p-4Theodor SpoerriDan SlobinJay Haley    
 
ERICH FROMM
Drei Filter -
Sprache, Logik, Gesellschaft


Die Sprache bestimmt durch ihre Vokabeln, ihre Grammatik, ihre Syntax und durch den ganzen Geist, der in ihr erstarrt ist, wie wir etwas empfinden und welche Empfindungen in unser Bewußtsein eindringen.

Das charakteristische Element in der Methode der Psychoanalyse ist zweifellos ihre Bemühung,  das Unbewußte bewußt zu machen  oder - mit FREUDs Worten - das Es in das Ich zu verwandeln. Das ist jedoch keineswegs so einfach und klar, wie es in dieser Formulierung klingt. Es erheben sich sofort die Fragen: Was ist das Unbewußte? Was ist das Bewußtsein? Was ist Verdrängung? Wie wird das Unbewußte bewußt? Und wenn das geschieht, welche Wirkung hat es?

Zunächst müssen wir bemerken, daß die Ausdrücke  bewußt  und  unbewußt  in verschiedenen Bedeutungen verwendet werden. In einer bestimmten Bedeutung, die man funktionell nennen könnte, bezeichnen "bewußt" und "unbewußt" einen subjektiven Zustand innerhalb des Individuums. Wenn man sagt, jemand sei sich dieses oder jenes psychologischen Gehaltes bewußt, bedeutet es, daß er von Affekten, Wünschen, Urteilen usw.  weiß. 

Unbewußt, im gleichen Sinne verwendet, bezeichnet eine geistige Verfassung, in der der Mensch von seinen inneren Erlebnissen nicht weiß; wenn er sich überhaupt keiner Empfindungen, einschließlich der sensorischen, bewußt wäre, wäre er genau wie ein Mensch, der bewußtlos  ist. Wenn man sagt, der Mensch sei sich gewisser Affekte usw. bewußt, bedeutet das, er sei, soweit es sich um diese Affekte handelt, bei Bewußtsein; wenn man sagt, gewisse Affekte seien unbewußt, bedeutet es, er sei bewußtlos, soweit es sich um diese Affekte handelt. Wir müssen bedenken, daß "unbewußt" nicht das Fehlen jeglicher Impulse, Gefühle, Begierden, Angst usw. bedeutet, sondern nur, daß das  Bewußtsein  dieser Impulse fehlt.

Ganz verschieden von der funktionellen Bedeutung der Bezeichnungen bewußt und unbewußt, die soeben beschrieben wurde, ist eine andere Anwendung, die bestimmte Örtlichkeiten im Menschen und gewisse, mit diesen Örtlichkeiten verbundene Inhalte bezeichnet. Das ist im allgemeinen der Fall, wenn man die Hauptwörter "Bewußtsein" und "Unbewußtes" verwendet. Hier ist das "Bewußtsein"  ein Teil der Persönlichkeit  mit bestimmten Inhalten, und das "Unbewußte" ist ein anderer Teil der Persönlichkeit mit anderen bestimmten Inhalten.

Nach Freuds Auffassung ist das Unbewußte im wesentlichen der Sitz der Irrationalität. Nach Jungs Anschauung hingegen scheint die Bedeutung fast umgekehrt zu sein; für ihn ist das Unbewußte im wesentlichen der Sitz der tiefsten Quellen der Weisheit, während das Bewußtsein der intellektuelle Teil der Persönlichkeit ist. In dieser Sicht des Bewußtseins und des Unbewußten wird das letztere mit dem Keller eines Hauses verglichen, in dem alles angehäuft ist, was weiter oben im Gebäude keinen Platz hat; FREUDs Keller enthält in der Hauptsache die Laster des Menschen, JUNGs Keller hauptsächlich seine Weisheit.

Wie H.S. SULLIVAN betont hat, ist es auch keine glückliche Lösung, den Ausdruck "das Unbewußte" im lokalen Sinne zu verwenden; die psychischen Tatsachen, um die es geht, werden damit nur mangelhaft beschrieben. Ich könnte noch hinzufügen, daß die Verwendung eines solchen Hauptwortes anstelle eines funktionellen Begriffs der allgemeinen Tendenz der westlichen Kultur der Gegenwart entspricht, alles als Dinge, die wir  haben  aufzufassen anstatt in Begriffen des  Seins.  Wir  haben  ein Problem der Angst, wir  haben  Schlaflosigkeit, wir  haben  eine Depression, wir  haben  einen Psychoanalytiker, so wie wir ein Auto, ein Haus oder ein Kind haben. Im gleichen Stil  haben  wir auch ein "Unbewußtes".

