ra-34p-4Adam Schaff    
 
A.N. LEONTJEW / A.R. LURIA
Das Verstehen des Sprechens anderer

Es war ein Glücksfall, daß wir in einem fünf Jahre alten Paar eineiiger Zwillinge die geeigneten Versuchspersonen fanden.

Es wird jetzt notwendig, Licht auf eine andere wichtige Frage zu werfen. Wie wurde es den Zwillingen möglich, die Sprache der Mitmenschen zu verstehen, wo doch ihre eigene Sprache derart primitiv war? Bedeutete die durchgängige enge Verknüpfung ihres Sprachgebrauchs mit der jeweiligen Situation, daß das von außen kommende Sprechen nur dann für sie verständlich war, wenn es sich direkt an sie richtete und so ebenfalls mit einer konkreten, praktischen Situation verflochten war?

Zunächst schien es so, als ob das Verstehen fremden Sprechens gewährleistet und vom gegenseitigen Verstehen der beiden Kinder selbst nicht verschieden sei. Sorgfältige Untersuchungen zeigten jedoch folgendes: Während beide das völlig verstanden, was sich unmittelbar auf ein Objekt oder Tun bezog, das sie selber anging, waren sie außerstande, Äußerungen anderer zu verstehen, wenn sie nicht direkt mit einer konkreten Situation im Zusammenhang standen und in einer entwickelteren, erzählenden Form vorgebracht wurden. So blieb ihr Verstehen fremden Sprechens denselben Gesetzlichkeiten unterworfen, die auch die Konstruktion ihres eigenen Sprachgebrauchs bestimmte.

Um nun genauer herauszufinden, inwieweit beide Kinder die Bedeutung einzelner Wörter verstünden, führten wir mehrere spezielle Untersuchungen durch. Wenn der Instruktor sie anregte, ein benanntes Objekt oder Bild auszusondern, dann taten sie das ohne Mühe, und es hatte den Anschein, als ob die in die Erinnerung rufende Funktion des vernommenen Wortes von beiden erfüllt wurde. Aber man brauchte nur einen Gegenstand zu nennen, den den Zwillingen nicht vor Augen stand, und schon kam ein merklicher Unterschied zu Gleichaltrigen ans Licht. Die letzteren waren dann verwirrt und weigerten sich, auf irgend etwas hinzudeuten, unsere Zwillinge dagegen wiesen oft auf einen der Gegenstände vor ihnen hin und enthüllten so die Unbeständigkeit und Verschwommenheit der Worbedeutungen in ihrem Falle.

Beispielsweise deuteten sie richtig auf eine Straßenbahn, eine Axt, einen Hund oder Ofen. Wurden sie jedoch gefragt: Wo ist das Kalb? Wo ist das Lamm?, die in der betreffenden Situation gar nicht da waren, dann zeigten sie wiederum auf den Hund. Oder wenn man sie bat, einen Stuhl zu zeigen, wiesen sie auf einen Tisch hin und ließen so erkennen, wie der verallgemeinernde Charakter der Wortbedeutungen bei ihnen beschaffen war.

Aber der aus den anfänglichen Antworten gewonnene Eindruck von der völligen Sicherheit der Verständnisses der Zwillinge für das Sprechen anderer war trügerisch. Es war lediglich nötig, die Grenzen der elementaren Bezeichnungsfunktionen in den Sätzen zu überschreiten, die an sie gerichtet wurden, und zu Aussageformen überzugehen, die mit der unmittelbaren Situation in keinem Zusammenhang standen, und schon kam es ans Licht, daß die komplexen Formen der Sprache von unseren Kindern nicht mehr begriffen wurden.

Dieses mangelhafte Verständnis wurde offenbar, sobald wir zum entwickelten Satz übergingen, der nur verstanden werden konnte, wenn ein Vergleich der einzelnen Wörter des Satzes möglich war und eine Reaktion auf ein aus dem Kontext aufgeschnapptes Einzelwort verhindert wurde. In diesen Fällen wurde das Verständnis des entwickelten Satzes als eines komplexen verbalen Stimulus häufig ersetzt durch eine unmittelbare Reaktion auf irgendein separates Satzglied. Das Kind antwortete dann mit einem einzigen Wort, das in der Frage mitenthalten war und ignorierte jedoch dabei ihre komplexe grammatische Struktur.

