cr-2Zen oder EntwederSchweigen und Sprechen im Zen
 
TOSHIHIKO IZUTSU
Der Zweifel am Denken

Der wahre Mensch ohne Rang
Zen-Unsinn
Ausschaltung des Denkens
Falls du noch über die Wirklichkeit sprechen mußt, sieh, wie sie sich völlig enthüllt in allem und in jedem Geschehnis offenbar ist!

Das Problem der Artikulation war - wenigstens implizit, auch wenn es nie explizit als- solches formuliert wurde - immer von zentraler Wichtigkeit für den Zen-Buddhismus. Dieses Problem wurde immer wieder aufgeworfen und in den verschiedensten Formen von den unterschiedlichsten Gesichtspunkten aus besprochen. Ich möchte hier zuerst zwei typische Fälle aufgreifen, in denen die Artikulation Brennpunkt der Diskussion ist, und dann übergehen zu dem wichtigsten Problem, das sich in bezug auf die Artikulation stellt, nämlich dem Problem der absoluten Freiheit der Artikulation im Zen.

Der erste Fall beschäftigt sich mit dem Problem der Benennung. Benennen ist nichts anderes als Artikulieren. Ein Name ist das Ergebnis der Artikulation eines gewissen Anteils der Wirklichkeit durch den Menschen. Eine seiner wichtigsten Funktionen ist es, die Wirklichkeit in eine gewisse Anzahl von Einheiten zu artikulieren und sie in genauso viele diskrete Wesen zu kristallisieren, die dann untereinander ein kompliziertes Netz von nah oder fern verbundenen Dingen, Qualitäten, Handlungen und Beziehungen bilden.

Da die Sprache semantisch von solcher Art ist, lautet das Kernproblem des Zen: Wie kann Sprache mit ihrer benennenden (das heißt artikulierenden) Funktion die besondere Situation, die wir früher beobachteten, zwischen dem Nicht-Artikulierten und dem Artikulierten meistern? Wenn wir dieses Problem angehen, müssen wir uns vor Augen halten, daß vom Zen-Standpunkt aus weder das Nicht-Artikulierte allein (sei es das Absolute, das Eine, das Ganze oder das Noumenale genannt) noch das Artikulierte allein (sei es das Relative, die phänomenalen Dinge oder das Viele) die letzte Wirklichkeit, das heißt die Wirklichkeit in ihrem Sosein darstellt. Die Wirklichkeit in ihrem Sosein ist viel eher das Nicht-Artikulierte, das in Myriaden von Dingen der phänomenalen Seinsordnung artikuliert ist und jedes der artikulierten Dinge als Verkörperung des Nicht-Artikulierten.

Das Nicht-Artikulierte und das Artikulierte müssen als zwei Aspekte der endgültigen Wirklichkeit angesehen werden, wobei jeder der beiden Aspekte jeweils - außer in der Abstraktion - hinter dem anderen steht, von welcher Seite auch immer man die Wirklichkeit angehen mag. Die Frage lautet nun: Kann die Sprache diese beiden Aspekte des Soseins der Wirklichkeit mit Worten fassen? Die Antwort muß natürlich "Nein" sein. Denn wir haben eben gesehen, daß die Funktion der Worte die des Artikulierens ist, niemals die des "Nicht-Artikulierens". Diese immanente Schwierigkeit der Sprache, die beiden Aspekte -Artikulation und Nicht-Artikulation - gleichzeitig darzustellen, ist Gegenstand des folgenden berühmten  Koans:
Ein Mönch fragte einst Meister FÜKETSU: - "Das Sprechen verdirbt die Transzendenz (der Wirklichkeit), während das Schweigen die Manifestation verdirbt. Wie könnte man das Sprechen mit dem Schweigen vereinen, ohne die Wirklichkeit zu verderben?"

