ra-2M. Esslin R. WahleJ. FreemanJ. I. Hoppe    
 
GAETAN PICON
Renè Margrittes
Welt der Ähnlichkeit


"Durch die Kritik der Realität und der Sprache sollte der Weg zu einer anderen Realität, zu einer anderen Sprache eröffnet werden."

Es ist bezeichnend, dass MARGRITTE bei seinem ersten Erscheinen in der letzten Nummer der Revolution Surrealiste durch eine Photomontage vertreten ist, die die Surrealisten schlafend um einen Text herumgruppiert zeigt, dessen wichtigstes Wort (La femme" - die Frau) durch ein Bild ersetzt ist,- noch bezeichnender ist eine Folge von kommentierten Zeichnungen: Die Worte und die Bilder, eine Aufzählung von Axiomen, die wie in einer geometrischen Abhandlung mit Illustrationen versehen sind. "Ein Gegenstand hängt nicht so eng mit seinem Namen zusammen, dass man ihm nicht einen anderen, besser passenden beigeben könnte", sagt MARGRITTE, und die Zeichnung stellt ein Blatt mit der Unterschrift "le Canon" (die Kanone, der Kanon) dar.

Alles deutet darauf hin, dass zwischen einem Gegenstand und seiner Darstellung nur eine geringe Beziehung besteht: es folgt die Zeichnung zweier vollkommen gleicher Häuser, von denen das eine "der wirkliche Gegenstand" und das andere "der dargestellte Gegenstand" heisst. "Ein Gegenstand hat nie dieselbe Funktion wie sein Name oder sein Bild": es folgt die Zeichnung eines wirklichen Pferdes, eines auf einem Bild dargestellten Pferdes und eines Mannes, der das Wort "Pferd" ausspricht usw. MARGRITTEs Werk scheint somit in erster Linie einem rein begrifflichen Problem zu entsprechen.

Diese Entsprechung findet zwar auf dem Umweg über ein Schaffen statt, das des Raumes und der Mittel der Malerei bedarf. Doch wenige Zeichnungen und wenige Worte genügen in einer Art Bilderstreifen, um ein Unternehmen zu eröffnen und zusammenzufassen, das weniger auf Imagination als auf Definition zielt, und bei dem die Imagination jedenfalls in der Illustrierung einer Problematik besteht. Auf dem berühmten Bild "Der Verrat der Bilder" aus derselben Zeit begnügt sich MARGRITTE mit der blossen Abbildung eines Gegenstands (einer Pfeife) und einer Unterschrift: "Dies ist keine Pfeife". Wenig später, im Jahre 1930, versieht er eine Bilderserie mit nicht dazu Passenden Wörtern: ein Ei heisst "Akazie", ein Hut "Schnee" usw. (La clef des songes, Der Schlüssel zu den Träumen).

Verglichen mit den früheren Äusserungen des bildnerischen Surrealismus fällt die Welt MARGRITTEs sowohl durch ihre Abhängigkeit von den Erscheinungen auf als durch das Treffende der wenigen Elemente, die verwendet werden. Wenig Monströses, keine unkenntlichen Gebilde: das Verlangen sucht seine "Anpassung" nicht dadurch, dass es seine eigene Welt erfindet. Statt uns in das Dikkicht eines Waldes voll unbekannter Wesen einzuführen, beruht das Bild meistens auf einem isoliert im leeren Raum stehenden Element oder Elementpaar: einer Blume, einem Baum, einem Haus, einem Schuh, einem Hut, einem Körper. Es ist eine Kunst der Auswahl, und zwar einer Auswahl aus der Wirklichkeit: MARGRITTE will auf etwas hinweisen, das die Wirklichkeit betrifft.

In ihrer unendlichen Feinheit ist diese Malerei zwar Kunst eines Malers, doch mit der glatten Gelecktheit ihrer rosa und blauen Pastelltöne scheint sie naiv um Ähnlichkeit mit den Gegenständen bemüht, vor denen der Maler jene Verwirrung erlebt hat, die er uns mitteilt. MARGRITTE fasziniert, ohne zu glänzen, befremdet, ohne fremd zu werden, verwischt die Spuren, ohne sich vom Fleck zu rühren. Das Geheimnis des Universums erscheint so selbstverständlich wie die gestirnte Nacht, wenn man das Fenster öffnet. Doch hinter diesen Erscheinungen steht ein Denken, das hier keineswegs erst hinterher, als Resultat einer Deutung, aus ihnen hervorgeht, sondern das in aller Klarheit ihre Auswahl und Zusammenstellung bestimmt. MARGRITTE sagt es selbst:
"Die Malkunst - die wahrhaft Kunst der Ähnlichkeit genannt zu werden verdient - erlaubt es, im Malen ein Denken zu beschreiben, das sichtbar werden kann. Dieses Denken umfasst ausschllesslich die Figuren, die die Welt uns bietet: Personen, Vorhänge, Waffen, feste Körper, Inschriften, Sterne usw. Die Ähnlichkeit vereinigt diese Figuren spontan in einer Ordnung, die unmittelbar das Geheimnis evoziert."
Wie ein Buch mit "Lektionen über Dinge", das uns lehre, daran zu zweifeln, dass sie sind, was sie zu sein scheinen, und in dem wir ihren Zweck und ihren Namen verlernen, sei das nicht-automatische, sondern voll bewusste Schaffen MARGRITTEs eine Stütze für den Surrealismus ab 1929...", schreibt BRETON. Kann es einen bewussten Surrealismus geben? Und ist das, was MARGRITTE bewusst sucht, die Fragestellung des Surrealismus?

