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HERMANN LÜBBE
Der Streit um Worte.
Sprache und Politik

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Wir alle kennen, zumindest aus der kältesten Zeit des west-östlichen Kalten Krieges, die Art, sich wechselseitig die Legitimität zum Gebrauch gewisser zentraler, politisch-ideologisch wichtiger Wörter wie  Freiheit  oder  Demokratie  abzusprechen.

IV.
Das politische Wortverbot und die politische Sprachverfolgung sind jene Extremfälle des Streites um Worte, in welchem der Kampf um ihre Liquidation geführt wird. Es gibt aber auch den politischen Wortstreit als Kampf um die Rettung der Worte vor dem Feind, wobei es stets darum zu tun ist, die Worte bei ihrer  wahren Bedeutung festzuhalten.

Das gilt beispielsweise für jene Klasse von Worten, durch die wir Weltanschauungen oder Ideologien zu bezeichnen pflegen, denen zugleich politisch relevante Gruppenbildungen entsprechen. Häufig enden diese Worte mit der Buchstabenfolge  ...ismus, z.B. L iberalismus, Katholizismus, Sozialismus. Da unter den Bürgern der Bundesrepublik Deutschland diejenigen selten geworden sind, die noch Wert darauf legen, Marxisten zu sein, wähle ich als insofern möglichst unanstößiges Beispiel das des Marxismus.

Der Marxismus teilt das Schicksal anderer Ideologien und Weltanschauungen. Er war niemals in seiner Geschichte ein schlechterdings ungebrochen monolithisches Gebilde, geprägt durch einen einheitlichen politischen Willen und durch eine abweichungslose Orthodoxie. Stets gab es Richtungskämpfe, Absplitterungen, Schismen, Auseinandersetzungen zwischen Fraktionen, und stets ging es und geht es bis heute nicht zuletzt darum, was noch Marxismus sei und was nicht mehr.

Diese Frage, was noch Marxismus sei und was nicht mehr, ist nach Regeln der Dialog-Kunst natürlich nur zu beantworten, wenn zuvor festgelegt wäre, was noch  Marxismus heißen soll und was nicht mehr, d. h. welcher Gebrauch des Wortes  Marxismus gelten soll. Alsdann ließe sich unschwer entscheiden, ob z. B. in Jugoslawien noch ein marxistisches Regime herrscht oder nicht. Aber für den Gebrauch des Wortes  Marxismus existiert keine einheitliche Vorschrift, die bei allen Genossen und Sprachgenossen über die Grenzen der verschiedenen Parteien und Nationen hinweg anerkannt wäre. Indem die verschiedenen marxistischen Lager sich u.a. das Recht, sich noch Marxisten nennen zu dürfen, wechselseitig bestreiten, beweisen sie eben dadurch, daß es die fragliche Vorschrift für den Gebrauch des Wortes  Marxismus nicht ergibt.

In seinem tatsächlichen Gebrauch ist dieses Wort so weit gestreut, daß von daher niemand berechtigt ist, etwa die Pekinger Machthaber oder auch etwelche Ideologen des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes noch als Marxisten gelten zu lassen, die Herren in Warschau oder Budapest aber nicht mehr. Aus dem internationalen Sprachgebrauch ergibt sich für den, der selber im Streit um das Wort  Marxismus nicht Partei ist, als seine überall belegbare Bedeutung allenfalls die folgende: Marxist ist, wer sich als solcher erklärt und dabei auf MARX und auf sein Werk sich beruft. Das klingt nach einer leeren Allgemeinheit. Aber es ist schließlich auch in anderen Fällen so, daß Zugehörigkeit zu Weltanschauungen, auch Religionen, in letzter Instanz nur im Bekenntnis zu ihnen besteht, d. h. in öffentlicher Verlautbarung dieser Zugehörigkeit.

