ra-2Der moderne MaterialismusKuno Fischer - Ludwig Feuerbach    
 
FRIEDRICH JODL

Ludwig Feuerbach

"Was wir als Erbstück Feuerbachs aus der Hegelschen Philosophie in der Zeit vor 1839 betrachten dürfen, ist ein spekulativer Rationalismus, d. h. die Überzeugung, daß der Geist oder die Vernunft den inneren Grund der Welt ausmachen; daß der Begriff das Wesen der Dinge ist; daß die höchsten Inhalte des geistigen Lebens, Kunst, Religion, Wissenschaft, nur abgeleitete, durch den Menschen vermittelte Produkte seien, in Wahrheit aber ihren Inhalt, das Absolute, als innere Triebkraft voraussetzen, d. h. selbst göttliche Zwecke oder Angelegenheiten Gottes sind."

"Der absolute Geist offenbart sich nach Hegel in der Kunst, der Religion, der Philosopie. Das heißt aber doch nichts anderes als: Der Geist der Kunst, der Religion, der Philosophie ist der absolute Geist; ist das Höchste, was wir vom Geist wissen. Aber kann man denn Kunst und Religion von der menschlichen Empfindung, Phantasie und Anschauung, kann man die Philosophie vom menschlichen Denken, kann man überhaupt den absoluten Geist vom subjektiven Geist oder vom Wesen des Menschen absondern? Führt jeder Versuch dieser Art nicht notwendig zurück auf den alten Standpunkt der Theologie, die uns den absoluten Geist als einen anderen, vom menschlichen Wesen unterschiedenen Geist, d. h. als ein außer uns existierendes Gespenst von uns selbst vorspiegelt?"

I. Kapitel
Der Ausgangspunkt der
Philosophie Feuerbachs

Kein Gedanke, auch nicht der genialste, fällt fertig vom Himmel; keine Philosophie entsteht gleichsam im luftleeren Raum, abgelöst von einer geschichtlichen Situation, unabhängig von ihren logischen Voraussetzungen. Wie im Bereich der Naturwissenschaft und Technik so sind auch auf philosophischem Gebiet bestimmte Probleme jeder Generation und jedem Individuum durch die Arbeiten der Früheren gegeben und gewisse Lösungen nur aufgrund dieser Vorarbeiten möglich. So wenig NEWTONs Entdeckungen denkbar wären ohne KOPERNIKUS, GALILEI, KEPLER, sowenig sind SPINOZA und LEIBNIZ zu verstehen ohne DESCARTES, sowenig KANT ohne LOCKE und HUME, SCHELLING ohne das Bindeglied FICHTE, welches ihn mit der Philosophie KANTs verknüpft. Die Mutterlauge, in welcher der herrliche, klare Kristall der Philosophie FEUERBACHs anschließt, ist das System HEGELs, das Schlußwort jener spekulativ-idealistischen Entwicklung, welche die Kantische Philosophie in den ersten Dezennien des 19. Jahrhunderts genommen hatte. Ein Einblick in diesen Zusammenhang ist für das Verständnis FEUERBACHs und der Motive seiner philosophischen Gedankenarbeit fast unerläßlich. Denn die wichtigsten, die grundlegenden Sätze der Philosophie FEUERBACHs erwachsen als Antithesen gegen die HEGELsche Philosophie; ja vielleicht läßt sich die ganze historische Stellung FEUERBACHs am kürzesten und schlagendsten so bezeichnen, daß man sagt, er nimmt mit der Philosophie HEGELs eine Revolution vor gleich der, welche KOPERNIKUS mit der Astronomie des PTOLEMÄUS vorgenommen hatte: was dort Zentrum des Alls gewesen war, der absolute Geist, rückt als bloße Projektion an die Peripherie; die Natur, dort eine Selbstentäußerung des Geistes, wird Zentralbegriff und Trägerin des geistigen Lebens.

Unter allen Gegner der HEGELschen Philosophie ist FEUERBACH weitaus der gewaltigste, weitaus der wichtigste. Keiner ist so tief in den innersten Geist dieser Spekulation eingedrungen; kein anderer hat sich so vollständig von ihr befreit. Der ganze Prozeß der Auflösung der spekulativen Philosophie und des Wiederaufbaus einer neuen Philosophie in enger Wechselwirkng mit Natur- und Geschichtswissenschaft, in dessen Mitte wir uns heute noch befinden, liegt in FEUERBACH wie in einem großartigen Präludium, einem ausführlichen Programm vor. FEUERBACH selbst ist sich darüber völlig klar gewesen. Mehr als ein Satz seiner "Grundsätze der Philosophie der Zukunft" (1843) spricht dieses Bewußtsein um seine historische Stellung mit der größten Bestimmtheit aus. Er zeigt dort, daß die HEGELsche Philosophie sich unmittelbar aus dem Kantischen und Fichteschen Idealismus ableiten lasse, daß in HEGEL, die neuere Philosophie kulminiere und daß darum die historische Notwendigkeit und Rechtfertigung der weiteren Entwicklung der Philosophie sich hauptsächlich an die Kritik HEGELs anzuknüpfen habe. Und er bestimmt ihre Aufgabe mit einem Wort so, daß sie zur HEGELschen Philosophie eben die Stellung einzunehmen habe, welche diese der Theologie gegenüber einnahm - sie vollständig zu Ende denken und damit aufheben. (1) Noch entschiedener heißt es in der Abhandlung "Zur Beurteilung der Schrift: Das Wesen des Christentums" (1842) vom Fundamentalgedanken seiner anthropologischen Philosophie, daß er nicht auf positivem Weg gewonnen, sondern nur als die totale Negation der HEGELschen Philosophie aus dieser abgeleitet werden könne; daß insbesondere seine Religionsphilosophie nur aus Opposition gegen die HEGELsche entstanden sei, nur aus dieser Opposition gefaßt und beurteilt werden könne. (2)

