cr-4p-4 G. K. Uphuesvon KirchmannE. DreherJ. Rehmke    
 
KASIMIR TWARDOWSKI
Idee und Perzeption

"Ich bemerke, daß meine Irrtümer von zwei zusammentreffenden Ursachen abhängen, nämlich vom Erkenntnisvermögen, das in mir ist, und vom Wahlvermögen oder der Freiheit, mich zu entscheiden; das heißt, sie hängen vom Intellekt und zugleich vom Willen ab. Denn durch den Intellekt allein perzipiere ich nur die Ideen, über welche ich ein Urteil fällen kann, und es kann sich im Intellekt, wenn er in dieser Weise präzise aufgefaßt wird, kein Irrtum im eigentlichen Sinne des Wortes finden."

"Idea bedeutet bei Descartes  Vorstellung. Wenn nun die Idee gleichbedeutend mit Vorstellung, und zwar im Sinne von Vorstellungsinhalt ist, so liegt tatsächlich nichts näher, als die Perzeption mit Arnauld als Vorstellungsakt aufzufassen. Aber auch das geht nicht an, da man sonst annehmen müßte, es gebe Vorstellungsinhalte, welche mittels der Sinne vorgestellt werden, während das Vorstellen auch nach Descartes eine Tätigkeit der Seele und nicht der Sinne ist."

"Descartes merkte wohl, daß sich die Perzeption wesentlich von der Vorstellung unterscheidet; daß aber das Wahrnehmen ein Urteilen ist, konnte er sich nicht entschließen zu behaupten. Und zwar deshalb, weil ihm bei der Wahrnehmung einerseits die  Form des Urteils zu fehlen schien, andererseits die nach seiner Theorie zum Urteil notwendige Willensbestimmung bei den Wahrnehmungen nicht gegeben ist."

Vorbemerkung

Die Wahrheit des Satzes "cogito ergo sum", des Prinzips der cartesianischen Erkenntnistheorie, beruth darauf, daß in diesem Satz nichts anderes behauptet wird, als etwas, das klar und deutlich perzipiert wird. Aber nicht nur diese, sondern fast alle Erkenntnisse sind nach DESCARTES eben deshalb Erkenntnisse, das heißt Urteile, welche mit der Überzeugung, daß es wahre sind, gefällt werden, weil in ihnen nur das für wahr gehalten wird, was klar und deutlich perzipiert wird. Würde man sich auf jene Urteile beschränken, deren Gegenstand klar und deutlich perzipiert wird, so würde man vor jedem Irrtum bewahrt bleiben.

Die "clara et distincta perceptio" [klare und deutliche Wahrnehmung - wp] ist für die cartesianische Erkenntnistheorie grundlegend als das Kriterium der Wahrheit. Dies ist von den neueren Bearbeitern der cartesianischen Philosophie ausnahmslos anerkannt worden. Im einzelnen gehen die allerdings seltenen Versuche, das Wesen der "clara et distincta perceptio" zu erklären, auseinander; über die wichtige Rolle, welche sie in der Philosophie des DESCARTES spielt, herrscht vollständige Übereinstimmung.

Umso auffallender muß es erscheinen, daß der Gebrauch des Ausdrucks "clara et distincta idea" neben dem Ausdruck "clara et distincta perceptio" bei DESCARTES entweder nicht beachtet wurde, oder daß beide Ausdrücke identifiziert wurden. Ersteres ist der Fall bei KOCH (Die psychologie des Descartes, München 1881) und bei NATORP (Descartes' Erkenntnistheorie, Marburg 1882); letzteres bei BOLZANO (Wissenschaftslehre) und bei PETER KNOODT (De Cartesii sententia  cogito ergo sum,  Inaug.-Diss., Breslau 1845). Und doch macht schon ANTOINE ARNAULD (Des vraies et fausses ideés, Bd. XXXVIII der Gesamtausgabe seiner Werke vom Jahre 1780, Seite 198) einen Unterschied zwischen Perceptio und Idea, indem er Perceptio als Vorstellungsakt, Idea dagegen als Vorstellungsinhalt.

Das Verhältnis der klaren und deutlichen Perzeption zur klaren und deutlichen Idee festzustellen und auf diese Weise frühere Untersuchungen zu ergänzen, ist die Aufgabe vorliegender Arbeit.

Ein scheinbarer Mangel derselben verlangt Rechtfertigung. Es ist nämlich ein Eingehen auf die theologischen Gesichtspunkte DESCARTES' vollständig vermieden worden. Dies möge seine Erklärung in dem Umstand finden, daß DESCARTES selbst bei der Aufstellung seines Kriteriums die Gottheit - wenn man so sagen darf - eliminiert. Seine "regula generalis" gilt auch unter der Voraussetzung, daß die Gottheit den Menschen täuscht, oder daß sie gar nicht existiert. Dies ist leicht zu ersehen aus der Art und Weise, auf welche DESCARTES zur Aufstellung seiner "regula" kommt. Sein Gedankengang ist hierbei folgender: Wenn ich mir vorstelle, daß ich keinen Körper und keine Sinne habe, und wenn ich annehme, daß die Vorstellungen von Körpern, Ausdehnung, Bewegung und dgl. irgendwie von mir selbst gebildet sind, und keines Dings außer mir bedürfen, welches diese Vorstellungen in mir hervorruft, so bin dadurch nicht  ich  aus der Welt geschafft, der ich die obigen Annahmen mache und die genannten Vorstellungen habe. Vielleicht ist dies aber nur eine Täuschung meinerseits, wenn ich, die Existenz der genannten Dinge leugnend, mich selbst als existierend annehme? Mag sein, mag ich mich täuschen, mag diese Täuschung das Werk eines allvermögenden Wesens sein: wenn ich auch getäuscht werden, so ist es nichtsdestoweniger wahr, daß  ich,  der Getäuschte, existiere. Dieses "ich" ist mein "cogitare" (im allerweitesten Sinn als der Inbegriff der psychischen Phänomene).

