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LUDWIG NOIRÈ
Sprachwissenschaft und Philosophie
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"In dem, was jeder Einzelne sich bei einem Wort denkt, liegt ein wichtiger, wenn nicht der wichtigste Quell des Irrtums."

Nachdem man sich so der Einsicht immer mehr näherte, daß die allgemeinen Begriffe in ihrer Besonderheit d.h. unabhängig von Worten und Dingen erkannt und so betrachtet werden könnten, daß sie dem menschlichen Intellekt einwohnende und eigentümliche Wesenheiten seien, konnte auch die Frage nicht ausbleiben, wie so denn die menschliche Seele in den Besitz und den fortwährend lebendigen Gebrauch dieser Wesen gekommen sei. Die Laute selbst erschienen bei dieser Ansicht natürlich als etwas Nebensächliches und Gleichgültiges, da ja der nämliche Begriff durch ganz verschiedene Laute konnte bezeichnet werden.

Der religiösen Auffassung der mittelalterlichen Philosophie erschien die Sprache und das Denken des Menschen als eine unmittelbare Gabe der Gottheit, die ja die Menschenseele nach ihrem Bilde geschaffen hatte; daher ist es nicht zu verwundern, daß man die Begriffe als der Menschenseele zugleich mit der Geburt verliehen ansah. Waren doch gerade die religiösen Begriffe und Dogmen alle hyperphysische und nur durch innere Erleuchtung begreiflich, war doch die ganze sinnliche Welt nur eine Verwirklichung der Gedanken Gottes - wie sollte also der Mensch anders als durch  angeborene Ideen  sowohl von der Geisterwelt Kunde erhalten, wie auch sich innerhalt der ihn umgebenden Sinnenwelt zurecht finden können?

Angeborene Begriffe verlegen aber das Begriffsvermögen ganz in das Innere, aus welchem alle Kunde selbst der Außenwelt gleichsam a priori geschöpft zu werden vermöchte, lassen die Seele als ein zur Erkenntnis organisiertes Wesen erscheinen, das alle Gottes- und Weltweisheit aus sich selbst herauszuspinnen im Stande wäre.

In dieser Auffassung ist eine große Licht- und eine dunkle Schattenseite. Die Lichtseite ist die Unabhängigkeit des Denkens von der Außenwelt. Die Begriffe sind etwas Ursprüngliches, rein Geistiges, durch die all unsere Erkenntnis möglich wird, durch die wir die Schöpfung Gottes selber verstehen. Das Wort ist nur der Ausdruck, die Äußerung dessen, was wir auch ohne Wort und ohne Dinge (äußere Objekte) selbständig denken.

Da die heutigen Menschen innerlich (ohne Verlautbarung) und in Abwesenheit der äußeren Gegenstände denken, so war eine solche Auffassung dem Anscheine nach nicht nur gerechtfertigt sondern sogar wahrscheinlich. Das Charakteristische des menschlichen Denkens, seine scheinbar vollständige Abgelöstheit vom Sinnlichen und Einzelnen, das von jeher als sein Gegensatz betrachtet wurde, war gewahrt.

Die Schattenseite war eben das Verkennen der Wichtigkeit und Unentbehrlichkeit sowohl des lautenden Wortes, wie auch der äußeren Objekte als notwendiger Bedingung für das Zustandekommen der Begriffe, der Sprache, des Denkens. Man trennte im Denken das was in der Natur d.h. in der Wirklichkeit niemals anders als vereinigt vorkommen kann und sah sich denn auch schließlich genötigt diese Vereinigung wieder zu suchen. Diese Einsicht erstreckte sich zuerst auf die  Objekte,  viel später, und eigentlich er in unseren Tagen, auf die  Laute. 

Die moderne Philosophie charakterisiert sich dadurch, daß die objektive Welt wieder ihre ewigen, unveräußerlichen Rechte geltend macht, nachdem die Philosophie des "absoluten Geistes", wie man wohl die des Mittelalter nennen kann, als zur Welterklärung unzureichend und widerspruchsvoll war erkannt worden.