Es ist kein Zufall, daß viele Leute anstatt "Unbewußtes" das Wort "Unterbewußtsein" verwenden, und zwar offensichtlich deshalb, weil "Unterbewußtsein" der lokalen Auffassung besser entspricht; ich kann sagen: "Dieses oder jenes ist mir unbewußt", aber ich kann nicht sagen: "Es ist mir unterbewußt."

Es gibt noch eine andere Verwendung des Begriffes "Bewußt", die manchmal Verwirrung stiftet. Das Bewußtsein wird mit dem überlegenen Verstand, das Unbewußte mit unreflektierten Empfindungen gleichgesetzt. Gegen diese Verwendung von Bewußt und Unbewußt ist natürlich nichts einzuwenden, vorausgesetzt, daß der Sinn klar ist und nicht mit den den beiden anderen Bedeutungen verwechselt wird. Trotzdem erschein diese Verwendung nicht glücklich. Die gedankliche Überlegung ist natürlich immer bewußt, aber nicht alles, was bewußt ist, ist eine gedankliche Überlegung.

Wenn ich einen Menschen ansehe, bin ich seiner bewußt; ich bin mir dessen bewußt, was in mir im Zusammenhang mit diesem Menschen vorgeht. Aber nur, wenn ich mich als Subjekt von ihm als Objekt distanziert habe, ist dieses Bewußtsein mit der gedanklichen Überlegung identisch. So ist es auch, wenn ich mir bewußt bin, daß ich atme, was keineswegs das gleiche ist, als wenn ich an mein Atmen denke; ja, sobald ich an mein Atmen denke, bin ich mir meines Atmens nicht mehr bewußt. Das gleiche gilt für alle meine Handlungen, die mich zur Welt in Beziehung setzen.

Nachdem wir uns geeinigt haben, Bewußt und Unbewußt als Zustand des Gewahrseins oder Nichtgewahrseins und nicht als "Teile" der Persönllichkeit und spezifische Inhalte aufzufassen, müssen wir nun die Frage untersuchen, was eine Empfindung daran hindert, unser Bewußtsein zu erreichen, das heißt, bewußt zu werden.

Bevor wir jedoch mit der Diskussion dieser Frage beginnen, erhebt sich noch eine andere, die wir zuerst behandeln sollten. Wenn wir im Zusammenhang mit Psychoanalyse von Bewußtsein und Unbewußten sprechen, entsteht der Eindruck, als besitze das Bewußtsein einen größeren Wert als das Unbewußte. Warum sollten wir sonst danach streben, den Bereich des Unbewußten zu erweitern, wenn dem nicht so wäre?

Und doch ist es ganz offenkundig, daß das Bewußtsein als solches keinen besonderen Wert besitzt; in Wirklichkeit besteht der größte Teil des bewußten Denkens der Menschen nur in Fiktion und Täuschung. Der Grund hierfür ist nicht so sehr die Unfähigkeit der Menschen, die Wahrheit zu sehen, sondern die Funktion der Gesellschaft.

Während des größten Teils der Geschichte der Menschheit hat stets (mit Ausnahme einiger primitiven Gesellschaften) eine kleine Minderheit über die Mehrheit ihrer Mitmenschen geherrscht und sie ausgebeutet. Um das zu erreichen, hat die Minderheit meistens Gewalt angewendet; aber Gewalt ist nicht genug. Auf die Dauer mußte die Mehrheit ihre Ausbeutung freiwillig anerkennen - und das ist nur möglich, wenn ihr Geist mit den verschiedensten Lügenmärchen erfüllt wurde, die die Anerkennung der Herrschaft der Minderheit erklärten und rechtfertigten.

Das ist jedoch nicht der einzige Grund dafür, daß das meiste von dem, was das Bewußtsein der Menschen über sie selbst, über andere, über die Gesellschaft usw. enthält, erfunden ist. Im Lauf der historischen Entwicklung entsteht in jeder Gesellschaft zwangsläufig das Bedürfnis, in der besonderen Form bestehen zu bleiben, zu der sie sich entwickelt hat, und das erreicht sie gewöhnlich, indem sie die höheren Ziele der Menschheit, die alle Menschen gemeinsam haben, außer acht läßt.