Worauf beruth nun diese meine unumstößliche Überzeugung? Darauf, daß ich das von mir Behauptete klar und deutlich perzipiere, und daß das, was ich in dieser Weise klar und deutlich perzipiere, notwendig wahr ist. Deshalb kann ich als allgemeine Regel aufstellen: Alles, was ich klar und deutlich perzipiere, ist wahr.

Ein Einwand, zum dem DESCARTES selbst die Hand zu bieten scheint, liegt ziemlich nahe und ist auch von seinen Zeitgenossen erhoben worden. DESCARTES sagt nämlich mehrmals, wenn seine "regula" nicht wirklich die größtmögliche Gewißheit bieten würde, so müßte man annehmen, Gott sei ein Betrüger. Daß aber Gott kein Betrüger ist, sondern daß ihm im Gegenteil eine vollkommene Wahrhaftigkeit zukommt, das behauptet DESCARTES eben wieder aufgrund seiner "regula". DESCARTES weist den Vorwurf, bei dieser Beweisführung einen Zirkel begangen zu haben, durch die Unterscheidung der mittelbaren Evidenz von der unmittelbaren zurück. Danach nimmt DESCARTES die Wahrhaftigkeit Gottes nur für die Evidenz des Gedächtnisses in Anspruch, ein Umstand, welcher ein Eingehen auf diese Frage für die vorliegende Untersuchung überflüssig erscheinen läßt.


§ 1. Die verschiedenen Fassungen des Kriteriums

Die Fassungen, welche DESCARTES seiner "regula generalis" gibt, stimmen dem Wortlaut nach nicht überein. [...] Ähnlich lautende Fassungen der "regula generalis" lassen sich unschwer als verschiedene Ausdrucksweisen ein und desselben Gedankens erkennen. Denn "dilucide" [hell - wp] mit "clare" für gleichbedeutend anzusehen, dürfte ebensowenig Anstoß erregen, wie die Gleichsetzung von "perspicuitas" [Deutlichkeit - wp] und "claritas", zu welcher DESCARTES selbst berechtigt Die Weglassung der Bestimmung "distincte" darf bisweilen nicht beirren, da DESCARTES ausdrücklich erklärt, es genüge für die Gültigkeit der "regula" die Klarheit allein nicht, sondern es muß stets die Deutlichkeit mit derselben verbunden sein. Wenn DESCARTES das einemal von "valde clare" [gewiß klar - wp] und das anderemal einfach von "clare percepito" spricht, so wird dieser Umstand keine Vermutungen über Grade der Klarheit und die dadurch bedingte größere oder geringere Sicherheit der Perzeption erwecken können, da DESCARTES die vollkommene Klarheit für alle Perzeptionen fordert, die eine sichere Erkenntnis bieten sollen. Die meisten Schwierigkeiten bietet die Anwendung der Ausdrücke "concipere" [erkennen - wp] und "intelligere" [verstehen - wp] neben "percipere". Die lateinische Terminologie des Mittelalters, an welche sich DESCARTES faßt durchgängig anlehnt, unterscheidet genau zwischen "intelligere, concipere und percipere". Nichtsdestoweniger soll von diesem Unterschied abgesehen und im Laufe der Untersuchung ausschließlich der Ausdruck "percipere" berücksichtigt werden; erstens, weil der Sinn der genannten drei Ausdrücke im Kriterium nur einer sein kann, und zweitens, weil DESCARTES in einer überwiegenden Anzahl von Fällen eben den Ausdruck "percipere" gebraucht.


§ 2. Art und Gegenstand der Perzeption

Die Perzeption ist entweder eine "perceptio sensu" oder eine "perceptio ab intellectu". Nur letztere kommt für das Kriterium der Wahrheit in Betracht.

Was soll nun "ab intellectu" percipiert werden? DESCARTES stellt das Kriterium aufgrund der klaren und deutlichen Perzeption seines Denkens auf. Aber was heißt, genauer besehen, ich perzipiere mein Denken? Nichts anderes als: ich perzipiere, daß ich denke, daß mein Denken ist, existiert. Das klar und deutlich Perzipierte ist demnach in sprachlicher Beziehung ein Satz, in psychologischer ein DESCARTES selbst sagt in einem Brief an MERSENNE: Das, was klar und deutlich perzipiert werden muß, ist z. B. "etwas kann unmöglich nicht existieren", oder: "die Existenz dieses oder jenes Dings ist möglich." Damit stimmt auch ein anderer Punkt der Lehre DESCARTES' überein, wonach Wahrheit und Irrtum sich nur im Urteil finden kann; wo also vom Kriterium der Wahrheit die Rede ist, muß ein Urteil gegeben sein. DESCARTES spricht auch von einem klaren und deutlichen Urteil.

