ra-2Ph. LotmarE. PieronK. GareisGerechtigkeitG. Schmoller    
 
BRUNO STERN
Gerechtigkeit

"Die Gerechtigkeitspflichten bedeuten das gebotene Unterlassen von Unrecht, die vom Subjekt selber zu vollziehende Abwehr eigener schädlicher Eingriffe in sein eigenes psychisches Leben und das psychische Leben anderer Menschen und der Tiere."

Die Gerechtigkeit ist ein ethischer Begriff und infolgedessen vom Fundament abzuleiten, welches ein Philosoph seinem Moralsystem gibt; aus diesem ergibt sich die Tugend und Pflicht der Gerechtigkeit; die Entstehung des Begriffs der Gerechtigkeit bedarf noch einer besonderen Erklärung. Schon die Pythagoreer beschäftigten sich mit dem Begriff der Gerechtigkeit. Sie bestimmten sie als Quadratzahl, als Korrespondenz zwischen Tat und Leiden: von PLATO und ARISTOTELES bis zu HOBBES und LEIBNIZ und bei den Denkern der neuesten Zeit finden wir eingehende Erörterungen über die ratio iustitiae. Besonders HERBERT SPENCER hat sich mit dieser Frage eingehend beschäftigt. Nach SPENCER hat jedes Einzelwesen die Vorzüge und die Nachteile seiner eigenen Natur und des daraus entspringenden Handelns auf sich zu nehmen. Der Gerechtigkeitsbegriff hat zwei Bestandteile: "Auf der einen Seite jenes positive Element, welches darin besteht, daß jeder einzelne sein Anrecht auf ungehinderte Tätigkeit und auf die dadurch errungenen Vorteile erkennt und behauptet. Auf der anderen Seite jenes negative Element, das im Bewußtsein von den Grenzen besteht, welche durch die Gegenwart anderer Menschen mit gleichen Rechten bedingt werden." Die Gerechtigkeitsformel lautet: "Es steht jedermann frei, zu tun, was er will, soweit er nicht die gleiche Freiheit jedes anderen beeinträchtigt." (Siehe RUDOLF EISLER, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, 1904)

Eine neue genetische Erklärung des Begriffs Gerechtigkeit hat WILHELM STERN in seiner "Kritischen Grundlegung der Ethik als positiver Wissenschaft." Da diese nur im Zusammenhang mit dem ganzen philosophischen System WILHELM STERNs ins rechte Licht tritt und wir außerdem die Ableitung der Tugend der Gerechtigkeit vom allgemeinen Fundament des WILHELM STERNschen System darstellen wollen, so müssen wir auf dessen Grundlagen näher eingehen. Der allgemeine philosophische Standpunkt von WILHELM STERNs "Kritischer Grundlegung der Ethik als positiver Wissenschaft", wo er sich der Aufgabe stellt, die Ethik als eine von allen religiösen und metaphysischen Voraussetzungen unabhängige Wissenschaft zu begründen, ist der "kritische Positivismus". Von diesem Standpunkt aus ist der Positivismus AUGUSTE COMTEs zu verwerfen, da er sich zu sehr dem dogmatischen Materialismus nähert und sich als unkritischer Realismus ausgbit, der seine Sätze über die den Kreis der möglichen Erfahrung überschreitenden Dinge aufstellt. (1) Der kritische Positivismus negiert jede dogmatische Metaphysik oder theoretische Philosophie; er nimmt zwei Grenzbegriffe an, die Materie, deren wesen wir nicht kennen und den Geist, dessen Wesen wir ebenfalls nicht kennen, und gibt jeden Versuch der Vereinigung dieser beiden Prinzipien, zu einem einzigen durch das menschliche Erkenntnisvermögen als vergeblich auf. Eine andere Art der Forschung, als die Einzelforschung gibt es für diesen Standpunkt nicht. Der kritische Positivismus stimmt mit KANT darin aüberein, daß es sich sowohl auf physischem, als auch auf geistigem Gebiet für uns Menschen nur um Erscheinungen handelt; er hat aber auch Beziehungen zum kritischen Materialismus