cr-2RechtLogik für JuristenSprachkritik als Aufgabe der Rechtstheorie    
 
DIETRICH BUSSE
Die "klassische" Auslegungslehre

Stellenwert der Sprachtheorie
"Das Gesetz, sofern es Ausdruck des Rechtes als etwas unbedingtem ist, existiert aus sich selbst und für sich, nicht in Relation zu einem Adressaten."

Sprachbetrachtung von juristischer Seite aus hat eines ihrer (aus dem Wunsch nach Verläßlichkeit bei der Interpretation von Gesetzes-Begriffen entspringenden) Motive in dem Bestreben, in der Sprache und, wenn möglich, auch in der tatsächlich gesprochenen "Alltagssprache" jene Präzision und Genauigkeit zu finden, die von eigener Verantwortung für die Interpretationsergebnisse entlastet. Im Wege der Wunsch-Projektion werden diese Bedürfnisse der Sprache als reale Mechanismen unterschoben. Dies wird schon in den ersten Überlegungen zum Thema "Recht und Sprache" deutlich, wenn etwa WECK behauptet:
"Verständigung durch Worte ist nur dann möglich, wenn alle Glieder der Sprachgemeinschaft  gezwungen  sind, für den gleichen Sinn das gleiche Wort zu gebrauchen." (1)
Diese Hoffnung auf Präzision der Sprache steht bei manchen (vor allem logisch orientierten) Überlegungen zur juristischen Semantik auch heute noch im Hintergrund. Beherrschend für die Auslegungstheorie ist allerdings eher der hermeneutische Gedanke der  Offenheit  und  Ausfüllbarkeit  sprachlich vermittelten Sinns geworden. Damit wird der in der juristischen Sprachtheorie immer wieder durchscheinende Bezug auf Kommunikation als zugrundeliegender (und auch für die Sprachtheorie fundamentaler) Funktion von Sprache, mit dem WECK noch "alles Recht auf Verständigung zurückführen" wollte, aus juristischer Sicht zurechtgerückt.

Diesen Topos, daß die Funktion der Sprache im Recht "mehr" sei als pure Verständigung, führt in der neueren Diskussion FORSTHOFF ein, der ausdrücklich die Jurisprudenz "dieses wesentlichen Berufs ihrer selbst, hermeneutische Wissenschaft zu sein" wieder erinnern will:
"Die Sprache des Umgangs unter den Menschen geht auf Verständigung. (...) Der sprachliche Ausdruck des Gesetzes ist jedoch damit noch nicht getroffen. Nicht, daß er auf Verständigung verzichtete. Aber er erschöpft sich nicht darin." (2)
In einem platonischen Gedankengang wird das (ja immer sprachlich niedergelegte) Recht zu einer Entität eigener Provenienz und seiner Sprachlichkeit Schritt für Schritt entkleidet, indem ihm die Adressaten, und damit die kommunikative Funktion, abgesprochen werden:
"Das Gesetz, sofern es Ausdruck des Rechtes als etwas unbedingtem ist, existiert aus sich selbst und für sich, nicht in Relation zu einem Adressaten." (3)
Wir werden noch sehen, daß später daraus die "Sache Recht" als höchstes interpretationsleitendes Prinzip gemacht worden ist. Wir finden hier bei FORSTHOFF eine Parallele zu ENGISCH, wenn die Freisetzung von Sinnmöglichkeiten durch den hermeneutischen Standpunkt wieder eingefangen werden soll durch eine Einbindung durch Gleichrichtung, die vor aller Sprache und Interpretation immer schon die Interpreten und den Kontext ihrer Auslegungstätigkeit umfaßt:
"Das Verstehen setzt eine vorsprachliche gleiche Gestimmtheit voraus." (4)
Das meint: wegen der faktischen Macht und Kohärenz des Systems Recht ist eine "gleiche Gestimmtheit" in den Zielen und Auslegungsergebnissen immer schon gegeben (oder zu erwarten). Mit Sprache und ihrer theoretischen Durchdringung hat das (entgegen dem Titel dieses immer wieder zitierten Aufsatzes) nichts mehr zu tun.

