ra-2Ch. BühlerM. J. EsslinP. SternM. NadeauJ. Volkelt    
 
SUZY GABLIK
Magritte - der Mann mit dem Bowler
[ 3 / 5 ]

Magritte und das Objekt
Lebenslauf
Der Mann mit dem Bowler
Gesunder Menschenverstand
Magrittes Sprachgebrauch
Welt der Ähnlichkeit
Die Bildsprache Magrittes<

Er ähnelte niemandem so sehr, wie den nichtssagenden Männern mit den steifen Hüten.

MAGRITTE war von allen Surrealisten der paradoxeste. Wo die anderen absichtlich öffentliche Skandale verursachten, bemühte er sich, nach außenhin unverdächtig zu bleiben. In mehr als einem Sinn könnte man sagen, daß MAGRITTEs künstlerische Biographie endete, als er 1930 Paris verließ. Nach seiner Rückkehr nach Brüssel wurde sein Leben mehr und mehr das eines gewöhnlichen Bürgers. Er haßte Reisen; und in seinem Leben war nur seine Phantasie auf Veränderung geschaltet. Es war, als versuche er absichtlich, sich vor dem weltlichen Erfolg unter der Schutzfarbe des Konventionellen zu verstecken. Sein Wunsch, ohne Geschichte (selbst ohne eigene) und ohne Stil zu leben, war der genau berechnete Entschluß, sich unsichtbar zu machen - vielleicht in der Art von Fantomas. Es gab nichts Ungewöhnliches in seiner äußeren Erscheinung; er ähnelte niemandem so sehr, wie den nichtssagenden Männern mit den steifen Hüten, den sogenannten Bowlers, die in seinen Bildern auftreten.

Durch eigene Wahl war sein Leben nach außen hin ereignislos und bestand aus einem bescheidenen Netzwerk regelmäßiger Gewohnheiten: Der tägliche Morgenspaziergang mit seinem Spitz Loulou zum Gemischtwarenhändler, ein Nachmittagsbesuch im Kaffee Greenwich, wo er stundenlang versunken den Schachspielern zuschauen konnte, die rituelle Samstagzusammenkunft mit ein paar Freunden. Das Haus, in dem er lebte, gleicht, so wie die anderen Häuser in der Umgebung, denen in seinen Gemälden - eine Tatsache, die, wie SCUTENAIRE bemerkte, ebenso rührend wie unwichtig ist. Im Inneren war es vollgestopft mit Warenhausantiquitäten, bequemen Sofas und Sesseln, Porzellanvasen, orientalischen Teppichen und einem kleinen Klavier.

MAGRITTE hatte niemals ein besonderes Atelier, sondern malte in dem an das Schlafzimmer angrenzenden Boudoir. (In den früher bewohnten Häusern pflegte er in der Küche oder im Speisezimmer zu malen - es gab nur eine Staffelei, ein Tablett mit Farben und Pinseln und ein paar Kohlestücke für seine Skizzen auf der Leinwand; ansonsten kaum eine äußere Spur von Aktivität.) Er schien in vieler Hinsicht nur hypothetisch zu leben, fast so, als ob er die Existenz der äußeren Welt bezweifelte. Trotzdem hatte er Sinn für Situationskomik und war ein Meister in der Ausführung von Streichen.

Ich habe bereits früher dargelegt, daß die meisten der Hauptthemen MAGRITTEs schon in den dreißiger Jahren aufgetreten waren und daß die nachfolgenden Malereien reife Ausarbeitungen dieser frühen Ankündigungen waren. Infolgedessen enthält das Gesamtbild seiner Arbeit viele Versionen ein und derselben Idee, die sich über eine lange Zeit durch Gegentypen und Ableitungen, Originale und Kopien, Varianten und Umformungen entwickelten.

MAGRITTEs Abneigung, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, spiegelt sich in der Anonymität des Mannes mit dem Bowler, einem Thema, das sich hauptsächlich während seiner späteren Lebensjahre entwickelte und das man seither mit ihm geradezu identifizierte. Der Mann mit dem Bowler hat manches mit dem ULRICH in ROBERT MUSILs Roman "Der Mann ohne Eigenschaften" gemeinsam: Er hat seine "Eigenschaften" aufgegeben, so wie jemand die Welt aufgeben kann. MAGRITTEs "Mann mit Bowler" ist eher eine Gestalt aus einem Buch als ein menschliches Wesen, aber eine Gestalt, bei der alle unwesentlichen Elemente weggelassen wurden. Wie ULRICH und wie auch MAGRITTE selbst, scheint er die Geschichte der Idee und nicht die Geschichte der Welt zu leben. Er erinnert an einen Mann, der gezwungen ist, gegen seinen Willen zu leben, obwohl er sich ohne Widerstand treiben läßt. Leidenschaftslos und neutral richtet er seinen Blick auf die Welt, aber oft ist sein Gesicht auch abgewandt, verschoben oder auf andere Weise verborgen bzw. durch Gegenstände ausgelöscht, als ob er eine allgemeine Abneigung, für die es keine ergänzende Neigung gibt, ausdrücken wollte.

