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WALTHER SCHLEGTENDAL
Johann Nikolas Tetens'
Erkenntnistheorie

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"Tetens  bezeichnet das Wahrnehmen als eine Art und zwar als die einfachste Art von den Äußerungen der Denkkraft, das heißt des Vermögens, womit die Seele Verhältnisse und Beziehungen in den Dingen erkennt und unterscheidet von der Vorstellung als Perzeption die Wahrnehmung als Apperzeption."

"Die Veranlassung, warum ich eben dieses Ding und nicht ein anderes wahrnehme, mag sein, welche sie will: sie mag in mir oder vorzüglich im Objekt liegen, es mag Vorsatz oder Zufall sein, so bleibt nur gewiß, daß ich dann, wenn ich wahrnehme, auf eine  vorzügliche  Art mit der Empfindung dieses Gegenstandes beschäftigt werde."

"Halten wir daran fest, daß jeder Wahrnehmung etwas Objektives zugrunde liegt und daß dieses Objektive oder Absolute Gegenstand des Gefühls ist, so erhebt sich die Frage, was denn den Verhältnisgedanken, die doch auch auf Wahrnehmungen beruhen, als Objekt zugrunde liegt oder was bei der Wahrnehmung von Verhältnissen an Objektivem durch das Gefühl gegeben ist, und was die Denkkraft als subjektives Moment hinzufügt."


E I N L E I T U N G

Am Schluß seiner "Geschichte der deutschen Philosophie seit Leibniz" faßt EDUARD ZELLER seine Ansicht über den Gang der philosophischen Entwicklung der letzten zwei Jahrhunderte in Deutschland kurz zusammen und spricht sich dahin aus, daß die philosophische Produktivität im Großen sich in der raschen Aufeinanderfolge umfassender Systeme für einige Zeit erschöpft hat. Wie überhaupt der Charakter und Zustand der jeweiligen Philosophie von den anderweitigen, die Zeit bewegenden Interessen und insonderheit von den im Vordergrund stehenden Wissenschaften beeinflußt wird, so soll in der letzten Zeit die philosophische Tätigkeit durch die vielseitige Arbeit und die glänzenden Erfolge der Erfahrungswissenschaften zurückgedrängt. Die neue Philosophie muß darum mit diesen realen Wissenschaften in ein engeres Verhältnis treten, sie muß die Ergebnisse derselben und ihr Verfahren für sich verwenden und ihren, bisher einseitigen Idealismus durch einen gesunden Realismus ergänzen.

Den hier bezeichneten Weg hat nun in der Tat die philosophische Arbeit der letzten Dezennien eingeschlagen. Während etwa bis zur Mitte unseres Jahrhunderts ein umfassendes System nach dem anderen ausgebildet wurde, beschränkt sich seitdem die philosophische Tätigkeit darauf, entweder in umfassenden Darstellungen der früheren Systeme die Früchte dieser großen Periode einzuheimsen, oder die Gebiete, die den Erfahrungswissenschaften am nächsten leigen, auszubauen, um sich deren Resultate anzueignen und für sich zu verwerten. Unter den Bestrebungen der letzten Klasse nehmen aber die psychologischen Untersuchungen ohne Zweifel den ersten Platz ein und es dürfte sich zur Zeit wohl kein Gebiet der philosophischen Disziplin finden, auf dem mit größerem Eifer gearbeitet würde, als auf dem Gebiet der Psychologie. Es mag darum als eine zeitgemäße Aufgabe erscheinen, wenn die vorliegende Arbeit versucht, die Blicke auf einen Psychologen zu lenken, den ungünstige Umstände, die ganze Richtung der philosophischen Entwicklung und zumeist die zeitliche Nähe, in der er zu KANT steht, fast in Vergessenheit haben kommen lassen.

Und doch verdiente, wie auch HARMS (1) zu erweisen sucht, JOHANN NIKOLAS TETENS seiner psychologischen Untersuchungen wegen eine größere Beachtung. Stellt ihm doch auch ZELLER (2) das ehrenvolle Zeugnis aus, daß er sich durch wissenschaftliche Schärfe und Selbständigkeit vor den meisten der gleichzeitigen Philosophen ausgezeichnet hat, und daß die Genaigkeit der psychologischen Beobachtungen, die sorgfältige Zergliederung der psychischen Vorgänge, die umsichtige Abwägung der Folgerungen, die sich aus ihnen ziehen lassen, seinen "philosophischen Versuchen über die menschliche Natur" einen dauernden Wert sichern. Nicht minder günstig urteilt ERDMANN (3) über ihn, wenn er ihm unter den empirischen Psychologen der vorkantischen Zeit die höchste Stelle zuerkennt.

Was zunächst die äußeren Lebensumstände TETENS' anbetrifft, so soll es genügen, die wenigen Daten, die HARMS und ERDMANN beibringen, hier zu wiederholen. J. N. TETENS wurde 1736 geboren; nachdem er längere Zeit als Professor in Bützkow gewirkt hatte, wurde er 1777 als Professor der Philosophie nach Kiel berufen: von hier aus siedelte er 1789 nach Kopenhagen über, wo er eine Stellung im Finanzkollegium bekleidete; hier starb er im Jahre 1805. Unter seinen Werken, die J. E. ERDMANN aufzählt, ist das bedeutendste und umfassendste: sein "philosophischer Versuch über die menschliche Natur und ihre Entwicklung" die 1777 in zwei Bänden bei WEIDMANNs Erben in Leipzig erschienen. Die Herausgabe dieses Werkes fällt also in die Pause, die KANT in seiner schriftstellerischen Tätigkeit zwischen der sogenannten Inaugural-Dissertation (1770) und der Kritik der reinen Vernunft (1781) eintreten ließ und verdiente es einer eingehenden Untersuchung, das Verhältnis, in dem diese drei Werke zueinander stehen, festzustellen. Denn steht es einerseits fest, daß KANT von TETENS nicht unbeeinflußt geblieben ist - bezeugt uns doch ein Brief HAMANNs an HERDER vom 17. Mai 1779, daß TETENS (4) "philosophische Versuche" KANT immer vor Augen liegen hatte - so ist auch KANTs Abhandlung "de mundi sensibilis et intelligibilis forma et principiis" von TETENS nicht unbeachtet geblieben.

Doch, es liegt mir fern, das Verhältnis zwischen TETENS und KANT hier näher erörtern zu wollen; der kurze Hinweis auf KANT soll nur dazu dienen, das Interesse für TETENS, den das glänzende Gestirn KANTs so lange Zeit völlig überstrahlt hat, wieder wachzurufen und es begreiflich erscheinen zu lassen, daß sich die vorliegende Arbeit mit einem so unbekannten Philosophen beschäftigt.

Daß ich aber aus dem reichen Stoff, den TETENS in seinem Werk bietet, gerade die Lehre von der Wahrnehmung im Allgemeinen sowie vom Ursprung unserer Kenntnis von der objektivischen Existenz der Dinge gewählt und dargestellt habe, bedarf wohl kaum der Begründung. Allerdings ist in den erkenntnistheoretischen Untersuchungen der neueren Psychologie der Begriff der  Wahrnehmung wie ihn TETENS faßt, zurückgetreten und wir finden dieses Wort vielfach im Gegensatz zu Empfindung und Vorstellung, den einzelnen Elementen, als zusammenfassende Bezeichnung des sinnlichen Erkenntnisprozesses verwandt. Es dürfte darum gewagt erscheinen, neben diese beiden Hauptbegriffe als gleichberechtigtes Element den Begriff der Wahrnehmung einzuführen, aber vielleicht bewährt sich auch hier die Wahrheit des alten: "divide et impera" [Teile und herrsche. - wp] Jedenfalls erscheint es mir als ein nicht geringer Vorzug von TETENS' Erkenntnistheorie, daß durch die Einführung und Präzisierung des Begriffs der Wahrnehmung als eines Ausflusses der Denkkraft das objektive und das subjektive Element des Erkenntnisprozesses leichter und schärfer getrennt wird, als es bei der Zweiteilung in Empfindungen und Vorstellungen geschieht. An diese ersten Untersuchungen habe ich die Lehre TETENS von der Erkenntnis der objektivischen Existenz der Dinge angeschlossen, weil sie gleichsam einen Beweis für die Brauchbarkeit von TETENS' Erkenntnislehre liefert. Diese Ausführungen dürften umso eher ein allgemeineres Interesse finden, als TETENS diese so überaus schwierige und wichtige Frage nicht vom Standpunkt des Metaphysikers, sondern vom Standpunkt eines empiristischen Psychologen aus behandelt.

Erscheinen nun auch die Resultate, zu denen TETENS im Verlauf seiner Untersuchungen gelangt, vielfach im Einzelnen veraltet, so scheint der Gang seiner Untersuchung und die Art seines Verfahrens umsomehr der Beachtung und der Nachahmung wert zu sein. Er selbst gibt seinen Grundsatz dahin an, daß es sein fester Vorsatz gewesen ist, auf nichts zu fußen, als was entweder unmittelbare Beobachtung ist oder evidente und durch die Übereinstimmung der Beobachtungen bestätigte Vernunft. Diese Absicht vor Augen, hat er es versucht, die Fähigkeiten der Seele in die einfachsten Vermögen aufzulösen und den ersten Anfängen dieser Vermögen in der Grundkraft sich so weit zu nähern, als es möglich erschien. Ein auf so gesunden Grundsätzen aufgebautes System verdiente meiner Meinung nach mehr Beachtung als es bis jetzt gefunden hat.

Der Weg nun, den die vorliegende Arbeit eingeschlagen hat, ist der, daß in zwei gesonderten Hauptabschnitten die Lehre TETENS von der Wahrnehmung im Zusammenhang mit der ganzen Erkenntnistheorie von der objektivischen Existenz der Dinge aus den allgemeinen erkenntnistheoretischen Prinzipien dargestellt wird. Sollte es mir nicht gelungen sein, die Ansichten TETENS' mit derjenigen Klarheit und Präzision darzulegen, die man sonst mit Recht von solchen Arbeiten verlangt, so bitte ich, einen Teil der Schuld auf TETENS selbst zu schieben, der, weit entfernt davon sein System zu entwickeln, es liebt innerhalb einer allgemeineren Überschrift, die einzelnen Gedanken zu entwickeln, ohne sie in einen engeren Zusammenhang zu bringen und ohne die einzelnen Gedankenreihen immer zu einem befriedigenden Abschluß zu führen.