Etwas näher den wesentlichen Sprachfunktionen auf den Grund zu gehen versucht NEUMANN-DUESBERG, wenngleich seine Ausführungen zur Sprache (die sich wieder fast nur in Fußnoten verstecken) kaum die Bezeichnung "Theorie" verdienen. Das "Mehr" der Sprache über die Verständigungsfunktion hinaus meint bei ihm die in Sprache ausgedrückte "Weltauffassung", d.h. die konstitutive Funktion, die Sprache für Erkenntnis und Welterfahrung hat.

Wenn Begriffe in dieser Sicht "nicht Abbilder der Natur, sondern oft willkürliche Zusammengriffe" sind, dann kann die sprachliche "Bedeutung" nicht in einer naturalistisch aufgefaßten Gegenstandsbeziehung erschöpft sein. In Anlehnung an den Sprachwissenschaftler ERDMANN sieht NEUMANN-DUESBERG sie als "Gesamtbedeutung", die emotionale und konnotative (semantisch gefärbte) Momente umfaßt. Trotz dieser Einsicht legt er das Schwergewicht - vor allem der Rechtssprache - auf die denotative bedeutungsgebende) Sprachfunktion.

"Bedeuten" ist ihm dann die Beziehung eines Wortes nicht auf Einzeldinge (dies sieht er als "Meinen" an den einzelnen Äußerungsakt gebunden), sondern auf eine "Klasse von Einzeldingen und -wesen". Die Vielschichtigkeit der Bedeutung, neben der "Gegenstandsbeziehung" auch "Nebensinn und Gefühlsgehalt" zu umfassen, möchte er dann auf die "Umgangssprache" beschränkt sehen. Die Rechtssprache habe sich der Präzision zu befleißigen:
"Was der Jurist aber korrigieren kann, ist die Ungenauigkeit des Ausdrucks. (...) Der Jurist muß sich also eine Sondersprache, (...) eine juristische Terminologie schaffen." (5)
Mit dem Ziel einer "Kalkülsprache" spricht er eines der Themen an, welches bis heute die Gegenposition zur hermeneutischen Sichtweise von Sprache kennzeichnet:
"Es ist also ein Umwandlungsprozeß nötig. Die  vieldeutigen  Wörter der Umgangssprache müssen zu  eindeutigen  der Wissenschaft präzisiert werden." (6)
Wie, das kann auch er nicht angeben; mit der Unterscheidung von "Kern" und "Grenzgebiet" deutet er die Richtung an, die dem gleichen Ziel verpflichtete Ansätze seitdem nicht mehr verlassen haben.

Dem Topos von "Kern und Hof" von Begriffen versucht ausführlich erstmals JESCH zu Leibe zu rücken. Der Antrieb dazu scheint in einer begriffsjuristischen Reminiszenz zu liegen:
"Das Gerüst der Rechtsordnung wird durch die Gesetztesbegriffe gebildet." - "Ohne Begriffen können wir nicht denken, also müssen wir auch aus Begriffen deduzieren." (7)
Diese "Deduktion" (auf die in schönster Tradition der Begriffsjurisprudenz die Auslegung reduziert wird) scheint, zumindest wenn man JESCH folgt, problemlos zu sein:
"Alle Rechtsbegriffe haben einen Begriffskern, in den die  unzweifelhaften Fälle  gehören. Beim ursprünglichen Begriffskern decken sich gesetzgeberischer Wille, sprachliche Formulierung und unmittelbares Bedeutungsverständnis." (8)
Es leuchtet ein, daß der "Begriffskern" in dieser Sichtweise keine Interpretationsprobleme bereitet, wenn man ihn zuvor als Bereich eben der Fälle von Zeichenverwendung definiert hat, die keine Interpretationsprobleme bereiten. Diese "relative" Definition (die auch bei ENGISCH gefunden werden kann) ist redundant und verfehlt, das zu erklären, was das eigentliche sprachtheoretische Problem ist: nämlich anhand welcher Kriterien man feststellt, welche Begriffsverwendungen (und Interpretationen) zum "Kern" gehören und welche nicht.

