere die Handlungen, die lustvoll oder mittelbar lustvoll, d. h. nützlich waren, noch besonders geübt, die schädlichen Handlungen treten also noch mehr, als bei den niederen Tieren, zurück. So unterwirft der bewußte Wille diejenigen Körperteile, die ihm gehorchen, den Zwecken der Erhaltung des Ganzen, teilt ihnen darin gewisse Rollen zu und - da die Funktion das Organ bildet - gestaltet jeden ihm unterworfenen Teil auch zur Angepaßtheit an den Zweck der Erhaltung des Ganzen. Und weil die dem Willen nicht direkt gehorchenden Körperteile mit denen, auf die er wirkt, mechanisch verbunden sind, so sind sie indirekt ebenfalls dem Einfluß des Willens unterworfen, werden den Zwecken des Ganzen dienstbar und in ihrer Gestalt diesen Zwecken angepaßt. (7) So findet das erste KANTsche Merkmal des Organischen, "daß die Idee des Ganzen die Form und Verbindung aller Teile bestimme", so metaphysisch es auch klingen mag, doch seine Bestätigung teils in wohlbegründeten, auf empirischer Grundlage ruhenden Hypothesen, teils in allbekannten Tatsachen der Erfahrung. Das zweite KANTsche Merkmal, daß jeder Teil den anderen "seiner Form und Verbindung nach" hervorbringe, ist nach der soeben vom ersten Merkmal gegebenen Erläuterung in diesem mit inbegriffen. Das dritte endlich, daß sich ein organisches Wesen als Ganzes fortpflanzt, wird von jedem sofort zugegeben.

Über die KANTsche Definition des Organismus ist nun die Biologie im wesentlichen auch bis heute nicht hinausgekommen.

Neuerdings hat z. B. P. N. COSSMANN (8) die Begriffe aufgezählt, die auf die  Beschaffenheit  lebender Körper angewendet werden: 1. Organisch, 2. lebend, 3. tot, 4. anabiotisch, 5. Korrelation der Teile, 6. Angepaßtheit, 7. normal, 8. pathologisch, 9. Mißbildung. Hiervon sind 1. und 2. nur Wiederholung des zu definierenden Wortes, 3., 4., 6., 7., 8., 9. sind Folgerungen aus der Selbsterhaltung des Ganzen gegen störende Einflüsse, zu der auch das Wachstum gehört - es sist nichts weiter als Unterwerfung fremden, feindlichen Rohstoffes durch die beharrende Form -, also aus dem ersten Merkmal KANTs, 5. ist das zweite Merkmal KANTs. Wenn COSSMANN ferner die Begriffe aufzählt, die sich auf  Vorgänge  an organischen Körpern beziehen: 1. Leben, 2. Wachsen, 3. Kämpfen ums Dasein, 4. Fortpflanzen, 5. Entwickeln, 6. Degenerieren, 7. Anpassen, 8. Gesundsein, 9. Heilen, 10. Kranksein, so sind alle diese ebenfalls aus dem Streben des Ganzen nach der Selbsterhaltung abzuleiten, mit Ausnahme von 4., das dem dritten Merkmal KANTs entspricht und 5., das wohl seinem zweiten Merkmal unterzuordnen ist. Und was COSSMANN endlich als neueste biologische Begriffe anführt: Selbstregulation, Selbstordnung, Auslösung, Dauerfähigkeit, das ist alles nur modifizierte Selbsterhaltung.

Und wenn man dem Begriff des Organismus die drei von KANT aufgestellten Merkmale zugrunde legt, so ist auch die Gesellschaft ein Organismus.