von DU BOIS REYMONDs und GRIESINGERs. Die wissenschaftlich Ethik wird von diesem Standpunkt aus nur eine Einzelwissenschaft sein können, welche ihre allgemeeinen Voraussetzungen von anderen, allgemeineren Einzelwissenschaften herholt. Die Methode, nach welcher die positiv-Wissenschaftliche Ethik zu begründen ist, kann nur die induktive, d. h. von der Erfahrung ausgehende und vom Einzelnen und Besonderen zum Allgemeinen aufsteigende und speziell genetische sein, welhe in der Sittlichkeit auf ein allmähliches Werden, eine während sehr vieler Jahrtausende sich vollziehende Entwicklung und Vererbung innerhalb des Menschengeschlechts und der Tiergeschlechter zurückführt. Die Ethik als positive Wissenschaft verwirft von vornherein jede Ethik, welche, wie z. B. die KANTische, das Wesen der Sittlichkeit in die Vernunft, den Intellekt oder das theoretische Leben des Menschen verlegt und ebenso von vornherein jede Ethik, welche, wie die materialistische, das wahre Wesen der Sittlichkeit negiert, indem sie es auf die vernünftige Selbstliebe, den wohlverstandenen Vorteil, die Harmonie der Interessen, zurückführt.

Der Ursprung der Sittlichkeit wird von der Ethik als positiver Wissenschaft zurückgeführt auf die in der Urzeit stattgefundene Wechselwirkung zwischen dem Subjekt sowie den beseelten Wesen überhaupt und der unbeseelten Natur und besonders den Elementen, die in erster Linie in schädlichen Eingriffen der letzteren ins psychische Leben der ersteren besteht, welche stets zunächst, sei es direkt oder indirekt das Gefühlsleben dieser treffen und auf welche schädlichen Eingriffe alsdann die Reaktion des Subjekts sowie der beseelten Wesen überhaupt gegen die unbeseelte Natur und besonders die Elemente oder die unbeseelte objektive Außenwelt erfolgt. Unter diesen schädlichen Eingriffen der Elemente ins psychische Leben sind hauptsächlich die Eiszeit, Überschwemmungen, Orkane, Hagel, Blitzschlagt, anhaltende Dürre, Lawinenstürze, Waldbrände, vulkanische Eruptionen, Erdbeben usw. zu verstehen. Was zeigt sich als das Wesen oder die charakteristischen Eigentümlichkeiten der schädlichen Eingriffe der objektiven Außenwelt im Sinne der unbeseelten Natur und besonders der Elemente ins psychische Leben der Menschen und der Tiere? Zwei charakteristische Eigentümlichkeiten sind es, die bereits der Urmensch und ebenso auch die Tiere der Urzeit, wenn auch diese weniger deutlich als jener, an den schädlichen Eingriffen der objektiven Außenwelt im Sinne der unbeseelten Natur und besonders der Elemente ins psychische Leben wahrgenommen haben müssen. Es ist dies erstens das plötzliche, unerwartete und gewaltsame Überfallen ihrer Opfer, der beseelten Wesen, welches diesen keine Zeit zur Vorbereitung auf den ihnen aufgedrängten unfreiwilligen Kampf und zum Sichrüsten zu demselben, selbst wenn sie imstande gewesen wären, ihn mit einigem Erfolg gegen diese gewaltige Übermacht zu führen, ließ und zweitens die Unmöglichkeit jeder Gegenschädigung der unbeseelten Natur bei der Abwehr der ihnen stets Schmerz verursachenden oder Unlustgefühle in ihnen hervorrufenden schädlichen Eingriffe derselben in ihr psychisches Leben, da sie der Empfindung entbehrt, also nicht empfindungsfähig ist. Denn einerseits wurden sie mitten in ihrer Arbeit oder beim heiteren Spiel oder auch während der Nachtruhe gar zu oft plötzlich und unerwartet von den schädlichen Eingriffen der unbeseelten Natur und besonders der Elemente, wie Feuersbrünsten, Überschwemmungen, Lawinenstürzen, Erdbeben, vulkanischen