Ebensowenig klar ist die Bestimmung des "Begriffshofes":
"Der Begriffshof ist ein diffuser Bereich, der am Rande des Begriffkernes beginnt. Er ist nach außen nicht fest abgrenzbar sondern wird erst durch jede Subsumtion oder Exzeption an der betreffenden Stelle näher bestimmt. Begriffshöfe können sich auch überschneiden, so daß der gleiche Sachverhalt einmal diesem, ein andermal jenem Begriff zugrechnet wird." (9)
Nicht nur der "Begriffshof", sondern die ganze Dichotomie ist "diffus": wenn man die Unterscheidung zwischen "Kern" und "Hof" vorgängig, ohne Begründungen für sie aufweisen zu können, trifft, dann ist es eine Aussage ohne jeden Inhalt, daß der "Hof" da anfängt, wo der "Kern" aufhört. Die Frage ist ja gerade, wo (wenn überhaupt) und mit welchen Kriterien eine solche Grenze gezogen werden könnte. Auch die Festlegung des "Begriffshofes" auf die durch Subsumtion zugeordneten Fälle hilft nicht weiter, da das Auslegungsproblem ja gerade ist, welche Fälle subsumiert werden dürfen und welche nicht.

Im Klartext versteckt sich hinter JESCHs Ausführungen das Verfahren, unangesehen der sprachlichen Vernünftigkeit jedweden einem Rechtsbegriff subsumierten Fall dem "Begriffshof" und damit der Begriffsbedeutung zuzurechnen. D.h. eine Auslegung wird post festum zum Bestandteil der Bedeutung erklärt, statt nach Feststellung der Bedeutung zu klären, ob die gewünschte Auslegung auch dem Normtext "subsumierbar" ist.

Sucht man hinter solcherart zirkulären "Definitionen" eine Rationalität, so ist sie vermutlich darin zu finden, daß auch hier jene "vorsprachliche gleiche Gestimmtheit" des Juristenstandes zu Buche schlägt, von der schon FORSTHOFF geredet hatt. Allein eine aus hermetischer Homogenität der Interpretationsgemeinschaft entspringende, vor jeder Auslegung liegende Übereinstimmung kann bewirken, eben diese Gleichrichtung zum einzigen definitorischen Kriterium der Abgrenzung von "Begriffskern" und "Begriffshof" zu machen.

Diese Übereinstimmung zu sichern und als Konstante selbst in die Auslegungstheorie einzubringen hat als Ziel Vorrang vor jeder sprachtheoretischen Reflexion, die diese nur erschüttern könnte. Es wird hier sichtbar, warum GADAMERs Begriff des "Vorverständnisses" über die Grenzen der Auslegungsschulen hinweg bei den Juristen solche Furore machen konnte. Da die apostrophierte "Gleichstimmung" tatsächlich jedoch keineswegs vorhanden ist, ist der Sinn ihrer Anrufung für den Außenstehenden mit auslegungstheoretischen Gesichtspunkten nicht mehr erklärbar.

Der erste Jurist, der in neuerer Zeit die sprachtheoretischen Grundfragen der juristischen Auslegungslehre mit einem Gesamtansatz zu klären sucht, ist HATZ. Wie schon bei ENGISCH und den anderen genannten Autoren ist auch sein Erklärungsansatz - trotz der auch bei ihm obligatorischen Distanzierung von der Begriffsjurisprudenz - vorwiegend an "Begriffen" orientiert.

Wenn er zugleich seinen Ansatz als  hermeneutisches  Konzept stark machen will, dann folgt er der in der "Klassischen Auslegungslehre" vor allem zu seiner Zeit vorherrschenden Strömung einer Hermeneutik, die begriffsverhaftet ist, sich als Auslegungslehre von "Begriffen" und nicht von "Texten" versteht. Dies spiegelt sich in den zwei Hauptteilen der Arbeit wider, die eine juristische "Verstehenslehre" mit einer "Begriffstheorie" verknüpfen sollen.