Wie auf viele Andere, hat die Philosophie HEGELs mit ihrer strengen systematischen Geschlossenheit, der verführerischen Sicherheit ihrer dialektischen Methode, der umfassenden Beherrschung aller Gebiete des geistigen und geschichtlichen Lebens, auch auf FEUERBACH einen tiefen Eindruck gemacht. Er nennt ihn den größten Grammatiker der Philosophie, wenigstens neuerer Zeit; "den Wiederhersteller der Philosophie aus ihrem Abfall in das Gebiet der Imagination". Mit Recht habe ein Hegelianer auf ihn angewendet, was ARISTOTELES von ANAXAGORAS gesagt hat, daß er unter den Naturphilosophen wie der einzig Nüchterne unter Trunkenen erschienen sei. Im Gegensatz zu dieser Philosophie, die schön, poetisch, gemütlich, romantisch, aber dafür auch transzendent, abergläubisch, absolut kritiklos gewesen sei, habe HEGEL ein negatives, kritisches Element in sich. (3) Es kann nicht bezweifelt werden, daß sich unter dem mächtigen, tiefgreifenden Einfluß der Vorlesungen HEGELs, welche FEUERBACH in Berlin hörte, der Umschwung vollzog, welcher FEUERBACH nicht mehr im Studium der Theologie, sondern in der Philosophie seinen Lebensberuf erkennen ließ. (4) Nicht nur die "Fragmente zur Charakteristik meines philosophischen Entwicklungsganges", sondern insbesondere auch die unter dem geistigen Einfluß HEGELs entstandenden Arbeiten der Jahre 1835 - 1839 enthalten zahlreiche Spuren der Bewunderung, welche der Geist dieses Denkers ihm einflößte. Und selbst in dem Werk, mit welchem er sich vom Hegeltum für immer abwendet, in seiner "Kritik der Hegelschen Philosophie", klingt diese Stimmung noch unverkennbar nach.

Niemals freilich ist FEUERBACH völlig orthodoxer Hegelianer im Sinne der Schule gewesen. Kaum hat er sich diese Philosophie völlig zu eigen gemacht, so erwachen schon die Zweifel in ihm; scheinbar harmlose, in Wahrheit grundstürzende Zweifel, ganz in die Richtung seiner späteren Philosophie weisend. Er frägt sich: "Wie verhält sich das Denken zum Sein, wie die Logik zur Natur? Ist der Übergang aus der Logik zur Natur begründet? Die Logik weiß aus sich doch nur vom Denken. Daß es noch ein ganz anderes Element, die Natur, das Sein gibt, kann nicht logisch deduziert werden. Dies folgt nur daraus, daß das denkende Subjekt ein unmittelbares Dasein unabhängig von aller Logik vorfindet und anzuerkennen genötigt ist." (5) Verwandt im Gedanken und auf der gleichen Abneigung gegen die spezifisch HEGELsche Gleichsetzung des Seins mit dem Denken, der Wirklichkeit mit dem Begriff beruhend, sind auch einige der satirisch-theologische Distichen [Zweizeiler - wp] vom Jahre 1830 (veröffentlicht im Anhang zu den "Todesgedanken"), in denen gerade zur Zeit des stärksten Einflusses HEGELs auf FEUERBACH die Gedanken seines späteren lebensvollen Naturalismus anklingen.
    "Wesen ist nur der Begriff." Das heißt: Das Gerippe des Menschen
    Hat mehr Realität als der lebendige Mensch.
Und noch bitterer im folgenden Distichon:
    Wie? Hochmütig erscheint euch die Hegelianische Weisheit?
    Wie die Hyäne begnügt sie sich mit dem Knochen allein.
Aber die Gedanken der Dissertation, mit welcher FEUERBACH in Erlangen 1828 promovierte, "über die Einheit, Allgemeinheit und Unbegrenztheit der Vernunft" (De ratione una, universali, infinita) (6) sind nicht bloß angelernte Schulformeln, sondern tiefe und nachhaltige Überzeugungen gewesen. Sie beherrschen seine "Todesgedanken", welche sich zwar in der von HEGEL offengelassenen Frage der persönlichen Unsterblichkeit gegen das Individuum und sein Recht auf ewige Fortdauer erklären, und gegen die phantastische, ins Schrankenlose ausgedehnte Persönlichkeit polemisieren, aber mit der größten Entschiedenheit auf den gattungsmäßigen Zusammenhang, auf das Bleibende im Wechsel, auf den objektiven Geist hinweisen. Die Person vergeht, der Geist besteht: das ist das Grundthema dieser Schrift. "Ewig ist der Mensch, ewig der Geist, unvergänglich und unendlich das Bewußtsein, und ewig werden daher auch Menschen und bewußte Personen sein. Du selbst aber als bestimmte Person, nur Objekt des Bewußtseins, nicht das Bewußtsein selbst, trittst notwendig einst außer Bewußtsein und an deine Stelle kommt eine neue, frische Person in die Welt des Bewußtseins. Das Bewußtsein ist die allgemeine Geistes- und Lebensluft ... die absolute unendliche Einheit aller Personen und Menschen ... Am Bewußtsein erkenne und schaue das große Geheimnis des Ganzen, der Einheit. Es ist der absolut feste, unzerstörbare Mittelpunkt, die Sonne der Menschheit. So gut wie die sinnliche Natur ist es eine Welt, in die der Einzelne hineintritt. Wie die Ähre an der Sonne, so reifst und zeitigst du zu einer Person heran, beschienen vom Sonnenlicht des ewig geschlossenen und ewig jungen, sich innerhalt seiner stets entwickelnden und schaffenden Bewußtseins der Menschheit. Im Tod sinkst du ermüdet von der den Einzelnen anstrengenden, ihn verzehrenden Sonnenhitze des Bewußtseins in die bewußtlose Ruhe des Nichts zurück". (7)

Was wir als Erbstück FEUERBACHs aus der HEGELschen Philosophie in der Zeit vor 1839 betrachten dürfen, ist ein spekulativer Rationalismus, d. h. die Überzeugung, daß der Geist oder die Vernunft den inneren Grund der Welt ausmachen; daß der Begriff das Wesen der Dinge ist; daß die höchsten Inhalte des geistigen Lebens, Kunst, Religion, Wissenschaft, nur abgeleitete, durch den Menschen vermittelte Produkte seien, in Wahrheit aber ihren Inhalt, das Absolute, als innere Triebkraft voraussetzen, d. h. selbst göttliche Zwecke oder Angelegenheiten Gottes sind. (8)