Der Meister antwortete: "Ich erinnere mich immer an die Frühlingslandschaft, die ich einst in Konan sah. Die Rebhühner riefen inmitten duftender Blumen in voller Blüte."
Das von dem Mönch aufgeworfene Problem ist implizit ein philosophisches. indem er diese Frage stellt, befindet er sich im Bereich der Überlegung. Es ist klar, daß er wenigstens theoretisch die eigenartige Beziehung zwischen dem Artikulierten und dem Nicht-Artikulierten, auf die wir gerade verwiesen haben, kennt. Der Kern seines Arguments kann folgendermaßen zusammengefaßt werden: ob wir sprechen oder schweigen, wir können so die endgültige Wirklichkeit niemals bezeichnen. Wenn wir versuchen, die Wirklichkeit mit Worten darzustellen, dann wird diese notwendigerweise sofort artikuliert, und folglich werden nur die Phänomene sichtbar sein und des Urgrundes (dt. im Original) verlustig gehen; schweigen wir, so kann dadurch das Nicht-Artikulierte symbolisch dargestellt werden, der Aspekt der Artikulation wird weiterhin im dunkeln verbleiben.

Enthalten wir uns aber der Sprache, so geraten wir in eine andere Falle. Natürlich könnten wir unser Schweigen als Symbol des Nicht-Artikulierten gebrauchen; dadurch gerät der artikulierte Aspekt des Nicht-Artikulierten völlig aus dem Blickfeld. Mit anderen Worten: Das Nicht-Artikulierte würde als reines "Nichts" im "negativen" Sinne des Wortes dastehen, was gerade das Gegenteil wäre von dem, was Zen behauptet. Denn für Zen kann das, was wir  vorübergehend als das "Nicht-Artikulierte" artikuliert haben, niemals getrennt von der unendlichen Vielfalt der Formen seiner Artikulation bestehen. Von seiten der menschlichen Erkenntnis aus betrachtet, könnten wir dies angemessen als phänomenale Welt beschreiben, die ständig und ununterbrochen aus dem Nichts emporsteigt und sofort wieder in die metaphysische Tiefe des Nichts versinkt; und indem sich so jedes Phänomen für einen Augenblick manifestiert, enthüllt sich das Nicht-Artikulierte für den Bruchteil einer Sekunde. Das Nicht-Artikulierte kann nur in solchem metaphysischen Aufleuchten gefunden werden.

So, schließt der Mönch, könne weder das Sprechen noch das Schweigen der Wirklichkeit in ihrer ursprünglichen Ganzheit völlig gerecht werden. Was soll man dann tun?

Interessanterweise antwortet Meister FÜKETSU auf diese intellektuelle Frage mit der Darstellung der artikulierten und nicht-artikulierten Wirklichkeit, indem er eine spezielle Funktion der menschlichen Sprache benutzt: Er gebraucht die Sprache dichterisch.

Natürlich ist Lyrik eine linguistische Kunst, und als solche benutzt sie Sprache und muß sie Sprache benutzen. Und da sie Sprache benutzt, artikuliert sie auch. Die artikulierende Funktion der dichtenden Sprache ist jedoch völlig verschieden - wenigstens in den Händen eines wahren Dichters -von der artikulierenden Funktion der Prosa. Im undichterischen Gebrauch der Sprache bedeutet die Artikulation Bestimmung, Diskriminierung oder Begrenzung; sie deutet immer ganz besonders auf X. Jedes Wort ist eine geschlossene semantische Einheit. Daher ist das X, das durch das Wort bezeichnet wird, notwendigerweise ein geschlossenes Wesen.

Das Wort "Blume" scheidet zum Beispiel einen Teil der Wirklichkeit aus, unterscheidet es von dem Rest und kristallisiert es in ein unabhängiges Wesen. Die so artikulierte Blume unterscheidet sich scharf von dem Stengel, dem Blatt oder der Wurzel. Sie ist nicht Erde; sie ist nicht Sonne; sie ist nicht Luft. Und noch viel weniger ist sie mit den Rebhühnern inmitten der duftenden Blumen identisch. Was, semantisch gesehen, die Worte im undichterischen Gebrauch der Sprache charakterisiert, ist ihre Geschlossenheit. Die Blume schließt sich fest um das Blume-Sein. Dagegen sind die Worte in der Lyrik in ihrem Wesentlichen offen oder durchsichtig, wie wir sagen könnten. Dort ist die Blume, der Stengel, das Blatt, die Wurzel. Sie ist die Sonne, die Erde, der Frühlingswind, die Vögel. Es liegt der poetischen Sprache nicht hauptsächlich daran zu diskriminieren. Ihre hauptsächliche Funktion besteht eher in der Verschmelzung der einzelnen Dinge ineinander. In der Dichtkunst öffnet sich die Blume allen anderen Dingen der Weit. Eine einzelne Blume enthält das ganze Universum.