Auf den ersten Blick erkennt man, daß jede Gesellschaft eine Einheit darstellt, die sich zu erhalten sucht und gegen die Einheit lockernde Einflüsse, mögen sie von außen oder von innen eindringen, sich wirklich erhält, daß ihre einzelnen Teile sich gegenseitig bedingen, wie z. B. in einer Hierarchie die Niederen zu den Höheren in korrelativem Verhältnis stehen, die einen ohne die anderen unmöglich sind, daß auch ein Teil den andern als Teil der Gesellschaft erzeugt, z. B. nur Empfänglichkeit des Publikums den Künstler als Künstler von Beruf hervorbringt und endlich, daß die Gesellschaft sowohl im Raum, als auch in der Zeit sich fortpflanzt, im Raum, indem sowohl Kolonien bürgerlicher und staatlicher Gesellschaft nach fernen Orten ausgesandt werden, als auch wissenschaftliche und künstlerische Gesellschaften sich durch Zweigvereine ausbreiten, in der Zeit, indem die Gesellschaft die Prinzipien, durch die sie zusammengehalten wird, mittels der Erziehung auf die künftige Generation überträgt und so ihre Einheit in neuen lebenskräftigen Gliedern fortlebt. Und wie die drei Hauptmerkmale des Organismus, so zeigt die Gesellschaft auf den ersten Blick auch deren von COSSMANN angeführte Ableitungen, besonders Krankheit und Tod.

Freilich muß man Krankheit der Gesellschaft von Krankheit  in  der Gesellschaft unterscheiden, was z. B. R. WORMS (9) nicht tut. Epidemien sind Krankheiten  in  der Gesellschaft, durch die ihre Elemente als physische Wesen betroffen werden, dagegen Bürgerkrieg, relisiöses Schisma, Streik sind kürzere oder längere Krankheiten  der  Gesellschaft, durch die ihre Einheit in Frage gestellt wird und ihre Auflösung droht.

Aber ein fundamentaler Unterschied waltet ob zwischen dem physischen Organismus und der Gesellschaft. Das Element, aus dem der erstere sich zusammensetzt, ist und bleibt physisch oder höchstens psychophysisch, die Zelle, das Element der Gesellschaft aber ist der Mensch und zwar der Mensch nicht als Körper, sondern als wollendes Wesen.

Daß der Mensch nicht mit seinem Körper, sondern mit seinem  Willen  in die Gesellschaft eintritt, das geht am klarsten hervor aus der Tatsache, daß er verschiedenen Gesellschaften gleichzeitig anzugehören vermag, während sein Körper sich doch jedesmal nur in einer einzigen befinden kann. Sein Körper läßt sich nicht teilen, wohl aber sein Wille. In der Regel versteht man unter "Gesellschaft" nur diejenigen dauernden Vereinigungen von Menschen, die entweder von der Natur durch die Blutsverwandtschaft geschaffen werden oder aus der Entwicklung der so geschaffenen erwachsen sind, diejenigen Gebilde, welche in der primitiven Horde in Geschlecht, Stamm, Volk, ständischer und "bürgerlicher" Gesellschaft bis zur Gegenwart die auseinander hervorgehenden Glieder einer Kette bilden. Als Hilfsmittel für den Kampf um das leibliche Dasein durch die Instinkte geschaffen, haben alle diese Gesellschaften den Kampf um dieses Dasein zu ihrem wesentlichen Zweck. Selbst die heutige bürgerliche Gesellschaft wird als solche nur durch das gemeinsame Interesse an der Erzeugung und der Verteilung wirtschaftlicher Güter und durch die zu diesem Zweck entstandene Arbeitsteilung zusammengehalten. Und die ihnen entsprechenden politischen Gesellschaften, die zu ihnen gehörigen Staatsformen, haben vor allem den Zweck, das physische Leben der Staatsbürger gegen äußere und innere Angriffe zu schützen.