BACON sagte: Die Erfahrung ist die wichtigste Quelle alles Wissens. Gegenstand der Erfahrung ist aber die Natur, der Inbegriff aller unseren Sinnen zugänglichen Dinge. Erfahrungswissen ist erworbenes, nicht angeborenes. Nicht aus aristotelischer Schematik, nicht aus scholastischer Begriffszersplitterung und schattenhaften Abstraktionen vermag unsere Erkenntnis gesunde Nahrung zu schöpfen; dabei hört man nur die Mühle klappern, ohne jemals Mehl zu sehen. Es ist Zeit, aus dem aufgeschlagenen Buche der Natur, aus der Welt der wirklichen Dinge sich zu belehren. So traten die Objekte wieder hervor und machten ihren alten Anspruch auf die Begriffe geltend.

Zum vollendeten System wurde der Empirismus durch LOCKE gestaltet; denn ein System ist erst dann vollendet, wenn alles aus einem letzten Prinzip befriedigend hergeleitet und dessen Stelle im menschlichen Bewußtsein nachgewiesen wird. Unendlich tiefer aber als der antike Sensualismus und Empirismus mußte der moderne sein. Denn LOCKE fand als eine unerschütterliche und nicht zu umgehende Wahrheit in seinem philosophischen Bewußtsein die Existenz der allgemeinen Begriffe vor.

Dieses Charakteristikum der menschlichen Erkenntnis mußte er anerkennen und erklären, wenn überhaupt etwas erklärt werden sollte. Er erkannte es an, ja er formulierte zuerst von allen Philosophen die große Wahrheit, daß die Scheidegrenze zwischen Tier und Mensch gerade in dem Besitze der allgemeinen Begriffe, die das ausschließliche Eigentum der letzteren seien, gesucht werden müsse. (1)

Auf welche Weise aber der Mensch in diesen Besitz gekommen sei, das war der Punkt, auf den es ankam. Sollte sein System Gültigkeit haben, so konnte der Ursprung dieser Begriffe nur ein empirischer sein; d.h. die Begriffe durften nur aus der sinnlichen Wahrnehmung, aus dem Einzelnen hergeleitet werden, nicht dem Menschen ursprünglich eigen sein. Dies ist die Bedeutung seines Kampfes gegen die angeborenen Begriffe, den er mit aller Anstrengung seines wunderbaren Geistes siegreich durchführte und dadurch der Wissenschaft die Bahn frei machte.

Denn unmittelbar von der Gottheit in die Menschenseele gepflanzte Begriffe sind ein Wunder, sind mystisch, daher aller wissenschaftlichen Erklärung und Bewertung unzugänglich.  No innate ideas,  alle unsere Begriffe stammen aus der Wirklichkeit, das war das endgültige Resultat der LOCKEschen Untersuchung; der Zusammenhang der Objekte mit den Begriffen war wiederhergestellt.

Aber ein ander Ding ist es zu sagen: daß ohne die sinnliche Wahrnehmung niemals ein Begriff hätte entstehen können, und ganz ein ander Ding, daß die äußere, sinnliche Wahrnehmung für sich allein genügend sei, um Begriffe im Menschengeiste hervorzubringen. So lange die Möglichkeit nicht eingesehen werden konnte, wie so denn häufig wiederholte sinnliche Wahrnehmungen sich in jenes davon ganz Verschiedene, was alle jene Wahrnehmungen in sich begreift und dennoch keiner einzelnen gleich ist, was wir eben unter allgemeinen Begriffen verstehen, verwandeln konnte, blieb sein System lückenhaft, entbehrte es der Basis.