Auf den vorangehenden Seiten wurde mehrmals das "Koan" erwähnt, ohne daß eine systematische Erklärung des Wortes gegeben wurde. Da die Zen-Wirklichkeit nicht verstanden werden kann ohne ein genaues Verständnis des  Koans und seiner Anwendungsweise, werde ich in dieser Abhandlung versuchen, die wesentliche Struktur des  Koans und seine Verwendung im Zen-Kontext zu erläutern. Das Problem soll unter besonderer Berücksichtigung der Beziehung zwischen Verstehen und Meditieren, wie sie traditionsgemäß von Zen verstanden werden, behandelt werden. Das Wort "Verstehen" wird hier im Sinne eines Aktes der Erkenntnis oder diskriminierenden Funktion des diskursiven Intellekts benutzt. Dies vorangesetzt, scheint das Problem, so wie es gestellt wird, auch schon die einzig richtige Antwort zu ermöglichen. Denn all diejenigen, die auch nur die geringste Kenntnis des Zen, sei sie theoretischer oder praktischer Natur, haben, werden sofort der Tatsache zustimmen, daß die beiden Begriffe Meditation und Verständnis völlig unvereinbar sind.

Denn Zen verabscheut jegliche Art von Intellektualismus, Verbalismus und Begrifflichkeit, wobei die zufälligen Gedanken noch nicht berücksichtigt wurden, die dauernd im Geist auftauchen, ihn durchqueren und dabei seine Ungetrübtheit stören. Damit soll nicht etwa behauptet werden, daß die "Meister", das heißt diejenigen, die die Erleuchtung erreicht haben, sich dauernd in einem Zustand der geistigen Leere und Stille befänden. Ganz im Gegenteil; sie verfügen über ihr ganzes Denkvermögen, dessen sie sich frei und spontan bedienen. Denn in einem gewissen Sinne denken auch sie.

Dabei muß jedoch festgehalten werden, daß sich ihr Denken völlig anders entfaltet und auf einer anderen Bewußtseinsebene befindet als das, was uns unter gewöhnlichen Umständen geläufig wäre. Wir werden diesen Aspekt später erläutern. Den "Schülern", das heißt denjenigen, die die Erleuchtung noch nicht erreicht haben, wird von ihrem Meister das Denken streng verboten. Es wird ihnen erklärt, daß sich jemand, je ernster er denke, um so weiter von der Erfahrung eines endgültigen "Durchbruchs" entferne. Der erste Schritt in der Ausübung der Zen-Meditation besteht darin, daß der Schüler aus seinem Geist alle gewöhnlichen Denkmuster, die darin tief verwurzelt sind, entfernt.

Das  cogito des DESCARTES, das in dem eigenen Feld völlig wirksam und gültig sein mag, ist, für den Zen-Standpunkt, weit davon entfernt, uns unmittelbar zum Bewußtsein der menschlichen Existenz zu führen; ganz im Gegenteil, das  cogito wird als Quelle aller Existenzillusionen angesehen; das  cogito ist gleichbedeutend mit Ablenkung vom unmittelbaren Erfassen der wirklichen Wirklichkeit.

Zen birgt in sich ein tiefes Mißtrauen gegen Einsicht und Denken im allgemeinen. Zen betrachtet die Philosophie mit skeptischem Auge, denn sie ist ein typisches Beispiel der diskriminierenden Funktion des Intellekts. Diese negative Haltung des Zen gegenüber dem Verstehen kann leicht durch die Tatsache erklärt werden, daß im Zen hauptsächlich und ausschließlich die direkte Erfahrung der Wirklichkeit in ihrer Undifferenziertheit von Bedeutung ist; diese Undifferenziertheit wird in der Zen-Terminologie oft als "ursprüngliches Gesicht, das du vor der Geburt deiner Eltern hattest", wiedergegeben. Die "Reinheit" des "ursprünglichen Gesichtes" wird durch die diskriminierende Aktivität des diskursiven Denkens befleckt. Das mag die Abscheu gegen jegliche Art des abstrakten und theoretischen Denkens erklären.