Als während eines Spiels eine Szene aufgeführt wurde, die eine Bootsfahrt auf einem Fluß bis zu einem Wald darstellte, und eines der Kinder gefragt wurde: "Wo fahren Mama und Ljoscha hin?", antwortete es: "Boot!", offensichtlich die erforderliche vollständige Antwort durch einen einfachen Hinweis auf das Objekt ersetzend, "in welchem sie fuhren". Eine analoge Antwort wurde vom anderen Zwilling gegeben, als dieser während eines Spiels, das eine Straßenbahnfahrt zum Krankenhaus darstellt, gefragt wurde: "Wohin fahren Mama und Jura?" und darauf antwortete: "In der Straßenbahn".

Eigentümlichkeiten der intellektuellen Prozesse
Nach dem bisher Gesagten ist anzunehmen, daß die intellektuellen Leistungen unserer Zwillinge, besonders die Abstraktion und Verallgemeinerung, die bekanntlich eng mit der Sprache zusammenhängen, nicht in dem Maße ausgeprägt waren wie bei ihren Altersgenossen. Mit anderen Worten: die beobachteten Züge ihrer Sprachentwicklung hatten zu einer erheblichen Verzögerung aller geistigen Vorhänge geführt, die mit der Sprache verknüpft sind, besonders der Abstraktions- und Generalisierungsprozesse.

Wir können diese Gesichtspunkte anhand von Aufzeichnungen illustrieren die sich auf die Klassifizierung von Objekten beziehen, eine Tätigkeit, zu der, wie wir durch Kontrollversuche feststellten, das normale fünf bis fünfeinhalb Jahre alte Kind durchaus fähig ist.

Den Kindern wurde aufgegeben, aus einer Vielzahl von Gegenständen (Spieltieren, Wagen, Lokomotiven, Tellern usw.) einen Gegenstand auszusondern. Dann sollte jedes Kind "andere geeignete Objekte" auswählen, um eine einheitliche Gruppe herzustellen. Die Kindergartenkinder im Alter von fünf bis sechs Jahren wurden leicht mit der Aufgabe fertig, asu zusammengehörigen Gegenständen Gruppen zu bilden. Sie reproduzierten in der Regel irgendeine konkrete Situation - "eine Schule", "eine Straße", "eine Küche" - oder einen anderen allgemeinen, durch ein gemeinsames Merkmal bestimmten Gegenstandsbereich, z.B. Dinge aus Eisen, Dinge aus Holz oder Tiere.

Obwohl die Zwillinge die Gegenstände im Zusammenhang einer konkreten Tätigkeit ohne Mühe einander zuordnen konnten, waren sie indessen völlig unfähig, sie systematisch zu ordnen und zu gesonderten Gruppen zu vereinigen. Selbst die primitivste Leistung des Klassifizierens war ihnen nicht möglich. Anstatt die Gegenstände zu  klassifizieren,  reihten sie einfach einen nach dem andern auf, entweder in einer spielerischen Art oder unzammenhängend an den Tischkanten entlang.

Diese Versuche liefern wichtiges Material für die Analyse der intellektuellen Leistungsstruktur der Zwillinge. Ihre gesamte Aktivität ist durch die Tatsache bestimmt, daß die Herstellung von Beziehungen zwischen Objekten sich ausschließlich im Verlauf ihrer unmittelbaren Tätigkeit vollzieht. Sie existiert noch nicht als eine unabhängige Tätigkeit der Generalisation, getrennt vom Handeln und verwirklicht gemäß den vom Sprachsystem bereitgestellten abstrakten Kategorien.

Unseren Knaben waren solche Leistungen verwehrt, wie sie das normale Kind dieser Altersstufe mühelos mittels der Sprache zuwege bringt: die Verallgemeinerung von Gegenständen anhand konkreter Ähnlichkeiten. Da ihr eigener Sprachgebrauch noch nicht von ihrem Tun getrennt war, vermochten sie weder die Objekte zu verallgemeinern noch ihre Tätigkeit zu organisieren und zu steuern.