Also ist vielleicht die "clara et distincta perceptio" nur ein anderer, nicht gerade glücklicher Ausdruck für "clarum et distinctum iudicium" [klares und deutliches Urteil - wp] ? Der folgende Paragrah soll sich mit dieser Frage beschäftigen.


§ 3. Perceptio und Iudicium

Das Urteil besteht nach DESCARTES in der Bejahung oder Verneinung. Von allen anderen psychischen Phaenomenen unterscheidet es sich dadurch, daß in ihm allein Wahrheit und Irrtum liegen können. Das Urteil bezieht sich in erster Linie auf Ideen, das ist Vorstellungen.

Was wird nun im Urteil bejaht oder verneint? Die Antwort darauf gibt DESCARTES in unzweideutiger Weise. "Man möge", sagt er, "die Vorstellungen jener Naturen betrachten, in welchen ein Komplex vieler Attribute enthalten ist, wie z. B. die Natur des Dreiecks, des Vierecks oder einer anderen Figur. Ebenso die Natur des Geistes des Körpers und vor allem die Natur Gottes, des vollkommensten Wesens. Man beachte ferner, daß alles, was wir als in denselben enthalten perzipieren, mit Wahrheit von ihnen ausgesagt werden kann." In einem Brief, in welchem DESCARTES sich über die Abstraktion ausspricht, heißt es: "Wenn ich eine Figur betrachte, ohne an ihre Substanz oder Größe zu denken, so vollführe ich im Geiste eine Abstraktion, die ich hinterher leicht erkennen kann, indem ich untersuche, ob die Vorstellung, die ich von der Figur habe, nicht von einer anderen, früher gehabten, hergenommen, und die mit jener so verbunden ist, daß man zwar die eine Vorstellung ohne die andere haben, nicht aber die ein von der anderen verneinen kann. Ich sehe klar, daß auf diese Weise die Vorstellung der Figur mit jener der Ausdehung und Substanz verbunden ist, da es ja unmöglich ist, sich eine Figur vorzustellen und dabei zu behaupten, sie besitze keine Ausdehung . . . Die Vorstellung einer ausgedehnten Substanz von einer gewissen Gestalt bildet indessen ein Ganzes (est completa), da ich sie für sich allein zu haben imstande bin und alles andere, von dem ich Vorstellungen habe, von ihr verneinen kann."

Das "affirmare" (bejahen - wp] und "negare" [verneinen - wp] besteht demnach darin, daß von einem Ding etwas bejaht oder verneint wird; so wird von der ausgedehnten Substanz nicht die Gestalt, wohl aber das Denken verneint; so wird von Gott die Existenz bejaht, die Ausdehnung jedoch verneint.

NATORP irrt, wenn er in der angeführten Schrift (Seite 35) behauptet, "Urteil bedeutet für DESCARTES durchaus Verknüpfng von Vorstellungen, nicht Analyse  eines  Vorstellungsinhaltes nach seinen verschiedenen Betrachtungsweisen". Dieser Auffassung widerspricht die Anmerkung 13 zitierte und oben deutsch wiedergegebene Stelle, wonach eben etwas von einer Vorstellung ausgesagt (nicht mit ihr verknüpft) wird, was in der Vorstellung als enthalten perzipiert, also doch wohl durch Analyse  eines  Vorstellungsinhaltes gewonnen wird. Und umso unbegreiflicher erscheint NATORPs Behauptung, wenn man sie mit dem von ihm selbst auf Seite 17 seiner Schrift gebrachten Zitat vergleicht, in welchem ausdrücklich gesagt ird, daß der eine Begriff im andern auf eine verworrene Weise eingeschlossen ist. Dort, wo NATORP sich vor die Notwendigkeit gestellt sieht, anzuerkennen, daß nach DESCARTES eigener Darstellung das Urteil, "der Körper ist ausgedehnt", ein analytisches genannt werden muß, sagt er, um seine Theorie zu retten: "das analytische Urteil spielt bei DESCARTES keine Rolle, weil es keine eigentliche Verknüpfung ausspricht, also eigentlich kein Urteil ist." (Seite 19) Hier müßte NATORP zuerst sagen, was er unter "eigentlicher" und "uneigentlicher Verknüpfung" versteht; auch müßte er beweisen, daß nach DESCARTES "Gegenstand des Urteils stets die Verknüpfung von Begriffen ist" (Seite 17). Und doch sagt DESCARTES selbst, daß der Gegenstand des Urteils die Ideen sind, und daß die Form (denn diese meint NATORP wahrscheinlich, wenn er von "Gegenstand in diesem Zusammenhang spricht) die Urteils im Bejahen oder Verneinen besteht. (siehe unten)