Diese Gedanken treten uns ebenso aus den Kritierien entgegen, welche seine großen geschichtlichen Arbeiten aus dieser Zeit, die Geschichte der neueren Philosophie, die Darstellung von LEIBNIZ und BAYLE, (9) an die Denker der Vergangenheit heranbringen, als auch aus den kritischen Referaten über die Arbeiten von Zeitgenossen, welche FEUERBACH zwischen 1835 und 1839 in den Berliner und Halleschen Jahrbüchern veröffentlicht hat. Am ausgeprägtesten vielleicht in seiner Kritik des "Antihegel" von BACHMANN, und der Rezension von DORGUTHs "Kritik des Idealismus". (10)

Nicht nur in metaphysischem, sondern auch in erkenntnistheoretischem und psychologischem Sinne finden wir in diesen Schriften FEUERBACH als Vertreter von Ansichten, die er später auf das lebhafteste bekämpft hat. Er vertritt die volle Selbständigkeit und Autarkie des Geistes; den Idealismus KANT und FICHTEs, der in LEIBNIZ schon seinen Vorläufer hatte. (11) Die Idee der Leibnizschen Philosophie ist ihm keine andere, als die unendliche Wahrheit und Realität des Geistes selbst: Seele, Geist, Unendlichkeit sind in allen Dingen; die sogenannte Materie nur ein Phänomen in bewußten Wesen, nur ein Komplex verworrender Vorstellungen, der Leib nur der Zusammenhang einer Seele mit anderen Seelen. (12) Und wie in metaphysischer Beziehung nach dieser Auffassung der Geist, das geistige Wesen, den tiefsten Grund aller Realität bildet, so steht auch in erkenntnistheoretischem Sinne der Intellekt obenan. Er nennt den Satz: "Alles, was im Verstand ist, kommt durch die Einlaßpforte der Sinne; nur der Verstand selbst ist früher als eine Inhalte", das größte Wort des großen LEIBNIZ. Der Verstand ist Maß und Prinzip seiner selbst; a priori schlechtweg. Die Sinne sind beim Menschen schon ursprünglich Emanationen seines theoretischen Vermögens; sie erleuchten die Welt: aber ihr Licht ist nicht ihr eigenes, sondern kommt von der Zentralsonne des Geistes. Sie geben uns Rätsel auf; aber die Lösung, den Verstand geben sie nicht. Nur der Gedanke ist das Ding wie es ist; die sinnliche Anschauung ist das Ding nur wie es erscheint. Die Sinne geben uns Bilder; Sachen gibt uns nur der Gedanke. (13) Er verteidigt den Idealismus gegen DORGUTH, welcher ihm einen physiologischen Empirismus entgegengestellt hatte. Er polemisiert gegen jede Auffassung, die im Denken einen bloßen Hirnakt sehen will. Er stellt ihr den Satz entgegen: "Nur für ein von der Materie unterschiedenes, richtiger: sich unterscheidendes Wesen existiert eine Materie, wie die Finsternis nur für ein sehendes, aber kein blindes Wesen". Und er frägt: "Wie ist es möglich, daß der Mensch sich selbst entleiben kann, wenn das Denken eine mit dem Gehirn identische Tätigkeit ist?" (14)

Aber in einer Entwicklung, deren Einzelheiten unserem Blick schwer erkennbar sind, vollzieht sich mit dem Ende der dreißiger Jahre bei FEUERBACH die innere Abkehr von HEGEL und dem spekulativen Idealismus überhaupt, der ihm früher in einer aufsteigenden Linie, von GIORDANO BRUNO und DESCARTES über LEIBNIZ auf KANT und von diesem über FICHTE und SCHELLING auf HEGEL, zu immer machtvolleren und in sich vollendeteren Gedankenbildungen zu führen schien. FEUERBACH selbst hat aus der klaffenden Differenz zwischen seinen früheren und seinen späteren Anschauungen keinen Hehl gemacht und sich darüber im Vorwort zu seiner Gesamtausgabe unumwunden ausgesprochen. (15) In seiner lapidaren Weise sagt er dort: "Was deinen früheren Standpunkt vom jetzigen trennte, war einzig der Mangel an der Erkenntnis von der Wahrheit und Wesenhaftigkeit der Sinnlichkeit."

Mit Recht hat übrigens FEUERBACH selbst an der nämlichen Stelle hervorgehoben, daß die Ansätze und Keime zu seiner späteren philosophischen Denkweise schon in seinen früheren Arbeiten vorhanden seien; daß sich im "Leibniz", im "Bayle", der spätere Kritiker der Theologie bereits ankündige; daß im ersten Band der "Geschichte der Philosophie" zwart gegen Empiristen vielfach polemisiert, aber die Empirie doch bereits für "eine Sache der Philosophie" erklärt werde; daß auch die "Todesgedanken" den Satz: "Das Bewußtsein setzt die Natur voraus" schon enthalten, "nur auf spekulative, d. h. nebelige Weise ausgesprochen." (16)

Die Zeit, in der sich diese bedeutsame geistige Wandlung vollzog, ist bezeichnet durch tiefgreifende äußere Veränderungen. er hatte 1836 zum letzten Mal den Versuch gemacht, eine Professur an einer deutschen Universität zu erlangen - umsonst. Er hatte geheiratet und war aufs Land gezogen. Daß er das völlige Preisgeben aller äußeren Ansprüche wie eine Art Befreiung empfand, als die Möglichkeit, ungehindert von offiziellen Rücksichten der Entfaltung des eigenen Wesens sich zu weihen, ist der deutlichste Beweis, wie wenig er sich mit jenem Hegeltum einig fühlte, das in wachsender Zahl die deutschen Lehrstühle besetzte. "Ich bin nur solange Etwas, solange ich Nichts bin," ruft er aus. "Der bürgerliche Tod ist allein der Preis, um den du dir jetzt die Unsterblichkeit des Geistes erwerben kannst." Zugleich erwächst ihm ein persönliches Verhältnis zur Natur, der im System HEGELs so stiefmütterlich "als bloßes Anderssein der Idee" behandelten. "Der Philosophe", schreibt er, "wenigstens wie ich ihn erfasse, muß die Natur zu seiner Freundin haben; er muß sie nicht nur aus Büchern, sondern von Angesicht zu Angesicht kennen." "Alle abstrakten Wissenschaften verstümmeln den Menschen; die Naturwissenschaft allein ist es, die ihn in integrum restituiert, die den ganzen Menschen, alle seine Kräfte und Sinne in Anspruch nimmt." Und er rechtfertig einem Freund seinen dauernden Aufenthalt auf dem Lande, indem er erklärt, daß er sich den Sand, den ihm die Berliner Staatsphilosophie in die Augen streute, am Quell der Natur auswaschen müsse. "Logik lernte ich auf einer deutschen Universität; aber Optik, die Kunst zu sehen, lernte ich erst auf einem deutschen Dorf."