Ob aber ein Marxist dazu bewogen werden könnte, diese irenische Definition seines ideologisch-politischen Status, daß er nämlich Marxist ist, indem er sage, er sei es, anzuerkennen? Ob er mit allen Marxisten dieser Definition über die Grenzen ihrer Lager und Fraktionen hinweg im Namen des Marxismus einig sein könnte? Das damit erreichte Ende im Streit um diesen Namen würde ja die verbleibenden Gegensätze in der Sache nicht zudecken; um sie ginge die Auseinandersetzung fort, und unterscheidende Zustände zum gemeinsamen Namen des Marxismus könnten sie kenntlich machen, wie in einigen Fällen längst üblich, z.B. im historisch gewordenen  Austro-Marxismus. Warum nicht ewiger Friede im Streit um Worte mit allen seinen kommunikationstechnischen Vorteilen auch in der Politik? Die politische Hauptsache, daß man nämlich weiß, was man will, und aus welchen Gründen, und daß man diesen seinen politischen Willen mit allen zur Verfügung stehenden organisatorischen, materiellen, ideellen und verbalen Mitteln zur Geltung bringt, bliebe doch dadurch, so scheint es, unbeeinträchtigt.

So ließe sich argumentieren. Aber es ist evident, daß kein Marxist sich auf diese Argumentation einlassen könnte. Der empfohlene sprachpolitische Friede im Streit um das Wort ‘Marxismus‘ wäre allzu teuer erkauft, und einzig unter sprachanalytischen Aufklärern könnte man sich mit einem solchen Friedensschluß Freunde machen. Die Gegner im andern marxistischen Lager aber würden eine Kapitulation vermuten und triumphieren. Vor einer sich als marxistisch deklarierenden Öffentlichkeit würde das, was doch lediglich dienen sollte, den Streit um ein Wort zu beenden, zwangsläufig als Verzicht aufs marxistische Erbe wirken. Man begäbe sich mindestens scheinbar des öffentlichen Anspruchs, in seinem politischen Willen durchs ideologische Erzvaterwort noch traditional legitimiert zu sein.

Und mit solcher sichtbar traditionalen Legitimität verlöre man zugleich die Chance, den eigenen politischen Willen und seine Begründung als orthodox behaupten zu können. Das aber ist politisch nicht unbedenklich, sofern und solange die Bildung ideologischer Orthodoxien noch immer zu den Stabilisierungsmitteln politischer Gruppen gehört.

So ist also klar, daß der Marxist aus Zwängen seiner politischen Selbstbehauptung nicht umhin kann, den Kampf mit seinen marxistischen Stiefbrüdern auch als Streit um die Worte  Marxist und  Marxismus zu führen. Und dasselbe gilt, mutatis mutandis, auch für andere  ...ismen, selbst wenn deren ideologisch-politische Konsistenz und Penetranz geringer als die des Marxismus ist. Der geschilderte, aus politischen Gründen unvermeidliche Streit um gewisse Worte hat stets die Wirkung, diese Worte in ihrem nicht-gruppenspezifischen, sondern generellen Gebrauch unscharf zu lassen.

Das gewinnt unerwartete Wichtigkeit, wenn in milderen Zeiten politischer Koexistenz die ideologischen Orthodoxien abgebaut werden und sich überall das Bedürfnis erzeugt, Wesentliches vorzuzeigen, worin man sich über die ideologischen Grenzen hin einig sei. Weder bei Marxisten noch bei anderen  ...isten wird das jemals so weit gehen, daß sie jedermann oder doch allen, die es wünschen, zugestehen, mit ihnen gerade in ihrem Marxismus oder jeweils in ihrem sonstigen  ... ismus einig zu sein. Denn zur inneren Solidarität einer jeden Ideologie oder gruppenstiftenden Weltanschauung gehört es, Kompetenz zur Identifizierung derjenigen, die ihr nicht angehören oder von ihr abweichen, ungeteilt zu besitzen, und gelegentlich kann es sich sogar als erforderlich erweisen, diese Kompetenz exemplarisch unter Beweis zu stellen.

So wird also ideologische Koexistenz kaum jemals bedeuten, daß die Ideologien zu Gemeingut erklärt werden. Aber man wird Gemeinsamkeit bezüglich gewisser ideologischer Erbstücke bereitwillig, ja emphatisch anerkennen. Gemeinsame geistige Väter noch nicht, aber gemeinsame geistige Großväter läßt man, sich verständigend, gelten. In diese Rolle eines gemeinsam verehrten Ahnherrn ist, in Begegnungen zwischen sich so deklarierenden Marxisten und Nicht-Marxisten, inzwischen Hegel eingerückt. Bei Gelegenheit des schönen VIII. Internationalen Hegel-Kongresses im September 1966 in Prag war zu sehen und zu hören, wie über die großen und kleinen ideologischen Fronten hinweg sich im Hegelianismus die Mehrzahl der Teilnehmer einig war.