A. Erster Hauptteil
Die Lehre von der Wahrnehmung

1. Die drei Grundvermögen der Seele.

Hatten wir oben mit ZELLER die Stellung TETENS' als eine selbständige bezeichnet, wenn wir sehen, wie sich TETENS keiner der damaligen psychologischen Theorien ganz anschließt, sondern einen eigenen Standpunkt im Gegensatz zu ihnen zu gewinnen sucht. Wenn LEIBNIZ sich bemühte,  alles  aus angeborenen Vorstellungen abzuleiten und wenn die  Empiristen  das sinnliche Empfindungsvermögen als einzige Quelle unserer Erkenntnis ausgeben, so machen sich nach TETENS Ansicht beide der Einseitigkeit schuldig. Zu erklären ist diese Einseitigkeit zwar aus dem allgemeinen Bestreben der Philosophie,  alles  auf möglichst einfache Prinzipien zurückzuführen, aber zu entschuldigen ist sie nicht. Denn entweder werden bei diesen Bestrebungen wichtige und gleichberechtigte Quellen der Erkenntnis übersehen oder es werden unter dem einen Namen der inneren Vorstellung oder der Sensation so viele verschiedene Funktionen des Erkenntnisvermögens gewaltsam zusammengefaßt, daß das Resultat mehr in einem gemeinsamen - aber vielumfassenden Namen, aber nicht in einheitlichem Begriff besteht. An derselben Einseitigkeit und Ungenauigkeit der Beobachtung und Willkür der Behauptungen leidet auch der Skeptizismus. Wenn gegen ihn aber die schottische Schule den "common sense" ins Feld führt, so ist für die wissenschaftliche Lösung der Frage von der Zuverlässigkeit unserer Erkenntnis nichts geleistet. Durch diesen Appell an den gemeinen Menschenverstand und die Zuverlässigkeit seiner Urteile werden die Verhandlungen vor der Zeit abgebrochen, statt zu einem befriedigenden Resultat zur Wiederlegung des Skeptizismus zu führen. Schließlich ist auch mit der Zurückführung der geistigen Vorgänge auf Schwingungen der Gehirnfibern nichts erreicht. Denn einmal ist der Weg, den BONNET hiermit eingeschlagen hat, deshalb der verkehrte, weil er von einer unerwiesenen Hypothese seinen Ausgangspunkt nimmt, sodann werden aber die Schwierigkeiten nur vermehrt, da uns noch jede Einsicht in die Beschaffenheit des Gehirnmechanismus fehlt.

Im Gegensatz zu allen diesen verschiedenen Richtungen bildet sich TETENS nach dem oben angeführten Grundsatz seine eigene Ansicht und formuliert diesen allgemeinen Grundsatz für die Untersuchung unserer Erkenntnisquellen dahin (5), daß er es als seine Aufgabe ansieht:
    "alle Modifikationen der Seele so nehmen, wie sie durch das Selbstgefühl erkannt werden; diese sorgfältig wiederholt, und mit Abänderungen der Umstände wahrnehmen, beobachten, ihre Entstehungsart und die Wirkungsgesetze der Kräfte, die sie hervorbringen, bemerken, alsdann die Beobachtungen vergleichen, auflösen und daraus die einfachsten Vermögen und Wirkungsarten und deren Beziehung aufeinander aufsuchen".
Diesem Grundsatz gemäß unterscheidet nun TETENS in der Seele, soweit wir sie als erkennendes und denkendes Vermögen beobachten, drei Hauptrichtungen der Tätigkeit, auf die sich alle Äußerungen dieser beiden Vermögen zurückführen lassen:  sie empfindet, sie hat Vorstellungen  von Sachen, Beschaffenheiten und Verhältnissen  und sie denkt. 

Versuchen wir zunächst in aller Kürze zu skizzieren, was TETENS unter  Empfindungsvermögen  und der vorstellenden Tätigkeit versteht, so können wir nicht umhin, zuerst einmal auf den eigentümlichen Sprachgebrauch hinzuweisen, dessen TETENS sich in Anweisung des Wortes "Gefühl" bedient. Während nämlmich die moderne Psychologie (6) Empfindung und Gefühl voneinander so streng wie möglich trennt und sie als zwei, wenn auch eng verbundene, so doch auseinander nicht ableitbare Leistungen bezeichnet, indem sie das Gefühl ausschließlich für die, die Empfindungen begleitenden Zustände von Lust und Unlust in Anspruch nimmt, verwendet TETENS  Gefühl  und  Empfindung  einerseits, Gefühl und Empfindungsvermögen andererseits geradezu als Synonyme. TETENS gibt zwar an einer Stelle (7) den Unterschied zwischen beiden Ausdrücken dahin an, daß Empfindung mehr auf den Gegenstand des sinnlichen Eindrucks, Fühlen dagegen mehr auf den Akt der Aufnahme des Eindrucks geht, aber diese Unterscheidung hat umso geringeren Wert, als ihr TETENS selbst im Einzelnen nicht treu bleibt. Was die neuere Psychologie unter Gefühl versteht, ist nach TETENS Ansicht nicht auf ein besonderes Vermögen der Seele zurückzuführen, sondern als eine besondere Modifikation der Empfindung aufzufassen. Diese besonderen Modifikationen der Empfindungen nennt er  "Empfindnisse"  und er versteht darunter die Eindrücke, welche die einzelnen Empfindungen auf unseren jeweiligen Zustand ausüben (8).
    "Wir fühlen und empfinden nicht nur die absoluten Beschaffenheiten der Dinge und ihre objektivischen Verhältnisse untereinander, sondern auch die Verhältnisse und Beziehungen der Gegenstände und der Veränderungen auf unseren jetzigen Zustand, wir empfinden die Dinge mit ihren Eindrücken und Wirkungen in uns, die sie in Gemäßheit ihrer Beziehungen auf uns hervorbringen"
und diese Eindrücke und Wirkungen in uns machen die Empfindnisse aus.

Objekt des Empfindungsvermögens oder des Gefühls ist nun ausschließlich das Absolute; TETENS unterscheidet, je nachdem sich das Absolute in den Dingen außerhalb von uns oder in uns befindet, äußere und innere Empfindungen. Den Inhalt der äußeren Empfindungen machen zunächst zwar die objektiven Beschaffenheiten der Dinge selbst aus, dann aber auch gewisse absolute Eigenschaften, die den Verhältnissen der Dinge sowie den Verhältnissen der Einerleiheit oder Verschiedenheit oder den Verhältnissen der räumlichen und zeitlichen Ordnung zugrunde liegen. Objekt der inneren Gefühle bilden alle inneren Modifikationen der Seele. Bestehen diese inneren Modifikationen der Seele in Äußerungen der Selbsttätigkeit, so werden sie zwar nicht gefühlt in dem Augenblick, in dem sie die Seele beschäftigen, sondern erst in ihren Nachwallungen empfunden. Denn da Selbstwirksamkeit und Gefühl derselben sich einander ausschließen und gewissermaßen verdrängen, so ist in diesem Fall Objekt der Empfindung "nicht etwas was von unserer selbsttätigen Kraft hervorgebracht wird, sondern was schon hervorgebracht ist". In allen Fällen ist also das Gefühl das Vermögen, passivie Modifikationen in sich aufzunehmen. Können demgemäß nur objektive und absolute Inhalte Gegenstände des Gefühls bilden, so tritt als weitere wichtige Bestimmung hinzu, daß wir nichts fühlen und empfinden, als was gegenwärtig ist und gegenwärtig auf unsere Seele und ihr Empfindungsvermögen einwirkt. Dieser Grundsatz erleidet auch dadurch keine Einschränkung, daß wir Vorstellungen von längst vergangenen Dingen und ihren Einfluß auf uns empfinden. Denn sehen wir genauer zu, so finden wir, (9) daß wir auch in diesem Fall nicht das Vergangene oder Abwesende fühlen, sondern daß wir die gegenwärtig reproduzierte Vorstellung empfinden, deren Inhalt allerdings etwas Vergangenes ausmacht. Wir erinnern uns des ehemaligen Zustandes, aber nur den gegenwärtigen und die Einwirkung des Vergangenen auf ihn fühlen wir. So finden wir zwar eine große Mannigfaltigkeit in den Gegenständen, die das Gefühl beschäftigen, finden auch bei genauerer Untersuchung eine große Abstufung in den Graden, in denen sich das Gefühl äußert, aber wir finden doch überall die einfache Äußerung desselben Vermögens, Veränderungen passiv in uns aufzunehmen und sie als solche zu empfinden.