LOCKE läßt die Begriffe ohne Ausnahme aus den sinnlichen Eindrücken oder Wahrnehmungen hervorgehen. Daß sie alle auf diese Weise entstanden sind, ist zweifellos, auch die Sprachforschung hat diese Wahrheit im vollsten Umfang bestätigt. Auch die Art, wie dies geschah, nämlich durch  Abstraktion  (ein Ausdruck, dessen erste Quelle bei ARISTOTELES zu finden ist) war LOCKEn klar. Daß die Milch, der Schnee weiß, die Blume, das Blut rot sind, empfinden auch die Tiere: aber die weiße Farbe von Milch und Schnee, die Röte von Blume, Blut und allen anderen Gegenständen absondern und für sich auffassen, das vermag kein Tier, denn dieses ist eben Denken. Vergleichen und Abstrahieren sind die Tätigkeiten, durch welche diese sinnlichen Begriffe und darnach auch alle übrigen zu Stande kommen.

LOCKE unterscheidet einfache und zusammengesetzte Begriffe. Jene umfassen sinnliche Eindrücke, z.B. rot, grün, süß, Empfindungen wie Lust oder Schmerz, Relationen wie Zeit, Raum, Bewegung, Kraft, Zahl und dgl. Die wichtigste Aufgabe zur Klärung unserer Erkenntnis ist, alle zusammengesetzten Begriffe in ihre einfachen Begriffe zu zerlegen. Dies gilt ebenso gut von sittlichen Begriffen, wie z.B. Lüge, als von Begriffen wirklicher Dinge, wie Schwan oder Löwe, und ganz besonders von menschlichen Einrichtungen. Welche Unzahl von Einzelbegriffen und Besonderheiten sind nicht z.B. in den Worten "Ostrakismus" und "Proskription" gebunden.

Die einfachen Begriffe unterscheiden sich dadurch von den übrigen, daß sie keiner weiteren Erklärung mehr fähig sind. Irgendwo muß die Erkenntnis auf den Boden gelangen.

Auf welche Weise gelangte nun der Mensch in den Besitz allgemeiner Begriffe und damit also auch der einfachen Begriffe? Darüber kann nach LOCKE kein Zweifel sein. Nur durch Abstraktion, d.h. durch Fallenlassen des Einzelnen, der Besonderheiten in Zeit und Raum.

    "Nichts ist sonnenklarer als daß die Begriffe von den Personen, mit welchen die Kinder umgehen, nur besondere und einzelne Begriffe sind, sowie die Personen selbst einzelne Wesen sind. Die Namen ,die sie zuerst geben, sind auf diese einzelnen Wesen eingeschränkt. Später wenn Zeit und Gewohnheit sie gelehrt hat, daß es noch viele andere Wesen gibt, die in äußerlicher Gestalt und anderen Eigenschaften diesen Personen ähnlich sind, bilden sie einen Begriff, an dem alle diese Wesen Anteil haben; so gelangen sie zu einem allgemeinen Namen und allgemeinen Begriff.

    Hier machen sie nun nichts Neues, sondern lassen nur von dem zusammengesetzten Begriffe, den sie von PETER und JOHANN hatten, das weg, was jeglichem eigen ist. Daß auf diese Weise die Menschen zuerst allgemeine Begriffe gebildet und ihnen allgemeine Namen gegeben haben, ist meines Erachtens so sonnenklar, daß es gar keines anderen Beweises bedarf, als daß man sich nur sich selbst oder andere beobachtet und erwägt, wie ihr Verstand in der Erkenntnis vorangeht."

    Jeder tiefer Denkende wird sofort erkennen, daß diese Erklärung ungenügend ist, indem ein vollständig dunkler, unerklärter Rest dabei zurückbleibt, der also eine mystische, keine vernunftgemäße Grundlage bildet. Ich will die hauptsächlichen Widersprüche und Schwächen der Erklärung hier übersichtlich zusammenstellen:

  • ist es durchaus unstatthaft, von besonderen und einzelnen Begriffen zu reden. Denn das Wesentliche des Begriffs ist eben das Allgemeine. Sinnliche Eindrücke und Vorstellungen, die bis zu einer gewissen Grenze auch den Tieren zukommen, sind durchaus wesensverschieden von den Begriffen, die das ausschließich Eigentum des Menschen sind. Der Umstand, daß die Personen, die das Kind zuerst kennen lernt, bereits mit Namen benannt werden, sowie die Armut der englischen Sprache, die sich mit dem Worte  idea  behelfen muß, um sowohl Begriffe wie Vorstellungen zu bezeichnen, waren die Hauptursachen dieser Unklarheit.