Eruptionen usw., überrascht oder richtiger rücklings überfallen, so daß oft kaum ein Entrinnen, geschweige denn eine Abwehr, eine Reaktion, also ein Eingehen auf den ihnen von den Elementen aufgedrängten unfreiwilligen Kampf und in den seltensten Fällen nur eine Abwehr der Fortsetzung oder Weiterverbreitung dieser Eingriffe in ihr psychisches Leben möglich war. Und die andere charakteristische Eigentümlichkeit der schädlichen Eingriffe der unbeseelten Natur oder der Art ihres Kampfes gegen die beseelten Wesen zeigte sich dem Menschen zunächst im Vergleich zum Kampf, den er mit den Raubtieren und starken Tieren überhaupt führte, darin, daß, selbst wenn nicht er diesen, sondern diese ihm den Kampf aufgedrängt hatten, dieselben, da sie empfindungsfähig sind, sich der Gegenschädigung durch die volle Kraft ihres Gegners, des Menschen, ebenso wie in anderen Fällen eines anderen beseelten Wesens, also Tieres, mit dem sie kämpften, aussetzten. Es erfolgte in diesem Kampf gegen beseelte Wesen auf Schmerz verursachende Schädigung eine ebenfalls Schmerz verursachende Gegenschädigung, was bei der nicht empfindungsfähigen unbeseelten Natur natürlich nie der Fall war. Auch den Tieren, da auch sie den charakteristischen Unterschied zwischen den beseelten und unbeseelten Wesen kennen, mußten, obschon nicht in demselben Grad der Deutlichkeit wie dem Menschen, diese charakteristischen Eigentümlichkeiten der schädlichen Eingriffe der unbeseelten Natur und besonders der Elemente sich ins psychische Leben aufdrängen, sowohl das Plötzliche wie Unerwartete derselben und der in ihnen liegende gewaltsame Überfall, als auch besonders das Fehlen jeder Gegenschädigung. Denn die natürlichen verletzenden Waffen, welche die Tiere besitzen, konnten diese nur im Verteidigungskampf gegen beseelte Wesen anwenden, nicht aber auch in dem gegen die unbeseelte Natur. Selbst das kleinste und schwächste Insekt bediente sich seines Stachels, um dem stärkeren mit ihm kämpfenden Tier oder Menschen einen schmerzhaften Stich zu versetzen, auf welchen stets von ihm sehr wohl wahrgenommene Abwehrbewegungen und ein Zusammenfahren, wohl auch ein Aufschrei des mächtigeren Feindes erfolgten und diesen dadurch zum Abstehen vom Kampf mit ihm veranlassen. Dahingegen verursachte das vom Menschen zum Zwecke der Abwehr vollzogene Löschen des Feuers mittels Wasser, das Teilen der Wellen mit den kräftigen Armen oder mit dem Ruder eines Fahrzeugs, das Spalten der Erd- der Schneemassen, welchen Menschen und Tiere verschüttet hatten usw., den empfindungslosen Elementen keinen Schmerz und brachte dementsprechend auch keinen Ausdruck eines solchen hervor. Und wir müßten XERXES, der das Meer geißelte, um es zu strafen, einer kindischen Tat bezichtigen, wenn wir in dieser Handlung nicht ein bloßes Symbol sähen. Dieses Fehlen des Ausdrucks des Empfindungslebens bei den Elementen mußte, wie gesagt, auch den Tieren mehr oder weniger, natürlich in einem ihrer beschränkten Intelligenz und ihrer beschränkten WIrkungssphäre entsprechenden Grade allmählich in analoger Weise, wie dem Menschen bei ihren abwehrenden Handlungen, wie sie unter anderem das Teilen der Wellen im Kampf mit diesen, die Beseitigung von Erd- oder Schneemassen, welche ihren Bau oder ihr Nest verschüttet hatten, darstellt, zu Bewußtsein kommen. Gerade dem Urmenschen mußte sich bald zeigen, daß er dem Kampf mit den anderen beseelten Wesen, den Tieren, dank seiner viel höheren geistigen Begabung im Vergleich zu diesen, welche