Dieser Widerspruch zwischen dem sozialen und dem allgemeinen Ziel führt (auf sozialer Ebene) ebenfalls zur Erdichtung von allen möglichen Fiktionen und Illusionen, die die Aufgabe haben, die Spaltung zwischen den Zielen der Menschheit und denen einer gegebenen Gesellschaft abzuleugnen und dies zu begründen.

Wir könnten also sagen, daß der Inhalt des Bewußtseins hauptsächlich aus Fiktion und Täuschung besteht und nicht die Wirklichkeit repräsentiert. Das Bewußtsein als solches ist daher nichts Erstrebenswertes. Nur wenn die verborgene Wirklichkeit (die unbewußt ist) enthüllt wird und daher nicht mehr verborgen (d.h. bewußt geworden) ist, ist etwas Wertvolles erreicht worden.

Wir werden an anderer Stelle auf dieses Thema zurückkommen. Jetzt möchte ich nur betonen, daß das meiste von dem, was unser Bewußtsein enthält, ein "falsches Bewußtsein" ist und daß es im wesentlichen die Gesellschaft ist, die uns diese Fiktionen und unrealistischen Vorstellungen eingibt.

Die Wirkung der Gesellschaft besteht jedoch nicht nur darin, unserem Bewußtsein Fiktionen einzutrichtern, sondern auch darin, uns daran zu hindern, uns der Wirklichkeit bewußt zu sein. Die weitere Behandlung dieses Punktes führt uns geradewegs in das zentrale Problem, wie die Verdrängung oder das Unbewußte zustandekommt.

Das Tier ist sich der Dinge bewußt, die es umgeben, und dieses Bewußtsein können wir mit R.M. Buckes Bezeichnung das "einfache Bewußtsein" nennen. Das Gehirn des Menschen, größer und komplizierter als das des Tieres, geht über das einfache Bewußtsein hinaus und ist die Grundlage des Ichbewußtseins, des Bewußtseins von sich selbst als Subjekt des Erlebnisses. Aber vielleicht gerade, weil es so ungeheuer kompliziert ist, ist das menschliche Bewußtsein auf verschiedene mögliche Weisen gegliedert, und damit irgendeine Empfindung bewußt werden kann, muß sie innerhalb der Kategorien verständlich sein, in die das bewußte Denken eingeteilt ist.

Einige Kategorien, wie Zeit und Raum, sind vielleicht allgemeingültig und bilden Kategorien der Wahrnehmung, die allen Menschen gemeinsam sind. Andere, wie die Kausalität, sind vielleicht für viele, aber nicht alle Formen der bewußten Wahrnehmung eine gültige Kategorie. Wieder andere Kategorien sind noch weniger allgemeingültig und von Kultur zu Kultur verschieden.

Wie dem auch sein mag, die Empfindung kann nur unter der Bedingung bewußt werden, daß sie wahrgenommen, mit einem Begriffssystem und seinen Kategorien in Beziehung gesetzt und darin eingeordnet werden kann. Dieses System selbst ist das Ergebnis der gesellschaftlichen Entwicklung. Jede Gesellschaft bildet durch ihre Lebensweise und die Art ihres Bezogenseins, Fühlens und Wahrnehmens ein System von Kategorien, das die Formen des Bewußtseins bestimmt. Dieses System arbeitet sozusagen wie ein  gesellschaftlich bedingter Filter.  Eine Empfindung kann nur dann ins Bewußtsein eindringen, wenn sie diesen Filter passiert.

Damit stellt sich das Problem, konkreter zu verstehen, wie dieser "soziale Filter" wirkt und wie es kommt, daß er gewisse Empfindungen durchläßt und andere daran hindert, in das Bewußtsein einzudringen.

Zunächst müssen wir bedenken, daß viele Empfindungen nicht ohne weiteres geeignet sind, bewußt wahrgenommen zu werden. Unter den körperlichen Empfindungen eignet sich vielleicht am besten der Schmerz für eine bewußte Wahrnehmung; auch sexuelle Begierde, Hunger usw. werden leicht wahrgenommen; offensichtliche gehen alle Empfindungen, die zur Erhaltung des Lebens des Individuums oder der Gruppe dienen, leicht in das Bewußtsein ein.