Das Mißtrauen des Zen gegen das abstrakte Denken, besonders gegen die Philosophie, hat auch einen geschichtlichen Hintergrund. Zen entstand in China als kräftige Reaktion gegen die Vielfalt der Systeme des Mahayana-Buddhismus, die sich in China und Indien entwickelt hatten und in denen sich die buddhistischen Denker oft äußerst schwierigen und haarspalterischen abstrakten Streitfragen hingaben. indem es diese Streitfragen als nutzlose Verwirrungen des diskursiven Intellekts erklärte, begann Zen, die hochtrabenden philosophischen Systeme zu zerstören, und versuchte dabei, den Buddhismus auf seine einfachste und ursprünglichste Form zurückzuführen, das heißt auf das zu beschränken, was für Zen die grundlegende persönliche Erfahrung des geschichtlichen BUDDHA selbst war. Diese Einstellung hat sich durch die geschichtliche Entwicklung hindurch erhalten, und der Anti-Intellektualismus war und ist der Kern der Zen-Lehre in China und Japan.

Der Zen-Mensch geht daran, alle geschichtlichen Formen des Buddhismus auf die Erleuchtungserfahrung des BUDDHA zu reduzieren, sie in ihrer ursprünglichen Form wieder-zu-erleben und die Tiefen des geistigen Lebens auszuloten, das im Bereich der Psyche jenseits der Grenzen des Intellekts liegt. Daher erscheint es mehr als gerechtfertigt, daß der Zen-Mensch in der Praxis und im Prinzip den Gebrauch des Intellekts zum Verständnis der Kernlehre des Zen ablehnen sollte. Im "Lotos-Sutra" lesen wir: "Dies Dharma kann weder durch Denken noch Begreifen erfaßt werden."

Für einen Zen-Menschen ist eine solche Aussage noch reine Untertreibung. Denn jegliche verstandesbetonte Auffassung muß methodisch und systematisch schlechterdings beseitigt werden. Denn solange der Intellekt auch nur minimal aktiviert wird, kann man nicht hoffen, die ursprüngliche Erleuchtungserfahrung des Buddha wieder-zu-erfahren. Dies könnte nicht anders sein, aus dem einfachen Grund, weil Zen die ursprüngliche Erfahrung des BUDDHA einfach als Erwachen zu einer Dimension des Über-Bewußtseins oder einer ontologischen Bewußtheit des Seins in seinem reinen So-sein sieht, vor der Artikulation in Myriaden von Dingen und Geschehnissen durch die diskriminierende Tätigkeit des Intellekts.

Seit dem Entstehen des Zen in China haben alle Meister ohne Ausnahme ihre Schüler aufgefordert, das Denken sofort beiseite zu lassen. Absolut kein Denken! Versuche nicht etwas zu verstehen, da es eigentlich nichts gibt, das verstanden werden könnte. Was sollte der Schüler anstatt des Denkens tun, um die Erleuchtung zu erreichen? Er muß seine ganze innere Konzentrationsfähigkeit sammeln, um die immer wieder aufwallenden Gedanken niederzudrücken und um endgültig alle Bilder, Ideen und Begriffe aus seinem Bewußtsein zu verbannen. Erst dann wird er fähig sein - wird ihm gesagt -, dem öffnen eines völlig neuen Bereichs seiner Psyche, der sich in den tiefsten Tiefen seines Geistes befindet, beizuwohnen.