Selbstverständlich war man sich nicht in allen Stücken, aber doch darin einig, sich als Hegelianer zu respektieren. Und dieser Respekt wurde einem durch die sprachliche Tatsache erleichtert, daß das Spektrum der Bedeutungen des Wortes  HEGELianismus hinreichend groß ist, um von Paris bis nach Moskau und von Heidelberg bis nach Leipzig allerlei so nennen zu können. Dieses große Bedeutungsspektrum des Wortes  HEGELianismus verdankt sich aber seinerseits nicht zuletzt dem Umstand, daß um dieses Wort in Zeiten härterer ideologischer Kämpfe Streit gewesen ist. So gereicht es, paradoxerweise, der Strategie ideologischer Koexistenz schließlich zum Vorteil, daß zuvor sich die Konkurrenz der ideologischen Ansprüche selbst aufs Sich-so-nennen-Dürfen erstreckt hatte.

Der politische Wille zur Koexistenz ist zweifellos nicht mit dem Willen identisch, alle ideologischen und sonstigen Mauern abzureißen. Aber man erinnert sich, daß es auch politisch-ideologisch seitenneutrale Wirklichkeitsbereiche gibt, und man kultiviert das gemeinsame Dritte. Solcher Kultur eines gemeinsamen Dritten war, zwischen Marxisten und Nicht-Marxisten, der Prager  HEGEL-Kongreß gewidmet.

Gewiß : Einen Philosophen englischer sprachanalytischer Schulung müssen die ja stets ideologisch gesalzten Debatten um das wahre, je nachdem weit oder streng gefaßte Wesen des Hegelianismus oder Marxismus oder welches  ...ismus auch immer höchst sonderbar, höchst unaufgeklärt vorkommen, allzusehn uneingedenk der alten aristotelischen Regel, nicht um Worte zu streiten. Dennoch ist solcher Wortstreit unvermeidlich.

Nur unter sehr speziellen Bedingungen ist es nämlich möglich, sich strikt an die aristotelische Regel zu halten. In einem Oxforder College ist das jederzeit möglich, auch in einem deutschen philosophischen Seminar, wenn auch hier noch gelegentlich nur mit Schwierigkeiten. Aber man sieht doch sogleich, daß diese Seminare und Colleges Lokalitäten von höchst speziellem Charakter sind. Generell läßt sich sagen, daß Wortstreit jederzeit und ohne Nachteil sich in esoterischen Öffentlichkeiten vermeiden läßt, in kleinen Gruppen, die den Vorzug genießen, mindestens relativ politikfern auch über Politik diskutieren zu können, und die zugleich eine Kontrolle über die Zugehörigkeitsverhältnisse ausüben, also sicherstellen können, daß nicht jedermann jederzeit mithört und mitredet. Nur in solchen kleinen, homogenen, auf den Zweck theoretischer Erörterung festgelegten Zirkeln ist es ohne weiteres und ohne Nachteil für irgendeinen Beteiligten möglich, der Regel, nicht um Worte zu streiten, zu folgen, sich sozusagen Worte zu schenken, und in freier, besonnener Übereinkunft ihren Gebrauch festzulegen.

Dagegen die große, exoterische unmittelbar politisch relevante Öffentlichkeit: - In ihr ist es gerade nicht möglich, sich jederzeit frei über Wortgebräuche zu verständigen, und jeder muß jederzeit darauf Rücksicht nehmen, daß die Worte längst ihren wie sehr auch immer schwankenden Gebrauch haben, daß sie Assoziationen, Stellungnahmen, Erwartungen auslösen, auf die zwar langfristig propagandistisch, aber doch im Moment gar kein verändernder Einfluß möglich ist. Damit muß man also im Verhältnis zur großen politischen Öffentlichkeit rechnen, und entsprechend bleibt es auch im Verhältnis zum politischen Gegner unvermeidlich, die Auseinandersetzung mit ihm nicht zuletzt als Wortstreit zu führen.