(17) Aber all das waren doch mehr zufällige oder nebensächliche Momente. Die entscheidende Wendung lag tiefer. In der Vorrede zur Gesamtausgabe seiner Schriften hat Feuerbach selbst hervorgehoben, daß zwar die sinnliche Beschäftigung mit sinnlichen Dingen und Wesen für ihn notwendig gewesen sei, um die wissenschaftliche Überzeugung von der Realität der Sinnlichkeit zu gewinnen, daß aber diese Überzeugung als bloß naturwissenschaftliche nicht hinreiche, um auch die wissenschaftliche (gemeint ist die philosophische) Überzeugung von der Realität der Sinnlichkeit zu begründen. "Denn", setzt er hinzu, "man kann auf dem Gebiet der Naturwissenschaft die Wahrheit der Sinnlichkeit anerkennen, aber sie gleichwohl auf dem Gebiet der Philosophie und Religion verleugnen; man kann sogar zugleich Materialist und Spiritualist, zugleich ein weltlicher Freigeist und geistlicher Obskurant, zugleich ein praktischer Atheist und doch in der Theorie ein vollgläubiger Theist sein". (18) Eine Beobachtung, deren durchschlagende Richtigkeit durch die ganze Geschichte der neueren Naturwissenschaft und des Verhältnisses zwischen Glauben und Wissen bestätigt wird. Und eben darum ist es eine völlige Täuschung, wenn man, wie oft geschicht, im Betrieb der Naturwissenschaft allein ein wirksames Gegengewicht gegen das Wuchern des theologischen Geistes erblicken will.

Vor solchen Halbheiten ist FEUERBACH ein für allemal dadurch geschützt worden, daß die Überzeugung von der Unhaltbarkeit der Hegelschen Philosophie und des spekulativen Idealismus überhaupt, das Gefühl für die philosophische oder erkenntnistheoretische Wichtigkeit der Sinnlichkeit oder der Natur, ihm zuerst von der Seite der Religionsphilosophie her erwachsen ist. Und gerade in Bezug auf diese Fragen lag die Auflehnung FEUERBACH von jeher im Blute. Als ein Niederschlag der Kämpfe, unter denen sich seine Befreiung vom Studium der Theologie uns sein Übergang zur Philosophie vollzogen hatte, waren die bereits erwähnten "Satirisch-theologischen Distichen" entstanden. Es klingt nicht sehr nach hegelisanisierendem Ausgleich zwischen Glauben und Wissen, wenn FEUERBACH dort frägt:
    "Wie befreit sich die Theologie vom Übel des Zwiespalts?
    Wenn sie verzweiflungsvoll endlich sich selber negiert."
Und wie als eine erste Ankündigung seines späteren rein anthropologischen Standpunktes gibt er Antwort auf die Frage:
    Was ist die christliche Zeit? Episod' im Epos der Menschheit.
    Schier der dichtende Geist drüber sein Thema vergaß" (19).
In der Schrift: "Philosophie und Christentum" (20) (1839) trennt sich FEUERBACH zuerst in einem entscheidenden Punkt von HEGEL. Dieser hatte gelehrt - und gerade dieser Gedanke begründet in den Jahren der Reaktion den Erfolg seiner Philosophie und ihren festen Bund mit der protestantischen Orthodoxie - daß positive Religion und Philosophie dem Inhalt nach Eins seien, und nur der Form nach sich unterscheiden, indem dieser Inhalt in der Religion bildlich oder sinnlich vorgestellt wird, während ihm die Philosophie diese Form der Sinnlichkeit abstreift. In dieser Bestimmung findet FEUERBACH gerade den wesentlichen Unterschied übersehen. Diese Form der Bildlichkeit läßt sich gar nicht vom Inhalt der Religion absondern, ohne sie selbst aufzuheben; sie ist der Religion wesentlich. Das Bild ist ihr  als  Bild Sache.

Schon die theologisch-satirischen Distichen hatten neun Jahre früher dem philosophischen Dogmatiker zugerufen: "Form ist Wesen; darum vertilgst du den Inhalt des Glaubens, wenn du die Vorstellung tilgst, seine geeignete Form." (21) Für FEUERBACH konstituieren Phantasie und Gemüt das Wesen der Religion; nicht abstrakte Gedanken, nicht Vernunftgesetze. Der Wunderglaube ist der eigentliche Pulsschlag der Religion. Das Wunder aber ist nichts anderes, als eine Forderung des Gemüts und der Einbildungskraft, im Widerspruch mit dem wirklichen Gesetz der Welt als äußere Tat verwirklicht. Jede Religion faßt die Gottheit oder das Absolute lediglich in Beziehung auf den Menschen, so daß dieser Begriff nichts anderes ausdrückt, als das Wesen des menschlichen Gemüts. Philosophie oder Wissenschaft und Religion verhalten sich wie Objektivität und Subjektivität. Die Religion als solche will nichts erkennen. Sie ist ihrem Wesen nach praktisch. (22) Schon als Verteidiger der Hegelschen Philosophie "gegen den ihr gemachten Vorwurf der Unchristlichkeit" hat FEUERBACH die unaustilgbare Differenz betont, die zwischen positivem Glauben und Vernunft besteht und umso entschiedener sich herausstellen müsse, je mehr das Bewußtsein der Vernunft erstarkt ist. (23) Sehr bald wird daraus die methodische Forderung (24), daß der Religionsphilosoph nicht nur an das Christentum als die sogenannte "absolute" Religion denken dürfe und darüber die Identität aller Religionen als Religion übersehe; daß er vor allem auch das Christentum selbst in seiner vollen historischen Bestimmtheit zum Gegenstand der Untersuchung mache, nicht ein verflüchtigtes, rationalistisch ausgelaugtes Christentum, sondern jenes volle und lebendige Christentum, zu dem nicht nur der Gottmensch, sondern auch die unbefleckte Empfängnis der Jungfrau Maria, Teufel, Engel und Mirakel gehören.