ihm Waffen und Mittel an die Hand gab, die sie nicht besaßen, sehr wohl gewachsen war. Er vermochte sie zu bekämpfen; auf Verletzung folgte Gegenverletzung und Äußerung des Schmerzes, wie sie empfindendenen Wesen in diesem Falle eigen ist, oft auch schon infolge des Schmerzes ein Nachlassen im Kampf. Und wo und so lange er sich nicht in einen voraussichtlich siegreichen oder gleichen Kampf mit ihnen einlassen konnte, zog er sich vor ihnen zurück. Gegenüber den großen und gewaltigen Naturereignissen hingegen fühlte er sich machtlos, da sie ihn eben einerseits plötzlich und unangemeldet überfielen und andererseits eine Verteidigung gegen ihre Übermacht und Gewalt in dem Maße, wie z. B. gegen die großen Raubtiere, unmöglich war nicht bloß wegen dieser Übermacht, sondern auch weil jede Gegenschädigung der empfindungslosen Elemente ausgeschlossen war. Besonders der Kampf des Menschen mit den Tieren war im Prinzip ein gleicher; war auf ihrer Seite körperliche Übermacht vorhanden, so konnte sie der Mensch durch Waffen und andere Mittel ersetzen, welche seine geistige Übermacht ihm gab. Und wie sehr dieser Kampf, welcher eben offen geführt wurde, vom Menschen zu seinen Gunsten geführt worden ist, zeigt uns der Erfolg, da die reißenden Tiere sich allmählich vor ihm zurückzogen und manche Tierspezies sogar von ihm im Laufe der Zeit vollständig oder fast vollständig ausgerottet worden sind. Kurz alles, was zu den beseelten Wesen gehörte, hatte unter derselben eigentümlichen Art des Kampfes der unbeseelten Natur und besonders der Elemente gegen sie zu leiden.

Aus diesem gemeinsamen Leid und dieser in der Urzeit unzählige Male gemeinschaftlich geübten Reaktion oder Abwehr von Seiten der Menschen und beseelten Wesen überhaupt entwickelte sich im Laufe sehr vieler Jahrtausende im Menschen und den Tieren ein mehr oder weniger deutliches Gefühl der Zusammengehörigkeit mit allen anderen beseelten Wesen den schädlichen Eingriffen der unbeseelten objektiven Außenwelt gegenüber. Ferner entwickelte sich aus diesem gemeinsamen Leid und dieser gemeinschaftlichen Abwehr neben dem von der Natur gesetzten Selbsterhaltungsstreben ein von einem Groll, einer gegensätzlichen, feindlichen Stimmung gegen diese schädlichen Eingriffe der unbeseelten Natur und besonders der Elemente getragener objektiver, d. h. gegen ein Drittes, Unpersönliches, Sachliches oder Allgemeines gerichteter Trieb zur Abwehr dieser schädlichen Eingriffe ins psychische Leben überhaupt, der Grundstock des sittlichen Triebes. Dieser, verbunden mit dem Gefühl der Zusammengehörigkeit, hat sich allmählich weiter vererbt und ist durch eine naheliegende Übertragung auch auf beseelte Wesen ausgedehnt worden und hat sich so zum objektiven Trieb zur Abwehr aller schädlichen Eingriffe der sowohl unbeseelten, als auch beseelten objektiven Außenwelt ins psychische Leben erweitert. So wurde dieser Trieb zuletzt zum objektiven, d. h. gegen ein Drittes, Unpersönliches, Sachliches oder Allgemeines gerichteten sittlichen Trieb zur Erhaltung des Psychischen in seinen verschiedenen Erscheinungsformen durch Abwehr aller schädlichen Eingriffe in dasselbe, welcher das Wesen der Sittlichkeit, das zu den sittlichen Handlungen Treibende, das principium movens der sittlichen Handlungen oder das Fundament oder wirkliche Grundprinzip der Ethik ist. Man kann diesen Trieb auch das in den beseelten Wesen wirkende Gesetz der Erhaltung des psychischen Prinzips im Gegensatz zum physischen Gesetz der Erhaltung der Kraft nennen.