Surrealistisch ist MARGRITTEs Schaffen, insofern es unzusammenhängende Elemente nebeneinanderstellt und so die vertrauteste Weit als seltsam erscheinen lässt. Beispiele sind der gestrandete Fisch, der in einen Frauenleib ausläuft (L'invention collektive, 1934), die Schuhe vor einem Zaun, die statt der Spitzen Zehen haben (Das rote Modell, 1935), der Baum, der nur ein Blatt ist, das Gesicht, bei dem die Augen an der Stelle der Brüste liegen, der Bauchnabel der Nase, das Geschlecht des Munds (Die Vergewaltigung). Manchmal hat dieses unzusammenhängende Nebeneinander etwas Unmotiviertes, als vager Hinweis auf das Mysteriöse: so etwa bei der Drohenden Zeit (1928), wo über dem Meer und einer felsigen Küste ein Frauentorso, eine Trompete und ein Stuhl im Himmel schweben.

Während jedoch bei ERNST oder DALI Auswahl und Verwandlung der Elemente unreflektierten und subjektiven Trieben gehorcht, die nur die Psychoanalyse entziffern kann, soweit sie überhaupt etwas anderes als willkürliche Erfindung sind, werden hier die Elemente gewissermassen nach ihrem didaktischen Wert ausgewählt: es ist die Auswahl der Reflexion. Das Problem ist hier kaum wie überall sonst das erlebte, existenzielle Problem des Widerstands der Welt gegen unser Verlangen, des Spiels der Liebe und des Todes, sondern das der Erkenntnis: genau gesagt, das des Verhältnisses zwischen Darstellung und Welt (nicht zwischen Wunsch und Welt). Nicht Magritte, sondern den Menschen schlechthin stellt jene Gestalt mit der Melone dar.

Das  Perpetuum mobile  (1934) zeigt eine Person, die eine Hantel in Kopfhöhe hochstemmt: der Kopf ist jedoch in Wirklichkeit eines der beiden Hantelgewichte. Ist die Welt also blosse Verlängerung dessen, was in unserem Kopf vorgeht? Oder ist das Gehirn nur eine Verlängerung der Aussenwelt? Sehen wir, was wir denken, oder denken wir, was wir sehen? Das "Perpetuum mobile" besteht somit im Übergang vom Realismus zum Idealismus.  La Condition humaine , ein Werk aus demselben Jahr, zeigt ein Bild auf einer Staffelei in einer Landschaft: aber so, als wäre die Leinwand ein durchsichtiges Glas, stimmt das gemalte Bild genau mit einem Ausschnitt aus der wirklichen Landschaft überein. Wo ist also das Wirkliche, wo das Dargestellte? Auf dem Bild  Lob auf die Dialektik  (1937) erscheint hinter einem offenen Fenster an einer Hauswand dieselbe Hauswand mit geschlossenen Fenstern ...

Auf solchen Bildern besteht für den Betrachter das Geheimnis in der Vermittlung eines mächtigen und unbestimmten Eindrucks. Für den Maler ist es Resultat einer Absicht. Am Anfang steht die intellektuelle Beherrschung, die das Werk bei aller Irrationalität rational unanfechtbar macht, da es auf einer begründeten und wohlüberlegten Kritik der Vernunft beruht. Es handelt sich weniger um eine Nicht-Zusammengehörigkeit, durch die die Welt, deren Zusammenhang in Frage gestellt wird, absichtlich aufgelöst werden kann, oder aber durch die eine neue Einheit angestrebt wird, als vielmehr um Umkehrbarkeit der Elemente: man kann je nach Laune die Pfeife als Pfeife oder als Nicht-Pfeife, das Geschlecht als Mund oder den Mund als Geschlecht sehen; das Monstrum auf der Vergewaltigung ist weder phantastische Figur noch plastisches Experiment wie bei PICASSO, sondern Illustration des "Prinzips der Ungewissheit": so heisst ein Bild, auf dem der Schatten einer Frau in einen Vogel ausläuft.

Zwar ist dies ein Surrealismus, der durchaus der Theorie entspricht,- sowohl das Manifest von 1924 als  Eine Woge von Träumen  gehen ja von einer Kritik der Realität und der Sprache aus. Durch sie sollte jedoch der Weg zu einer anderen Realität, zu einer anderen Sprache eröffnet werden - zu einer Praxis, bei der die in der vorherigen Kritik aufgezeigten Fehler vergessen würden. MARGRITTE steht dem Manifest näher als dem  Lösbaren Fisch : von allen surrealistischen Malern ist er der einzige, der als genauer Erläuterer der Theorie gelten kann. Aber er ist auch derjenige, der der Freiheit, zu der sie aufruft, am wenigsten eingeräumt hat, der am wenigsten der "Unerschöpflichkeit des Gemurmels" und seiner Spontaneität getraut hat, der den Bildern, die "an die Scheibe klopfen", die grösste Genauigkeit abverlangt hat. Das Erstaunliche dabei ist, dass dieser unpersönliche Philosoph auf den ersten Blick als der naivste erscheint, der ganz einfach sein Unbehagen vor den Dingen kundtut, die er sieht, und der nur ihre Ordnung, oder zumindest ihre genaue Ähnlichkeit wiederherzustellen sucht.
LITERATUR - Gaetan Picon, Der Surrealismus in Wort und Bild, (1919-1939), Paris-Genf-Brüssel 1974