Auch darüber, wie das Urteil in psychologischer Beziehung zustande kommt, gibt DESCARTES Aufschluß. So sagt er in den  Notae ad programma quoddam:  "Da ich sah, daß außer der Perzeption, welche eine Vorbedingung des Urteils ist, zur Bildung der Form des Urteils die Bejahung oder Verneinung notwendig ist, und da ich ferner bemerkte, daß es uns oft freisteht, die Zustimmung zurückzuhalten, auch wenn wir die Sache perzipieren, so rechnete ich den Urteilsakt selbst, der einzig in der Zustimmung, das ist Bejahung oder Verneinung besteht, nicht zur Perzeption des Intellekts, sondern zur Determination des Willens". Ähnlich heißt es in der vierten Meditation: "Ich bemerke, daß meine Irrtümer von zwei zusammentreffenden Ursachen abhängen, nämlich vom Erkenntnisvermögen, das in mir ist, und vom Wahlvermögen oder der Freiheit, mich zu entscheiden; das heißt, sie hängen vom Intellekt und zugleich vom Willen ab. Denn durch den Intellekt allein perzipiere ich nur die Ideen, über welche ich ein Urteil fällen kann, und es kann sich im Intellekt, wenn er in dieser Weise präzise aufgefaßt wird, kein Irrtum im eigentlichen Sinne des Wortes finden."

Nach dem Gesagten ist es unmöglich, Urteil und Perzeption zu identifizieren. Die Perzeption ist nach DESCARTES' ausdrücklichem Zeugnis nur die Vorbedingung des Urteils. (1) Zum Urteil ist nach DESCARTES viererlei notwendig: Ideen, Perzeption, Willensentschluß, Bejahung oder Verneinung. Was den Willen determiniert, ist entweder die Klarheit und Deutlichkeit der Perzeption, oder der durch göttliche Gnade bewirkte Glaube. (2)


§ 4. Idee und Perzeption.
Perzeption bedeutet Wahrnehmung

Da die Perzeption nicht in die Klasse der Affekte gehört - wenigstens in jenem Sinn, in welchem der Ausdruck "perceptio" im Kriterium der Wahrheit zu nehmen ist und auch nicht in eine und dieselbe Klasse mit dem Urteil verlegt werden kann, da es doch in diesem Fall wahre und falsche Perzeptionen, also Perzeptionen mit jenen Eigenschaften geben müßte, welche DESCARTES ausschließlich dem Urteil vorbehält, so erübrigt sich nur, die Perzeptionen der Klasse der Ideen beizugesellen. (Über die hier zugrunde gelegte Einteilung der psychischen Phänomene bei DESCARTES handelt erschöpfend BRENTANO in der angeführten Schrift, Anm. 21)  Idea  bedeutet bei DESCARTES "Vorstellung"; er nennt sie "tamquam imago rei" [als Abbild - wp] (Meditationen III). Wenn nun die Idee gleichbedeutend mit Vorstellung, und zwar gemäß den angeführten Stellen im Sinne von Vorstellungsinhalt ist, so liegt tatsächlich nichts näher, als die Perzeption mit ARNAULD als Vorstellungsakt aufzufassen. Aber auch das geht nicht an, da man sonst annehmen müßte, es gebe Vorstellungsinhalte, welche mittels der Sinne vorgestellt werden, während das Vorstellen auch nach DESCARTES eine Tätigkeit der Seele und nicht der Sinne ist.

Vielleicht ist am Ende Perzeption gleichbedeutend mit Vorstellung als Vorstellungsinhalt? Dem widerspricht aber schon die grammatikalische Form des Ausdrucks als eines eine Tätigkeit bezeichnenden Substantivums. Aber ein vielleicht noch gewichtigerer Umstand steht einer solchen Auffassung entgegen. Denn hieße  Idee  und  Perzeption  dasselbe, so könnte ihre Rolle im Urteilsprozeß nur  eine  sein. Davon ist aber das Gegenteil der Fall. Die Ideen sind das Substrat des Urteils, sie sind der Gegenstand, von dem etwas bejaht oder verneint wird; die Perzeption dagegen ist dasjenige, was den Willen zum Urteilen determiniert; die Idee ist - um DESCARTES' eigene Worte zu gebrauchen - die "materia", die Perzeption die "ratio" des Urteils.

Wenn die Perzeption weder Affekt, nocht Urteil, noch Idee ist, so gehört sie in keine der drei, alle psychischen Phänomene umfassenden Grundklassen, welche DESCARTES in der dritten Meditation aufzählt. Deshalb spricht auch BRENTANO von der "Zwitterhaftigkeit" der Perzeption bei DESCARTES (Anm. 27), da sie ja doch ein psychisches Phänomen ist. Daß sich dasselbe in keine der drei Klassen einreihen läßt, kann nur durch die Annahme erklärt werden, daß DESCARTES das Wesen der Perzeption nicht erkannt hat. was heißt also "perzipieren"? Hat DESCARTES nicht vielleicht statt "percipere" andere Ausdrücke gebraucht, welche kraft des Zusammenhangs dasselbe wie dieser bedeuten, dabei jedoch Mißdeutungen weniger Spielraum lassen? Dies ist nun der Fall, und zwar sind es die Worte "animadvertere" [bemerken - wp], "apprehendere" [begreifen - wp] und "deprehendere" [erkennen - wp], welche DESCARTES in demselben Zusammenhang und Sinn anwendet, in welchem er sich des Ausdrucks "percipere" zu bedienen pflegt. Daß nun die angeführten Ausdrücke nichts anderes bedeuten, als  bemerken, wahrnehmen,  ist offenbar, zumal durch diese Annahme, und zwar nur durch dieselbe, das Cartesianische Kriterium eine entsprechende Bedeutung erhält. Wenn z. B. DESCARTES sagt, was er in der Idee des Dreiecks, des Vierecks oder Gottes als enthalten percipiert, d. h. wahrnimmt oder bemerkt, kann er vom Dreieck, dem Viereck oder von Gott bejahen, und zwar mit der Überzeuung von der Richtigkeit seiner Behauptung, so wird niemand hier die Art und Weise verkennen, in welcher die von KANT analytisch genannten Urteile, die ja auch mit voller Überzeugung von ihrer Richtigkeit gefällt werden, zustande kommen.