In hermeneutischer Tradition versteht er Begriffe als "geistige Gebilde" für die ihre (sprachliche) Ausdrucksseite lediglich "erste Angriffsfläche" ist. Getreu seinen Vorbildern steht auch bei HATZ die "Korrespektivität (Gemeinschaftlichkeit) von Produktion und Interpretation" bei der Auslegung im Vordergrund. Dennoch wird der produktive Aspekt des Verstehens auch bei ihm eher unterdrückt, ist es doch "ein und dieselbe Sache" (also ein subjekt-unabhängige platonische Entität, für welche Autor und Ausleger nur Medium sind), "die vom ersten verwirklicht und vom zweiten nur wieder aufgenommen wird", wie er im Anschluß an BOLLNOW formuliert.

Nur wegen dieser Ent-Subjektvierung kann laut HATZ überhaupt von einer "Hermeneutik des Rechts" die Rede sein:
"Während das Anliegen allgemeiner Hermeneutik darin besteht, den Autor und dessen Individuation zu verstehen, gibt es beim juristischen Begriff keinen Autor, der juristische Begriff ist nicht  individuiert  er ist  objektiviert ." (10)
Wäre eine solche Formulierung nicht Ausdruck einer sich als objektivistisch mißverstehenden und darum sprachvergessenen Auslegungslehre, könnte man darin auch Positives sehen. Nicht nur Juristen, jeder Interpret von Texten hat nichts anderes als den Text selbst, nackte Ausdrucksform; ein Unterschied zur allgemeinen Hermeneutik kann mit diesem Aspekt des Textverstehens also nicht begründet werden.

Mit heute nicht mehr nachvollziehbarer Akribie widmet sich HATZ dem "Vorgang der Verkündung" juristischer Normen; es gilt, den "objektiven" Charakter der Rechtsnormen zu begründen:
"Mit der vollzogenen Setzung bereits hat die Norm einen so weitgehend objektiven Charakter, daß auf den Willen ihrer Schöpfer, auf deren individualpsychologisch zu erfassende Meinung nicht mehr zurückgegriffen werden kann. Der  Wille des Gesetzes  (...) ist an die Stelle des Willens der Gesetzesschöpfer getreten."
Zwar wird zu Recht von einer psychologistischen Deutungsweise des Textverstehens abgerückt, doch wird an ihre Stelle mit dem "Willen des Gesetzes" eine umso irreführendere Mystifikation gesetzt. Das Verstehen der in "sprachlicher Gebundenheit" "objektivierten" Rechtsnormen scheint für HATZ kein relevantes Problem zu sein; es ist "die schlichte Fähigkeit zu lesen", derer es bedarf.

Da der Verweis auf das "schlichte Lesen" alles ist, was er für das Problem des sprachlichen Verstehens anzubieten hat, fehlt ihm für diese zentrale Frage der Auslegungslehre jegliches sprachtheoretische Konzept. Zu Recht verwirft der zwar "eine reinliche Scheidung zwischen dem Lesen der Buchstaben und dem Auffassen der Worte als solchen" als unmöglich, doch entzieht er das beide verbindende Grundproblem der theoretischen Begründung, indem er es zur Seite des "schlichten Lesens" schlägt, statt das "Lesen" als sekundären Aspekt des Textverstehens zu erklären.

Die in der hermeneutischen Tradition noch zentrale Frage, ob Verstehen eher ein "Nachbilden" oder eher ein "sich-in-den-Autor -Hineinversetzen" sei, ist für HATZ von seinem objektivistischen Standpunkt aus vorentschieden:
"Ein Hineinversetzen kommt schon mangels einer realen Psyche, in die sich der Interpret hineindenken könnte, nicht in Frage. Eine psychologische Betrachtungsweise ist für den Interpreten eines objektiv vorliegenden Begriffs nicht vollziehbar." (11)
Er spricht hier ein sprachtheoretisch relevantes (und bis heute unterschiedlich gelöstes) Problem an, für dessen Behandlung ihm allerdings die konzeptuellen Mittel fehlen. Es ist ein gängiges Mißverständnis, das sowohl jede Kommunikationstheorie, die einem falsch verstandenen (radikalen) Intentionalismus folgt, als auch ihre kritische Gegenposition hat, daß der zu verstehend "Andere" als  reale  Psyche und das Verstehen als fremd-psychologisches Phänomen aufgefaßt wird.