BODHIDHARMA, der schon legendäre erste Patriarch des Zen in China, soll einmal seinem Nachfolger E KA auf die Frage, wie man in den Bereich der absoluten Wirklichkeit (Tao) eindringen könnte, geantwortet haben:
Keine Unruhe mehr in der Außenwelt,
Keine Bilder mehr innen im Geist,
Erst wenn dein Geist wie eine senkrechte Wand ist,
Kannst du in den Bereich der Wirklichkeit treten.
Es ist bemerkenswert, daß sich hinter dem Anti-Intellektualismus des Zen ganz, eindeutig eine Philosophie abzeichnet, obwohl die Zen-Anhänger selbst niemals geneigt wären, dies als "Philosophie" anzuerkennen. Es ist auf jeden Fall eine sowohl metaphysische als auch psychologische Grundidee, die, obwohl sie keine "Philosophie" im gewöhnlichen Sinne ist, zur großen Metaphysik oder Tiefenpsychologie entwickelt werden könnte. Diese Grundidee oder -vision, die, wie wir sehen werden, die ganze Struktur der Zen-Gedanken und -Praxis untermauert, wurde zuerst durch den ersten Patriarchen, Bodhidharma, formuliert, dessen zitierte Verse die erste Bekanntmachung der Zen-Schule in China sein sollen. Der zweite Teil dieser Strophe lautet:
Unmittelbar auf den eigenen Geist zeigend.
Erlangen der Buddhaschaft durch das Sehen in die eigene Selbst-Natur.
Diese beiden Zeilen weisen darauf hin, daß in der existentiellen Tiefe eines jeden Menschen ein Noumenon versteckt liegt, das wir als Selbst-Natur -oder Buddha-Natur - kennen und dessen plötzliche Verwirklichung nichts anderes ist als das Erlangen der Buddhaschaft, das heißt  satori oder Erleuchtung im buddhistischen Sinne. Die Selbst-Natur ist das Noumenon als Urgrund aller Phänomene. Es ist die metaphysische Tiefe des Seins, die Einheit aller Dinge, wobei das Wort "Einheit" hier nicht mit der Bedeutung der "Vereinigung" vieler Dinge an einem Ort gebraucht wird, sondern im Sinne der ursprünglichen Undifferenziertheit verstanden wird. Und diese ursprüngliche Undifferenziertheit ist der metaphysische Grund aller Dinge vor der Zweiteilung in Ich-Wesen und objektive Welt - es ist "dein ursprüngliches Gesicht, bevor deine Eltern geboren wurden".

In diesem Falle können wir nur metaphysisch von der Selbst-Natur sprechen, die in den existentiellen Tiefen eines jeden versteckt liegt, Die Selbst-Natur kann sich nicht auf ein einzelnes Sein begrenzen; sie durchdringt und durchläuft die ganze Welt des Seins; sie ist über-individuell. Auffallend ist dabei, daß dieses Noumenon nur in konkreten einzelnen Dingen existieren (oder ex-istieren) und daß es nur im konkreten Bewußtsein eines Individuums verwirklicht werden kann. jeder einzelne Mensch hat in diesem Sinne eine doppelte Persönlichkeit: Er ist zugleich Individuum und Über-Individuum. Damit soll gesagt werden, daß er als individueller Punkt lebt, auf den sich alle universellen Existenzenergien konzentrieren, die seine engen persönlichen Grenzen überschreiten.

Der Mensch ist sich gewöhnlich dieser Tatsache nicht bewußt; das heißt, er hat kein Bewußtsein von diesem hier und jetzt über-individuellen Noumenon in seinem Körper. Das Denken hindert ihn daran. Selbst die geringste Aktivierung des diskursiven Denkens verhindert das unmittelbare Erfassen der ursprünglichen Undifferenziertheit, denn sowie es einsetzt, wird das ursprünglich Undifferenzierte auch schon differenziert: Das Noumenon verwandelt sich in ein Phänomen; das "Ich", das empirische Ich, wird sich seiner selbst als Gegenüberstellung zur Außenwelt bewußt, und der sich daraus ergebende Dualisnius des "ich selbst" und des "nicht ich selbst" schleicht sich ein und verunreinigt die ursprüngliche Undifferenziertheit.

Überlegen oder Denken, welche Form es auch annehmen mag, impliziert schon immer das "Ich" (das Ich-Wesen), welches sich etwas bewußt wird. Seine Grundstruktur ist das "Wissen um". Das denkende Ich und das gedachte Objekt sind voneinander getrennt; sie stehen einander gegenüber. Zen hat es jedoch vor allem darauf abgesehen, das reine und einfache "Bewußtsein" und nicht das "Wissen um" zu verwirklichen. Obwohl sie einander wörtlich ähneln, sind das "reine und einfache Bewußtsein" und das "Bewußtsein um" unendlich entfernt voneinander. Denn ersteres ist eine absolute, metaphysische Bewußtheit, die ohne denkendes Subjekt und gedachtes Objekt auskommt. Es ist nicht unser Bewußtsein der Außenwelt. Es ist vielmehr die ganze Seinswelt, die sich in uns und durch uns ihrer selbst bewußt wird. Auf diese metaphysische Bewußtheit des Seins beziehen sich BODHIDHARMA mit den Worten Geist oder Selbst-Natur und RINZAI mit dem eigenartigen Ausdruck: der "Wahre Mensch ohne jeden Rang".