Aber noch andere Belege für die Auffassung der Perzeption als Wahrnehmung lassen sich anführen.

Vor allem wird durch diese Auffassung verständlich, wieso ein psychisches Phänomen, welches für die Cartesianische Erkenntnistheorie von so großer Bedeutung ist, in der von DESCARTES selbst aufgestellten Einteilung der psychischen Phänomene nicht recht unterzubringen ist. Der Grund ist wohl kein anderer als der, daß DESCARTES wohl merkte, daß sich die Perzeption wesentlich von der Vorstellung unterscheidet; daß aber das Wahrnehmen ein Urteilen ist, konnte er sich nicht entschließen zu behaupten. Und zwar deshalb, weil ihm bei der Wahrnehmung einerseits die "Form" des Urteils zu fehlen schien, andererseits die nach seiner Theorie zum Urteil notwendige Willensbestimmung bei den Wahrnehmungen nicht gegeben ist.

Ferner stimmt die gegebene Erklärung der Perzeption mit der Einteilung der Perzeptionen in solche "sensu" und "ab intellectu" überein. Es ist die von der gesamten modernen Psychologie angenommene Unterscheidung zwischen sinnlicher und nichtsinnlicher Wahrnehmung.

Endlich - und dies ist entscheidend - spricht DESCARTES von den Perzeptionen in einer Art, welche keinen Zweifel daran gestattet, daß er die Wahrnehmung meint. Er sagt: "Unsere Perzeptionen sind von doppelter Art; einige haben ihren Grund in der Seele, andere im Körper. Jene, welchen ihren Grund in der Seele haben, sind die Perzeptionen unserer Willensakte, aller anschaulichen Vorstellungen oder anderer psychischer Phänomene, die von ihr abhängen. Denn sicherlich können wir nicht etwas wollen, ohne gleichzeitig zu perzipieren, daß wir es wollen." Ferner: "Die Perzeptionen, welche sich auf Gegenstände der Außenwelt, nämlich auf Objekt unserer Sinne beziehen, werden - wenn wir nicht irren - von diesen Objekten hervorgerufen, indem dieselben, in den Sinnesorganen gewisse Bewegungen auslösend, auch einige Bewegungen mit Hilfe der Nerven im Gehirn erregen, welche Bewegungen bewirken, daß die Seele jene Objekte empfindet; wenn wir beispielsweise das Licht einer Fackel sehen und den Ton einer Glocke hören, so sind dieser Ton und dieses Licht zwei verschiedene Vorgänge, welche lediglich dadurch, daß sie zwei verschiedene Bewegungen in gewissen Nerven und mittels dieser im Gehirn hervorrufen, der Seele zwei distinkte Empfindungen vermitteln; diese Empfindungen beziehen wir in einer solchen Weise auf die Gegenstände, welche wir für ihre Ursache halten, daß wir die Fackel selbst zu sehen, und die Glocke selbst zu hören meinen, nicht aber die von ihnen verursachten Bewegungen zu empfinden glauben."

Und DESCARTES irrte nicht. Wenn man in der zuletzt zitierten Stelle statt "Bewegungen" vorsichtshalber "Veränderungen" setzt, so stimmt DESCARTES' Beschreibung vollkommen mit dem überein, was man heute von der Sinneswahrnehmung mit Bestimmheit behaupten kann. Man mag die Sache drehen und wenden, wie man will: beide Stellen geben nur dann einen vernünftigen Sinn, wenn man unter Perzeption die Wahrnehmung versteht. Deshalb ist auch die Perzeption bei DESCARTES niemals durch  Vorstellung  wiederzugeben, wie die u. a. auch BRENTANO (a. a. O. Anm. 27) getan hat.


§ 5. Die klare Perzeption

In den Prinzipien der Philosophie gibt DESCARTES eine Definition der klaren Perzeption. Auf diese Definition verweist NATORP (a. a. O. Seite 170). Wie leicht jedoch die Cartesianische Definition mißzuverstehen ist, dafür spricht wohl deutlich genug die Begriffsbestimmung, welche KOCH (a. a. O. Seite 54) von der Klarheit der Perzeption gibt. Die "perceptio" mit Einsicht übersetzend, sagt KOCH: "Zweifeln heißt denken, geistig tätig sein; Tätigkeit  ist  etwas, selbst eine Art des Seins. Das Sein ist mit Tätigkeit in gewisser Art völlig identisch, wie Tätigkeit und tätig sein, und umgekehrt nicht sein und nichts sein. Die Einsicht dieser innigsten Verknüpfung und völligen Identität von Sein und Denken im Denkakt ist nach DESCARTES klar, das heißt abgegrenzt gegen anderes Sein." Das kann doch wohl nur Folgendes bedeuten: Das Einsehen (welches als eine Art des Seins aufzufassen ist, da es ja sonst nicht gegen "anderes Sein" abgegrenzt sein könnte) ist klar, wenn es gegen anderes Sein abgegrenzt ist.