Eine subtilere oder kompliziertere Empfindung, zum Beispiel  beim Anblick einer Rosenknospe mit einem Tautropfen am frühen Morgen, während die Luft noch kühl ist, die Sonne gerade aufgeht und ein Vogel singt - wird in gewissen Kulturkreisen (zum Beispiel in Japan) leicht in das Bewußtsein dringen, während die gleiche Empfindung in der modernen westlichen Kultur gewöhnlich das Bewußtsein nicht erreichen wird, weil sie nicht genügend "wichtig" oder "ereignisreich" ist, um bemerkt zu werden.

Ob subtile affektive Empfindungen bewußt werden können oder nicht, hängt davon ab, wie weit solche Empfindungen in einem Kulturkreis gepflegt werden. Es gibt viele affektive Empfindungen, für die eine bestimmte Sprache keine Bezeichnung, während eine andere reich an Ausdrücken ist, die diese Gefühle benennen. Im Deutschen haben wir beispielsweise ein Wort "Liebe", das Empfindungen vom einfachen Gernhaben bis zur erotischen Leidenschaft und bis zur brüderlichen Liebe und Mutterliebe umfaßt. Wenn in einer Sprache verschiedene affektive Empfindungen nicht durch verschiedene Wörter ausgedrückt werden, ist es fast unmöglich, daß diese Empfindungen in das Bewußtsein dringen, und umgekehrt. Allgemein kann man sagen, daß eine Empfindung selten bewußt wird, für die die Sprache kein Wort hat.

Das ist jedoch nur  ein  Aspekt der Filterwirkung der Sprache. Verschiedene Sprachen unterscheiden sich nicht nur in der Mannigfaltigkeit von Ausdrücken zur Bezeichnung gewisser affektiver Empfindungen, sondern auch in ihrer Syntax, in ihrer Grammatik und in der Stammbedeutung ihrer Wörter. Die ganze Sprache enthält eine Lebensauffassung, ist ein erstarrter Ausdruck für eine bestimmte Art und Weise, das Leben zu erleben.

Hier einige Beispiele:
Es gibt Sprachen, in denen das Verb "regnen" zum Beispiel verschieden konjugiert wird, je nachdem, ob ich sage, daß es regnet, weil ich im Regen draussen war und naß geworden bin, oder weil ich es von einer Hütte aus regnen gesehen habe oder weil mir jemand gesagt hat, daß es regne. Es ist ganz offenkundig, daß der Nachdruck, den die Sprache auf die verschiedenen Quellen legt, aus denen man eine Tatsache erfährt (in diesem Fall, daß es regnet), einen großen Einfluß auf die  Art  hat, wie die Menschen die Tatsachen erleben. (In unserer Kultur beispielsweise, mit ihrer Betonung der rein intellektuellen Seite des Wissens ist es ziemlich gleichgültig, auf welche Weise ich von einer Tatsache erfahren habe, ob aus direkter oder indirekter Erfahrung oder vom Hörensagen.)

Oder, im Hebräischen besteht das Hauptprinzip der Konjugation darin, festzustellen, ob eine Handlung vollendet (perfekt) oder unvollendet (imperfekt) ist, während die Zeit, in der sie stattfindet - Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft - erst in zweiter Linie zum Ausdruck gebracht wird. Im Lateinischen werden beide Prinzipien (Zeit und Vollendung) gemeinsam beachtet, während im Englischen und Deutschen hauptsächlich nach der Zeit orientiert sind. Wieder ist es selbstverständlich, daß diese Unterschiede in der Konjugation eine Verschiedenheit im Erleben zum Ausdruck bringen.

Ein weiteres Beispiel findet man in der unterschiedlichen Verwendung von Zeitwörtern und Hauptwörtern in verschiedenen Sprachen oder auch unter verschiedenen Menschen, die die gleiche Sprache sprechen. Das Hauptwort bezeichnet ein "Ding", das Zeitwort eine Tätigkeit. Immer mehr Menschen denken lieber in Begriffen des "Habens von Dingen" anstatt in Begriffen des Seins oder des Handelns; deshalb ziehen sie auch Hauptwörter den Zeitwörtern vor.