Mit anderen Worten: die Arbeit der Zuordnung von Objekten zu gewissen Kategorien, die Aufgabe der Klassifikation, die nur aufgrund eines "neuen Prinzips der Nerventätigkeit", nämlich der Abstraktion und Generalisation, zu verwirklichen ist, war unseren Kindern unmöglich. Ihrem primitiven, handlungsverwobenen Sprechen entsprach eine primitive Organisation ihrer Aktivität, die ganz von ihren leibhaftigen Handlungen abhängig war.

Zusammenfassung
Wir fassen einige der wichtigsten Folgerungen zusammen.

Es ist in der wissenschaftlichen bzw. materialistischen Psychologie wohlbekannt, daß die Sprache, die die gegenständliche Wirklichkeit reflektiert, die Formung der komplexen menschlichen Aktivitäten direkt beeinflußt. Das sogenannte zweite Signalsystem führt als "ein neues Prinzip der Nerventätigkeit- die Abstraktion und damit auch die Generalisation" der vorgängigen Signale ein und erhebt die geistigen Abläufe dadurch auf ein neues Niveau.

Die bisher vorgelegten Forschungsbefunde reichten jedoch nicht aus, um mit der erforderlichen Genauigkeit und Beweiskraft zu begründen, in welchem Ausmaß und mit welchen Auswirkungen die Sprache diesen bildenden Einfluß auf die geistigen Prozesse ausübt, den wir alle kennen. Das dargestellte Experiment sollte auf dieses Problem Licht werfen.

Es war ein Glücksfall, daß wir in einem fünf Jahre alten Paar eineiiger Zwillinge die geeigneten Versuchspersonen fanden. Sie litten an einer bestimmten Sprachstörung, die eine Retardierung ihrer Sprachentwicklung bewirkte. Als diese Entwicklungshemmung fixierender Faktor trat noch die "Zwillingssituation" hinzu, die keine objektive Nötigung für die Weiterentwicklung der Sprachfähigkeit enthält.

In der einleitenden Beobachtungsperiode erfuhren die Zwillinge nicht die Notwendigkeit, die Sprache zur Kommunikation miteinander zu gebrauchen. Als ein sich selbst genügendes Paar sahen sie sich allenfalls genötigt, "etwas im Verlauf ihres praktischen Tuns zu bezeichnen". Ein Ergebnis dieser Situation war, daß sie einen handlungsverwobenen Sprachgebrauch, eine elementare Form "synpraktischen" Sprechens, entwickelten.

Dieses primitive Sprechen überschritt in der Regel nicht die Grenzen der Benennen von Gegenständen im Zusammenhang des unmittelbaren Umgangs. Meistens nahm es die Form von Ausrufen an, die nur im Zusammenhang ihres Tuns, wovon sie ein Bestandteil waren, Bedeutung gewannen.

Diesem primitiven handlungsabhängigen Sprechen entsprach eine besondere, ungenügend differenzierte Bewußtseinsstruktur. Die Zwillinge vermochten das Wort nicht von der Handlung abzulösen, um orientierende, planende Leistungen zu vollbringen, die Ziele des Handelns mit Hilfe der Sprache zu formulieren und das weitere Handeln der zur Sprache gebrachten Absicht unterzuordnen.

Selbst im Alter von fünf bis fünfeinhalb Jahren konnten beide weder die Fertigkeit meistern noch die komplexen Spielformen organisieren, wie sie Kindern dieses Alters eigentümlich sind. Und sie waren unfähig, sich in produktiven, sinnvollen Aktivitäten zu engagieren. Ihre intellektuellen Operationen blieben zu sehr beschränkt. Sogar die elementaren Formen des Klassifizierens lagen jenseits ihrer Möglichkeiten.