Wie soll nun das Einsehen abgegrenzt sein, und gegen welches "andere Sein"? Darüber gibt KOCHs Auffassung der Sache keinen Aufschluß. Oder meint KOCH etwa: Mein Sein, als geistig-tätig-sein, muß gegen "anderes Sein" abgegrenzt sein, dann wird meine Einsicht als eine Art des geistig-tätig-sein klar? dann hätte KOCH, um deutlich zu sein, nicht nur seine Definition anders fassen müssen, sondern er bliebe noch immer die Antwort schuldig auf die Frage: Auf welche Weise muß mein Einsehen als geistig-tätig-sein gegen ein anderes Sein dieser Art abgegrenzt sein? Welches Wort der von KOCH selbst zitierten Stelle der Prinzipien der Philosophie gibt ihm das Recht, das Wesen der klaren Perzeption in einer "Abgrenzung" zu suchen? Dort, wo DESCARTES die deutliche Perzeption definiert, ist tatsächlich, wie sich später ergeben wird, von einer Abgrenzung die Rede; bei der Definition der klaren Perzeption ist etwas dergleichen schlechterdings nicht aufzuweisen. Deshalb muß man KOCHs Ausführungen zu dieser Frage als unzureichend verwerfen.

DESCARTES selbst definiert die klare Perzeption folgendermaßen: "Klar nenne ich jene Perzeption, welche dem aufmerksamen Geist gegenwärtig und offen ist, so wie wir sagen, daß wir etwas klar sehen, wenn es dem darauf gerichteten Auge gegenwärtig ist, und dasselbe hinreichend intensiv und offen erregt." Dies ist nicht so sehr eine Definition als ein Vergleich mit der Gesichtswahrnehmung. Damit eine Perzeption klar ist, müssen drei Bedingungen erfüllt sein:
    1. Aufmerksamkeit
    2. Lebhaftigkeit
    3. Offenheit
Prägnanter drückt sich ARNAULD in seiner Logik aus, und zwar, wenn man von der Ersetzung der "Perzeption" durch "Idee" absieht, in demselben Sinne: On peut dire, qu'une idée nous est claire, quand elle nous frappe vivement. [Wir können sagen, daß eine Idee klar ist, wenn sie uns tief trifft. - wp].
    zu 1. Die erste Bedingung, die Aufmerksamkeit erfordert weiter keine Erläuterung: sie ist zumeist eine willkürliche, und manches, was anfangs nichts weniger als klar war, kann durch aufmerksames Nachdenken klar perzipiert werden.

    zu 2. Sehr lebhafte Perzeptionen treten gegen oder ohne den Willen des Perzipierenden auf; sie erzwingen sich dann dessen Aufmerksamkeit, wie dies z. B. bei einem intensiven Schmerz der Fall ist.

    zu 3. Schwer scheint es zu sagen, was die Offenheit der Perzeption sein soll; doch ist die Schwierigkeit nur scheinbar und bald behoben, wenn man nach dem Beispiel DESCARTES' seine Zuflucht zum Vergleich mit der Gesichtswahrnehmung nimmt. Man kann dies unbedenklich tun, da DESCARTES nicht nur an der zitierten Stelle, sondern auch sich sonst häufig dieses Vergleiches bedient. Man spricht von offenem Blick, wenn demselben nichts entgeht, man sagt, es liegt etwas offen vor einem da, wenn man alles übersieht und im Gesehenen nichts verborgen bleibt, wenn also der Blick den betrachteten Gegenstand durchschaut, durchdringt. Diese aus einem Analogon geschöpfte Erklärung wird auch dadurch bestätigt, daß DESCARTES, wie schon erwähnt wurde, die Ausdrücke "claritas" und "perspicuitas" promiscue [ohne Unterschied - wp] gebraucht.
Daß die klare Perzeption die Eigenschaft besitzen muß, "praesens" zu sein, ist nicht berücksichtigt worden, weil es sich nach der Darlegung, die Perzeption sei Wahrnehmung, von selbst versteht, daß eine früher gemachte oder gehabte Wahrnehmung ebensowenig eine wirkliche Wahrnehmung ist, als ein geglaubtes Vermögen ein wirklicher Besitz. Wenn jedoch DESCARTES damit sagen wollte, gehabte klare Wahrnehmungen kommen als Kriterium nicht in Betracht, so stimmt das vollständig mit seiner schon berührten Lehre, daß für einmal gehabte und nur durch das Gedächtnis reproduzierte Wahrnehmungen ein anderer Maßstab für ihre Verläßlichkeit angewendet werden muß, da ja das Gedächtnis trügen könnte.

Das Gesagte zusammenfassen, wird man sagen können: Klar ist jede Wahrnehmung, welche bei der erforderlichen Aufmerksamkeit von Seiten des Wahrnehmenden das wahrgenommene Objekt, den Gegenstand der Wahrnehmung, in allen seinen Teilen und vollständig erfaßt.