Aber über diesen, den primitiven, unmittelbaren Bedürfnissen dienenden Gesellschaften erheben sich im Laufe der Geschichte andere, die "höheren", mittelbaren Zwecken dienen. Da die in sie eintretenden Menschen alle oder zum Teil dieselben sind, so ist das Verhältnis dasselbe, als ob sich nicht eine neue Gesellschaft über der vorhandenen bildete, sondern die vorhandene in eine neue Phase einträte. Wenn ein Volk, z. B. das der Germanen, seiner alten Religion vergessend, eine neue, das Christentum, annimmt, so kann man sagen: es bildet sich über der natürlichen Gesellschaft, dem Volk der Germanen, eine neue, nicht den Aufgaben des gemeinsamen Daseinskampfes, sondern denen der gemeinsamen Religionsübung gewidmete Gesellschaft, die ja tatsächlich eine neue Gesellschaft ist, weil sich ihre Ausdehnung über das Volk der Germanen weit hinausreichend auf mehrere Völker erstreckt. Nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch aber sagt man: "Das deutsche Volk, die vorhandene Gesellschaft, wandelt sich um, sie tritt aus der Phase der Naturreligion in die der katholischen Gesetzesreligion." Und da die religiöse Gesellschaft auch vorher schon nicht gefehlt hat, wenngleich von der völkischen sich weniger deutlich abhebend, da ferner die Menschen der völkischen und der neuen religiösen Gesellschaft dieselben sind, so ist dieser Sprachgebrauch sehr erklärlich und nicht unberechtigt. Im methodologischen Interesse der Untersuchung aber ist es gut, daran festzuhalten, daß die religiöse Gesellschaft von einem anderen Teil des Willens geschaffen wird, als die völkische und die politische und darum zu sagen: Es bildet sich über der nationalen und der politischen eine religiöse Gesellschaft. Der historischen Anschauung freilich und der Tatsache der Wechselwirkung der verschiedenen Verbände aufeinander und ihrer dadurch entstandenen Einheitlichkeit entspricht es mehr zu sagen: Das Volk (die völkische und politische Gesellschaft) tritt in eine neue religiöse Phase ein.

Wie aber die religiöse über der bestehenden, so kann sich über ihr oder auch neben ihr eine weitere neue Gesellschaft mit neuen Zwecken erheben, in die alle oder einige miteinem neuen Teil ihres Willens eintreten. Und in der Tat gibt es z. B. über verschiedene Länder und Religionsgesellschaften sich erstreckend "internationale" Verbände von Forschern und Gelehrten, deren Mitglieder ein bestimmtes Gebiet der Wissenschaft pflegen, etwas die Mathematik und untereinander in einem solchen Zusammenhang stehen, daß sie einen Organismus bilden. Mögen die sichtbaren Einrichtungen eines solchen Verbandes auch nur in "Internationalen Kongressen" oder "Internationalen Zeitschriften" bestehen, er zeigt doch die wesentlichen Züge des Organismus. Er bildet eine Einheit, die sich zu erhalten und zu wachsen strebt, deren Teile zueinander in Wechselwirkung stehen, indem der eine vom andern lernt, bei der auch ein Teil den andern erzeugt, indem der Meister den Schüler lehrt und ihn so als Mitglied des Verbandes erst hervorbring, eine Einheit endlich, die sich auch zeitlich über verschiedene Generationen fortpflanzt.

Und solcher, sei es internationaler, sei es nationaler, Gesellschaften, die sich mit keineswegs gleichgültigen Dingen befassen, kann die Zukunft noch viele und mannigfaltige in ihrem Schoß bergen. Die künstlerischen Interessen der Menschheit z. B. können einst von solchen Gesellschaften gepflegt werden. Wie national die Kunst auch in ihrem Entstehen sein muß, in ihrem Wirken kann sie international sein. Und in je reicherer, von uns kaum zu ahnender Weise sich das geistige Leben der Menschen noch entfalten wird, desto mehr neue Beweggründe zu ihrer Vereinigung, zur Bildung neuer Verbände können entstehen.

Wenn man nun festhält, daß der soziale Organismus eine Vereinigung von Willenseinheiten ist, so wird man sehr leicht von der berechtigten Anwendung des Begriffs die bloße Metapher unterscheiden können. Eine solche ganz äußerliche Metapher ist es z. B., wenn man die Sprache, wie u. a. WILHELM von HUMBOLDT (10), einen Organismus oder ein "organisches Ganzes", oder spezieller eine Pflanze nennt. Denn die Sprache besteht nicht aus Willenseinheiten, sondern aus Worten, bloßen Funktionen jener Einheiten. Durch ihre Anpassung an die Wirklichkeit und ihre Gesetze ist sie ein System mannigfaltiger Bestandteil, aber nicht ein Organismus lebendiger Elemente. Höchstens die eine Sprache sprechenden Menschen, auch wenn sie über mehrere politische Gemeinwesen zerstreut sind, kann man eine bis zu einem gewissen Grad organisierte Einheit nennen.