Der hier in Frage stehende metaphysische Zustand kann auch als reine Subjektivität interpretiert werden. Oder sogar als reine Objektivität. Eigentlich befindet er sich sowohl über der Subjektivität als auch über der Objektivität. Es ist jedoch ein Zustand, der jederzeit bereit ist, sich in Form des absoluten Subjekts oder des phänomenalen Dinges zu verwirklichen. Es wird nun verständlich werden, warum Zen jegliche Form des Denkens als tödlichen Feind der Erleuchtung betrachtet. Das diskursive Denken muß um jeden Preis eingestelltwerden. Selbst das dem Erlangen der Erleuchtung huldigende Denken wirkt sich im Geiste des Schülers als Hindernis aus. Wie DAIE in einer seiner "Episteln" bemerkt: "Wenn du die kleinste Anstrengung machen mußt, um die Erleuchtung zu erreichen, wirst du sie niemals besitzen. Solch eine Anstrengung kann verglichen werden mit dem Versuch, den grenzenlosen Raum zu fassen - reiner Zeitverlust!"

SHOSAN SUZUKI, eine der berühmtesten Zen-Gestalten im Japan des 17. Jahrhunderts, antwortete auf die Frage über das Erreichen der BUDDHAschaft folgendes:
Das Erlangen der Buddhaschaft bedeutet eigentlich "leer werden". Es bedeutet, daß du zum ursprünglichen Zustand zurückkehrst (dem Zustand der Undifferenziertheit), in dem kein Fleckchen "Ich", "das Andere", die Wahrheit oder der BUDDHA vorhanden ist. Es bedeutet, daß du alles wegwirfst, deine Hände von allem wäschst und dir selbst einen unendlichen Raum der Freiheit schaffst. Dies kann nicht verwirklicht werden, solange noch irgend etwas in deinem Geist übrigbleibt, selbst nicht der Gedanke an die Erleuchtung.
Die Entleerung des Geistes ist keine einfache und leichte Aufgabe, es ist nämlich nicht nur ein einfaches Unterdrücken der aufkommenden Gedanken. Denn das bewußte Unterdrücken der aufkommenden Gedanken ist selbst ein Gedanke; das alleinige Denken an das Nichtaufkommenlassen einer Illusion ist allein schon eine Illusion. BANKEI, ein anderer Zen-Meister Japans, erklärt dies folgendermaßen:
Falls du, mit dem Wunsch, den Ungeborenen-Zustand zu erreichen, versuchst, aufsteigenden Ärger, Unwillen, Bedauern, Gelüste oder ähnliches zu unterdrücken, dann wird dieser Versuch, die aufkommenden Emotionen zu unterdrücken, nur den ursprünglichen einen Geist in zwei wandeln. Es ist, als würde ein Mensch einem anderen nachjagen, der genauso schnell rennt. Solange du bewußt versuchst, nicht dem Auftauchen der Gedanken nachzugeben, werden sie niemals aufhören, denn die auftauchenden Gedanken und der Gedanke, daß du sie aufhalten mußt, werden immer in einen verzweifelten Kampf gegeneinander verwickelt sein ... Das einzige, was du wirklich tun mußt, ist zu verhindern, daß der eine Geist entzweit wird.
zentrale
Es ist verständlich, daß ein so gründliches Wegwischen aller Gedanken und Ideen nur durch ein strenges und methodisches Einüben des Geistes möglich wird. Denn es wird nicht nur die Reinigung des Geistes von allen ablenkenden Gedanken gefordert, sondern auch die Reinigung des Geistes um seiner selbst willen. Der ungeschulte Geist kann dies nie erreichen.
LITERATUR - Toshihiko Izutsu, Philosophie des Zen-Buddhismus, Reinbek 1986