Diese Position nimmt nicht nur zur Kenntnis, daß schon G. H. MEAD gezeigt hat, daß es bei dem "Anderen" keineswegs um einen "realen Anderen" (also eine "reale Psyche") geht, sondern um einen  generalisierten Anderen,  dem vom Verstehenden das als Intentionen unterstellt wird, was er selbst in der entsprechenden Situation haben würde.

Der Ausweg, den HATZ geht, nämlich das Problem des Verstehens mit hilflosem Verweis auf den "objektiv vorliegenden Begriff" schlicht zu umgehen, verbleibt (wie mit ihm die ganze juristische Methodendiskussion im Streit zwischen "subjektiver" und "objektiver" Schule) zu sehr in der Dichotomie "subjektiv" (= realpsychisch) vs. "objektiv" (= außerpsychisch) befangen. Ihm fehlt, wie das unentschiedene Suchen ("teils objektive, teils subjektive Rolle") zeigt, der Begriff des  Intersubjektiven. 

In völligem Widerspruch zur angeblich "objektiven" Orientierung der Interpretation von Rechtstexten scheint zunächst die Charakterisierung des juristischen Verstehens als "schöpferisches Fortbilden des Geschöpften" bei HATZ zu stehen:
"Die Hauptbeschäftigung der Juristen liegt in der interpretierenden Ausweitung der juristischen Begriffe." (12)
Noch verwirrender für den außerhalb des juristischen Denkens stehenden Linguisten ist es, wenn mit derselben Formulierung für vereinbar gehalten wird, daß "der ganze Juristenstand als reproduktiver Stand gewürdigt wird", und gar in der Darstellung des juristischen Verstehens als "einer schöpferischen Fortführung des objektivierten Rechts" eine Vereinbarkeit von "objektiver Interpretation" und "interpretierender Ausweitung der juristischen Begriffe behauptet wird.

Es ist eine verdächtige Metapher, welche die Intention enthüllt, der "schöpferischen Fortbildung" den Status "objektivierten Rechts" zu verleihen und damit den Interpreten von der Verantwortung für seine Auslegungsergebnisse zu entlasten. Dem Anspruch der Unveränderlichkeit (vom Interpreten her gesehen) des Rechts, welcher im Gesetzesbindungspostulats enthalten ist, soll die tatsächlich ständig stattfindende Veränderung (durch "ausweitende" Interpretation) unmerklich unterschoben werden - anders können solche ansonsten widersprüchlich erscheinenden Metaphern nicht verstanden werden.

Es bleibt ein Geheimnis des Autors, wie mit diesem Impetus des "schöpferischen Verstehens" vereinbar sein soll, daß es für einen juristischen Begriff "hic et nunc immer nur einen eindeutigen, notwendig beweisbaren Sinn geben (kann)". Nachdem er im folgenden die klassischen vier Auslegungskanones entwickelt hat, vollzieht HATZ, deutlicher und nachdenklicher als andere Autoren seiner Zeit, aber im Einklang mit dem Vorrang der "grammatischen" Auslegung in der klassischen Lehre, die Wende zur sprachlichen Seite der juristischen Auslegung, die er jedoch eng an das seiner Auffassung nach "begriffliche Denken" der Jurisprudenz bindet:
"Der Inhalt des Begriffs liegt in - oder hinter - seinem Ausdruck verborgen." (13)
Zunächst jedoch ist seine Begriffstheorie entgegen seiner Zielsetzung nicht vorrangig am  Sprachlichen  (der Funktion der Ausdrucksebene) orientiert. Wenn er auch davon ausgeht, "daß es eine echte Begriffsrealität nicht gibt" (also einen platten Platonismus - trotz oben zitierter gegenteiliger Formulierungen - verwirft), so definiert er die Kategorie "Begriff" doch allein auf logisch -erkenntnistheoretischer Ebene als "stehendes Urteil" bwz. "Definition".