  • hat das Voranstellen zusammengesetzter Begriffe, aus denen durch Fallenlassen und Abstrahieren erst die allgemeinen entstehen sollen, etwas ganz Ungenügendes und Widerspruchsvolles. Damit ein Begriff zusammengesetzt sei, müssen dessen Elemente, die also in diesem Falle einfache und allgemeinere Begriffe wären, schon im Bewußtsein vorausgesetzt werden. Das heißt aber die schwierige Aufgabe des Geistes an den Anfang setzen und die leichtere daraus herleiten. Im Grunde ist es eine  petitio principii [es wird vorausgesetzt, was erst zu beweisen ist - wp] (2), indem das was erklärt werden soll, die Bildung von Begriffen, bereits vorausgesetzt wird.

  • Der größte Fehler LOCKEns liegt darin, daß er, von der richtigen Einsicht erfüllt, daß alle menschlichen Begriffe nicht angeboren, sondern nur bei Gelegenheit von Erfahrungen entwickelt werden können, daraus den unrichtigen Schluß zog, daß die Begriffe alle direkt aus der Erfahrung stammten, so zwar daß, wie er sich ausdrückt, jeder einfache Begriff aus einer einfachen Empfindung hervorgehe. Der Aktivität des denkenden Geistes, die gerade bei der Bildung von Begriffen am mächtigsten hervortritt, die auch von KANT in seiner "Kritik der reinen Vernunft" mit Recht der bloß passiven oder rezeptiven Sinnlichkeit direkt entgegengestellt wird, indem er die Begriffe geradezu Funktionen des Geistes nennt, hat LOCKE in keiner Weise Rechnung getragen. Bei ihm heißt es vielmehr:

      "Daß die Seele sich in Ansehung ihrer einfachen Begriffe ganz leidend verhält und sie alle von den wirklich vorhandenen Dingen und und deren Wirkungen erhält, so wie ihr dieselben die sinnliche Empfindung oder die Reflexion darbietet, ohne daß sie imstande wäre, irgend einen derselben zu bilden, das zeigt uns die tägliche Erfahrung."


    Nur in Bezug auf die zusammegesetzten Begriffe gesteht LOCKE der Seele Aktivität zu, ja er behauptet geradezu, daß menschliche Gesetze, Ordnungen, Erfindungen u.ä. zuerst im Geiste als zusammengesetzte Begriffe existiert haben müssen, ehe die ihnen entsprechenden Realitäten vorhanden sein konnten.
Von seinem empirischen Standpunkte aus konnten auch die Naturdinge oder sogenannten realen Substanzen nichts anderes sein als ein Inbegriff von Kräften, die auf unsere Empfindungen wirken und dadurch zusammengesetzte Begriffe in unserer Seele hervorbringen, die eben nur den Inbegriff jener Empfindungen enthalten. Hier aber beginnen die großen Verdienste LOCKEs, jene Ideen, mit denen er der gewaltigen Gedankenarbeit KANTs vorangeleuchtet hat.

Dahin gehört vor allem die wichtige Unterscheidung zwischen den "qualitates primariae" der Dinge, ihren wahren Eigenschaften, wie er sie nennt, nämlich Raumerfüllung, Gestalt, Bewegung u.ä. und den bloßen Sinnesaffektionen, die sie in unseren Organen bewirken und vermög deren der Zinnober rot, der Zucker süß, die Rose duftig genannt wird ("qualitates secundariae").

Das größte Verdienst LOCKEs aber ist und bleibt seine klare Erkenntnis, daß alle unsere Gedankenoperationen an die Sprache gebunden sind, durch die Sprache möglich werden, und daß die geistigen Äquivalente der Worte, die  Begriffe  die Grundelemente alles Denkens ausmachen, daß deshalb eine Kritik der Worte und der ihnen entsprechenden Begriffe die notwendigste und heilsamste Vorarbeit sein müsse, damit sich die Menschen verständigen, die unnützen Streitigkeiten aufhören, die meist nur aus Mißverständnis der Worte entspringen und daß dadurch allein die wahre, allgemeine Erkenntnis gefördert werden könne.