Wir alle kennen, zumindest aus der kältesten Zeit deswest-östlichen Kalten Krieges, die Art, sich wechselseitig die Legitimität zum Gebrauch gewisser zentraler, politisch-ideologisch wichtiger Wörter wie  Freiheit oder  Demokratie abzusprechen. Vorzugsweise verfuhr man dabei so, daß man in Zitationen einschlägiger Verlautbarungen des Gegners die von ihm darin konkurrierend in Anspruch genommenen großen Worte in Anführungsstriche setzte. Die Anführungsstriche sind das gewöhnliche Mittel sprachpolitischer Illegitimitätserklärung von Wortgebräuchen.

Tatsache ist, daß die Freiheit, die wir meinen, von der Freiheit, die die Kommunisten meinen, bis heute in wesentlichen Hinsichten verschieden ist, und um diesen Punkt wird die politische Auseinandersetzung u. a. tatsächlich geführt. Gleichwohl läßt sich nicht sagen, daß die Kommunisten in jedem Fall mit ihrer Verwendung des Wortes  Freiheit lügen. Die Sache ist nämlich die, daß das Wort  Freiheit in konkreten Zusammenhängen auf vielfache Weise verwendbar ist, ohne daß man damit gegen seinen generellen Sinn verstieße. Die einen meinen beispielsweise die Freiheit von politisch-sozialer Unterdrückung durch eine schmale Schicht von Großgrundbesitzern; die anderen meinen, u. a., die Freiheit von politisch-behördlicher Sprachregelung. Das Allgemeine ist, daß jeder im Namen der Freiheit gegen Formen der Herrschaft opponiert, die er nicht will. Und einer Herrschaft nicht unterworfen zu sein, die man nicht will - eben das ist es, was alle  Freiheit nennen.

Aber aus dieser allgemeinen Bestimmung des Wesens politischer Freiheit läßt sich ein gemeinsamer konkreter politischer Freiheitswille gar nicht ableiten. Überall wird, wenn nicht gerade, was allerdings auch vorkommt, mit Worten gelogen wird, um Freiheit, d.h. gegen ideologisch zuvor für illegitim erklärte Herrschaftsformen gekämpft, und gerade darin, im Namen der Freiheit, auch gegeneinander gekämpft. Die Freiheit ist dabei für jeden eine große Sache, und das macht es ihm politisch unmöglich, auf das Wort, das überall für die Sache steht, zugunsten des Gegners zu verzichten, und entsprechend wird man mit ihm um seine konkrete Bedeutung streiten.

So bleibt es dabei, daß wir nicht in jeder Situation die aristotelische Regel, nicht um Worte zu streiten, befolgen können. Nur in entpolitisierten semantischen Räumen ist das möglich.

Dennoch sollten wir von der Unvermeidlichkeit politischen Wortstreits nicht kapitulieren. Wo er ohne erhebliche Nachteile vermieden werden konnte, ist viel gewonnen, und man sollte sich diesen Vorteil sogar einiges kosten lassen. Gewiß sollte man sich die Berechtigung zum Eigen-Gebrauch eines Wortes durch den politischen Gegner nicht ohne weiteres absprechen lassen. Wer hier nachgibt, ist nicht immer der Klügere. Andererseits sollte man den archaischen Glauben politischer und behördlicher Instanzen nicht leichtgläubig teilen, daß im Gebrauch oder Nichtgebrauch seiner Namen und Wörter der Feind losgelassen oder gebannt sei. Ist ein umgekehrter Rumpelstilzchen-Effekt zu befürchten, wenn die Einflußreichen oder die meisten von der "DDR" als von der DDR sprechen? Diese Frage eröffnet ein weites Feld fälliger, linguistisch wie politisch relevanter Erörterungen, und die Praktikabilität von Überlegungen zum Verhältnis von Sprache und Politik sollte sich, bei uns, nicht zuletzt in ihrer Nützlichkeit für solche Erörterungen beweisen.