In diesem Punkt ist die Hegelsche Religionsphilosophie, wie FEUERBACH in der Folge deutlich erkannt hat, völlig unzureichend. Statt vom Widerspruch zwischen den Forderungen der Vernunft und den Vorstellungen des religiösen Glaubens auszugehen und diesen Widerspruch für die Erkenntnis des wahren Wesens der Religion zu verwenden, hat sie ihn auf alle Weise zu verschleiern gesucht. "HEGEL hat die supranaturalistische Tendenz des Christentums selbst auf supranaturalistische Weise aufgehoben; d. h.: er hat die Theologie durch die Philosophie und dann wieder die Philosophie durch die Theologie negiert. (25) "Seine Philosophie ist der großartige letzte Versuch, das verlorene Christentum durch die Philosophie wiederherzustellen; aber die vielgepriesene Identität zwischen Religion und Philosophie, die dabei herauskommt, ist nichts weiter, als der unselige Widerspruch der neueren Zeit, die Verschmelzung von Glaube und Unglaube, Religion und Atheismus, auf dem höchsten Gipfel." (26)

Es ist wohl nicht zu bezweifeln, daß diese veränderte, und psychologisch wie historisch so vertiefte, so viel mehr Wirklichkeitssinn verratende Auffassung der Religion durch FEUERBACHs historische Studien mitbegründet worden ist. Zwar zeigen seine Arbeiten über LEIBNIZ und BAYLE noch eine unverkennbare Befangenheit in der rationalistischen und speklativen Denkart, wie FEUERBACH später selbst offen ausgesprochen hat. (27) Es war aber unmöglich, die Harmonisierungskünste eines LEIBNIZ, den schneidenden Dualismus zwischen Glauben und Vernunft bei BAYLE, bis ins einzelnste zu studieren und darzulegen, ohne sich der Gegensätzlichkeit der Religion gegen das Denken, der Unvereinbarkeit des theologischen und des philosophischen Geistes überhaupt, aufs schärfste bewußt zu werden. Freilich meint FEUERBACH im "Leibniz" noch, dieser Zwiespalt und Widerspruch sei nur solange eine Notwendigkeit, als sich die Religion auf eine äußerliche, mirakuläse, dem Menschen fremde Offenbarung gründe; solange sie nicht als das eigene, wahre Wesen des Menschen, als identisch mit Vernunft, erkannt werde. (28) Aber schon in der Vorrede zum "Bayle" (29) heißt es, der Widerspruch zwischen Glaube und Vernunft sei der charakteristische Widerspruch der christlichen Welt, in welcher von jeher der Glaube die Vernunft, und wiederum die Vernunft den Glauben und sich selbst hintergangen habe. Und in ähnlichem Sinne spricht das Schlußkapitel aus, daß BAYLEs Aufgabe gewesen sei, aufmerksam zu machen auf Dinge, die die Menschheit bisher aus Stumpfsinn ignoriert oder aus Feigheit sich verschwiegen hatte; zu zeigen, daß das Christentum in seinem eigentlichen historischen Sinn, das lebendige Christentum, längst nicht nur aus der Vernunft, sondern aus dem Leben der Menschheit verschwunden sei. (30) Und so war FEUERBACH schon 1839 dazu gelangt, das tiefgreifende Wort auszusprechen: "Jede Vermittlung zwischen Dogmatik und Philosophie ... ist Lüge gegen die Vernunft und Lüge gegen den Glauben - ein Spiel der Willkür, in welchem der Glaube die Vernunft, und wiederum die Vernunft den Glauben um das Seinige betrügt. (31)

Von anderen Seiten her, aber mit nicht geringerem Nachdruck, spricht dann die Schrift "Zur Kritik der Hegelschen Philosophie" aus dem Jahr 1839 (32) die weitgediehene Entfremdung aus. FEUERBACH findet den Anspruch HEGELs, daß seine Philosophie "die absolute Wirklichkeit der Idee der Philosophie" sei, unerträglich, eine spekulative Superstition [Mißtrauen - wp]; er nennt das eine Inkarnationslehre auf wissenschaftlichem Gebiet, die wie alle Inkarnationslehren, entweder den Stillstand der Zeit und der weiteren Entwicklung proklamieren müsse, oder faktisch durch die fortgehende Entwicklung widerlegt werde. "Die Vernunft weiß nichts von einer wirklichen Inkarnation der Gattung in einer bestimmten Individualität. Was immer wirklich wird, - es wird nur wirklich als ein Bestimmtes." Und er zitiert mit dem wärmsten Beifall eine Äußerung GOETHEs im Briefwechsel mit SCHILLER: "Nur sämtliche Menschen leben das Menschliche". (33)