In (scheinbarer) Abgrenzung zur Merkmalstheorie der Semantik verwirft er die Möglichkeit der eindeutigen Begriffsbestimmung durch Merkmalsbestimmung und behauptet (in einem erstaunlichen Vorgriff auf neueste Begriffsteorien)
"daß eine totale Ausspiegelung des Begriffs in seinen Merkmalen nicht praktisch vollziehbar ist, da auch diese wieder in begrifflicher Form vorliegen und so eine unüberschaubare Definitionskettenreaktion erforderlich wäre, um zur Ausführung eines einzigen Begriffs zu kommen." Gesetzes" (14)
Die sprachliche Ebene führt HATZ dann mit einer Adaption des (nicht als solchen bezeichneten und mit keinerlei Quellenangabe belegten) klassischen Zeichendreiecks ein:
"Ausgangspunkt der Betrachtung des Begriffs (ist) die grundlegende Unterscheidung zwischen dem Gegenstand (dem vom Begriff selbst nicht berührten, denkunabhängigen Objekt), dem Inhalt und dem Ausdruck des Begriffs." (15)
Die Kategorie "Begriff" wird hier also eindeutig als sprachliches Zeichen mit Inhalts-  und  Ausdrucksseite eingeführt. Die von ihm stets hervorgehobene Bindung der kognitiven Funktion sprachlicher Zeichen an ihre Ausdrucksgestalt ("Immerhin ist das, was den Begriff zum Begriff macht, das Wort und die logische Bindung des Bewußtseinsinhalts an dasselbe.") wird konterkariert durch das Festhalten an für die objektivistisch Sicht der klassischen juristischen Auslegungslehre typischen Klischees:
"Die juristischen Begriffe sind keine Produkte individueller  Psychen , sondern besondere objektive Manifestationen des Rechtsgeistes." (16)
HATZ scheint nicht zu bemerken daß er seine oben zitierte Ablehnung des Begriffs-Realismus (mit all ihren ontologischen Implikationen) hiermit widerruft. Dies wird auch deutlich, wenn er den "Gegenstand" des Begriffs (also linguistisch gesprochen die Referenzfunktion sprachlicher Zeichen) als "vom Begriff selbst nicht berührtes, denkunabhängiges Objekt" bezeichnet.

Es ist unklar, warum ausgerechnet ein Analytiker juristischer, auf abstrakte Gegenstände verweisender Begriffe, der gerade erst hervorgehoben hatte, daß die Begriffe erst durch "das Wort" zu dem werden, was sie sind, die objekt-konstituierende Funktion des begrifflichen Zugriffs (die zudem in seiner Darstellung der "Urteils-" bzw. "Definitions"- Funktion von Begriffen aufgehoben ist) negieren kann. Die Kategorie "Begriff" wird dadurch ihrer gerade hervorgehobenen sprachlichen Bindung wieder entkleidet.

Doch ist dies nicht der einzige Widerruf. Hatte HATZ bei der allgemeinen Verstehenslehre noch die Unmöglichkeit der eindeutigen Bestimmung eines Begriffs durch Merkmals-Definition hervorgehoben, so korrigiert er dies angesichts der "Probleme der juristischen Begriffsinterpretation insbesondere" durch Rückgriff auf die reinste Merkmalssemantik. Wenn schon die Analyse des Begriffs"inhalts" durch Merkmalsbestimmung zu keinem exakten Ergebnis kommt, dann "wendet sie sich dem Wesentlichen des Begriffs zu - den elementaren Begriffsmerkmalen".

Wenn der Jurist HATZ dem "Begriff" schon nicht per exhaustiver Merkmalsbestimmung näher kommt, dann strebt er wenigstens dahin, "mit möglichster Schärfe die Grenzen des Begriffs zu ziehen." Dieses Verfahren ist uns schon als unter Juristen üblich bekannt: zwar weiß man nicht, was ein "Begriff", ein "Wortsinn", ein "Wortlaut" ist, man weiß nicht wie man seine Bedeutung erschließen soll, doch eines kann man: man kann eine "scharfe Grenze" ("Wortlautgrenze") ziehen.