Diese große Wahrheit fand ihren deutlichsten Ausdruck in der schon in der mittelalterlichen Philosophie gebräuchlichen Unterscheidung zwischen Namenwesen und Sachwesen. Alle Worte, sagt LOCKE, bezeichnen nur ein Namenwesen, keineswegs aber ein Sachwesen. Beide sind nur bei den einfachen Begriffen identisch; die realen Dinge dagegen sind ihrem Sachwesen nach unergründlich, sie werden aber durch die allgemeinen Begriffe und Worte, die nur ein Namenwesen haben, in Klassen abgeteilt, insofern die Dinge an den in den Begriffen liegenden Eigenschaften partizipieren; so besteht die Realität der Rose für uns in ihrem Duft, Farbe, Gestalt usw.

Auf diese Weise ordnen sich alle Dinge in Bündel und Abteilungen, werden systematisiert und können Gegenstand des Denkens werden, das mit der unendlichen Fülle der Einzeldinge unmöglich etwas ausrichten könnte. Darin liegt das ganze Geheimnis der Arten und Gattungen, das in der Scholastik so endlose Kämpfe und Streitigkeiten veranlaßt hat. Die Begriffe sind also wahre und wirkliche Wesen, die ihre Natur und Eigentümlichkeit unwandelbar bewahren, während die Dinge, die Realwesen ihre Eigentümlichkeit stets verändern und in einander übergehen.

"Das Dreieck behält stets und überall seinen Charakter, während das, was heute Gras war, morgen Schaffleisch und in wenigen Tagen ein Teil des Menschen sein wird."
Unsere Erkenntnis des wahren Wesens der Dinge ist stets beschämend klein, wir stehen vor dem geringsten Tier, der verächtlichsten Pflanze, ja vor einem einfachen Stückchen Mineral, wie der Bauer vor dem Wunderwerk der astronomischen Uhr in Straßburg. Nur deren Wirkungen auf unsere Sinne sind uns bekannt.

Die Beschränkung der menschlichen Erkenntnis in Betreff ihres Inhalts auf die sinnlichen Wahrnehmungen, in Betreff ihrer Form auf die durch Worte gebundenen Begriffe: das sind die kostbaren und unvergänglichen Wahrheiten, die dieser große Geist der Menschheit offenbarte, mit welchen er den Weg eröffnete der bald zur Kritik der Vernunft führen und die Leistungsfähigkeit, Grenzen, wie überhaupt das ganze Verfahren der menschlichen Vernunfttätigkeit aufs Vollkommenste und unwidersprechlich darlegen sollte.

So sehr aber auch durch die Leistungen LOCKEs Objekte und Begriffe einander nahe gerückt sind, noch immer klafft ein unermeßlicher Abgrund zwischen beiden, indem der genetische Zusammenhang derselben in keiner Weise erklärt werden kann, indem er auf die Frage, wie aus sinnlichen Eindrücken allgemeine Begriffe werden können, ebensowenig die mindeste Antwort geben kann, als er zu sagen imstande ist, wieso wir Begriffe von den sogenannten "primären" oder "realen" Eigenschaften der Objekte gewinnen imstande sind.

Vielmehr sind die Empfindungen doch stets speziell, niemals allgemein, und liegen, wie er richtig behauptete, im Subjekt; die realen Eigenschaften aber können doch nur im Objekte selbst liegen, wie also können sie in unseren Geist gelangen? Außerdem - nach Geschmack, Geruch und Farbe klassifizieren wir doch die Objekte niemals, was haben also die Sinnesaffektionen mit den Gattungen zu tun, deren wahre Repräsentanten doch die generellen Begriffe sind?