In ausführlicher Darlegung unternimmt diese Kritik der Hegelschen Philosophie zu zeigen, daß und wiefern diese Philosophie aus einer bestimmten geschichtlichen Situation erwachsen sei, darum nicht die Philosophie überhaupt, sondern auch nur eine spezielle Philosophie, der geistige Ausdruck eines bestimmten Zeitalters und seiner Weise zu denken sei. (34) Die Anhänger HEGELs nennen zwar diese Philosophie, die vom leersten, einfachsten Begriff, dem Begriff des reinen Seins, ausgeht und von da zum erfülltesten, höchsten Begriff, dem des absoluten Geistes, aufsteigt, unbedingt voraussetzungslos. Aber sieht man näher zu, so erkennt man, daß der Anfang mit dem Begriff des reinen Seins, wie ihn HEGEL in der "Logik" macht, nicht ein absolut notwendiger Anfang ist, sondern ein durch den Standpunkt der Philosophie vor HEGEL bestimmter Anfang (35); überdies ein Anfang nur für die Darstellung, aber keineswegs der Anfang in der Sache und im Denken. Der wahre Ausgangspunkt, die unmittelbare Voraussetzung dieser Philosophie, die nur durch den Gang der Methode an den Schluß des Ganzen geschoben wird, ist eben die panlogistische Auffassung der Welt als der Selbstverwirklichung des absoluten Geistes - eine Auffassung, deren Wahrheit für HEGEL kraft seiner Vorgänger außer Zweifel steht. (36) Eben darum hat auch der ganze sogenannte Beweis für den absoluten Geist, ungeachtet seiner wissenschaftlichen Strenge im Verlauf, dem Prinzip nach bei HEGEL doch nur eine formelle Bedeutung. Denn es ist so, wie FEUERBACH selbst noch als Anhänger HEGELs treffend gesagt hat (37), daß das Sein im Hegelschen System nur das subjektiv, das scheinbar Erste ist, die absolute Idee dagegen das wahrhaft Erste ... "Sein und Wesen sind Rätsel, die erst in der absoluten Idee ihre Lösung und wahrhafte Bedeutung finden; sind nur die Beweise, daß nicht sie, sondern die Idee das absolut Erste ist, welches sie als das allein Voraussetzungslos voraussetzen." Aus diesem Grund nennt FEUERBACH später (38) mit Recht die Hegelsche Philosophie "rationelle Mystik", einzig in ihrer Art: zugleich anziehend, zugleich aber auch abstoßend, ebensowohl für mystisch-spekulative Gemüter, welchen die Verbindung des Mystischen mit dem Rationellen ein unerträglicher Widerspruch ist, weil der Begriff den mystischen Reiz der dunklen Vorstellung zerstört, als für rationelle Köpfe, denen die Verbindung des rationellen Elements mit dem mystischen zuwider ist. Und gerade von diesem Punkt aus, vom Verständnis dessen, was es mit dem Absoluten der Hegelschen Philosophie eigentlich für eine Bewandtnis habe, erwächst für FEUERBACH der definitive Standpunkt dieser Philosophie gegenüber und die Begründung seiner eigenen, die spekulative Philosophie revolutionierenden Weltanschauung. Dieses sein neues Prinzip spricht er in allgemeiner Form erst aus, nachdem er sich in der Schrift "Das Wesen des Christentums" (39) aus dem Jahr 1841 von seiner Fruchtbarkeit überzeugt und gesehen hat, welches Licht es in die Rätsel und Widersprüche der Theologie zu bringen vermöge. Unmittelbar auf das "Wesen des Christentums" aber folgten die "Vorläufigen Thesen zur Reform der Philosophie" (1842), dann die "Grundsätze der Philosophie der Zukunft" (1843) (40), welche die im "Wesen des Christentums" in concreto entwickelten Prinzipien "einer neuen, nicht schul-, aber menschgerechten Philosophie" (41) in der denkbar schärfsten epigrammatisch zugespitzten Form zum Ausdruck bringen. Was das "Wesen des Christentums" in spezieller Anwendung auf das Problem der Religionsphilosophie mehr in indirekter Weise erkennbar macht, die vollständige Umkehrung der Methode, mit welcher HEGEL und seine Schule dieses Problem behandelt hatte, das sprechen die "Thesen" und die "Grundsätze" allgemein und in Sätzen aus, welche den Lebensnerv der spekulativen Philosophie überhaupt treffen.

Entscheidend ist vor allem die Erkenntnis, in unzähligen Varianten ausgesprochen, daß der "absolute Geist" HEGELs der "abgeschiedene Geist" der Theologie ist, welcher in der Hegelschen Philosophie noch als Gespenst umgeht; daß die Hegelsche Philosophie der letzte Zufluchtsort, die letzte rationelle Stütze der Theologie ist, und daß derjenige, der die Hegelsche Philosophie nicht aufgibt, nicht die Theologie aufgibt. Denn diese Philosophie ist nur eine scheinbare Negation der Theologie; in Wahrheit aber selbst wieder Theologie (42); sie ist die zur Logik gemachte Theologie. Wenn HEGEL lehrt, daß die Natur, d. h. die Realität, von der Idee gesetzt sei, so ist dies nur ein rationalisierter, spekulativer Ausdruck für die alte theologische Lehre, daß die Natur von Gott, das materielle Wesen von einem immateriellen, d. h. abstrakten Wesen, geschaffen sei. Die absolute Idee selbst aber, das Göttliche im System HEGELs, ist nichts anderes als der endliche subjektive Geist, abstrakt gedacht, ohne Subjekt, ohne seine endlichen Bestimmungen, als Geist schlechtweg, und als ein Wesen, als das absolute Wesen hingestellt. Dies ist gerade, wenn man die Hegelsche Philosophie ernst nimmt, einleuchtend. Der absolute Geist offenbart sich nach HEGEL in der Kunst, der Religion, der Philosopie. Das heißt aber doch nichts anderes als: Der Geist der Kunst, der Religion, der Philosophie ist der absolute Geist; ist das Höchste, was wir vom Geist wissen. Aber kann man denn Kunst und Religion von der menschlichen Empfindung, Phantasie und Anschauung, kann man die Philosophie vom menschlichen Denken, kann man überhaupt den absoluten Geist vom subjektiven Geist oder vom Wesen des Menschen absondern? Führt jeder Versuch dieser Art nicht notwendig zurück auf den alten Standpunkt der Theologie, die uns den absoluten Geist als einen anderen, vom menschlichen Wesen unterschiedenen Geist, d. h. als ein außer uns existierendes Gespenst von uns selbst vorspiegelt? (43)