§ 6. Die deutliche Perzeption

Die Deutlichkeit einer Perzeption hat die Klarheit derselben zur Voraussetzung, nicht aber umgekehrt; denn eine Perzeption kann klar sein, ohne deutlich zu sein. Um wieder mit KOCHs Auslegung der Definition einer deutlichen Perzeption zu beginnen, so sagt derselben: "Die Einsicht dieser denkbar innigsten Verknüpfung . . . ist sowohl klar, d. h. abgegrenzt gegen anderes Sein, als auch distinkt, d. h. abgegrenzt in einer eigenen Sphäre". Diese Auslegung muß ebenfalls als ungenügend bezeichnet werden, da sie nicht nur die Sache selbst nicht trifft, sondern auch sprachlich unmöglich ist. Denn was heißt es, etwas "in eigener Sphäre abzugrenzen"? Heißt denn "Etwas abgrenzen" nicht schon an und für sich, dieses Etwas gegen ein anderes Etwas abzugrenzen, feststellen, wo das Eine aufhört, und das andere anfängt, die Grenzlinie zwischen in erster Linie  zwei verschiedenen  Dingen ziehen? Muß da nicht KOCHs Wendung von einem "Abgrenzen in eigener Sphäre" als ein innerer Widerspruch, als eine Vergewaltigung des sprachlichen Ausdrucks erscheinen?

NATORP unterläßt es auch hier, die Cartesianische Definition der Deutlichkeit zu erklären, und verweist - wie er es bei der Klarheit der Perzeption tut - auf DESCARTES selbst. Dieser sagt nun: "Deutlich nenne ich jene Perzeption, welche, indem sie zugleich klar ist, so gegenüber allen anderen abgesondert und präzise ist, daß sie ausschließlich nur Klares enthält." Es handelt sich also um eine Absonderung der klaren Perzeption gegenüber anderen, etwa gleichzeitig mit ihr auftretenden, aber nicht klaren Perzeptionen. Wie das zu verstehen ist, zeigt DESCARTES an einem Beispiel, dessen sich auch ARNAULD in gleichem Sinne bedient. Ersterer sagt: "Während jemand einen heftigen Schmerz empfindet, so ist in ihm die Wahrnehmung des Schmerzes zwar vollkommen klar, aber sie ist nicht immer deutlich, denn gewöhnlich vermengt sie der Mensch mit seinem dunklen Urteil über das Wesen desjenigen, was er im schmerzenden Körperteil für der Schmerzempfindung ähnlich hält, die allein klar wahrgenommen wird." [...]

DESCARTES, und in Übereinstimmung mit ihm ARNAULD, warnt, etwas in die klare Wahrnehmung des Schmerzes hineinzulegen, was entweder gar nicht, oder nicht in derselben klaren Weise in jener wahrgenommen wird. Empfindet man einen Schmerz, so ist nur die Wahrnehmung des Schmerzes selbst klar; allerdings lokalisiert man auch den Schmerz im gereizten Körperteil; aber die Wahrnehmung des Ortes des Schmerzes ist nach DESCARTES - und ARNAULD - nicht klar, wenn auch unsere Wahrnehmung desselben über den Ort oder die Natur des den Schmerz Erregenden Aufschluß zu geben scheint.

Deutlich ist demgemäß jede klare Perzeption, insofern alle gleichzeitig oder fast gleichzeitig mit ihr auftretenen unklaren Perzeptionen gegenüber derselben angesondert werden. Klar kann eine Perzeption an und für sich sein; deutlich wird sie durch die sorgfältige Abgrenzung gegen andere Perzeptionen.


§ 7. Die klare und deutliche Perzeption
als Kriterium der Wahrheit

Sollen die anhand von DESCARTES' aufgestellten Begriffsbestimmungen der Klarheit und Deutlichkeit Gültigkeit haben, so muß gezeigt werden, daß die klare und deutliche Perzeption in dem durch die vorausgegangene Untersuchung festgestellten Sinne der cartesianischen Lehre von der Erkenntnis nicht nur nicht widerspricht, sondern in dieser Lehre tatsächlich jenen Platz einzunehmen imstandes ist, den DESCARTES ihr anweist.

Was DESCARTES mit der klaren und deutlichen Perzeption eigentlich meint, ist nunmehr ohne Schwierigkeit festzustellen. Ist nämlich die klare und deutliche Perzeption die Bedingung eines mit vollständiger Überzeugung von seiner Richtigkeit gefällten Urteils, und bedeutet Perzeption soviel wie Wahrnehmung, so ist es klar, daß sich die klare und deutliche Perzeption mit dem Begriff der evidenten Wahrnehmung decken muß. Hierbei darf nicht vergessen werden, daß DESCARTES die Evidenz nicht richtig auffassen konnte, da er sie einem psychischen Akt zuschreibt, der seiner Ansicht nach kein Urteil ist.