Sind dagegen die primären Eigenschaften, namentlich Bewegung und Gestalt, Ursachen der Klassifikation, welche Verbindung ist denkbar zwischen diesen Eigenschaften und unserer Sinnesempfindung? Die Unmöglichkeit, die Verbindung zwischen der Bewegung kleinster Teilchen und der spezifischen Empfindung des Roten, Weißen usw. einzusehen, wird von LOCKE selber eingeräumt.

Aber folgende Frage, durch die er seine wichtige Unterscheidung hätte begründen müssen, kam ihm nicht in den Sinn: Wie können wir von einfachen Verstandesbegriffen, ob wir sie nun Akzidentien oder Relationen nennen, z.B. Zahl, Raum, Zeit behaupten, daß sie dem wahren Wesen der Dinge entsprechen?

Wir sehen, die große Frage nach dem Verhältnisse unseres Denkens zu der realen Welt, jene Frage, die KANT erst aufwarf und durch folgenschwere Entdeckung des Unterschieds zwischen apriorischen Formen der Erkenntnis und der eigentlichen Sinnesempfindung, dem Inhalte der Erkenntnis, beantwortete, war LOCKE noch nicht aufgegangen. Für ihn war die reale Welt das stillschweigend Vorausgesetzte, das menschliche Erkenntnisvermögen eine  camera obscura,  die alle Bilder und dann auch alle mit Worten bezeichneten Begriffe durch das Mittel der Sinne  leidend,  d.h. empirisch empfing.

Nichts desto weniger war LOCKEs ganzes Bestreben darauf gerichtet, das was man den Wirklichkeitsgehalt der Begriffe nennen kann, zu prüfen. Die ganze Tätigkeit unseres Denkens vollzieht sich durch Begriffe. Alle Vernunfttätigkeit, sofern sie auf Gewißheit, Notwendigkeit und Allgemeinheit Anspruch macht, bezieht sich einzig und allein auf Vergleichung der Übereinstimmung und Nichtübereinstimmung von Begriffen; was sich widerspricht, ist notwendig falsch; was identisch ist, notwendig richtig.

Unseren Worten, den sinnlichen Zeichen des Denkens, entsprechen nur Begriffe. Der Übergang von den Begriffen, d.h. das Verhältnis der realen Welt zu unserem Denken blieb eine offene Frage. Sie wurde mit dem Schwerte zerhauen durch den Grundgedanken des Empirismus: "Alle unsere Begriffe stammen aus der Außenwelt, aus sinnlichen Eindrücken."

So sehr LOCKE zugeben mußte, daß zwischen den wirklichen Dingen, d.h. deren Realwesen und den Begriffen mit dem Nominalwesen ein großer Unterschied sei, ließ er gleichwohl unsere sämtlichen Begriffe aus der Erfahrung, d.h. unserem leidenden Verhalten den Dingen gegenüber hervorgehen. Es war die Gegenströmung gegen die Scholastik, die alles Wirkliche aus dem Bewußtsein, dem Geiste, dem metaphysischen Grunde herzuleiten sich vermaß.

Unter dieser Umständen, und zwar hauptsächlich aus dem Grunde, weil die  Tätigkeit  des denkenden Geistes gänzlich ausgelassen wurde, konnte das, was LOCKE mit Recht als die wichtigste Aufgabe der Philosophie bezeichnete, den  Ursprung  der Begriffe zu ermitteln, von ihm nicht geleistet werden. Wie kommt der Menschengeist dazu, aus dem Einzelnen das Allgemeine, aus dem Sinnlichen das Gedachte, aus der Perzeption die Konzeption abzuleiten?

Die Antwort, die das gedankenreiche Buch LOCKEs auf diese Frage gibt, läßt sich am einfachsten in folgendem Ausdruck resümieren: "W i e er es tut, das weiß ich nicht; ich weiß nur,  daß  er es tut."