Hat man das eingesehen, so ergibt sich die Wahrheit und das fruchtbare Prinzip einer neuen Philosophie aus der einfachen Umkehrung der spekulativen Aufstellungen. Der Anfang der Philosophie ist nicht Gott, nicht das Absolute, nicht das Unendliche; sondern der Anfang der Philosophie ist das Endliche, das Wirkliche, das Gegenständliche, welches der spekulativen Philosophie vom Absoluten aus als das Unwirkliche, Nichtige erscheint. Die spekulative Philosophie legt dem absoluten Geist das Sein als Prädikat bei. Das wahre Verhältnis ist umgekehrt: das Sein ist Subjekt; das Denken Prädikat. Das Denken entsprnigt aus dem Sein; aber das Sein nicht aus dem Denken. (44) Dies wird in der spekulativen Philosophie künstlich verdeckt. Das Sein, welches vom Absoluten ausgesagt wird, ist nämlich das Sein im allgemeinen, der Gattungsbegriff der Existenz, und insofern freilich etwas Abstraktes, Geistiges; aber in Wahrheit ist es doch nichts anderes, als die sinnliche Existenz, nur gedacht im allgemeinen. Aber auf diesem Weg geht das Sein überhaupt verloren. Denn das Sein nach Abzug aller wesentlichen Qualitäten der Dinge ist nur noch die Vorstellung vom Sein; ein Sein ohne das Wesen des Seins. Wir haben ja kein anderes Merkmal, um uns einer vom Denken unabhängigen Existenz zu versichern, als die Sinnlichkeit. Gewiß, die Philosophie soll vom Sein ausgehen. Aber nicht vom Begriff des Seins, sondern vom wirklichen, erfahr- und erlebbarem Sein; nicht vom abstrakten Sein, sondern vom konkret Seienden, welches nicht gedacht werden kann ohne Qualitäten, ohne räumliche und zeitliche Bestimmungen. Man kann  die  Qualität nicht denken ohne an bestimmte Qualitäten zu denken. Die bestimmte Qualität aber ist die wirkliche; sie geht der gedachten voraus. Dasselbe gilt von Raum und Zeit. Nur die Existenz in Raum und Zeit ist wirkliche Existenz. (45) Und so kann überhaupt das Unendliche nicht gedacht werden ohne das Endliche. Sieht man genauer zu, so erkennt man die unbedingte Abhängigkeit des Unendlichen in Religion und Philosophie, soweit dieser Begriff irgendeinen positiven Inhalt hat. Das Unendliche ist und war nie etwas Anderes als irgendein Endliches, ein Bestimmtes; aber mystifiziert, d. h. mit dem Postulat versehen, nichts endliches, nichts Bestimmtes zu sein.

Darum ist der Gang der spekulativen Philosophie vom Abstrakten zum Konkreten, vom Idealen zum Realen, durchaus verkehrt. Dieser Übergang hat seinen Platz nur in der praktischen Philosophie. In der praktischen Philosophie, als handelnder Mensch, da gilt es Idealist zu sein, d. h. die Schranken der Gegenwart und Vergangenheit nicht zu Schranken der Zukunft zu machen, vielmehr unerschütterlich an dem Glauben festzuhalten, daß gar manches, was den kurzsichtigen, kleinmütigen Praktikern heute für Phantasie, für eine nie realisierbare Idee, ja für eine bloße Chimäre gilt, schon morgen in voller Realität dastehen wird. Die "Idee" im wahren philosophischen Sinne ist nichts anderes als der Glaube an die geschichtliche Zukunft, hat nur politische und moralische Bedeutung. Auf dem theoretischen Gebiet aber findet das Umgekehrte statt. (46) Da gelangt man auf diese Weise nie zur wahren objektiven Realität, sondern immer nur zur Realisation seiner eigenen Abstraktionen, zu einer Philosophie, welche spekuliert über Existenz ohne Zeit, über das Dasein ohne Dauer, über die Qualität ohne Empfindung, über das Wesen ohne Wesen, über das Leben ohne Leben - kurz zu einer Philosophie ohne Fleisch und Blut. Nur die Philosophie kann sich zu einer universalen, unwiderleglichen Macht erheben, welche nicht mit sich, sondern mit ihrer Antithese beginnt: mit dem, was im Menschen dem abstrakten Denken opponiert, was bei HEGEL nur zur Anmerkung herabgesetzt ist. Dies ist die Anschauung. Die Anschauung gibt das mit der Existenz unmittelbar identische Wesen; das Denken, das durch Unterscheidung, durch Abstraktion vermittelte. Und nur da, wo sich mit dem Wesen die Existenz, mit dem Denken die Anschauung, mit der Aktivität die Passivität, mit dem Scholastizismus der Metaphysik der Sensualismus und Materialismus vereinigen und ausgleichen - nur da ist Leben und Wahrheit. (47)