Die Abwehr aller schädlichen Eingriffe der sowohl unbeseelten, als auch beseelten objektiven Außenwelt ist zu den sittlichen Handlungen zu zählen, gleichviel ob diese schädlichen Eingriffe das handelnde Subjekt bzw. das handelnde beseelte Wesen überhaupt selber oder ein anderes beseeltes Wesen getroffen haben, zu dessen Gunsten die abwehrende Handlung vom Handelnden unternommen wird. Im ersteren Fall gibt das Leid, z. B. das Unlustgefühl der verletzten Ehre, Liebe oder das Unlustgefühl der gehemmten Freiheit des Denkens oder des bestimmten Wollens und im letzteren Fall das verletzte Gefühl der Zusammengehörigkeit mit allen beseelten Wesen oder das Unlustgefühl des Mitleids die erste innere Anregung zur sittlichen Handlung, d. h. sie rufen den sittlichen Trieb wach. Niemals also ist das Leid selber oder das Mitleid selber, wie SCHOPENHAUER von diesem letzteren behauptet, die eigentliche Triebfeder, der eigentliche Beweggrund, das principim movens der sittlichen Handlungen oder das Fundament, das Grundprinzip der Ethik. Es ist jedoch hervorzuheben, daß auch die Abwehr schädlicher Eingriffe der sowohl unbeseelten, als auch beseelten objektiven Außenwelt, welche ein anderes Subjekt oder beseeltes Wesen überhaupt, sei es in seinen subjektiven materiellen Gütern, wie Leben, Gesundheit und Integrität des Körpers oder in seinen objektiven materiellen Gütern, wie den zur Erhaltung des Lebens unentbehrlichen oder durch die gewöhnliche Arbeit an der Natur geschaffenen Gütern, treffen, zu den sittlichen Handlungen gehört. Denn diese schädlichen Eingriffe rufen stets ein Unlustgefühl oder Leid in ihm hervor, bedeuten also schädliche Eingriffe in seine Gefühlssphäre, demnach in sein psychisches Leben und verletzen auch das Zusammengehörigkeitsgefühl des Beobachters, rufen also das Unlustgefühl des Mitleids in diesem hervor, der alsdann eventuell zum Handelnden wird, d. h. die Abwehr vollzieht. Dahingegen gehört die Abwehr schädlicher Eingriffe der sowohl unbeseelten, als auch beseelten objektiven Außenwelt in die eigenen, sei es subjektiven oder objektiven materiellen Güter und in die materiellen Güter der eigenen Nachkommenschaft, insoweit diese noch der Hilfe der Erzeuger bedarf, da sie von diesen als ein Teil ihres eigenen Selbst betrachtet wird, nicht zu den sittlichen Handlungen, weil diese Abwehr nicht genügend charakteristische für beseelte Wesen ist. Und dieselbe wird in der Tat vom bereits ursprünglich von der Natur gesetzten Selbsterhaltungsstreben oder Egoismus bewirkt. Da nicht bloß die erste innere Anregung zu jener sittlichen Handlung von einem Unlustgefühl, wie Leid oder Mitleid, gegeben wird, sondern auch jede sittliche Handlung mit einem größeren oder geringeren, mit dem abwehrenden Kampf verbundenen, freiwillig oder aus eigenen Trieb, nämlich dem sittlichen, gebrachten Opfer oder Unlustgefühl und sie dieses Opfer noch so gering, während ihres Verlaufs verbunden ist, so stimmt WILHELM STERN mit KANT darin überein, daß dieselbe, wenn auch nicht immer nur mit Widerstreben, so doch mit einer gewissen Überwindung vollzogen wird. Das schließt nicht aus, daß nach jeder erfolgreichen Vollführung einer sittlichen Handlung im Handelnden ein von ihm nicht gesuchtes angenehmes Gefühl des inneren Friedens und der Zufriedenheit mit sich selbst, um dessen Lustgefühl willen er also die Handlung nicht unternommen hat, sich einfindet. Dieses Gefühl bedeutet