Die Sprache bestimmt durch ihre Vokabeln, ihre Grammatik, ihre Syntax und durch den ganzen Geist, der in ihr erstarrt ist, wie wir etwas empfinden und welche Empfindungen in unser Bewußtsein eindringen.

Der zweite Aspekt des Filters, der das Bewußtwerden ermöglicht, ist die  Logik die das Denken der Menschen in einem Kulturkreis lenkt. Wie die meisten Menschen annehmen, daß ihre Sprache "natürlich" sei und andere Sprachen nur andere Wörter für die gleichen Dinge verwenden, nehmen sie auch an, daß die Regeln für das richtige Denken natürlich und allgemeingültig seien und daß, was in einem Kulturkreis unlogisch sei, weil es zur "natürlichen" Logik im Widerspruch stehe. Ein gutes Beispiel dafür ist der Unterschied zwischen der aristotelischen und der paradoxen Logik.

Die aristotelische Logik beruht auf dem Satz der Identität, der besagt, daß A gleich A ist, auf dem Satz vom Widerspruch (A ist nicht nicht-A) und auf dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten (A kann nicht gleichzeitig A und nicht-A, und auch nicht weder A noch nicht-A sein). Aristoteles drückte es so aus: "Es ist unmöglich, daß dasselbe gleichzeitig und in gleicher Hinsicht demselben zukomme und nicht zukomme ... Das ist das allergewisseste aller Prinzipien".

Im Gegensatz zur aristotelischen Logik steht die sogenannte  paradoxe Logik die annimmt, daß A und nicht-A einander als Prädikate von X nicht ausschließen. Die paradoxe Logik herrschte im chinesischen und indischen Denken, in der Philosophie Heraklits und ferner unter dem Namen  Dialektik  in den Gedanken von HEGEL und MARX vor. Das allgemeine Prinzip der paradoxen Logik wurde von LAOTSE deutlich beschrieben: "Worte, die eindeutig wahr sind, scheinen paradox zu sein", und von Tschuangtse:"Was eines ist, ist eines. Was nicht-eines ist, ist ebenfalls eines."

Lebt ein Mensch in einem Kulturkreis, in dem die Richtigkeit der aristotelischen Logik nicht bezweifelt wird, ist es für ihn überaus schwierig, wenn nicht überhaupt unmöglich, sich solcher Empfindungen bewußt zu werden, die der aristotelischen Logik widersprechen und daher auf dem Standpunkt seiner Kultur unsinnig sind. Ein gutes Beispiel ist Freuds Begriff der Ambivalenz, der besagt, daß man zur gleichen Zeit für die gleiche Person Liebe und Haß empfinden kann. Diese Empfindung, auf dem Standpunkt der paradoxen Logik durchaus  logisch,  ist auf dem der aristotelischen Logik unsinnig. Das Ergebnis ist, daß es den meisten Menschen überaus schwerfällt, sich ambivalenter Gefühle bewußt zu werden. Wenn sie sich der Liebe bewußt sind, können sie sich nicht des Hasses bewußt sein - da es völlig unsinnig wäre, gleichzeitig gegen dieselbe Person zwei einander widersprechende Gefühle zu haben.

Der dritte Aspekt des Filters neben Sprache und Logik ist der  Gehalt  von Empfindungen. In jeder Gesellschaft dürfen gewisse Gedanken und Gefühle nicht gedacht, gefühlt und ausgedrückt werden. Es gibt Dinge, die man nicht nur "nicht tut", sondern die man nicht einmal "denkt". In einem Stamm von Kriegern beispielsweise, dessen Mitglieder davon leben, Mitglieder anderer Stämme zu töten und zu berauben, könnte es einen Einzelnen geben, der eine innere Abneigung gegen Töten und Rauben fühlt. Es ist jedoch höchst unwahrscheinlich, daß er sich seines Gefühls bewußt würde, brächted das die Gefahr mit sich, daß er sich völlig isoliert und ausgeschlossen fühlte. Deshalb würde ein Individuum, das ein solche Abneigung fühlt, wahrscheinlich ein psychosomatisches Symptom, etwa Erbrechen, entwickeln, anstatt das Gefühl der Abneigung in sein Bewußtsein dringen zu lassen.

