tb-3MorrisE. MartinakF. Saussurevon RozwandoH. Paul    
 
HARRY PROSS
Zeichen und Ordnung

"Die Informationen, die die Sinne dem Menschen übermittelten, waren irreführend, ja, selbst die Vorstellungen, die man von der individuellen  Persönlichkeit  und der Außenwelt hatte, waren unzuverlässig und unlogisch."

Das Ding als Zeichen

ERNST CASSIRER unterschied die Wissenschaft von anderen Äußerungen  nicht  dadurch, daß sie "der hüllenlosen Wahrheit, der Wahrheit der  Dinge an sich  gegenübersteht - sondern dadurch, daß sie die Symbole, die sie gebraucht, anders und tiefer, als jene es vermögen, als solche weiß und begreift". In steter kritischer Arbeit muß auch in der Wissenschaft die Freiheit gegenüber den Schöpfungen des menschlichen Geistes gewonnen werden. Solange nicht erkannt ist, daß der  Gebrauch  der Hypothesen und Grundlegungen der Erkenntnis ihrer eigentümlichen  Funktion als Grundlegung  voraus geht, "vermag auch das Wissen seine eigenen Prinzipien nicht anders als in dinglicher, d.h. aber in halb-mythischer Form auszudrücken und anzuschauen."

CASSIRER veröffentlichte diese Mahnung 1922/23 in der Einleitung zu Band 2 seiner "Philosophie der symbolischen Formen", die das mythische Denken zum Gegenstand hat. Es war das Jahr, in dem der deutsche Rechtsextremismus seine nationalsozialistische Fratze zeigte, und damit hängt zusammen, das CASSIRERs letztes Buch der Fabrikation politischer Mythen gewidmet war. Es erschien 1945. Inzwischen hatte eine von den Nazis geschaffene Welt von Zeichen und Bildern zunächst die innenpolitische Szene der Weimarer Republik besetzt, dann die außenpolitische Situation, und damit verändert, was man gewöhnlich die "objektive Wirklichkeit" nennt.

Diese Wirklichkeit der menschlichen Gesellschaft besteht zu einem erheblichen Teil aus Dingen, die für etwas anderes stehen und der Interpretation bedürfen, aus Zeichen also, die gedeutet werden wollen. Sie bewirken über ihr  materielles Dasein  Aufsehen, Ansehen und Einsehen. Die Nationalsozialisten haben über das Aufstellen neuer Zeichen Bedeutung erlangt. Dabei ist wichtig, festzuhalten, daß sie schon Mitte der 20er Jahre, als fast ein Jahrzehnt vor der legalen Etablierung des Führer-Idols als Staatsoberhaupt, 1934, begannen, die Nichtachtung ihrer Zeichen mit brachialer Gewalt zu ahnden, indem sie harmlose Passanten durch Prügel dazu brachten, die Fahnen der marschierenden Kolonne zu grüßen.

So machten sie aus Erkennungszeichen Symbole, indem sie deren Werthaftigkeit brachial bedeuteten. Die Ruinierung der Gelehrtenrepublik, die Voraussetzung der Universitäten war, nach der Machtübernahme, die Bücherverbrennungen durch deutsche Studenten 1933, die Neueinkleidung der Nation in Uniformen und Ränge veränderten die objektive Wirklichkeit in "Hitler-Deutschland" in wenigen Jahren zum Kriege hin.

Rückblickend erscheint es mir schwierig, an dieser Politik etwas zu finden, was von "Aussonderung" bis "Zielvorgabe"  nicht  Mitteilung wertbesetzter Zeichen gewesen ist. "Wir lügen alle" überschrieb die Publizistin MARGRET BOVERI ihre Erinnerungen daran. Die zwölf Jahre waren die Lüge als System. Sie erbrachten den Beweis, daß es möglich ist, ein 60-Millionen-Volk mit falschen Zeichen in sein Verderben zu führen, indem man sie verdinglicht. MACHIAVELLI erscheint als ein kleinstädtischer Tugenbold, gemessen an dem Ausmaß der Manipulation geistiger Energien durch die Nazis. MORUS wurde noch einmal hingerichtet.

Das Zeichen als Ding

Inzwischen haben wir lernen müssen, daß die Erfahrung mit dem deutschen Zusammenbruch von 1933 und dem damit heraufbeschworenen Welt-Chaos uns keineswegs BACONs Warnung vor Idolen und CASSIRERs Forderung an den Wissenschaftler befreit hat, das Metier nicht halb-mythisch zu sehen. Im Gegenteil: die ungeheure Vermehrung der Kommunikation durch elektronischen Medien macht deutlich, daß die "symbolischen Formen" eben nicht, wie CASSIRER glaubte, "dem, was wir die objektive Wirklichkeit der Dinge nennen, gegenübertreten," sondern daß sie kraft der  materialen Beschaffenheit der Zeichen  diese sogenannte Wirklichkeit rapide verändern.

Jedermann "weiß" heute, oder könnte es wissen, daß ein Redner vor vielen Mikrofonen am Pult soziale Bedeutung hat, und einer ohne keine. Jedermann sieht, oder könnte es sehen, daß seine nackte Existenz von vielerlei Zeichen abhängt, in und außer Haus, und daß er deren Bedeutung lernen muß, will er nicht untergehen.