Eine metaphysische Einsamkeit, die ans Spirituelle und Stoische grenzt, umgibt den Mann mit dem Bowler, als ob er mit einer Gabe geboren wäre, für die es im Augenblick keine Verwendung gibt. Sie löst ihn aus dem Bereich des Erlebens mit einer gewissen hochmütigen Exklusivität, die in ihrer Kälte herausfordernd ist. In diesem Sinn erinnert er an BAUDELAIREs Begriff des "Dandy", denn gerade diese Haltung der Kälte läßt Opposition und Aufruhr durchblicken: der unwiderstehliche Zwang, die Trivialität zu bekämpfen und zu zerstören. Nach BAUEDELAIRE ist "der Dandyismus ein Sonnenuntergang; wie der untergehende Tagesstern ist er großartig, ohne Wärme und voll Melancholie ... ein schlummerndes Feuer, das auf sich selbst verweist und das in Flammen ausbrechen könnte, aber darauf verzichtet". In gewissem Sinn ist diese Weigerung, etwas zu "sein", charakteristisch für den Menschentyp, den unsere Zeit hervorgebracht hat.

Und so wird die Kollektivphysiognomie des Mannes mit dem Bowler eine Darstellung der Gruppenseele und Spiegelbild unterdrückter Werte, bei denen es letzten Endes belanglos ist, ob sie nun von MAGRITTE beabsichtigt waren oder nicht. Der Mann mit dem Bowler ist ein vollkommener Träger für unsere Projektionen. Er nimmt einen zunehmend mythologischen Aspekt an; wie DUCHAMPs "Junggesellen im Großen Glas" steht er schließlich stellvertretend für alle Menschen. Er ist ein Beobachter von Phänomenen, für den der Schwerpunkt nicht im Individuellen zu liegen scheint, sondern in jenen Bezügen der Ungewißheit, die derzeit die philosophische Denkweise der modernen Physik spiegeln.

In unserer Zeit wurde bewiesen, daß in der physischen Welt für den Beobachter alles relativ ist und daß die räumlichen und zeitlichen Eigenschaften physikalischer Erscheinungen zum großen Teil vom Beobachter abhängen. Ferner hat die Relativitätstheorie radikal die philosophischen Vorstellungen von Raum und Zeit und ihrem Verhältnis zur Materie verändert; wo früher noch Ereignisse in der Zeit, unabhängig von ihrer Lage im Raum, eingeordnet werden konnten, wissen wir heute, daß es nichts Derartiges wie absolute Ruhe oder absolute Bewegung gibt. MAGRITTEs Bilder zeigen ein außergewöhnliches Gefühl für die Veränderungen, die sich in unserer Vorstellung von der Realität infolge des Überganges von der NEWTONschen Mechanik zu den Formulierungen der Relativitäts- und Quantentheorie vollzogen haben. In seinen Gemälden erscheinen zeitlich getrennte Ereignisse gleichzeitig, und physikalische Gesetze werden in einer Weise geleugnet, die jede dogmatische Anschauung von der physischen Welt in Frage stellt. So erinnert z.B. das Verhältnis des Pferdes zu den Bäumen in 'Carte Blanche' an gewisse Probleme in Verbindung mit der Struktur von Zeit und Raum; ebenso deuten die "schwebenden" Felsen und Äpfel Probleme der Stellung und Bewegung im Raum an.

Für MAGRITTE bestehen physikalische Gesetze aus einer Abgrenzung von Möglichkeiten; sie stellen eine Art unveränderlichen Kanal für den Lauf der Dinge dar, den er fortwährend in Frage stellt. Die moderne Physik hat folgendes gezeigt: sobald man einmal entdeckt hat, daß ein Gesetz unter jenen Umständen, unter denen es bisher für gültig gehalten wurde, seine Gültigkeit verloren hat, ist es notwendig, neue und bisher unidentifizierte Anwendungsbedingungen zu suchen. Tatsachen sind nicht dazu verpflichtet, sich nach unserer Vorstellung zu verhalten; nur unsere Erwartungen werden von unseren Ideen beherrscht.