Und so spricht FEUERBACH schon 1842 mit voller Bestimmtheit das Programm des Besten aus, was seit dem Zusammenbruch der großen Systeme auf philosophischem Gebiet worden ist: "Die Philosophie muß sich wieder mit der Naturwissenschaft, die Naturwissenschaft mit der Philosophie verbinden. Diese auf gegenseitiges Bedürfnis, auf innere Notwendigkeit gegründete Verbindung wird dauerhafter, glücklicher, fruchtbarer sein als die bisherige Méssalliance [Mischehe - wp] zwischen der Philosophie und Theologie". (48) Daß dieser Begriff der "Naturwissenschaft" von FEUERBACH im weitesten Sinne gemeint ist, daß er insbesondere Anthropologie und Psychologie mitumfaßt, zeigt der Gang von FEUERBACHs eigener wissenschaftlicher Arbeit, zeigt der Aufbau seiner systematischen Gedanken auf das deutlichste. Er selbst sagt: "Die Philosophie ist die Wissenschaft der Wirklichkeit in ihrer Wahrheit und Totalität; aber der Inbegriff der Wirklichkeit ist die Natur im universellsten Sinne des Wortes ... Die Natur hat nicht nur die gemeine Werkstatt des Magens, sie hat auch den Tempel des Gehirns gebaut; sie hat uns nicht nur eine Zunge gegeben mit Papillen, die den Darmzotten entsprechen, sondern auch Ohren, die nur die Harmonie der Töne, und Augen, die nur das himmlische, selbstlose Wesen des Lichts entzückt." (49) Und in den nachgelassenen Aphorismen (50) heißt es: "Auch die Naturwissenschaft hat den Menschen über der Natur vergessen, oder doch zu sehr gegen sie zurückgesetzt. Auch der Naturwissenschaft ist daher eine Kur oder eine Ergänzung nötig." Ein Denker von solchen Anschauungen durfte mit Recht gegen das Urteil protestieren, das seinen "Atheismus" mit dem zu Beginn der fünfziger Jahre aufkommenden Neu-Materialismus ohne weiteres zusammenwarf. Er wußte sich als den Reicheren, als eine notwendige Ergänzung mit ihm; freilich in vielen Negationen einig mit jenen Vertretern der Naturwissenschaft. Der Unterschied sei, meint FEUERBACH, gleichbedeutend mit dem Unterschied zwischen Zeit und Raum, oder zwischen Menschheitsgeschichte und Naturgeschichte. "Die Anatomie, die Chemie, die Physiologie, die Medizin, weiß nichts von der Seele, nichts von Gott. Wir wissen davon nur aus der Geschichte. Der Mensch ist mir wie ihnen ein Naturwesen, entsprungen aus der Natur; aber mein Hauptgegenstand sind die aus dem Menschen entsprungenen Gedanken und Phantasiewesen, die in der Meinung und Überlieferung der Menschen für wirkliche Wesen gelten." (51) Auf das klarste hat FEUERBACH in diesen Sätzen die historische Eigenart seines Philosophierens ausgesprochen, das die theologisch-metaphysischen Begriffsdichtungen der Vergangenheit nicht einfach negiert oder zerstört, sondern in ihrer Abhängigkeit vom Wesen des Menschen erklärt und dadurch die scheinbare Negation zur Quelle einer Reihe positiver Einsichten macht. FEUERBACH hat sich selbst einmal (52) "einen geistigen Naturforscher" genannt, in einem Doppelsinn, welcher zunächst ausdrückt, daß ihm die historisch erwachsenen Gedankenbildungen Der Menschheit auf dem Gebiet der Theologie und Metaphysik Forschungsobjekte seien, wie dem Naturforscher die Gebilde der anorganischen und organischen Welt. Aber dieses Wort enthält zugleich seine Grundforderung an die Philosophie überhaupt: nicht aus sich selbst heraus zu denken, nicht aus Prämissen zu folgern, die selbst wieder Gedanken sind, sondern gegenständliche, entweder lebendige oder historische Tatsachen; nicht den Gegenstand aus dem Gedanken, sondern umgekehrt den Gedanken aus dem Gegenstand zu erzeugen.
LITERATUR Friedrich Jodl - Ludwig Feuerbach, Frommanns Klassiker, Bd. 17, Stuttgart 1904
    Anmerkungen
    1) Grundsätze der Philosophie der Zukunft, § 19 - 22. II. Bd.
    2) VII, 265 - 266
    3) Zur Kritik der Hegelschen Philosophie II. Bd.
    4) Fragmente zum philosophischen Entwicklungsgang, II. Bd. Zur neueren Philosophie IV. Bd.
    5) Nachgelassene Aphorismen; (X. Bd.)
    6) In deutscher Übersetzung im IV. Bd.
    7) Todesgedanken; I, 72 - 75.
    8) Kritik des Anti-Hegel. II. Bd.
    9) Siehe III., IV., V. Bd.
    10) im II. Bd.
    11) Darstellung der Leibnizschen Philosophie, § 18 (IV. Bd.)
    12) Ebenda § 20
    13) Ebenda, § 18; Kritik des Idealismus II. Bd.
    14) Kritik des Idealismus, II, 145, 147.
    15) Im II. Bd.
    16) Über meine Gedanken über Tod und Unsterblickeit; I, 204; Vgl. Vorlesung über die Religion. Nr. 1; VIII. Bd.
    17) Fragmente etc. II. Bd.
    18) Im II. Bd.
    19) Satirisch-theologische Distichen; I. 368, 371.
    20) Philosophie und Christentum; VII, 41f
    21) I. 371
    22) Überden Wunderglauben, VII, 1f; Zur Charakterisierung der Schrift: Philosophie und Christentum VII, 104f
    23) Philosophie und Christentum VII, 75
    24) VII, 107f
    25) Zur Beurteilung der Schrift: "Wesen des Christentums", VII, 272.
    26) Grundsätze der Philosophie der Zukunft, § 21 (II. Bd.)
    27) Siehe Anmerkung 3 und FEUERBACHs Vorwort zur ersten Gesamtausgabe II. Bd.
    28) Leibniz § 20 (IV. Bd.)
    29) Pierre Bayle (V. Bd.)
    30) Wesen des Christentum (Vorwort zur 2. Auflage) VII, 293 - 294
    31) Philosophie und Christentum VII, 72
    32) Kritik Hegels; II. Bd.
    33) II. Bd.
    34) Ebenda
    35) Ebenda
    36) Ebenda
    37) Kritik des "Anti-Hegel", II. Bd.
    38) Kritik Hegels; II. Bd.
    39) VI. Bd.
    40) Beide Schriften im II. Bd.
    41) Vorwort zur 2. Auflage des Wesens des Christentums; VII 293
    42) Vorläufige Thesen zur Reform der Philosophie, passim; Grundsätze, § 4 - 6, 19 - 21.
    43) Vorl. Thesen, passim; Grundsätze, § 23
    44) Vorl. Thesen; vgl. Vorlesg. über die Religion, Nr. 13 (VIII. Bd.)
    45) Grunds., § 51; Vorl. Thesen, passim.
    46) Vorwort zur 2. Auflage von Wesen des Christentums; VII, 281
    47) Vorl. Thesen, passim.
    48) Vorl. Thesen, a. E.
    49) Kritik der Hegelschen Philosophie, a. E.; II. Bd.
    50) Nachgel. Aphorismen, X. Bd.
    51) Briefwechsel, hrsg. von BOLIN, Nr. 325
    52) Vorwort zur 2. Auflage von Wesen des Christentums (VII, 282)