Hier wird unwiderlegbar deutlich, daß das Streben nach "Begrenzung", nach "festen" Bedeutungen, nach "exakter" Begriffsbestimmung stets und ständig  vorgängig  ist vor allen sprachtheoretischen Überlegungen. Die Frage, ob solche Grenzen (sprachtheoretisch gesehen) überhaupt existieren können, ist für die zitierten Juristen zweitrangig gegenüber dem Bedürfnis, sie festzulegen. Sprachtheoretische Reflexion findet so nicht wirklich Eingang in die juristische Methodik und ihr theoretisches Selbstverständnis, sondern wird, so hat es bis jetzt den Anschein, zum Ornament, zur aufgesetzten Legitimationsfigur degradiert.

Auch das Verfahren der Auslegung schlechthin gerät schließlich bei HATZ zu einem marginalen Problem:
"Welche Merkmale als wesentlich und welche als unwesentlich zu betrachten sind, ist die nächste, uns jedoch nur am Rande berührende Frage." Gesetzes" (17)
Hatte man, als juristisch unbeleckter Laie, bisher die Unterscheidung zwischen "wesentlichen" und "unwesentlichen" Begriffsmerkmalen als letztes Residuum von sprachlich noch irgendwie faßbaren (oder so gemeinten) Kriterien in der Argumentation juristischer Textauslegung angesehen, so wird am Ende jede Bindung der Interpretation an Kriterien (oder Argumente), welche ausdrücklich an Sprache gebunden sind (und auch  als solche  reflektiert werden), aufgehoben.

Was entscheidet, ist, laut HATZ, die vor aller Interpretationsanstrengung für den Begriff immer schon gegebene "Handgreiflichkeit seiner Merkmale". Auslegung reduziert sich bei ihm so auf das "schlichte Lesen", wenn als einzige Anforderung an die Interpretation angeboten wird,
"daß beim Aufsuchen der Begriffsmerkmale in erster Linie von der allgemein sprachlichen Begriffsbedeutung ausgegangen wird" (von was sonst ?) und mit der Begründung: "denn in der Sprache selbst - und nur in ihr - liegen die ersten Hinweise auf den Sinn des Begriffs". (18)
Sprache wird hier zur "black box", zum "deus ex machina", deren Wirken als gegeben hingenommen wird, ohne (wie es eine Auslegungslehre, die den Namen "Theorie" verdiente, erforderte) noch einer sprachtheoretischen Reflexion gewürdigt, geschweige denn konsistent erklärt zu werden; dies exemplifiziert zudem wieder die Sprachvergessenheit, welche eine solche Art von "Begriffstheorie" kennzeichnet.

Wenn HATZ als Fazit all seiner Ausführungen zur "Sprachgebundenheit der Begriffe" am Ende mit der - dick unterstrichenen - Forderung schließt, "bei der Interpretation zuerst von der Sprache auszugehen, da die Sprache den Zugang zu den Merkmalen eröffnet", dann hat er mit großem Pomp, mit viel Begründungsaufwand ein Mäuslein geboren, nämlich das uralte Prinzip, daß jede Auslegung beim  Wortlaut  zu beginnen habe, wieder hervorgekramt.

Die Frage, die sich hier dem Außenstehenden stellt, ist, ob HATZ dabei nicht einen großen Kreis gedreht hat, bei dem er am Ende wieder dort angelangt ist, wovon er ausgegangen ist, nämlich beim Auslegungsproblem sprachlicher Texte, oder ob solche "Erklärungen" zu seiner Zeit wirklich etwas Neues boten (etwa gegenüber einer vollständig sprachentfremdeten Begriffsjurisprudenz)? Wenn HATZ am Schluß seines Büchleins wiederholt die Sprachgebundenheit juristischer Begriffe heraushebt, so zeigt das, daß das Problem der Sprache als Fundament juristischer Auslegungstheorie bei ihm  Programm  bleibt, statt, wie der Titel "Rechtssprache und juristischer Begriff" verspricht, selbst schon Erklärungsansätze zu liefern.