Durch eine solche Auffassung der klaren und deutlichen Perzeption setzt man sich mit DESCARTES' Lehre umso weniger in Widerspruch, als es sich nachweisen läßt, daß DESCARTES selbst nichts anderes gemeint hat. Ein gewichtiges Argument hierfür bietet die Tatsache, daß DESCARTES statt "clare et distincte" einfach "evidenter" sagt. Außerdem schreibt DESCARTES der klaren und deutlichen Perzeption alle jene Eigenschaften zu, welche der Evidenz allein als Merkmale zukommen. Denn die aufgrund klarer und deutlicher Perzeption gewonnene Erkentnis ist eine notwendig wahre; es ist eine Erkenntnis, bezüglich welcher es einleuchtet, sie sei wahre Erkenntnis; jeder Irrtum ist in einem auf klarer und deutlicher Perzeption beruhenden Urteil ausgeschlossen. Die aus klarer und deutlicher Perzeption hervorgehende Erkenntnis drängt sich mit einer sozusagen elementaren Gewalt auf; es ist unmöglich, sich derselben zu verschließen. Ein Wissen, welches sich auf die durch klare und deutliche Perzeption vermittelte Erkenntnis beschränken würde, wäre frei von Irrtum und einwurfslos.

Die Annahme, daß DESCARTES unter klarer und deutlicher Perzeption die evidente Wahrnehmung verstanden hat, erhält eine weitere Bestätigung durch den Umstand, daß DESCARTES die klare und deutliche Perzeption nur auf jenem Gebiet als Erkenntnisquelle gelten läßt, in welchem es eine evidente Wahrnehmung gibt, nämlich auf dem Gebiet der inneren Wahrnehmung. Es wurde schon darauf hingewiesen, daß DESCARTES seine "regula generalis" auf das "percipere ab intellectu" beschränkt; außerdem sagt er ausdrücklich, daß selbst die den größten Schein der Wahrheit für sich habenden Sinneswahrnehmungen trügen können. Und dies ist wahr; denn eine evidente Sinneswahrnehmung gibt es nicht. Auch bemerkt DESCARTES ganz richtig, daß das Gedächtnis, indem es die einmal gemachte klare und deutliche Perzeption aufbewahrt, nicht denselben Grad von Sicherheit bietet, wie die wirkliche Perzeption selbst. Deshalb wohl führt DESCARTES unter den Eigenschaften der klaren Perzeption auch jene an, daß sie "praesens" sein muß.

Aus dem Gesagten erklärt es sich, DESCARTES, ohne die klare und deutliche Perzeption für ein Urteil zu halten, sie dennoch zur Quelle der Wahrheit erheben konnte, welche ja nach ihm selbst nur im Urteil zu finden ist. Denn tatsächlich bietet die evidente Wahrnehmung eine Erkenntnis, und DESCARTES war sich dessen wohl bewußt, daß er die Erkenntnis seiner Existenz der Evidenz der inneren Wahrnehmung verdankt. Doch hielt er an der aristotelisch-scholastischen Urteilslehre unentwegt fest. Im Wahrnehmungsurteil vermißte er die "Form" des Urteils; also hielt er die Wahrnehmung auch für kein Urteil. Da es ihm jedoch nicht entging, daß auch die Wahrnehmung bei der Erkenntnis mitwirkt, so machte er die Wahrnehmung zu einer Vorbedingung des (Wahrnehmungs-) Urteils.

DESCARTES' Kriterium findet nur auf Wahrnehmungsurteile Anwendung. Und zwar handelt es sich - wie schon öfters erwähnt wurde, - um die innere Wahrnehmung. Diese bietet zweierlei Objekte: entweder die psychischen Phänomene selbst (Vorstellen, Urteilen, Fühlen, Wollen), oder immanente Objekte (Vorgestelltes, Anerkanntes oder Verworfenes, Gefühltes und Gewolltes). Aufgrund der ersten Klasse innerer Wahrnehmungen gelangt DESCARTES zur Erkenntnis "cogito ergo sum"; aufgrund der zweiten Klasse werden jene Erkenntnisse gewonnen, für welche DESCARTES die bereits zitierten Bespiele gibt. DESCARTES' Kriterium ist ganz richtig gedacht; nur muß man die Vorbedingung des Urteils, wie DESCARTES die Perzeption nennt, als das Urteil selbst anerkennen und eine Einschränkung in dem Sinne vornehmen, daß die Gegenstände der zweiten Klasse von Wahrnehmungen aprioristische Begriffe sein müssen. Denn nur in diesem Fall sind die im Begriff gegebenen Merkmale notwendige Merkmale desselben; nur in diesem Fall also wird man von einem Begriff etwas, was in ihm als Merkmal enthalten ist, mit objektiver Gültigkeit aussagen können.

Das Gesagte wird bestätigt durch DESCARTES selbst. Denn Farbe, Schmerz und dgl. führt er als Gegenstände klarer Perzeptionen an, insofern sie den Inhalt psychischer Phänomene bilden; ebenso zählt er unter den Gegenständen klarer und deutlicher Perzeptionen die Größe, Dauer, Gestalt und Zahl auf, also Beispiele, welche als aprioristisch in die zweite Klasse innerer Wahrnehmungen gehören. Als Ideal einer Wissenschaft nennt DESCARTES die Mathematik, da dieselbe, mit aprioristischen Begriffen und darauf bezüglichen evidenten Urteilen operierend, absolute Gewißheit bietet.
LITERATUR: Kasimir Twardowski, Idee und Perzeption [Eine erkenntnistheoretische Untersuchung aus Descartes] Wien 1892