Genau das Gegenteil würde man bei einem Mitglied eines friedlichen, ackerbauenden Stammes finden, das den Drang verspürte, Mitglieder anderer Gruppen zu töten und zu berauben. Es würde sich wahrscheinlich ebenfalls nicht gestatten, sich seiner Impulse bewußt zu werden, sondern würde statt dessen ein Symptom entwickeln - vielleicht heftige Angst.

Noch ein weiteres Beispiel: Es muß in unseren großen Städten viele Geschäftsinhaber geben, zu denen ein Kunde kommt, der, sagen wir, dringend einen Anzug braucht, der aber nicht genügend Geld hat, um auch nur den billigsten zu kaufen. Unter diesen Geschäftsinhabern muß es einige geben, die den natürlichen menschlichen Impuls haben, dem Kunden den Anzug für den Preis zu überlassen, den er bezahlen kann. Wieviele dieser Geschäftsinhaber werden sich jedoch gestatten, sich eines solchen Impulses bewußt zu werden? Ich glaube, nur sehr wenige. Die Mehrzahl wird ihn verdrängen, und manchen von ihnen werden sich vielleicht dem Kunden gegenüber aggressiv verhalten und damit den unbewußten Impuls verdecken, oder sie werden in der folgenden Nacht einen Traum haben, der ihn offenbart.

Wenn wir die Behauptung aufstellen, daß sozial unzulässige Inhalte nicht in das Bewußtsein eingelassen werden, werfen wir zwei weitere Fragen auf. Warum stehen gewisse Inhalte zu einer Gesellschaft im Widerspruch? Ferner, warum hat das Individuum Angst davor, sich solcher verbotener Inhalte bewußt zu werden?

Zur ersten Frage muß ich auf den Begriff des "sozialen Charakters" verweisen. Um fortzubestehen muß jede Gesellschaft den Charakter ihrer Mitglieder so formen,  daß sie das tun wollen, was sie tun müssen.  Ihre soziale Funktion muß zu einem Teil ihrer selbst werden und muß in etwas verwandelt werden, zu dem sie sich getrieben fühlen, und nicht etwas sein, das sie tun müssen. Eine Gesellschaft kann ein Abweichen von diesem Schema nicht dulden, denn wenn dieser "soziale Charakter" seine zusammenhaltende Festigkeit verliert, werden viele Individuen nicht mehr so handeln, wie man es von ihnen erwartet, und der Fortbestand der Gesellschaft in ihrer gegebenen Form wäre gefährdet. Natürlich gibt es Unterschiede in der Strenge, mit der die Gesellschaften ihren sozialen Charakter und die Einhaltung der Tabus zum Schutze dieses Charakters durchsetzen, aber Tabus, deren Verletzung zur Ächtung führt, gibt es in allen Gesellschaften.

Die zweite Frage lautet, warum das Individuum solche Angst vor der drohenden Gefahr der Ächtung hat, daß es sich nicht gestattet, sich "verbotener Triebe" bewußt zu werden. Um diese Frage zu beantworten, muß ich auch auf ausführlichere Erklärungen an anderer Stelle verweisen. Um es kurz zu sagen, wenn ein Individuum nicht geisteskrank werden will, muß es in irgendeiner Weise mit anderen in Verbindung treten. Vollkommene Isolierung bringt es an den Rand des Wahnsinns. Zwar fürchtet es, soweit seine Natur animalisch ist, am meisten das Sterben, aber insofern es ein Mensch ist, hat es die größte Angst davor, vollkommen allein zu sein. Diese Angst, und nicht, wie FREUD annimmt, Angst vor Kastration, verbietet es ihm, sich solcher Gefühle und Gedanken bewußt zu werden, die unter ein Tabu fallen.

Wir kommen also zu dem Schluß, daß es sozial bedingt ist, ob etwas bewußt oder unbewußt ist. Ich bin mir all meiner Gedanken und Gefühle bewußt, die den dreifachen Filter der (sozial bedingten) Sprache, der Logik und der Tabus (sozialer Charakter) passieren dürfen. Empfindungen, die nicht durch den Filter gehen, bleiben außerhalb des Bewußtseins; das heißt, sie bleiben unbewußt.
LITERATUR - Fromm/Suzuki/deMartino, Zenbuddhismus und Psychoanalyse, Frankfurt/Main 1980