Gehen wir nunmehr dazu über, in ähnlicher Weise die wichtigsten Bestimmungen über den Begrif der  Vorstellungskraft  anzugeben, so lassen die äußeren sowohl als auch die inneren Empfindungen gewisse Spuren in den Nachempfindungen zurück, die unter sich in demselben Verhältnis der Ähnlichkeit oder Verschiedenheit stehen, wie die Modifikationen, durch welche die Empfindungen verursacht sind. Aus diesen Spuren entstehen dadurch, daß sich ihnen die Vorstellungskraft zuwendet, die einfachen oder ursprünglichen Vorstellungen. Sie sind Vorstellungen oder Bilder, wie man sie aus der Empfindung bzw. aus der Nachempfindung unmittelbar erlangt und werden demgemäß von TETENS auch als Empfindungsvorstellungen bezeichnet. Da nun nicht nur die Empfindungen der Außendinge, sondern alle Modifikationen der Seele solche Spuren oder Nachempfindungen zurücklassen, so knüpfen sich hieran nicht nur die Vorstellungen von äußeren Dingen, sondern auch von allen Seelenvorgängen (10): Vorstellungen von gegenwärtigen und vergangenen und, soweit es möglich ist, auch von zukünftigen Dingen. Diese von vorhergegangenen Veränderungen hinterlassenen Spuren dienen aber nicht nur zur Erzeugung der Empfindungsvorstellungen, sondern mittels ihrer vermag die selbsttätige Vorstellungskraft den ersten Eindruck, dem sie entsprungen sind, auch ohne daß der ursprüngliche Anlaß wieder eintritt, ins Bewußtsein zurückzurufen. So sind diese Spuren und die Vorstellungen selbst, vermöge ihrer Analogie mit den ursprünglichen Veränderungen, eine Art von Zeichen, welche die Seele von ihren Veränderungen in sich aufbehält und eigenmächtig aus ihrem Inneren wieder hervorzieht und von Neuem beobachtbar macht. Hierbei sind nun die reproduzierten Vorstellungen, welche aus äußeren Empfindungen entstanden sind von denen aus inneren Empfindungen verschieden. Denn während diese nur auf unsere eigenen, inneren Veränderungen zurückweisen, weisen jene über die ursprünglichen Empfindungen hinaus auf die äußeren Objekte, von denen sie hervorgebracht sind. Ganz eigenmächtig verfährt allerdings die Vorstellungskraft bei dieser Reproduktion nicht, sondern sie erscheint gebunden an die Gesetze der Assoziation, nach denen die Vorstellungen selbst untereinander verknüpft sind. Nach diesen Gesetzen sind nämlich die Vorstellungen entweder nach der örtlichen oder zeitlichen Zusammengehörigkeit der Empfindungvorstellungen oder nach der Ähnlichkeit der Vorstellungsinhalte untereinander verbunden. Bezeichnen wir mit TETENS die erste Äußerung der Vorstellungskraft, die Umbildung der Nachempfindungen in Empfindungsvorstellungen als  Perzeption,  die zweite, die Zurückrufung verdunkelter und eingewickelter Vorstellungen ins Bewußtsein als  Einbildungskraft  oder  Phantasie so bleibt uns noch übrig, auf die dritte Äußerung der vorstellenden Kraft, auf das  Dichtungsvermögen  oder die  selbsttätige Phantasie  hinzuweisen. Mittels dieses Vermögens vermag die Vorstellungskraft nicht nur die Vorstellungen nach den Gesetzen der Assoziation zu ordnen und zu reproduzieren, sondern Vorstellungen zu schaffen, die für uns neu und einfach sind, da sie keiner der Empfindungsvorstellungen gleichen. Allein auch die Dichtungskraft kann, wie eine genauere Untersuchung ergibt, keine wahrhaft neuen Elemente erschaffen. Wenn uns die von ihr gebildeten Vorstellungen neu erscheinen, so kommt das daher, daß sie Teile aus den verschiedensten einzelnen Empfindungsvorstellungen in eine so enge Verbindung gebracht hat, daß wir die ursprünglichen Bestandteile nicht wiedererkennen und ihre Produkte deshalb für neue, einfache Vorstellungen ansehen. Vielmehr ist daran festzuhalten, daß der Stoff zu allen Funktionen der Vorstellungskraft und darum auch zu allen Tätigkeiten der Denkkraft aus den Empfindungen geschöpft ist. Allerdings erfahren die Empfindungen, indem sie zuerst in Vorstellungen und sodann mittels der Wahrnehmungen in Ideen umgesetzt werden, vielfach so große Veränderungen, daß wir manchmal in den Ideen kaum den ursprünglichen Empfindungsinhalt wiedererkennen können.

Haben wir somit einen Überblick über die beiden ersten Grundäußerungen des Erkenntnisvermögens, über das Empfindungsvermögen und die vorstellende Kraft gewonnen, so führt uns unsere Hauptaufgabe, die Darstellung der Lehre von der Wahrnehmung, zur dritten Äußerungsform, zum Denken. TETENS bezeichnet nämlich das Wahrnehmen (11) "als eine Art und zwar als die einfachste Art von den Äußerungen der Denkkraft, das heißt des Vermögens, womit die Seele Verhältnisse und Beziehungen in den Dingen erkennt" und unterscheidet von der Vorstellung als Perzeption die Wahrnehmung als Apperzeption.


2. Die Lehre von der Wahrnehmung

Treten wir nunmehr der Lösung der Hauptaufgabe unseres ersten Teils, der Darstellung von der Lehre der Wahrnehmung, näher, so liegt die größte Schwierigkeit in der Anordnung des Stoffs. Haben wir es schon oben als eine Eigentümlichkeit TETENS bezeichnet, daß er seine Ansichten nicht systematisch entwickelt, sondern die Gedanken ohne enge Verknüpfung und ohne strenge Ordnung aneinanderreiht, so möchte ich hier auf zwei Gefahren aufmerksam machen, die diese Schreibart mit sich bringt und die von TETENS nicht völlig vermieden sind: die Ausführungen leiden leicht an allzugroßer Breite, wiederholen sich sogar gelegentlich und es unterlaufen im Einzelnen leicht Widersprüche. Daß aber diese Mängel die Schwierigkeit, den Stoff systematisch darzulegen, bedeutend erhöhen, ist leicht einzusehen. HARMS ist dieser Schwierigkeit, die sich gerade bei der Darstellung von der Theorie der Wahrnehmung besonders geltend macht, dadurch aus dem Weg gegangen, daß er sich darauf beschränkt, einige wenige Punkte aus der Lehre von der Wahrnehmung herauszugreifen und nebeneinander zu stellen. Ist es mir nun auch wohl nicht gelungen, die zerstreuten Gedanken in ein logisch gegliedertes Ganzes zu bringen, so mag es doch zur Orientierung dienen, wenn ich die Gesichtspunkte angebe, nach denen ich die Darstellung geordnet habe.

Nach einer Abgrenzung des Begriffs der Wahrnehmung gegen verwandte Begriffe handelt der erste Teil von den beiden Vorbedingungen der Wahrnehmung, von der intensivieren Bearbeitung des Eindrucks mittels des Gefühls und der Vorstellungskraft und von der Zurückbeugung dieser Vermögen. Der zweite Teil behandelt dann die beiden den eigentlichen Akt der Wahrnehmung ausmachenden Elemente: die Hinzufügung der letzten Grade der Klarheit und die Erzeugung des Verhältnisgedankens. Hieran schließt sich in einem dritten Teil die Untersuchung darüber, ob die Wahrnehmung etwas passives ist und in einem abschließenden Teil sind die Hauptgedanken TETENS' über die Zurückführung der drei Seelenvermögen auf eine Grundkraft zusammengestellt.


I. Abgrenzung des Begriffs

Versuchen wir dieser Disposition gemäß zunächst den Begriff der Wahrnehmung von anderen verwandten Begriffen abzusondern, so folgen wir hierbei den Ausführungen, die TETENS im ersten Abschnitt seines dritten Versuchs "über das Wahrnehmen und das Bewußtsein" (12) bietet. "Bemerken", so führt TETENS aus, sagt mehr, als er unter Wahrnehmen verstanden wissen will. Es setzt ein Wahrnehmen schon voraus, denn "wer etwas bemerkt, sucht an der wahrgenommenen Sache ein Merkmal auf, woran sie auch in der Folge wahrgenommen und ausgekannt werden kann". Auf der anderen Seite deckt sich auch der Begriff des Wahrnehmens nicht mit dem, was wir unter dem Ausdruck, "sich einer Sache bewußt sein" verstehen. Denn auch hier wird die Wahrnehmung der betreffenden Sache als vorhergegangen vorausgesetzt. Beim "sich bewußt sein" verbindet sich dann mit dieser Wahrnehmung ein Gefühl besonderer Art, indem man den Gegenstand der Wahrnehmung oder dessen wahrgenommene Vorstellung und sich selbst als unterschieden fühlt. Am nächsten von allen verwandten Begriffen kommt dem Wahrnehmen das "Unterscheiden", wie dann auch TETENS (13) mehrmals das Wahrnehmen geradezu ein Unterscheiden nennt. Aber während bei der Wahrnehmung eine einzelne Sache oder Vorstellung abgesondert und als eine besondere gedacht wird, müssen beim Unterscheiden schon zwei Gegenstände wahrgenommen und ihre Ideen im Bewußtsein aufeinander bezogen sein. Im Gegensatz zu allen diesen verwandten Begriffen will TETENS unter "Wahrnehmung" diejenige einfache Äußerung unserer Erkenntniskraft verstanden wissen, in der die Seele zu sich selbst gleichsam sagt: "Siehe", und diese Äußerung tritt dann ein, wenn sie einen Gegenstand, oder vielmehr dessen Vorstellung als eine besondere faßt, sie unter anderen auskennt und unterscheidet.


II. Vorbedingungen der Wahrnehmung

a) Intensivere Bearbeitung des Eindrucks

Doch fragen wir uns nun, wie die Seele zu dieser Äußerung ihrer Erkenntniskraft kommt, so bemerkt TETENS nicht ohne Grund vorweg, daß diese Untersuchung über die Vorbedingungen der Wahrnehmung eine überaus schwierige ist. Da wir nämlich nicht in demselben Augenblick, in dem wir wahrnehmen, darauf achten können, was dabei in uns vorgeht, so können wir uns nur hinterher vermöge der Reflexion eine ungefähre Vorstellung davon machen, was bei der Wahrnehmung selbst geschieht und wodurch sie hervorgerufen ist. Doch glaubt TETENS zwei Vorbedingungen erkannt zu haben, ohne die die Wahrnehmung nicht zustande kommen kann: erstens muß die Vorstellung, durch die man einen Gegenstand wahrnimmt,  vorzüglich lebhaft in uns gegenwärtig und abgesondert sein,  und zweitens müssen Gefühl und Vorstellungskraft bei der Wahrnehmung auf den wahrgenommenen Gegenstand  zurückgebogen sein. 

Der ersten Bestimmung gemäß muß also die Empfindung oder die Vorstellung, durch welche man einen Gegenstand wahrnimmt,  vorzüglich  lebhaft in uns gegenwärtig und abgesondert von anderen sein.' Die Vorstellungskraft muß die Empfindung nicht nur perzipiert haben, sondern sie durch eine intensivere Bearbeitung in eine hervorragende Stellung versetzt haben. Fragen wir nun, wie die Vorstellungskraft dazu kommt, sich gerade mit dieser einzelnen Vorstellung so besonders zu beschäftigen, so scheint es mir, als wenn TETENS diese Frage nicht genugsam erwogen und darum auch nicht in einer zufriedenstellenden Weise gelöst hätte. Er stellt dieses Postulat für die Entstehung der Wahrnehmung als ein Ergebnis der Erfahrung hin, ohne es näher zu begründen. Er gibt LEIBNIZ darin Recht (14), daß er den Grund und Boden unserer Seele aus unwahrgenommenen Vorstellungen bestehen läßt, unter denen die Vorstellungen, deren wir uns bewußt sind, einzelne hervorragende Teile bilden. Woher es aber kommt, daß aus dieser Menge unwahrgenommener Vorstellungen einzelne hervorragende Teile bilden. Woher es aber kommt, daß aus dieser Menge unwahrgenommener Vorstellungen einzelne sosehr hervorragen, daß sie zu beachteten Vorstellungen werden, diese Frage läßt er offen, oder beantwortet sie zumindest in einer höchst problematischen Weise. Unter anderem sagt er (15):
    "Die Veranlassung, warum ich eben dieses Ding und nicht ein anderes wahrnehme, mag sein, welche sie will: sie mag in mir oder vorzüglich im Objekt liegen, es mag Vorsatz oder Zufall sein, so bleibt nur gewiß, daß ich dann, wenn ich wahrnehme, auf eine  vorzügliche  Art mit der Empfindung dieses Gegenstandes beschäftigt werde."
Auch die Bemerkung, die TETENS hieran knüpft: daß jede apperzipierte Vorstellung die Kraft der Seele vorzüglich anzieht wirft auf diese Frage kein Licht, da eine apperzipierte Vorstellung eben eine wahrgenommene Vorstellung ist und hiermit wohl nur soviel gesagt sein sll, daß die übrigen Äußerungen der Denkkraft erst auf eine Sache angewandt werden können, wenn sie durch die Wahrnehmung ins Bewußtsein gehoben, oder von einer Vorstellung zur Idee von der Sache gemacht ist. Schließlich dient es auch nicht zur Lösung dieser Frage, wenn TETENS jede apperzipierte Vorstellung eine beachtete Vorstellung nennt. Denn wenn er in der Erläuterung dieses Satzes sagt: daß sich bei der beachteten Vorstellung das vorstellende Vermögen der Seele ausnehmend beschäftigt hat, so bleibt es noch immer unentschieden, was die Vorstellungskraft veranlaßt hat, sich gerade mit dieser Vorstellung ausnehmend zu beschäftigen.