Zunächst: Das politische Gebilde, dessen Benennung hüben wie drüben ein Politikum ist, hatte die Potenz, sich selbst einen Namen nach seiner Wahl zuzulegen. In seiner eigenen Intention heißt es also so und nicht anders. Gerade deswegen kann es wirksam sein, ihm seinen selbst zugelegten Namen zu verweigern. Denn es ärgert einen bekanntlich und bereitet auch im Verhältnis zu Dritten Verdruß, wenn man nicht genannt wird, wie man zu heißen beansprucht.

Ob es sich aber empfiehlt, seinem Feinde solchen Ärger und Verdruß zu bereiten, ist naturgemäß keine prinzipielle, sondern eine taktisch-pragmatische Frage. Solange man sicher ist, daß die Interessierten und wichtigen Dritten sich u. a. durch den Hohn der Namen-Verweigerung überzeugen lassen, mit dem Prätendenten dieses Namens sei es nichts, ist diese Namen-Verweigerung zweckmäßig. Andernfalls ist das nicht der Fall, und man muß seine Entscheidung von anderen Gesichtspunkten abhängig machen.

Von Wichtigkeit wäre dabei der Gesichtspunkt der Frage, ob der Gebrauch des Namens, den ein politisches Gebilde sich zugelegt hat, ein Akt der Anerkennung dieses Gebildes darstellt. Dabei sei vorausgesetzt, daß gegenwärtig kein politischer Anlaß besteht, die nur von einigen so genannte, schlechterdings aber vor allem sich selbst so nennende DDR anzuerkennen. Also noch einmal: Erkennen wir die sich so nennende DDR an, indem wir sie DDR nennen? Wir gerieten in des Teufels politische Küche, wenn wir das zugeständen. Die fragliche Frage ist nämlich in der Tradition des europäischen Völkerrechts längst entschieden: Man erkennt an, indem man die Anerkennung ausspricht. Durch nichts als durch die erklärte Anerkennung wird anerkannt.

Die Erinnerung an diese diplomatische Wahrheit mag erleichternd und beruhigend wirken. Gleichwohl folgt nicht, der Gebrauch oder Nicht-Gebrauch des Namens "DDR" sei beliebig. Denn schließlich ist zu fragen: Ist jenes in seinem Namen uns zweifelhafte, in seiner Existenz aber tatsächliche Regime in Gemäßheit seines Namens ein demokratisches? Sind wir doch sicher, daß, wenn drüben heute wie bei uns üblich in Antwort auf geeignete Fragen abgestimmt würde, das Votum des wählenden Volkes gegen das herrschende Regime ausfiele.

Insofern wäre dann dieses Regime demokratisch nicht legitimiert, und also legte es sich nahe, ihm seinen Namen nicht abzunehmen. Andererseits wissen wir aber doch, ebenso politisch erfahren wie historisch gebildet, daß  demokratisch seit alters und bis heute und überall so manches heißt, und zwar nicht überall in betrügerischer Absicht, sondern u. a. in Gemäßheit der begriffsgeschichtlichen Tatsache, daß in den Konsequenzen des  ROUSSEAUschen Denkens die Demokratie sogar als Diktatur denkbar ist.

Verlassen wir uns also nicht auf die in der internationalen politischen Gemeinsprache doch nicht vorhandene Eindeutigkeit des Wortes  Demokratie. Wir könnten das tun, wenn wir mächtig genug wären, die Bedeutung des Wortes  Demokratie von uns aus festzusetzen und diese Festsetzung westlich und östlich und auch südlich durchzusetzen. Über diese Macht verfügen wir aber ebensowenig wie irgendeiner sonst. Das braucht uns selbstverständlich nicht ZU hindern, das Wort  demokratisch auch in polemischer Intention sprachpolitisch in Anspruch zu nehmen.

Und wir können dabei voraussetzen, daß dieser Anspruch auch nach den strengen Maßstäben begriffsgeschichtlich ausgewiesener Legitimität von Wortgebräuchen legitim ist. Ob eine solche begriffsgeschichtliche Legitimitäts-Erklärung auch für den ostelbischen deutschen Gebrauch des Wortes  demokratisch abgegeben werden könnte? Es wäre viel gewonnen, wenn es gelänge, diese Frage für eine akademische statt für eine unmittelbar politische zu halten. Wer in der Lage ist, die Antwort auf sie den Lexikographen zu überlassen, hat schon damit seinen Verstand von der Verhexung durch den Aberglauben an die irresistible Gewalt der Worte befreit. Ihm wächst die Macht dessen zu, der die Freiheit hat, die Leute reden zu lassen.