Wir haben bei allen Gesellschaften, die wir hier betrachtet haben, gefunden, daß der Mensch ihnen mit einem Teil seines Willens angehört, daß der menschliche Wille in irgendeiner seiner konstanten Richtungen ihr Element ist. Darum wäre es wohl berechtigt, die Gesellschaften "Willensorganismen" zu nennen. Und damit wäre auch die Tatsache genügend ausgedrückt, daß jede menschliche Gesellschaft der mechanischen und der physiologischen Kausalität entrückt ist und einer anderen, eben der Kausalität des Willens, gehorcht. Der animalische Organismus ist eine Verbindung von Zellen, also von Elementen, in denen kein Wille, sondern nur ein dunkles, minimal bewußtes Triebleben herrscht, die äußerlich eine rein physiologische, mittels des Begriffs der Auslösung unter die mechanische unterzuordnende Kausalität darstellen. Der menschliche Wille aber gehorcht nur zum Teil, nur in seinen niedrigsten Erscheinungsformen, die er mit den primitiven Organismen gemein hat, eben in den Triebhandlungen, einer Kausalität, die sich der mechanischen nähert, er entfernt sich von dieser in seinen willkürlichen Handlungen, die auf Wahl erfolgen und er verläßt sie noch mehr in demjenigen Tun, das auf Grundsätzen beruth. Der Wille ist auf seinen frühesten Stufen nur von physischen, auf seinen späteren aber immer mehr von rein geistigen Momenten abhängig, nämlich von Vorstellungen und von Gedanken, die aus Einzelvorstellungen durch geistige Tätigkeit gewonnen sind.

Wenn wir also die Gesellschaft "Willensorganismus" nennen, so wäre damit angedeutet, daß sie kein Naturwesen ist, sondern daß nur ihre ersten geschichtlichen Exemplare die ganze Spontaneität eines Naturwesens zeigen, indem sie bezüglich ihres Zusammenhangs auf den Trieben der Blutsverwandtschaft ruhen, in ihrer Weltanschauung die unwillkürliche Beseelung der Natur vollziehen und in ihrem Daseinskampf nicht für konstruierte politische, religiöse oder sittliche Ideale, sondern um das unmittelbare, des heimischen Bodens bedürftige Leben kämpfen. Je mehr aber der menschliche Geist erwacht, je umfassender das menschliche Bewußtsein wird und je mehr es aus den Eindrücken der Außenwelt eigene Gedanken und Gedankensysteme erarbeitet, desto mehr wird auch die Gesellschaft vom Geist abhängig, desto mehr - und das ist nach der obigen Ausführung die genauere Bezeichnung - erheben sich über der dem unmittelbaren Leben dienenden neue, geistigen Zwecken gewidmete Gesellschaften, oder es werden die alten Zwecke durch die geistige Entwicklung weiter, umfassender, erhabener. So z. B. wenn für die politische Gesellschaft anstelle der Heimat das Vaterland oder sogar ein konstruiertes politisches Ideal, die Erweiterung der Herrschaft des eigenen Volkes, tritt.