die Befriedigung des nachdrücklich auf Befriedigung dringenden sittlichen Triebes und das Erloschensein des inneren Konfliktes zwischen dem nachdrücklich auf Befriedigung dringenden, als einzelne psychische Kraft im Vergleich zu anderen einzelnen psychischen Kräften genommen die größte Macht besitzenden sittlichen Trieb und dem Egoismus. Kurz, es ist das Gefühl, das aus dem Bewußtsein, eine gute Tat vollbracht zu haben, fließt. Näher betrachtet ist dieses Gefühl des Handelnden im Wesentlichen nichts anderes, als die Freude über den Siegt über die schädlichen Eingriffe der objektiven Außenwelt ins psychische Leben. Ferner wird jeder Eudämonismus aus der Ethik und zwar dadurch ausgeschlossen, daß der sittliche Trieb ein objektiver Trieb ist, d. h. in Wahrheit nicht darauf gerichtet ist, zugunsten der eigenen oder einer bestimmten anderen Person, bzw. irgendeines bestimmten beseelten Wesens die sittliche Handlung zu vollziehen. Denn derselbe ist, indem jetzt lebenden handelnden Individuum der Sinn, der Zweck oder das Ziel der sittlichen Handlung gewöhlich überhaupt nicht mehr klar und nur bisweilen einigermaßen klar ist, was eben im Wesen des Triebes liegt, lediglich gegen ein Drittes, Unpersönliches, Sachliches oder Allgemeines, nämlich die schädlichen Eingriffe der sowohl unbeseelten, als auch beseelten objektiven Außenwelt ins psychische Leben überhaupt abwehrend gerichtet.

Wie wir gesehen haben, war der Kampf des Menschen mit den Tieren im Prinzip ein gleicher, anders der Kapf des Menschen mit der beseelten Natur. An dieser Stelle setzt nun die Ethik als positive Wissenschaft ein, um zunächst die Entstehung des Begriffes der Gerechtigkeit durch eine Folgerung aus unserem Seelenleben zu erklären. (2) Das Fehlen jedes Ausgleichs oder jeder Gegenschädigung der unbeseelten Natur in dem ihm von derselben und besonders den Elementen aufgedrängten Kampf, lehrte den Urmenschen einen sehr wichtigen, bei den Tieren ihrer geringeren Intelligenz wegen nur sehr unvollkommen entwickelten Begriff, nämlich den der Vergeltung oder der Gerechtigkeit, bzw. zunächst den der Ungerechtigkeit kennen. Denn sowohl schon durch die bloße Wahrnehmung, daß die schädlichen Eingriffe der unbeseelten Natur und besonders der Elemente ins psychische Leben stets Unlustgefühle hervorriefen, während seine Reaktion gegen dieselben oder Abwehr derselben keine Gegenschädigung jener zu bewirken vermochte, als auch durch den von ihm wahrgenommenen Unterschied zwischen der Wirkung sowohl seiner als auch der anderen beseelten Wesen Reaktion egen die schädlichen Eingriffe der unbeseelten Außenwelt und der Wirkung der Reaktion gegen die Eingriffe der beseelten Außenwelt wurde er auf den Begriff der Gerechtigkeit aufmerksam gemacht oder auf den Begriff der Gerechtigkeit geführt. Und zwar geschah das durch den im Fehlen jeder Gegenschädigung der unbeseelten, weil empfindungslosen Natur bei der Abwehr ihrer stets Unlustgefühl hervorrufenden schädlichen Eingriffe in sein eigenes psychisches Leben oder in das der anderen ebenfalls empfindungsfähigen, beseelten Wesen liegenden Begriff der fehlenden Vergeltung oder der Ungerechtigkeit. Auf diese Weise also wurde in ihm das Gefühl für Recht und Unrecht und infolgedessen der Vergeltungstrieb wach und so also entstand der Begriff der Gerechtigkeit, der wichtigste aller speziellen ethischen Begriffe, der der ersten und wichtigsten aller Tugenden.