Doch lassen wir diese Schwierigkeit einstweilen auf sich beruhen, so steht als die Ansicht TETENS fest, daß Gefühl und Vorstellungskraft sich mit der Vorstellung, die wahrgenommen wird, ausnehmend beschäftigt haben müssen, und daß durch diese besondere Bearbeitung die Vorstellung selbst abgesondert und besonders gegenwärtig ist. Im Einzelnen nennt TETENS diese intensive Tätigkeit des Gefühls und der vorstellenden Kraft  Beschauung  und  Beachtung.  Allerdings will er unter Beschauung nicht, wie es nahe liegt, denjenigen Akt des Erkenntnisvermögens verstanden wissen, in dem wir unsere Sinne auf einen schon wahrgenommenen Gegenstand hinwenden, um ihn in seinen einzelnen Teilen noch klarer und deutlicher zu erkennen, sondern hier soll Beschauen die erste gleichsam primitive intensivere Anwendung des Gefühls bedeuten, den Akt, in dem das Empfindungsvermögen einen Eindruck ganz und voll auf sich wirken läßt. TETENS drückt sich allerdings bei dieser Gelegenheit, wie mir zumindest scheint, wenig korrekt aus, wenn er sagt, daß eine solche Beschäftigung der Sinne, wie er sie unter Beschauung verstanden wissen will, "zum Wahrnehmen der Dinge in der Empfindung" gehört. Denn da er Empfinden als das Vermögen, Modifikationen in sich aufzunehmen faßt, Wahrnemen dagegen als einen Akt der Selbsttätigkeit bezeichnet, so kann er von einem Wahrnehmen in der Empfindung eigentlich gar nicht sprechen. Ja, es mag sogar zweifelhaft erscheinen, ob TETENS mit Recht eine vorzügliche Anwendung des Empfindungsvermögens unter die direkten Vorbedingungen der Wahrnehmung zählen kann. Denn nach anderen Stellen (16) ist seine Ansicht die, daß, solange wir bloß empfinden, das ist, bloß fühlend auf einen Eindruck von außen oder auf die durch innere Kräfte in uns verursachten Modifikationen zurückwirken, das Wahrnehmen nicht zustande kommen kann; die Empfindung muß zumindest zuvor in eine Empfindungsvorstellung übergegangen sein. In demselben Sinn spricht er sich an einer Stelle (17) seines dritten Versuches aus, wo er ausführt, daß sich die Wahrnehmung eines empfundenen Gegenstandes nicht sowohl mit der ersten Aufnahme des sinnlichen Eindrucks und mit der Empfindung desselben, als vielmehr mit der Nachempfindung verbindet; und zwar mit der Nachempfindung nur dann, wie wir soeben gesehen haben, wenn diese in eine Empfindungsvorstellung übergegangen ist. Somit kann, wie mir scheint, die vorzügliche Anwendung des Empfindungsvermögens nur eine indirekte Vorbedingung des Wahrnehmens genannt werden. Denn eine vorzügliche Anwendung des Vorstellungsvermögens ist allerdings nur möglich, wenn wir zuvor das Empfindungsvermögen auf den betreffenden Eindruck vorzüglich angewandt oder hingewandt haben und uns so gleichsam genügend haben modifizieren lassen. Je deutlicher die erste Empfindung war, umso vollständiger wird auch die Nachempfindung und die mit ihr verbundene Empfindungsvorstellung sein, sodaß allerdings auch das Empfindungsvermögen das seine dazu beiträgt, die Vorstellung in eine beachtete Stellung zu erheben.


b) Zurückbeugung von Gefühl
und Vorstellungskraft

Empfindungsvermögen und Vorstellungskraft, sind also zunächst vor dem Akt der Wahrnehmung insofern notwendig, als durch sie die Vorstellung in die beachtete Stellung gehoben wird. Dieselben Vermögen bilden aber auch, indem sie auf die beachtete Vorstellung  zurückgeboben sein müssen,  die zweite Bedingung zur Entstehung der Wahrnehmung. Wie die Erfahrung lehrt, ist das Gefühl sowohl wie die vorstellende Kraft nur allzu geneigt, von einem Eindruck zum andern, von einer Vorstellung zur anderen zu eilen. Soll es aber zu einer Wahrnehmung kommen, so müssen beide Vermögen in dieser ihrer Neigung gehemmt werden. Denn bei einer genaueren Untersuchung des Aktes der Wahrnehmung findet TETENS, daß auch hier beide Vermögen einen Ansatz, sich anderen Eindrücken zuzuwenden, gemacht hatten, daß sie aber auf die beachtete Vorstellung zurückgebogen werden. Eine Ausnahme erleidet diese Regel auch dann nicht, wenn uns ein Gegenstand unerwartet aufstößt und er durch diese seine abgesonderte Stellung die erste Bedingung, die vorhergehende besondere Bearbeitung durch Gefühl und Vorstellungskraft unnötig macht. Denn auch in diesem Fall ist die Vorstellungskraft nur allzu geneigt, vom besonderen Gegenstand zu seiner Umgebung, von der beachteten Vorstellung auf andere abzuschweifen und muß sie auch in diesem Fall in diesem Bestreben behindert und auf die abgesonderte Vorstellung zurückgebogen, reflektiert (re-flectere [re-Biegung | wp]) werden, damit es zu einer Wahrnehmung kommen kann. Auch hier könnte man zweifeln, ob TETENS neben die Zurückbeugung der Vorstellungskraft mit Recht die Zurückbeugung des Gefühls als notwendig bezeichnet. Allein auch das Vermögen, Modifikationen in sich aufzunehmen, verweilt selten länger bei einem Eindruck und liebt eine schnelle Veränderung der Eindrücke. Soll es darum zu einer klaren Vorstellung kommen, so muß auch das Gefühl zurückgebogen werden; denn je länger sich die Seele von einem einzelnen Eindruck modifizieren läßt, umso prägnanter und schärfer wird die entsprechende Empfindung und die in der Nachempfindung zurückgelassene Spur sein.

Haben wir die beiden bisher besprochenen Punkte als Vorbedinungen der Wahrnehmung bezeichnet, so lag die Anschauung zugrunde, daß Gefühl und Vorstellungskraft ihre intensivere Bearbeitung auf den Eindruck, zuvor haben ausüben müssen und daß sie auf die beachtete Vorstellung zurückgebogen sein müssen, bevor die eigentliche Wahrnehmung eintreten kann. Mit einer etwas anderen Wendung dieses Gedankens ließen sich die beiden bisher besprochenen Punkte auch als der erste, einleitende Akt der Wahrnehmung zusammenfassen, nicht nur wegen der zeitlichen Einheit, in der sie sich untereinander und zugleich mit dem, was das Wesen der Wahrnehmung ausmacht, verbinden, sondern auch die Kraft, die diese beiden Vermögen zur intensiveren Tätigkeit anreizt und auf die beachtete Vorstellung zurückbeugt, ein mit der Wahrnehmung verbundener Ausfluß der Denkkraft ist. Spricht sich auch TETENS, so weit mir bekannt ist, nirgends zusammenhängender über den Begriff der Aufmerksamkeit und ihr Verhältnis zur Wahrnehmung aus, so liegt es doch nach den gelegentlichen Äußerungen zwar einerseits nahe, die Aufmerksamkeit in einem weiteren Sinn als jede Anstrengung des Erkenntnisvermögens, es sei unseres Gefühls, unserer Vorstellungskraft oder auch unserer Denkkraft anzusehen, es hindert aber auch andererseits nichts, die Aufmerksamkeit in einem engeren Sinn der Denkkraft besonders zuzueignen, und sie den Äußerungen des Gefühls und der Vorstellungskraft gegenüber als die bewegende Ursache hinzustellen. Von hier aus läßt sich dann auch die oben ungelöst gelassene Frage, wodurch die Vorstellungskraft veranlaßt wird, eine Vorstellung besonders zu bearbeiten, dahin lösen, daß wir ihr als bewegende Ursache die Aufmerksamkeit zuweisen. Wir glauben zu dieser Annahme umso mehr berechtigt zu sein, als wir nach TETENS' Ausführungen (18) nicht nur ohne einigen Grad an Aufmerksamkeit nichts wahrnehmen, sondern auch die verschiedene Deutlichkeit der Vorstellungen ausdrücklich auf die Aufmerksamkeit der Beobachtung zurückgeführt wird.