Daraus folgt abermals nicht die Empfehlung, die "DDR" nun endlich DDR zu nennen. Wir haben nun einmal unseren eigenen Sprachgebrauch, und was sich aus seiner Perspektive an Differenzen zwischen Sein und Heißen auftut, läßt sich, in schrillen Fällen, nicht überhörbar machen. Dennoch folgt wiederum nicht die umgekehrte Empfehlung, die "DDR" also keinesfalls DDR zu nennen. Soweit man nämlich bei  pius fromm hört, darf man gerade einen nach unserem Verständnis der Worte unfrommen Pius ruhig Pius nennen. Auch damit kann man erwünschte Wirkungen erzielen.

So gehen die Argumente hin und her; man muß sie abwägen. Das Ergebnis mag sein, es habe überwiegende politische Vorteile, den Willen und den Gestus der Verneinung einer politischen Existenz auch in der Setzung von Anführungsstrichen zu praktizieren.

Ich selbst bin nicht dieser Meinung. Meine für mich ausschlaggebenden Gründe sind die folgenden. Zunächst: Im Verhältnis zu Dritten, also außenpolitisch, wäre der Vorteil nicht groß genug, um eine spezielle sprachpolitische Aktivität mit allen ihren sekundären Nachteilen rechtfertigen zu können. Anerkennung oder Nicht-Anerkennung im völkerrechtlichen Sinne - das ist eine Frage, deren Beantwortung bedeutende Wirkungen hat. Aber Namens-Verweigerung? Dies war nur solange von politischer Relevanz, als in der Kälte des Kalten Krieges, als er am kältesten war, Laxheit im Alleindefinierungsanspruch von Wortgebräuchen für eine Aufweichungserscheinung des gefrorenen politischen Willens gelten mußte.

Inzwischen wird, international, der Streit um Worte zwar nach wie vor als Kampf um die Behauptung des Anspruchs, einschlägige Worte, wie man will, zu gebrauchen, geführt. Aber der Kampf gegen den konkurrierenden Anspruch des Gegners auf Worte, die UNO-weit für große Worte gelten, hat sich abgeschwächt. Wer dem nicht Rechnung trägt, muß damit rechnen, sich als Störenfried unbeliebt zu machen. Denn er stritte um Worte selbst dort noch, wo die anderen den Wortstreit schon für unnütz halten und wechselseitig sich reden lassen. Welche Vorteile hätte es, hier an dem international aufgegebenen Streit um Worte noch festzuhalten? Nachteile aber entstehen zwangsläufig in denjenigen nationalen Beziehungen, die keineswegs Beziehungen "der beiden deutschen Staaten", aber beispielsweise Beziehungen ihrer evangelischen Kirchen sind, oder bei Korrespondenzen des Präsidenten der Goethe-Gesellschaft mit ihrem Vize-Präsidenten.

Aus solchen Argumenten folgt natürlich gar nicht, es möge nun etwa auch der Präsident der Bezirksregierung der Oberpfalz in einschlägigen Berichten an seinen Minister die DDR DDR titulieren. Es folgt lediglich, daß die wirklichen Verhältnisse nicht monoton genug sind, um monotone sprachpolitische Vorschriften behördlicher oder sonstiger Instanzen klug, d.h. wirklichkeitsnah nennen zu können. Unklug darf man sie sogar deswegen nennen, weil es beispielsweise zu ihren zwangsläufigen Folgen gehört, daß einige die DDR einzig deswegen beharrlich DDR nennen, weil sie demonstrieren wollen, daß sie willens sind, Kompetenz für sprachpolitische Vorschriften keiner offiziellen oder halboffiziellen politischen Instanz zuzuerkennen. Die so Reagierenden gehören in unserem Staat in vielen Fällen zugleich zu denjenigen, die Gelegenheit haben, was sie meinen, öffentlich zu sagen, und es ist nützlich zu wissen, wer das schädlich findet.
LITERATUR - Hermann Lübbe in Hans-Georg Gadamer (Hrsg), Das Problem Sprache, Achter Deutscher Kongress für Philosophie, München 1967