Was nun aber die Lehre von der Tugen der Gerechtigkeit anlangt, so ist zu zeigen, wie sich diese wichtigste oder Kardinaltugen aus dem Grundprinzip der Ethik als positiver Wissenschaft ableiten läßt. Die Gerechtigkeit ist die unentbehrlichste Tugend für das einzelne menschliche Individuum in seinem Zusammenleben mit anderen menschlichen Individuen. Sie besteht erstens in der Unterlassung von schädlichen Eingriffen ins psychische Leben anderer Menschen und der Tiere, welche Unterlassung vom sittlichen "Trieb zur Erhaltung des Psychischen in seinen verschiedenen Erscheinungsformen durch Abwehr aller schädlichen Eingriffe in dasselbe" bewirkt wird, zweitens in der Unterlassung von schädlichen Eingriffen in das eigene psychische Leben. Sie ist die negative Seite der Gesamttätigkeit des sittlichen Triebes und dient der Ermöglichung des Zusammenlebens mit anderen Menschen, der Erhaltung der eigenen materiellen und geistigen Güter und vollends des Bestandes des Staates. Die Gerechtigkeit des Individuums kommt aus dem Gemüt und wird vom Verstand oder der Vernunft geleitet, die des staatlichen Richters ist Sache des Urteils, des Verstandes. Die eine ist die erzwingbare, vom sogenannten positiven Recht gebotene Unterlassung von schädlichen Eingriffen ins psychische Leben anderer einzelner Menschen und auch der eigenen Person (Verbot der Verschwendung!), der Gesamtheit vieler Menschen, des Staates und der Tiere. (Verbot der Tierquälerei). Die andere, die Gerechtigkeit des Individuums, ist der eigenen freien Gesinnung des einzelnen überlassen, wie auch bei der ersteren Form der Gerechtigkeit die Unterlassung von Unrecht bei dem mit der Tugend der Gerechtigkeit begabten Menschen stets frei aus der eigenen sittlichen Gesinnung kommt.

Die Gerechtigkeitspflichten bedeuten das gebotene Unterlassen von Unrecht, die vom Subjekt selber zu vollziehende Abwehr eigener schädlicher Eingriffe in sein eigenes psychisches Leben und das psychische Leben anderer Menschen und der Tiere. Da Gerechtigkeit ein Unterlassen von Unrecht oder von schädlichen Eingriffen in das psychische Leben überhaupt ist, so bestehen die Gerechtigkeitspflichten des Menschen gegen sich in der gebotenen Zurückdrängung der in übermäßiger Weise zu eigenen Nachteil des Subjekts sich geltend machenden Tätigkeit des sittlichen Triebes, in Bezug auf das mit ihr verbundenen Mitleidsgefühls durch die andere Tätigkeit desselben Triebes, welches die Unterlassung von Unrecht auch gegen sich selbst bewirkt. Was die Gerechtigkeitspflichten gegen andere Menschen betrifft, so bestehen sie in der Unterlassung von schädlichen Eingriffen in irgendeine der drei Sphären des psychischen Lebens, also in der Unterlassung von Unrecht gegen dieselben.
LITERATUR - Bruno Stern, Gerechtigkeit, Archiv für systematische Philosophie, Bd. X, Leipzig 1897
    Anmerkungen
    1) Die folgende Darstellung ist WILHELM STERNs "Allgemeinen Prinzipien der Ethik auf naturwissenschaftlicher Basis" entnommen, 1901. Vgl. auch Über positivistisch Begründung des philosophischen Strafrechts" (nach Wilhelm Stern), "Archiv für Kriminalanthropoloie und Kriminalistik", Band IX, Seite 23f
    2) Siehe WILHELM STERN, Kritische Grundlegung der Ethik als positiver Wissenschaft, 1897, Seite 327. Ebenso meine Abhandlung "Philosophie und Strafrecht etc." und "Über positivistische Begründung des philosophischen Strafrechts etc."