III. Die eigentliche Wahrnehmung

a) Hinzufügung der ideellen Klarheit

Treten wir nun in unserem dritten Teil der Frage näher,  was denn eigentlich das Wesen der Wahrnehmung ausmacht,  so können wir auch hier zwei Hauptpunkte nennen, um die sich die meisten anderen, von TETENS nebenbei berührten Fragen verhältnismäßig leicht gruppieren lassen. Als diese beiden das Wesen der Wahrnehmung konstituierenden Momente, wodurch die Wahrnehmung gegen die Empfindung einerseits und gegen die Vorstellung andererseits abgegrenzt wird, gibt TETENS an:
    I.  die Denkkraft fügt in der Wahrnehmung zur Vorstellung den letzten Grad der Klarheit und macht sie im Akt der Apperzeption selbst völlig apperzeptibel,  und

    II.  die Denkkraft fügt in der Wahrnehmung den Verhältnisgedanken als ein subjektives Moment zum absoluten Inhalt, den die Empfindung liefert, hinzu. 
Gehen wir zunächst auf die Behandlung des ersten Punktes ein, so müssen wir, um TETENS ganz zu verstehen, etwas weiter ausholen und auf die Ausführungen über die bildliche Klarheit eingehen, die er im zwölften Abschnitt seines ersten Versuchs (19) in einer nicht gerade leicht verständlichen Weise anstellt. Hier unterscheidet TETENS Vorstellung und Idee und stellt den Begriff der Idee dahin fest, daß sie eine apperzipierte, oder eine, mittels der Wahrnehmung ins Bewußtsein aufgenommene Vorstellung ist, die der Seele dann als ein leserliches Zeichen einer vorhergegangen äußern oder inneren Modifikation gilt. In Analogie mit dieser Unterscheidung nimmt er einen zweifachen Grad von Klarheit, eine bildlich und eine ideelle Klarheit an; indem er diese den Ideen, jene dagegen den Vorstellungen ausschließlich zuerkennt. Die bildliche Klarheit ist ein Erzeugnis der Vorstellunskraft. Durch eine intensivere Bearbeitung, also durch Beachtung, werden die dunklen Vorstellungen, denen noch die Analogie mit ihren Objekten fehlt, stärker hervorgehoben und von den übrigen Modifikationen der Seele so abgesondert, daß sie unterscheidbare Vorstellungen von bestimmten Objekten werden. Dieser Unterscheidbarkeit oder dieser bildlichen Klarheit, das Unterschiedensein, das allein den Ideen zukommt. In unserem Versuch versucht nun TETENS die überaus schwierige Frage zu lösen, ob die Unterscheidbarkeit in der Vorstellung vorhanden sein kann, ohne daß das Unterschiedensein eintritt, oder, um die Frage noch zu präzisieren, ob es Vorstellungen gibt, die alle bildliche Klarheit besitzen, die also genügend abgesondert und bearbeitet sind, um apperzipiert zu werden und die deshalb doch nicht apperzipiert werden; oder: ist die Materie der ideellen Klarheit, oder erhalten die Vorstellungen erst durch einen Akt des Wahrnehmungsvermögens die volle Klarheit, so daß sie erst durch diesen Akt selbst mit Bewußtsein belebt und zu Ideen werden?

Um diese Frage, die im engsten Zusammenhang mit seiner Lehre von der Wahrnehmung steht, zu lösen, vergleicht TETENS die erste Empfindungsvorstellung mit der durch die Phantasie reproduzierten Vorstellung, da diese nur eine apperzipierte, das heißt eine ins Bewußtsein aufgenommene und zur Idee erhobene Vorstellung sein kann. Diese Vergleichung ergibt nun leicht, daß wir bei der reproduzierten Vorstellung nichts mehr bemerken, als was wir bei der ursprünglichen Vorstellung wahrgenommen haben. Diese Erfahrung, deren Richtigkeit schwerlich bestritten werden kann, benutzt TETENS, um nachzuweisen, daß erst die Wahrnehmung selbst die Vorstellung zu ihrer ideellen Klarheit erhebt. Fände nämlich der entgegengesetzte Fall stattt und gäbe es in der Vorstellung einzelne Züge, die vollständig apperzeptibel waren und doch nicht wahrgenommen wurden, so müßten sie doch Spuren hinterlassen haben und müßten bei der Reproduktion dieser Vorstellungen diese damals nicht wahrgenommenen Züge ebenso hervortreten wie die wahrgenommenen. Man braucht dann nur die Aufmerksamkeit auf diese dunklen Züge der reproduzierten Vorstellung zu werfen, um auch sie, da sie ja ursprünglich die volle bildliche Klarheit besaßen, zur ideellen Klarheit zu erheben. Dies ist aber, wie die Erfahrung lehrt, nicht der Fall, sondern trägt die reproduzierte Vorstellung oder das Phantasma, wie wir es mit TETENS als ein Produkt der Phantasie bezeichnen können, nur  die  Züge als erkennbar an sich, die auch bei der ersten Wahrnehmung bewußt aufgenommen sind. Es findet sich in diesem Phantasma kein einziger Zug, der bei der ursprünglichen Wahrnehmung unbeachtet geblieben wäre, der aber jetzt bei der Reproduktion apperzipiert werden könnte. Demgemäß erscheint es in einem hohen Grad wahrscheinlich, daß die Wahrnehmung selbst erst der Vorstellung die völlige Klarheit verleiht und sie erst in demselben Augenblick und durch denselben Akt, durch welchen sie dieselbe apperzipiert, apperzeptibel macht.

Die Wahrscheinlichkeit dieser Annahme erleidet auch dadurch keine Beeinträchtigung, daß man manchmal in der reproduzierten Vorstellung Beschaffenheiten wahrzunehmen glaubt, die man sich nicht erinnert, bei der ersten Wahrnehmung bemerkt zu haben. Sehen wir nämlich genauer hin, so ergibt sich, daß die meisten solcher im Phantasma neu auftretenden Züge auf Verhältnissen und Beziehungen beruhen und mit dem absoluten Inhalt der Vorstellung nichts gemein haben. Bei der eingehenderen Beschäftigung in der Erinnerung, vergleicht und verknüpft die Denkkraft die einzelne Vorstellung mit anderen Vorstellungen und durch diese Vergleichung treten Züge hervor, die zwar nicht bei der ersten Wahrnehmung unbeachtet geblieben sind, die aber jetzt mehr in den Vordergrund treten.

Andere Züge, selbst Züge eines absoluten Inhalts, die wir erst bei der durch Einbildung wieder hervorgerufenen Vorstellung wahrnehmen, erweisen sich bei näherer Untersuchung als Zutaten der Dichtkraft. Die selbstbildende Phantasie trägt vermöge der Ideenassoziation in die reproduzierte Vorstellung Züge, die sie anderswoher entlehnt hat.
    "Haben wir", so führt TETENS beispielsweise an (20), "eine Person einigemal mit einer gewissen Kleidung gesehen und nun dieselbe Person das letzte Mal an einem Ort gesehen, wo wir auf die Farbe der Kleidung nicht achteten, so werden wir sie uns bei der Wiedererinnerung an die letztgehabte Empfindungsvorstellung in demjenigen Kleid vorstellen, worin wir sie die mehreren Male gesehen haben."
Schließlich spricht gegen die obige Annahme auch nicht die Erfahrung, daß wir uns häufig bei der Wiedererinnerung erst nach längerem Nachdenken eines einzelnen Zuges entsinnen. Erinnern wir uns des gewünschten Zuges schließlich , so ist das nicht darauf zurückzuführen, daß wir etwa diesen einzelnen Zug von Neuem apperzipieren, indem wir uns der Vorstellung in ihrer bildlichen Klarheit erinnern, sondern es kommt daher, daß wir den betreffenden Zug, obwohl wir ihn damals wahrgenommen hatten, vergessen haben und werden wir uns einer erst dann wieder gewiß, wenn die reproduzierte Vorstellung mit der ursprünglich wahrgenommenen Vorstellung übereinstimmt. "Denn nichts ist gewisser, als daß wir Dinge vergessen, obwohl wir uns ihrer in einem hohen Grad bewußt gewesen sind."

Sind so alle Einwände, die man etwa gegen die Annahme, daß das Wahrnehmungsvermögen selbst die letzten Grade der Klarheit der Vorstellung verleiht, abgewiesen, so versucht TETENS noh in einem zweiten, einer Art deduktiven Beweis, die Richtigkeit seiner Ansicht zu stützen. Ausgehend von der Erfahrungstatsache, daß kein Ding mit selbsttätiger Kraft nur passiv Modifikationen annimmt, sondern aus gegebenem Anlaß selbsttätig reagiert und seinerseits den Eindrücken einen eigenen Charakter aufprägt, gelangt er zu dem Schluß, daß auch die Seele nicht ihr Bewußtsein auf die völlig fertige Vorstellung drückt, sondern daß sie in der Wahrnehmung den Vorstellungen ihren eigenen Charakter aufdrückt, indem sie dieselben zur völligen Apperzeptibilität, und damit zugleich ins Bewußtsein erhebt.

Wie weit aber die bildliche Klarheit der Vorstellungen ansich geht, bevor die Wahrnehmungskraft sie völlig apperzeptibel macht und wie weit die einzelnen Teile der Vorstellung unterscheidbar sind, bevor sie durch die hinzutretende ideelle Klarheit völlig unterschieden werden, das sind Fragen, deren Lösung TETENS wegen der Schwierigkeit der Untersuchung nicht zu lösen unternimmt. Können aber auch die Grenzen nicht genauer bestimmt werden, so steht doch so viel nach der Ansicht TETENS fest, daß erst durch die Apperzeption oder die Wahrnehmung selbst die Vorstellung die völlige Klarheit empfängt und daß ihre einzelnen Züge erst dann, wenn wir sie wahrnehmen dasjenige empfangen, was sie völlig leserlich für uns macht.


b) Hinzufügung des Verhältnisgedankens

Aber dieser Akt der Seele, wodurch die Vorstellung und ihre Teile ihre ideelle Klarheit empfangen, ist nicht der einzige, der das Wesen der Wahrnehmung ausmacht. Ja man könnte ihm, wenn man den obigen Ausführungen nur den Grad einer Hypothese zuspricht, sogar noch der Vorstellungskraft zuschreiben (21). Das wichtigste im Wesen der Wahrnehmung ist vielmehr dies, daß sie  den Gedanken von einem Verhältnis  erzeugt und gerade hierdurch erweist sie sich als eine Äußerung der Denkkraft, das heißt, des Vermögens der Seele, womit sie Verhältnisse und Beziehungen in den Dingen erkennt.

Gehen wir nunmehr an die Darstellung dieses zweiten, das Wesen der Wahrnehmung ausmachenden Momentes, so wollen wir, um die so schwierige Untersuchung etwas zu erleichtern,  die Wahrnehmung einfacher Empfindungsinhalte und die von Verhältnissen getrennt behandeln. 