MAGRITTE zweifelt - so wie vor ihm DUCHAMP - an dem absoluten Wert von Gesetzen, als ob es unerträglich wäre, sich mit einer Welt abzufinden, die ein für allemal festgelegt ist. Wie ROBERT LEBEL festgestellt hat, war für DUCHAMP sogar die Schwerkraft ein Zufall oder eine Form von Höflichkeit, denn "nur durch Herablassung ist ein Gewicht bei Abwärtsbewegung schwerer als bei Aufwärtsbewegung". In MAGRITTEs Bildern des Mannes mit dem Bowler und des Apfels ist es unmöglich, zu sagen, ob der Apfel steigt oder fällt oder ob er im Raum schwebt bzw. in Bewegung ist. (Es kann nicht sinnvoll behauptet werden, daß ein Apfel dem Gesetz der Schwerkraft gerade in einem bestimmten Augenblick unterliegt oder daß dies eine längere oder kürzere Zeit dauert.) Ebenso wie bei dem Felsen in der 'Argonnenschlacht' ist es unmöglich, die Lage des Apfels zu definieren; wir können auch nicht bestimmen, ob er stabil oder in Bewegung ist. (Der Psychologe PIAGET ist sogar so weit gegangen, das Gleichgewicht als Vorgang und nicht als Zustand zu definieren, und er schloß daraus, daß jeder Eindruck relativer Stabilität, den wir gewinnen, nur auf die grobe Organisation unserer Sinne zurückzuführen ist.) Wir wissen nur, daß sich alle Körper in einem gegebenen Schwerkraftsystem genau gleich verhalten.

ARISTOTELES dachte, daß schwere Körper schneller fallen als leichte. GALILEI zeigte, daß dies nicht der Fall ist, wenn man den Luftwiderstand ausschaltet: in einem Vakuum fällt eine Feder so rasch wie ein Bleiklumpen. NEWTON brachte den Fall eines Apfels mit der Bewegung des Mondes um die Erde in Verbindung. EINSTEIN verband die Zeit mit dem Raum, die Masse mit der Energie und den Weg des Lichtes über die Sonne hinaus mit dem Flug einer Kugel. MAGRITTEs Bilder scheinen alle diese Ideen auf einmal zusammenzufassen.

Es ist deutlich geworden, daß die alten Begriffe der Natur nicht mehr angepaßt sind. Die Wahrscheinlichkeitsfunktion, die durch die Quantentheorie in die Physik eingeführt wurde, stellt an sich nicht einen Verlauf von Vorgängen im Verlauf der Zeit dar: sie stellt lediglich die Tendenz zu Vorgängen und zu unserem Wissen von diesen Vorgängen dar. Der sogenannte "Quantensprung" bezeichnet den Übergang vom "Möglichen" zum "Tatsächlichen", da die Beobachtung aus allen möglichen Vorgängen den, der tatsächlich abgelaufen ist, auswählt. Nach HEISENBERG hat die Wahrscheinlichkeitsfunktion etwas eingeführt, das zwischen der Idee von einem Vorgang und dem tatsächlichen Vorgang liegt gerade in der Mitte zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit (eine ausgezeichnete Beschreibung vieler Bilder MAGRITTEs).

Im Gegensatz dazu hatte die klassische NEWTONsche Physik eine permanente äußere Welt vorausgesetzt, die in ihrem Ablauf fixiert und unabhängig von menschlichen Geschöpfen war. Sie hatte angenommen, daß die Welt objektiv beschrieben werden könne - das heißt, ohne Bezugnahme auf uns selbst und daß es für alle Phänomene eine Erklärung in mechanischen Begriffen gebe. Wissenschaftliche Gesetze wurden immer auf einer streng kausalen oder deterministischen Anschauung von Vorgängen aufgebaut. Aber diese Trennung zwischen der Welt und dem Ich schuf einen unlösbaren Konflikt zwischen dem freien Willen und dem Determinismus, die so lange unvereinbar bleiben mußten, als der Mensch glaubte, er hätte entweder völlige Herrschaft über seine Existenz oder überhaupt keine. MAGRITTE schrieb:
"Wenn man ein Determinist ist, muß man glauben, daß eine Ursache immer dieselbe Wirkung hervorbringt. Ich bin kein Determinist, aber ich glaube auch nicht an den Zufall. Er dient nur als eine weitere "Erklärung" der Welt. Das Problem liegt genau darin, daß man überhaupt keine Erklärung der Weit anerkennt, weder durch Zufall noch durch Determinismus. Ich glaube nicht, daß der Mensch irgend etwas entscheidet, weder die Zukunft noch die Gegenwart der Menschheit. Ich denke, daß wir für das Universum verantwortlich sind, aber das heißt nicht, daß wir irgend etwas entscheiden.

Neulich fragte mich jemand, welche Beziehung es zwischen meinem Leben und meiner Kunst gebe. Es fiel mir wirklich keine ein, außer, daß das Leben mich verpflichtet, irgend etwas zu tun, und so male ich. Aber ich beschäftige mich nicht mit "reiner" Poesie oder mit "reiner" Malerei. Es ist ziemlich sinnlos, seine Hoffnungen in einen dogmatischen Standpunkt zu setzen, weil das, worauf es ankommt, doch nur die Macht der Bezauberung ist."
Zu dieser Macht der Bezauberung schrieb ELIZABETH BOWEN einmal: "Wo wäre das Wunderland ohne die dogmatische Klarheit dieser von Natur aus gar nicht abenteuerlustigen Alice?"
LITERATUR - Suzi Gablik, Magritte, München/Wien/Zürich 1971