Es bleiben als große fruchtbringende Resultate der LOCKEschen Untersuchung folgende Wahrheiten:

  1. Die Abhängigkeit des Denkens von der Sprache. "Als ich meine Betrachtungen über Wesen und Eigentümlichkeit der menschlichen Erkenntnis begann, sagt er selbst, da hatte ich noch keinen richtigen Begriff von der außerordentlichen Wichtigkeit der Sprache für die letztere. Erst im Verlaufe meiner Untersuchungen wurde mir dieselbe immer klarer und gewisser."
  2. Die Worte, an sich leere Schälle, sind nur Zeichen, aber nicht Zeichen von Dingen, sondern von allgemeinen Begriffen. Diese Begriffe sind aber kein Sanktissimum, nichts absolut Gültiges, vielmehr je nach der geistigen Auffassung der verschiedenen Menschen sehr verschieden, in den meisten Fällen sogar unklar und verworren. Die Philosophie hat zwei Aufgaben:

      Erstlich alle Begriffe durch Kritik und Analyse auf ihre letzten nicht mehr reduzierbaren Elemente, die einfachen Begriffe, zurückzuführen; also für die Gedankenwelt das Nämliche zu leisten, was die Chemie it so großem Erfolge für die natürlichen Stoffe geleistet hat. Zweitens das Verhältnis der Begriffe zu der realen Welt bestimmen; die heißt nichts anderes als den Ursprung der Begriffe ermitteln.
Hier gab es dem Anscheine nach nur zwei Möglichkeiten, entweder das denkende Subjekt für sich allein oder die Objekte für sich als das Gewisseste, unmittelbar Gegebene betrachten; den ersten Weg hatte die mittelalterliche Philosophie betreten, den letzteren betrat LOCKE; beiden konnten nicht zum Ziele führen.

Die dritte Möglichkeit, von dem Verhältnisse des Subjekts zum Objekte auszugehen, dabei zu zeigen, wei ein Objekt für den denkenden Geist zustande komme, eine doppelte Quelle der Erkenntnis, Sinnlichkeit und apriorische Formen, nachzuweisen, durch deren Zusammenwirken erst eine Erfahrung und Begriffe entstehen können, offenbarte sich erst dem Tiefblicke KANTs. Auf seine Leistungen hat alle philosophische Forschung zu bauen, nur im Einklang mit ihnen vermag das große Problem des Ursprungs der allgemeinen Begriffe gelöst werden.
LITERATUR - Ludwig Noirè, Logos - Ursprung und Wesen der Begriffe, Hildesheim/Zürich /New York 1989

Anmerkungen
1) Das nie genug zu preisende Verdienst LOCKEs liegt eben darin, daß er unbekümmert um den Laut der Worte nur die geistigen Äquivalente derselben, die  Begriffe  fest ins Auge faßte und deutlich erkannte, daß von deren Bestimmung und Inhalt alles Denken abhänge. Nun fand es sich, daß nicht nur der Laut der Worte, nicht nur die irrige Auffassung der Wirklichkeit, nicht nur mangelhafte Logik, d.h. Verbindung der Begriffe den Menschen täusche, sondern daß auch in den Begriffen selbst, dem was jeder Einzelne sich bei dem Worte denkt ein wichtiger, wenn nicht der wichtigste Quell es Irrtums liege. Die Begriffe verloren dadurch ihren absoluten Wert, wurden Gegenstand der Kritik, d.h. der wissenschaftlichen Betrachtung. Aufs deutlichste spricht er dies aus in der folgenden Stelle:
    "Hingegen muß unter denjenigen Leuten ein unaufhörliches Disputieren, Gezänk und Rotwelsch herrschen, die zum Denken nicht aufgelegt sind und ihre Begriffe nicht genau und sorgfältig untersuchen, noch sie von den Zeichen, deren sich die Menschen dazu bedienen, unterscheiden sondern mit den Wörtern vermengen. Absonderlich ereignet sich dieses bei Gelehrten, deren Sache die Belesenheit ist, die einer gewissen Sekte zugetan und an ihre Sprache gewöhnt sind und also anderen haben nachschwatzen lernen."
2) Voraussetzung eines unbewiesenen, erst noch zu beweisenden Satzes als Beweisgrund.