α. Bei einfachen Vorstellungen

Wie ich schon gelegentlich angedeutet habe, macht TETENS einen scharfen Unterschied zwischen dem absoluten Inhalt einer Vorstellung und dem, was ihr als subjektives Moment von der Denkkraft beigelegt wird. Alles, was wir bisher behandelt haben, betraf den absoluten Inhalt der Vorstellung. Denn auch der letzte Grad von Klarheit, den das Wahrnehmungsvermögen den Vorstellungen verleiht, ist im Grunde kein subjektivisches Moment. Die Wahrnehmung ist nur das Mittel, durch das wir diese positiven Beschaffenheiten, die die Vorstellungskraft allein nicht zur Klarheit erheben kann, für uns erkenntlich machen. So ist es dann möglich, daß TETENS alle die bisher besprochenen Akte der Wahrnehmung: die vorzügliche Bearbeitung der Vorstellung, die Zurückbeugung von Gefühl und vorstellender Kraft und schließlich das Erheben der Vorstellung in die ideelle Klarheit zu einem Akt zusammenfaßt, den er die Besonderung nennt und dem er als den zweiten Akt den Gedanken der Besonderheit gegenüberstellt. Die Absonderung umfaßt nämlich alle die Tätigkeiten unseres Erkenntnisvermögens, "durch welche die Vorstellung stärker ausgebildet, ausgezeichnet, abgesondert und vorzüglich dargestellt wird." Erst wenn durch diese Tätigkeiten die Vorstellung eine beachtete Vorstellung geworden ist und die volle Klarheit empfangen hat, tritt derjenige Akt der Wahrnehmung ein, den wir jetzt zu besprechen haben: der Gedanke, daß die Sache eine besondere ist. Dieser Gedanke von der Besonderheit der wahrgenommenen Sache ist darum eine Wirkung vom ersten Akt der Wahrnehmung, aber er wird doch von der Denkkraft zum bisherigen als etwas Neues und ihr eigenes hinzugefügt. Hierin erscheint demgemäß die Wahrnehmung durchaus als eine neue Aktion (22), "welche sich nach vorhergehender Empfindung und Vorstellung auf die letztere noch weiterhin äußert und sich auf dieselbe selbsttätig wendet."

Das Gesagte wird uns vielleicht klarer, wenn wir den vergleichenden Ausdrücken, die TETENS hier in Anwendung bringt, in wenig nachgehen. So bezeichnet TETENS diesen zweiten Akt des Wahrnehmungsvermögens als ein  "unterscheiden."  In der Tat, in ihm unterscheidet die Denkkraft die gesonderte und beachtete Vorstellung von den übrigen, sie stellt sie zu ihnen im Vergleich und erkennt sie als eine besondere. Noch weiter führt es, wenn wir die Gedanken ausführen, die sich aus dem Vergleich mit  dem Urteilen  ergeben. Ist die Wahrnehmung auch kein  eigentliches Urteil da ein solches es mit der Beziehung von Ideen zu tun hat, durch jene aber erst Ideen erzeugt werden, so nennt sie TETENS doch eine Art von Urteil, die das Wesentliche eines Urteils an sich hat. Wie wir nämlich im Urteilen zwei Ideen nebeneinander stellen und aufgrund dieser Beziehung ein Urteil fällen, das heißt, ein objektives Verhältnis der Dinge zum Eigentum unserer Erkenntniskraft machen, so halten wir auch in der Wahrnehmung zwar nicht zwei Ideen, aber doch Bilder gegeneinander und erhalten als Resultat dieser Gegeneinanderhaltung: daß wir die betreffende Vorstellung als eine besondere wahrnehmen, das will sagen, daß wir ein Verhältnis zwischen den Vorstellungen anerkennen, dem zwar etwas Objektivisches zugrunde liegt - nämlich die vorhergegangene Besonderung - das aber doch für uns ohne Wert wäre, wenn wir nicht den Gedanken von diesem Verhältnis zur Besonderung hinzufügen würden.

TETENS versäumt es, sich zusammenhängend darüber auszulassen, welcher Art denn eigentlich die Vorstellungen sind, mit denen das Wahrnehmungsvermögen die abgesonderte Vorstellung vergleicht. Doch ist es nicht allzu schwer, seine Meinung aus dem, was er gelegentlich hierüber äußert, zusammenzustellen. In der Regel beziehen wir (23) die betreffende Vorstellung auf Gemeinbilder, die als Produkte der Dichtkraft in uns vorhanden sind. Denn, indem wir ähnliche Vorstellungen im Verlauf der Zeit wiederholt wahrnehmen, prägt sich das Gemeindame in ihnen besonders stark aus, während das Verschiedenartige zurücktritt, und wir erhalten hierdurch allgemeine sinnliche Vorstellungen, denen in der Tat keine einzige Einzelvorstellung völlig entspricht, auf die wir aber die neuen Vorstellungen beziehen. Läßt sich nun auch die Aktion des Wahrnehmens erst beobachten (24), wenn schon viele Gemeinbilder in uns vorhanden sind, so wäre doch der Schluß, daß ohne sie ein Wahrnehmen nicht zustande kommen kann, ein übereilter. Denn es kann auch das Gegeneinanderhalten von einfachen Empfindungsvorstellungen genügen. Indem wir nämlich von einer Vorstellung zur anderen übergehen, erhält die letztere Vorstellung durch diesen Übergang der vorstellenden Kraft selbst die abgesonderte Stellung, so daß sie apperzipiert werden und ihre Besonderheit gedacht werden kann. Der Beziehungsgedanke, den in diesem Fall die Denkkraft sich zueigen macht, ist eben der, daß die neue Vorstellung in einem Gegensatz zur vorhergehenden steht und dieser Gedanke ist aus dem Vergleich dieser beiden Vorstellungen entstanden.


β. Bei Verhältnissen

Kommen wir noch einmal, um nunmehr zur  Wahrnehmung von Verhältnissen  überzugehen, auf den oben angeführten Vergleich des Wahrnehmens mit dem Urteilen zurück, so könnten wir, wenn wir selbst diesen Vergleich näher ausführen den Beziehungsgedanken, den die Denkkraft bei der Wahrnehmung einfacher Empfindungsinhalte hinzufügt, mit dem impersonellen Urteil vergleichen. Wie wir beim Urteil "es blitzt" eine hervorstechende Wahrnehmung nach einem Vergleich mit unseren früheren Erfahrungen benennen, das ist, ihr unser subjektives Urteil zuerteilen, so erkennen wir auch bei der Wahrnehmung einzelner Vorstellungen zunächst diese Vorstellung als eine besondere an und vergleichen sie dann mit den anderen Vorstellungen. Auf der anderen Seite können wir die Relationsurteile mit der Wahrnehmung von Verhältnisse vergleichen. Wie in ihnen die Denkkraft Ideen aufeinander bezieht und aufgrund dieser Beziehung ein Urteil über das Verhältnis dieser Ideen fällt, so liegt auch der Wahrnehmung von Verhältnissen als objektivisches Moment das Gefühl des Übergangs von einer Vorstellung zur anderen zugrunde, und bildet die Denkkraft je nach der Art dieses Übergangs den entsprechenden Beziehungs- oder Verhältnisgedanken. Doch, greifen wir, durch die Ausführung des Vergleichens veranlaßt, dem ruhigen Gang der Untersuchung nicht vor!

Halten wir daran fest, daß jeder Wahrnehmung etwas Objektives zugrunde liegt und daß dieses Objektive oder Absolute Gegenstand des Gefühls ist, so erhebt sich die Frage, was denn den Verhältnisgedanken, die doch auch auf Wahrnehmungen beruhen, als Objekt zugrunde liegt oder was bei der Wahrnehmung von Verhältnissen an Objektivem durch das Gefühl gegeben ist, und was die Denkkraft als subjektives Moment hinzufügt.

Bevor wir in die Untersuchung dieser Frage eintreten, müssen wir kurz hervorheben, daß TETENS in seinem zweiten Versuch (25)  drei  Hauptkategorien von Verhältnissen' unterscheidet:
    1. Verhältnisse, die sich auf  Einerleiheit oder Verschiedenheit  beziehen,

    2. Verhältnisse, die sich auf eine  räumliche oder zeitliche Ordnung  beziehen, die sogenannten Mitwirklichkeitsverhältnisse, und

    3. Verhältnisse, die sich auf  Ursache und Wirkung  beziehen.
Von diesen drei Klassen von Verhältnissen untersucht TETENS nur bei den beiden ersten, was sich von Objektivem und Subjektivem in ihnen unterscheiden läßt. "Es lasse sich auch bei ihnen in analoger Weise diese Unterscheidung vollziehen, aber er wolle sie unberührt übergehen."

Gehen wir zunächst  auf die Verhältnisse der Einerleiheit und Verschiedenheit  ein, so bezeichnet TETENS als das inen zugrunde liegende Absolut, an das der Verhältnisgedanken angeknüpft wird, das  Gefühl des Übergangs,  das sich bei der Analyse des Verhältnisgedankens leicht von der Empfindung der beiden Objekte selbst trennen läßt. Dieses Gefühl des Übergangs setzt sich aus zwei Momenten zusammen: aus dem Gefühl, das die Veränderung in der Richtung des Empfindungsvermögens und der Vorstellungskraft hervorruft und aus dem Gefühl, das bei der Verdrängung der ersten Empfindungsvorstellung durch diejenige des zweiten Objekts entsteht. Beide Gefühle sind absolute Modifikationen und sind darum wohl geeignet, Gegenstände des Empfindungsvermögens zu sein. Je nach der Beschaffenheit des Übergangs und je nach der Ähnlichkeit oder Verschiedenheit der Objekte wird das Gefühl des Überganges ein individuelles Gepräge tragen und wird dementsprechend auch der sich daran anknüpfende Verhältnisgedanke ein verschiedener sein. Dasselbe läßt sich beobachten, wenn wir in der Phantasie oder Einbildung reproduzierte Vorstellungen vergleichen oder wenn wir eine Empfindungsvorstellung auf eine reproduzierte Vorstellung beziehen. In allen diesen Fällen entsteht beim Übergang der vorstellenden Kraft von einer Vorstellung zur anderen eine positive und absolute Modifikation, die wir mit TETENS als Verhältnisgefühl bezeichnen können. Wie nun bei der Wahrnehmung einfacher Vorstellungen mit der Besonderung der Gedanken der Besonderheit unmittelbar verbunden ist, so reizt auch dieses Gefühl des Übergangs die Denkkraft, den der Art des Gefühls entsprechende Verhältnisgedanken hervorzubringen. Liegt somit auch diesen Verhältnisgedanken in den Verhältnisgefühlen etwas positives zugrunde, das uns hindert, sie als willkürliche Erfindungen der Denkkraft anzunehmen, so sind sie doch nur im Verstand enthalten. Alle diese Verhältnisse der Gleichheit, Ähnlichkeit und Verschiedenheit wären, da sich die Dinge nicht selbst aufeinander beziehen, außerhalb des Verstandes nichts. Dieser vergleicht die Dinge in ihren uns gegewärtigen Vorstellungen und drückt ihnen im Verhältnisgedanken, den TETENS deshalb als ein "ens rationis" bezeichnet das Siegel unserer vergleichenden Tätigkeit auf.