Zur Aufdeckung der Faktoren, die bei der Entwicklung der Sprache die führende Rolle spielten, und der Wandlungen, die infolge eines raschen Spracherwerbs in der Struktur des geistigen Lebens der Zwillinge hervorgebracht wurden, führten wir ein spezielles Experiment durch.

Um eine möglichst schnelle Sprachentwicklung zu gewährleisten, war es erforderlich, durch Gesellung mit normal sprechenden Kindern für sie eine objektive Nötigung zum Sprachgebrauch zu schaffen. Wir beseitigten deshalb die "Zwillingssituation", indem wir die beiden trennten und sie in zwei Parallelgruppen eines Kindergartens unterbrachten. Dann beobachteten wir die Wandlungen, die in ihrem Sprachgebrauch stattfanden. Später führten wir ein spezielles systematisches Experiment durch: Wir gaben dem einen Zwilling Sprachunterricht mit dem Ziel, seine sprachliche Kapazität zu entwickeln und ihn an den Gebrauch ganzer Sätze zu gewöhnen. Dieses Experiment führte sehr rasch zu Resultaten.

Infolge des Wegfalls der Zwillingssituation trat das primitive handlungsgebundene Sprechen sehr schnell in den Hintergrund. In der neuen Situation waren die beiden Jungen sehr bald imstande, sich mittels des normalen Sprachsystems zu verständigen.

Drei Monate nach Beginn des Experiments konnten wir schon substantielle Fortschritte im Sprechen der Zwillinge beobachteten. Wenn man von geringfügigen Mängeln in der Aussprache absieht, näherten sich Wortschatz und Grammatik bei ihnen der normalen Sprache ihrer Altersgenossen. Ihr Sprachgebrauch erfüllte zudem neue Funktionen, die vorher gefehlt hatten. Anstelle des handlungsgebundenen oder expressiven Sprechens entwickelte sich die Fähigkeit zum erzählenden und planenden Sprechen.

Noch bedeutsamer war die Tatsache, daß die ganze geistige Struktur sich bei den Zwillingen gleichzeitig deutlich änderte. Sobald sie ein objektives Sprachsystem erworben hatten, konnten sie Ziele ihres Tuns in Worten ausdrücken, und bereits nach drei Monaten beobachteten wir die Anfänge sinnvollen Spiels. Es entstand die Möglichkeit zu produktiver und konstruktiver Aktivität im Licht formulierter Ziele, und eine Reihe intellektueller Leistungen wurde bis zu einem bedeutenden Grad verselbständigt, die sich noch kurz vorher in einem embryonalen Zustand befunden hatten.

Im Verlauf der weiteren Beobachtungen waren wir in der Lage, bedeutsame Veränderungen in der geistigen Struktur der Zwillinge festzustellen, die wir nur auf den Einfluß des einen geänderten Faktors zurückführen konnten: auf die Aneignung der Sprache. Unterschiede zwischen den beiden Kindern traten im Zusammenhang mit dem systematischen Training des Zwillings A in der Umgangssprache auf. Er wurde dadurch befähigt, die Sprache zum Gegenstand der Wahrnehmung zu machen und grammatisch entwickelte Formen sprachlicher Kommunikation anzueignen. Unsere Aufzeichnungen zeigten, daß sich das bei diesem Zwilling in spezifischen sprachlichen Leistungen und in der Fähigkeit zu diskursivem Denken widerspiegelte, worin er seinen Bruder deutlich übertraf.

Deshalb lauten die Resultate unseres Experiments auf die Einsicht hinaus, daß durch die Schaffung einer objektiven Notwendigkeit zu sprachlicher Kommunikation die Kinder hinreichend für die Aneignung des Sprachsystems vorbereitet waren. Im Zuge der Sprachentwicklung erwarben sie nicht nur neue Formen der Kommunikation, vielmehr wurden dadurch auch signifikante Wandlungen in ihrer Bewußtseinsstruktur hervorgerufen, die sich auf der Basis der Sprache aufbauten.
LITERATUR - A.N. Leontjew / A.R. Luria, Die psychologischen Anschauungen L.S. Wygotskis, in L.S. WYGOTSKI, Denken und Sprechen, Berlin 1964