Seine Kritik am Positivismus, welchem er vorwirft, "die Ratio des Gesetzes (...) im Wortlaut festzunageln", rührt weniger aus der Erkenntnis, daß eindeutige und automatische Gesetzesinterpretation eine Schimäre ist (die hält HATZ mit seinem Verweis aufs "schlichte Lesen" selbst für möglich), als aus der Vorliebe "für das metaphysische Eigenleben dieses Mediums" (Sprache), für das "der Positivismus keine Augen" habe.

Wenn diese Metaphysik auf den "objektiven Rechtsgeist" zielen sollte, den HATZ bemüht hat, dann wären seine Ausführungen allerdings ein Rückschritt gegenüber einem Positivismus, der streng am "Wortlaut" festhält. Wenn in dieser ersten Monographie mit umfassendem Anspruch das Problem der Sprache lediglich als Zielbestimmung am Ende steht, statt einer ernsthaften und auf der Höhe der Sprachwissenschaft jener Zeit stehenden Reflexion unterworfen zu werden, dann macht dies deutlich, daß von einer "Sprachtheorie" im eigentlichen Sinne in der juristischen Auslegungslehre vor der sprachphilosophischen Wende der 70er Jahre keine Rede sein kann.
LITERATUR - Dietrich Busse, Juristische Semantik, Grundfragen der juristischen Interpretationstheorie in sprachwissenschaftlicher Sicht, Berlin 1993
    Anmerkungen
    1) Hermann Weck, Die Sprache im deutschen Recht, Berlin 1913, Seite 8
    2) Ernst Forsthoff, Recht und Sprache, Darmstadt 1964, Seite 8
    3) Ernst Forsthoff, Recht und Sprache, Darmstadt 1964, Seite 8
    4) Ernst Forsthoff, Recht und Sprache, Darmstadt 1964, Seite 11
    5) Horst Neumann-Duesberg, Sprache im Recht, Münster 1949, Seite 120f
    6) Horst Neumann-Duesberg, Sprache im Recht, Münster 1949, Seite 124
    7) Dietrich Jesch, Unbestimmter Rechtsbegriff und Ermessen in rechtstheoretischer und verfassungsrechtlicher Sicht, in Archiv des öffentlichen Rechts 82, 1957, Seite 174f
    8) Dietrich Jesch, Unbestimmter Rechtsbegriff und Ermessen in rechtstheoretischer und verfassungsrechtlicher Sicht, in Archiv des öffentlichen Rechts 82, 1957, Seite 182
    9) LARENZ, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1979, Seite 35f - "Mit dem Akt der Gesetzgebung, so sagen die Objektivisten, löst sich das Gesetz von seinem Urheber los und wird in ein objektives Dasein erhoben. Der Urheber hat seine Rolle ausgespielt, er tritt hinter seinem Werk zurück."
    10) Helmut Hatz, Rechtssprache und juristischer Begriff, 1963 Seite 17. Hatz ist folgerichtig Anhänger der objektiven Auslegungslehre, derzufolge "der Interpret nicht zu fragen hat, welchen Sinn ein juristischer Begriff zur Zeit seiner Setzung, sondern nur, welchen Sinn er im Zeitpunkt seiner Interpretation hat" (Seite 23). Dem "Recht in sprachlicher Gestalt" wird platonisch ein "eigenes Sein" bzw. "objektives Sein" zugesprochen (Seite 28f).
    11) Helmut Hatz, Rechtssprache und juristischer Begriff, 1963 Seite 32
    12) Helmut Hatz, Rechtssprache und juristischer Begriff, 1963 Seite 35
    13) Helmut Hatz, Rechtssprache und juristischer Begriff, 1963 Seite 36
    14) Helmut Hatz, Rechtssprache und juristischer Begriff, 1963 Seite 46
    15) Helmut Hatz, Rechtssprache und juristischer Begriff, 1963 Seite 48
    16) Helmut Hatz, Rechtssprache und juristischer Begriff, 1963 Seite 53
    17) Helmut Hatz, Rechtssprache und juristischer Begriff, 1963 Seite 62
    18) Helmut Hatz, Rechtssprache und juristischer Begriff, 1963 Seite 63