Ein von TETENS selbst angeführtes Beispiel mag das Gesagte erläutern. Lösen wir den Verhältnisgedanken, in dem wir zwei Eier als ähnlich erkennen, in seine einzelnen Teile auf, so lassen sich folgende verschiedene Momente darin unterscheiden: Wir empfinden zeitlich nacheinander, zunächst die absouten Beschaffenheiten jedes Eies, seine Größe, Gestalt, Farbe, usw. und nehmen sie durch eine Vermittlung der Nachempfindung und Empfindungsvorstellung wahr. Indem nun die Vorstellungskraft von der Vorstellung des einen Eies zu der des anderen übergeht, entsteht ein Gefühl des Übergangs von einer bestimmten Beschaffenheit. Dieses Gefühl reizt schließlich die Denkkraft, die ihrerseits die Vorstellungen der beiden Eier gegeneinanderhält, sie aufeinander bezieht und sie für ähnlich ausgibt.

Noch schwieriger als die bisherigen Ausführungen sind die Untersuchungen von der zweiten Klasse von Verhältnissen,  den Verhältnissen der zeitlichen und örtlichen Lage,  oder den  Mitwirklichkeitsverhältnissen.  Schwieriger, sage ich, aber auch interessanter, weil diese Frage, über die Subjektivität oder die Objektivität unserer Raum- und Zeitanschauungen, durch KANT größere Bedeutung und allgemeineres Interesse erlangt hat. Unsere Untersuchung soll also, um das noch einmal kurz hervorzuheben, klarstellen, ob etwas und was etwa den Verhältnisgedanken, die sich auf die räumliche oder zeitliche Lage der Vorstellungen beziehen, im Gefühl entspricht, oder, um mich genauer auszudrücken, was in den Verhältnissen der räumlichen Lage und der zeitlichen Anordnung das Absolute bildet und worin das Relative besteht, was der Verstand hinzusetzt.

Unmittelbare Gegenstände des Gefühls sind diese Verhältnisse ebensowenig, wie die Verhältnisse der Einerleiheit und Verschiedenheit. Aber während bei diesen den Verhältnissen etwas Objektivisches in den Dingen selbst zugrunde liegt und das Gefühl des Übergangs nur hinzuzutreten braucht, um den Verhältnisgedanken hervorzubringen, fällt dieses Absolute in den Dingen selbst bei den Verhältnissen der räumlichen Lage und der zeitlichen Ordnung weg. Dem Verhältnisgedanken, daß ein Ei dem anderen ähnlich ist, entspricht außer dem Gefühl des Übergangs oder einem Verhältnisgefühl die absoluten Beschaffenheiten des Eies, seine Größe, Gestalt usw., Beschaffenheiten, die der Vorstellung des Eies anhaften. Diese, den Objekten dieser Verhältnisgedanken anhaftenden absoluten Beschaffenheiten fallen bei den Mitwirklichkeitsverhältnissen weg. Denn jedes Ding und die Vorstellung jeden Dings bleibt in ihrem absoluten Beschaffenheiten völlig unverändert, wenn auch der Ort verändert wird, ebenso wie der Ort unverändert bleibt, wenn an dieselbe Stelle Dinge von völlig verschiedenen absoluten Beschaffenheiten treten. Da nun ferner die Ideen von den absoluten Beschaffenheiten weder durch eine Erhöhung noch durch eine Verfeinerung in Verhältnisbegriffe übergehen können, sondern völlig heterogener Natur sind, so folgt notwendig, daß in den Dingen selbst oder in ihren Ideen nichts enthalten ist, was den Verhältnisgedanken der Mitwirklichkeit entspräche.

Sind aber darum die Verhältnisgedanken der Mitwirklichkeit reine Erzeugnisse der Denkkraft oder entspricht auch ihnen etwas Objektivisches im Gefühl? TETENS entscheidet sich seiner ganzen Erkenntnistheorie gemäß für die zweite Annahme und teilt auch diesen Verhältnisgedanken als Korrelat von absoluter Beschaffenheit das Gefühl des Übergangs zu. Indem die Vorstellungskraft von einer Vorstellung zur anderen übergeht, entsteht eine positive Modifikation, die als Verhältnisgefühl die Denkkraft reizt, die Verhältnisgedanken der räumlichen oder zeitlichen Lage der Vorstellungen, im Anschluß an das Gefühl des Übergangs, hervorzubringen. So legt dann in den Gedanken von den Mitwirklichkeitsverhältnissen die Denkkraft den Dingen relative Prädikate bei, die ihnen an und für sich nicht zukommen, ja denen nicht einmal etwas Absolutes in den Dingen selbst entspricht.

Im Anschluß an diese letzten Ausführungen sie es mir gestattet, einige Bemerkungen zu machen, die zwar streng genommen nicht hierhergehören, die aber von einem allgemeineren Interesse sein dürften. Im vierten Versuch (26) ventiliert nämlich TETENS die Frage wie wohl die  Entstehung der Raum- und Zeitanschauung im Allgemeinen  psychologisch zu erklären ist und bezieht sich hier direkt auf die schon oben angeführte Inaugural-Dissertation KANTs. KANT hat, so führt TETENS aus, seiner Ansicht nach zuerst die Behauptung aufgestellt, daß der Raum eine gewisse instinktartige Weise ist, die koexistierenden Dinge zu ordnen. In dieser Behauptung gibt ihm TETENS zumindest in gewisser Weise Recht. Da die Vorstellung des Raumes aus den einzelnen Empfindungen der Objekte nicht abstrahiert sein kann, so ist sie eine Wirkung der beziehenden Kraft der Seele, d. h. der Denkkraft, die alle zugleich vorhandenen dunklen Gefühle zu einem Ganzen der Raumanschauung vereinigt. Aber auch hier so meint TETENS, muß dem Akt, wodurch die einzelnen Empfindungen von der Denkkraft zu einem Ganzen der Raumanschauung verarbeitet werden, etwas Materielles zugrunde liegen, das die Raumanschauung nicht sein kann, da sie die Wirkung und nicht die Ursache dieses zusammenfassenden Aktes ist. Das Materielle dieser Idee vom Raum ist vielmehr das Ganze der einzelnen ununterschiedenen Gefühle, das zu einer einzigen Empfindung wird. So ist auch nach TETENS die Raumanschauung zwar ein Produkt der Denkkraft, aber es liegt ihr als Absolutes das Gefühl von der Gesamtheit der zugleich bestehenden Empfindungen zugrunde. In analoger Weise verarbeitet die Denkkraft, wenn die Gesamtheit der einzelnen, zeitlich aufeinanderfolgenden inneren und äußeren Modifikationen zu einer einheitlichen Empfindung zusammengefaßt ist, diese Empfindung zur Idee von der Zeit.


IV. Ist das Wahrnehmen etwas passives?

Doch kehren wir nach dieser Abschweifung zu unserer Hauptaufgabe zurück, so hatte sich uns, wenn wir die letzten Ausführungen zusammenfassen, als Resultat ergeben, daß die Wahrnehmungskraft einerseits der Vorstellung die letzten Grade der Klarheit verleiht und daß sie andererseits zu dem von der Empfindung gegebenen positiven Inhalt den Verhältnisgedanken hinzufügt. Es bleibt uns nach der oben angegebenen Disposition noch übrig, in einem dritten Abschnitt die Erwägung anzustellen, ob das Wahrnehmen etwas passives in der Seele ist. Ich habe diese Untersuchung so weit hinausgeschoben, einmal weil vorher ein geeigneter Anknüpfungspunkt fehlte, sodann auch, weil sie in ihrem vollen Umfang erst angestellt werden kann, wenn der Begriff der Wahrnehmung nach allen Seiten hin, klargestellt ist. Im Grunde kann uns das Resultat dieser Untersuchung nicht mehr zweifelhaft erscheinen, außer wir würden die Einteilung der Seelenkräfte, wie sie SEARCH aufstellt, billigen. Derselbe schreibt nämlich all das, was wir beim Erkenntnisprozeß als Äußerungen der Selbsttätigkeit bezeichnen müssen, wie die gegenwärtige Darstellung der Ideen, ihre Gegeneinanderstellung, das Vergleichen, Verbinden und Absondern dem Willen zu, als dem Vermögen, sich selbsttätig zur Wirksamkeit zu bestimmen. Bei dieser Einteilung bleibt dann allerdings für das Wahrnehmungsvermögen nichts anderes übrig, als die passive Tätigkeit, Veränderungen in sich aufzunehmen. Dieses Einteilungsprinzip verwirft TETENS aber als ein willkürlich aufgestelltes, da es in den einheitlichen Funktionen der Seele zwei ganz verschiedene Kräfte annimmt und will selbst so unterscheiden, daß man in der Selbsttätigkeit zwei Richtungen annehmen soll, von denen die eine nach außen auf das Handeln geht und sich in den Willenssachen äußert, die andere dagegen auf Vorstellungen und Gedanken gerichtet ist und der Denkkraft zukommt. In den weiteren Ausführungen seiner eigenen Ansicht macht dann TETENS auf den Unterschied aufmerksam, den die deutsche Sprache nicht ohne Grund zwischen  "wahrnehmen"  und  "gewahrnehmen"  macht, indem sie durch die verschiedene Ausdrucksweise zwei Fälle der Wahrnehmung unterscheidet. Als "wahrnehmen" bezeichnen wir den Akt der Wahrnehmung dann, wenn die eigene Tätigkeit besonders stark hervortritt, d. h. wenn die Wahrnehmung das Resultat einer angestellten Untersuchung und genauen Vergleichung ist. Da hierzu eine Anstrengung und Anspannung der Seelenkräfte notwendig ist, so leuchtet ein, daß in diesem Fall eine Selbsttätigkeit anzunehmen ist, und die Wahrnehmung eine aktive Äußerung der Seele ist. Aber auch im anderen Fall, den die Sprache als "gewahrwerden" bezeichnet, wo wir auf Gegenstände stoßen, die schon durch ihre besondere Lage, und durch die Stärke des auf das Empfindungsvermögen erzeugten Eindrucks wahrgenommen werden müssen, ist eine gewisse Selbsttätigkeit im Akt des Wahrnehmens nicht zu leugnen. Allerdings müssen wir wahrnehmen, sobald unsere Sinnenglieder den nötigen Eindruck erhalten haben, aber hieraus folgt nur, daß das Wahrnehmen nicht in unserer Willkür liegt, folgt aber nicht, daß das Wahrnehmen etwas passives ist. Denn das Unwillkürliche in einer Handlung hebt die Handlung als solche nicht auf. Wie die Feder, welche von einer Kugel getroffen wird, von dieser zwar zunächst zusammengepreßt wird, so wird auch das Erkenntnisvermögen zunächst von jedem Eindruck, der die nötige Stärke besitzt, passiv modifiziert. Wie dann aber die Feder vermöge der ihr innewohnenden Kraft die Kugel von sich stößt und ihr eine neue Bewegung gibt, und dieser Bewegung einen eigenen Charakter aufprägt, so verwendet sich auch die selbsttätige Kraft der Seele in der Wahrnehmung auf die Empfindung, bzw. die Empfindungsvorstelllung, erhebt sie zur ideellen Klarheit und fügt zu ihrem absoluten Inhalt den Verhältnisgedanken. Mit diesem, ihr aufgeprägten Charakter wird sie dann als ein subjektives Bild eines äußeren Dinges oder einer inneren Modifikation dem Gedächtnis anvertraut und erscheint auch in der Wiedervorstellung mit diesem ihr aufgeprägten Charakter.