Das alles aber, vor allem die Tendenz des sozialen Lebens auf eine immer strengere Beherrschung durch den Geist, wird besser ausgedrückt durch den Terminus  "geistiger Organismus",  der mir die geeignetste Bezeichnung für die spezifische Natur der Gesellschaft scheint. Er gibt - nach der alten Vorschrift für die Definition - das genus proximum [Definition durch Angabe der nächst höheren Gattung - wp] : Organismus und die differentia specifica [Definition durch Angabe der spezifischen Differenz - wp]: geistig. Freilich, um diese Definition fruchtbar zu machen, muß man sich der Tatsache erinnern, daß die Willenseinheiten das Material sind, aus dem Natur und Geist die Gesellschaften bilden.
LITERATUR - Paul Barth, Fragen der Geschichtswissenschaft, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 23, Leipzig 1899
    Anmerkungen
    1) Vgl. RUDOLF EUCKEN, Die Grundbegriffe der Gegenwart, 2. Auflage, Leipzig 1893, Seite 155
    2) EUCKEN, a. a. O., Seite 156
    3) EUCKEN, a. a. O., Seite 156
    4) KANT, Kritik der Urteilskraft, § 75, Seite 278. In dieser Behauptung KANTs, "daß wir die organisierten Wesen und deren innere Möglichkeit nach bloß mechanischen Prinzipien der Natur nicht einmal zureichend kennen lernen", daß wir also durch die teleologische Betrachtung auch ihren Bau besser erkennen, findet RIEHL "eine starke Übertreibung". "Die histologische Untersuchung und das physiologische Experiment führen in den feineren Bau eines Organes ... ein". Ich möchte KANT ein wenig in Schutz nehmen. Der erkannte biologische Nutzen eines nur mikroskopisch sichtbaren Gewebeteilchesn führt den Histologen dazu, es auch da zu suchen, wo es denselben Nutzen haben könnte und daselbst auch zu entdecken. Als der Nutzen der Flimmerhärchen gewisser Epithelzellen erkannt war, der in der Beförderung der Bewegung kleiner Körper besteht, haben die Histologen sicherlich dieselben überall gesucht, wo so eine Beförderung nützlich sein kann und zum Teil gewiß gefunden. Und wenn es zweifellos festgestellt wäre, ob die Flimmerhärchen außer jenem mechanischen Nutzen auch noch einen zweiten haben können, den die Physiologen vermuten, nämlich der Respiration [Atmung - wp] zu dienen, so wäre ihrer Aufsuchung und Auffindung eine neue Hilfe gegeben. Man sieht auch unter dem Mikroskop manches nicht, wenn man es nicht zu sehen erwartet. Vgl. R. WAGNERs Handwörterbuch der Physiologie I, Braunschweig 1842, Artikel "Flimmerbewegung", besonders Seite 513
    5) KANT, Kritik der Urteilskraft, § 68, Seite 259, § 70, Seite 263
    6) Bekanntlich stellt SPENCER nicht bloß die oben wiedergegebene These auf, sondern auch ihre Umkehrung. Er sagt nicht bloß: alles, was lustvoll ist, fördert das Leben, sondern auch: alles, was das Leben fördert, ist lustvoll. So falsch beide Thesen für das höhere Leben, schon für das höhere Tierleben, sind, so richtig sind sie wohl für das niedere Tierleben, vorausgesetzt, daß man unter die Lust das Aufhören der Unlust mit einbegreift. Freilich sind beide Sätze nicht zweifellos feststehende Thesen, als welche sie bei SPENCER auftreten, sondern nur gut begründete Hypothesen. Über ihre neueren physiologischen und psychologischen Begründungen vgl. J. M. BALDWIN, Die Entwicklung des Geistes beim Kind und bei der Rasse, Berlin 1898, Seite 158 - 182
    7) Vgl. WILHELM WUNDT, System der Philosophie, 1. Auflage, Leipzig 1888, Seite 530: "Erst der Wille des Gesamtkörpers (der nach WUNDT nur der psychologische Ausdruck der besonders aus dem Zusammenhang des Nervensystems sich ergebenden physiologischen Einheit ist) aber faßt alle Sinnes- und Bewegungsfunktionen in eine Einheit zusammen, um zweckmäßige Handlungen hervorzubringen, die auf die eigene Organisation zurückwirken und diese immer adäquater den erstrebten Zwecken gestalten. So läßt die Wirksamkeit dieser höchsten individuellen Willenseinheit zugleich Licht fallen auf die  objektive Zweckmäßigkeit  des lebenden Körpers."
    8) PAUL NIKOLAUS COSSMANN, Elemente der empirischen Teleologie, Stuttgart 1899, Seite 39
    9) R. WORMS, Organisme et sociéte, Paris 1896, Seite 313f. Vgl. BARTH, Die Philosophie der Geschichte als Soziologie I, Leipzig 1897, Seite 163
    10) WILHELM von HUMBOLDT, Über die Kawisprache I, Berlin 1836, Seite XVI