V. Zusammenfassung und Untersuchung über
das Grundprinzip des Erkenntnisvermögens

Fassen wir nunmehr die Resultate dieser Untersuchungen über den Begriff der Wahrnehmung zusammen, so hat sich uns die Ansicht TETENS ergeben, daß wir in der Wahrnehmung ein zweifaches erkennen können:  die vorbereitenden Tätigkeiten des Gefühls und der Vorstellungskraft und die Äußerungen der Denkkraft.  Gefühl und Vorstellung werden, wie wir sahen, auf die beachtete Vorstellung zurückgebogen und setzen ihre Äußerungen in der Beschauung und Beachtung fort. Erst wenn durch diese Tätigkeiten die Vorstellung bearbeitet und aus der Menge der unwahrgenommenen Vorstellungen herausgehoben ist, wendet sich ihr die Denkkraft zu und apperzipiert sie in der Wahrnehmung, indem sie einerseits der Vorstellung die letzten Grade der Klarheit hinzufügt und andererseits die wahrgenommene Vorstellung auf andere bezieht und ihr den Verhältnisgedanken aufprägt. Diese beiden letzten Äußerungen erschienen durchaus als Äußerungen einer tätigen Kraft, sodaß wir in jeder Wahrnehmung einen Akt der Selbsttätigkeit erkennen.

Suchen wir von hier aus einen kurzen Überblick über die ganze Erkenntnistheorie TETENS' zu gewinnen, so unterscheidet er in der Seele, soweit sie erkennt, ein dreifaches Vermögen: sie fühlt, sie hat Vorstellungen und sie denkt. Auf diese drei Vermögen lassen sich alle Äußerungen der Erkenntniskraft zurückführen, von den ersten sinnlichen Äußerungen an bis zu den feinsten und höchsten Spekulationen.
    "Alle drei Vermögen sind schon wirksam in der einfachsten Wahrnehmung, aber es sind auch keine anderen, als eben diese, welche man in den höchsten Wirkungen der aufgeklärten Vernunft findet."
TETENS nennt selbst diese drei verschiedenen Äußerungen der Erkenntniskraft drei unterschiedene  Vermögen;  er könnte sie mit gleichem Recht als die  drei Hauptrichtungen desselben Vermögens  bezeichnen. Denn in seinem neunten Versuch erörtert TETENS die Frage ob die drei Vermögen des Empfindens, Vorstellens und Denkens auch drei unterschiedene und unvereinbare Grundprinzipien in der Seele voraussetzen, oder ob sie vielleicht auf ein gemeinsames Grundprinzip zurückzuführen sind und nur als Erhöhungen desselben nach verschiedenen Seiten hin anzusehen sind. Es würde zu weit führen und zu sehr aus dem Rahmen unserer Aufgabe heraustreten, wenn wir TETENS in die Einzelheiten dieser zum Teil sehr verwickelten Untersuchungen folgen wollten und so begnügen wir uns lieber damit, das Resultat aus den einzelnen Ausführungen zu ziehen. Dieses Resultat lautet dahin (27), daß
    "fühlen, Vorstellungen haben und Denken Äußerungen ein und desselben Grundvermögens sind und nur darin voneinander unterschieden sind, daß das nämliche Prinzip in verschiedenen Richtungen auf verschiedene Gegenstände und mit größerer oder geringerer Selbsttätigkeit wirkt, wenn es sich bald wie ein fühlendes, bald wie ein vorstellendes und bald wie ein denkendes Wesen offenbart."
Was dieses Grundprinzip ist, läßt sich nicht genauer bestimmen, jedenfalls ist das Empfindungsvermögen die erste und einfachste Äußerung dieses gemeinsamen Grundprinzips, da sich aus ihm alle übrigen Äußerungen der Erkenntniskraft ableiten lassen. Nimmt die Seele mittels des Gefühles Modifikationen in sich auf, so nimmt sie dieselben doch fühlend auf, sodaß es das nämliche Prinzip ist, welches sich modifizieren läßt und zugleich diese Modifikationen empfindet. Dasselbe Prinzip nimmt, wenn es mit der Selbsttätigkeit ausgestattet ist, wie wir sie der Vorstellungskraft zuschreiben, nicht nur Modifikationen passiv auf, sondern ergreift sie gleichsam, indem es die von den Modifikationen hervorgerufenen Eindrücke eine Weile in sich erhält und ihre Spuren aufbewahrt. Einen noch höheren Grad der Selbsttätigkeit treffen wir in der Phantasie und der Dichtkraft an, da in ihnen die Seele Vorstellungen aufgrund der hinterlassenen Spuren wieder erweckt, sie durch Trennen und Verbinden stärker und völliger ausbildet und sogar einzelne Teile von verschiedenen Vorstellungen zu so eng verbundenen Vorstellungskomplexen vereinigt, daß sie auf uns den Eindruck von neuen und einfachen Vorstellungen machen. Das Gefühl des Übergangs schließlich und die übrigen Verhältnisgefühle reizen die Denkkraft zu einer selbsttätigen Reaktion gegen die Vorstellung selbst und das Resultat dieser Reizung besteht in der Wahrnehmung einerseits und den anderen Verhältnisgedanken andererseits. Somit kann aus dem fühlenden Prinzip durch Erhöhung der Selbsttätigkeit sowohl die Vorstellungskraft als auch das Denkvermögen abgeleitet werden. Diese Möglichkeit darf uns aber die grundsätzlichen Unterschiede zwischen ihnen, die wir oben charakterisiert haben nicht verwischen und mir scheint mit diesem Nachweis dieser Möglichkeit ohnehin nicht viel gewonnen zu sein, zumal sie nicht ohne Willkürlichkeit zustande kommt.

Doch sehen wir hiervon ab und beschränken uns auf das Wesentliche, so erhalten wir einen vollständigen dreifachen Parallelismus von Seelenäußerungen. Die Eindrücke, welche mit dem Empfindungsvermögen aufgenommen werden, werden in der Vorstellung angeeignet und von der Denkkraft erkannt und zu Ideen verarbeitet. Keine der beiden letzten Kräfte kann in Wirksamkeit treten, ohne daß das Empfindungsvermögen sich schon als tätig erwiesen hat und andererseits wird keine Erkenntnis vollständig, ohne daß alle drei Vermögen in Tätigkeit getreten sind. Wie wir es vom Verhältnisgedanken nachgewiesen haben, lassen sich  alle  Akte des Denkvermögens auf vorhergehende Empfindungen und Vorstellungen zurückführen, wenn auch im Einzelnen diese Ableitung aus Empfindungen nicht immer leicht ist. Hält man jedoch fest, daß auch die Ideen nach ihren verschiedenen Beziehungen neue und positive Modifikationen hervorrufen, die ihrerseits wieder Objekte der Vorstellungskraft und des Denkvermögens werden, so erhalten wir einen Einblick in den komplizierten Apparat unseres Erkenntnisvermögens einerseits, erkennen aber auch andererseits die Gesetzmäßigkeit, in der die drei von TETENS unterschiedenen Seelenvermögen funktionieren.
LITERATUR: Walther Schlegtendal, Johann Nikolas Tetens' Erkenntnistheorie, Halle a. d. Saale 1885
    Anmerkungen
    1) FRIEDRICH HARMS, Über die Psychologie von J. N. Tetens, Abhandlungen der Berliner Akademie der Wissenschaften 1878
    2) EDUARD ZELLER, Geschichte der deutschen Philosophie seit Leibniz, Seite 320
    3) JOHANN EDUARD ERDMANN, Grundriss der Geschichte der Philosophie, Bd. 2,Seite 230
    4) JÜRGEN BONA-MEYER, Kants Psychologie, Berlin 1870, Seite 291
    5) TETENS, Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwicklung, Leipzig 1777, Vorwort, Seite IV.
    6) HERMANN LOTZE, Grundzüge der Psychologie, Leipzig 1881
    7) Seite 167
    8) Seite 190
    9) Seite 171
    10) Seite 16
    11) Anstelle der bei TETENS gebrauchten Ausdrücke: Gewahrnehmung und gewahrnehmen habe ich die entsprechenden Worte unserer jetzigen Ausdrucksweise: Wahrnehmung und wahrnehmen eingesetzt.
    12) Seite 262
    13) Vgl. Seite 262 und 280
    14) Seite 265
    15) Seite 281
    16) Seite 594
    17) Seite 264
    18) Seite 289 und 97
    19) Seite 95f
    20) Seite 269
    21) Es scheint mir in den Ausführungen über diesen Punkt (Seite 272, 11. Zeile von oben) ein Druckfehler vorzuliegen. Denn wie die Worte jetzt heißen:"Sollte etwa das Wahrnehmen gar nichts anderes sein und in sich enthalten, als denjenigen Aktus der Seele, wodurch das Bild oder seine Teile ihre bildliche Klarheit empfangen? oder ist der Aktus des Gewahrnehmens nur darum mit dem letzteren zugleich verbunden, weil das Wahrnehmungsvermögen durch den letzteren  dem  man noch  die  Vorstellungskraft zuschreiben kann, zur Wirksamkeit gereizt wird" scheinen sie mir unverständlich, während sie einen ganz guten Sinn erhalten wenn man liest: "weil das Wahrnehmungsvermögen durch den letzteren - nämlich durch den Akt, wodurch die Vorstellung ihre bildliche Klarheit empfängt -  den  man noch  der  Vorstellungskraft zuschreiben kann zur Wirksamkeit gereizt wird."
    22) Seite 293
    23) Seite 130
    24) Seite 304
    25) Seite 194f
    26) Seite 359
    27) Seite 615