Früher trieb der Mangel an Zeichen die Menschen dazu, im Raunen des Windes, in der Flora, in den Sternen, schließlich im Kaffeesatz nach Zeichen zu  suchen.  Sie konnten ihnen glauben oder nicht. Heute  muß  daran glauben, wer auch nur das Rotlicht an der Straßenecke ignoriert. Wir sind voll beschäftig, die Bedeutung immer neuer Zeichen zu finden, die uns  bedrängen.  An Zeichen ist kein Mangel.

Zeichenkonstellation heißt Ordnung

Mit der Verbreitung der Wissenschaften wurden ganz alltägliche Vorgänge mit Zeichen besetzt, ohne daß CASSIRERs Gebrauchsanweisung, sie  als solche zu begreifen  mitgeliefert wurde. Es gibt keine Ordnung schlechthin, sondern eine Vielfalt nebeneinander bestehender Zeichenkonstellationen, die ihre eigenen Deutungen erfordern, weil alle letztlich unbeweisbare und unwiderlegbare Prinzipien gründen und willkürlich verursacht sind.

Ordnungen sind menschliche Antwort auf die Drohung des Nichts, Versuche der Aneignung von Welt. Ordnung ist eine Konstellation von Zeichen. Durch Zeichen erkennen wir, wie die Distanzen, Abstände und sozialen Ränge sich zueinander verhalten, in denen wir uns bewegen. Wo Zeichen fehlen, wähnen wir das Nichts, und wo Nichts zu sein scheint, beeilen wir uns, ein Zeichen für Ordnung zu setzen.

Das gilt für die Sozialisation des Kindes, wie für die der Menschheit. Die individuelle Entwicklung der menschlichen Organismen, wie die allmähliche Formwandlung der Art vollziehen sich im Setzen neuer Zeichen und im "Aufsteigen höherer Ordnungen", wie das helle Zeitalter der Aufklärung uns suggeriert hat.

Tatsächlich liegt aber dieser Annahme schon wieder ein Ordnungsprinzip zugrunde, das sprachlich höher und niedriger argumentiert, mit auf und ab, mit vorwärts und rückwärts, Fortschritt und Rückschritt. Die Richtung, in der sich eine Bewegung vollzieht, wird durch zwei weiter nicht ausgewiesene Pole markiert, und die Deutung erfolgt nach der Bewegung auf diese Pole zu und von ihnen weg.

Sprache und Bild

Will man über Ordnung sprechen, sollte man die Bewertungen bedenken, die in der scheinbar neutralen  Sprache  angelegt sind. Als am 19. Oktober 1973 zu Augsburg ein rechter Fanatiker den Bundespräsidenten Heinemann niedergeschlagen hatte, veröffentlichte die "Augsburger Allgemeine" ein Foto des Pressefotografen Fred Schöllhorn. Es zeigte den Bundespräsidenten auf dem Boden, den rechten Fuß in der Höhe, den Kopf vor dem Aufschlag bewahrend.

Die Leser der Zeitung empörten sich gegen diese "Geschmacklosigkeit". Sie stimmten darin überein, daß die Zeitung das Bild besser nicht gebracht hätte.  Würdelos, geschmacklos, nutzlos, schamlos, abscheulich  nannten die Leser die Veröffentlichung. Der Vorfall sei empörend genug, er brauche nicht auch noch im Bild festgehalten zu werden.

Dem Protest gegen die bildliche Darstellung des zu Boden geschlagenen Bundespräsidenten war kein Widerspruch gegen die Meldung überhaupt zu entnehmen. Es war empörend, die "so entsetzlich peinliche Situation bildmäßig aus(zu)schlachten", fand eine Leserin. Das Bild, nicht die sprachliche Mitteilung erregte den Widerspruch.

Das verweist auf die verschiedene Bewertung von  Sprache  und  Bild.  Das Bild in seiner Bündigkeit spricht Gefühle an, die der fortlaufende sprachliche Bericht nicht unmittelbar erreicht. Sprache als Vehikel des diskursiven Denkens setzt andere Erkenntniskräfte frei als das Bild und die Gestik. Bild und Sprache gehören verschiedenen Symbolismen zu. Wir unterscheiden genau, wie der Leserreaktion zeigt, was wir sehen wollen, von dem, was uns in sprachlicher Mitteilung zu erfahren genügt: die bildliche Repräsentation und das Darüberreden haben unterschiedliche Grade der Zumutbarkeit.

Deutung und Ordnung

Das Kind lernt durch den Eingriff der Erwachsenen nicht, was oben und unten, hell und dunkel, innen und außen  ist,  sondern es lernt deren  Vorstellungen,  was der vom Kind selbst gemachten Erfahrung von oben und unten, hell und dunkel, innen und außen zuzuordnen  sei.

Die Deutungen, die Gegenstände dabei erfahren, stimmen nicht mit den herrschenden Bedeutungen überein, wie die egozentrischen Ordnungen nicht mit den herrschenden Ordnungen übereinstimmen. Die Sozialisation erfolgt durch allmähliche Um- und Eindeutung, durch Abgewöhnen frühkindlicher und kindlicher Zeichengebung und Angewöhnen an vorhandene Zeichen und deren Geltung. Dabei geht die "kindliche Unschuld" verloren, es gilt die symbolische Gewalt der bestehenden Ordnungen.

Diese "sehen vor", daß die biologischen Lebensalter Funktionen entsprechend dem soziologischen Kalender und der auf ihm gründenden Mythologien und Geschichtsauffassungen einnehmen. Subjekte, die egozentrische Ordnungen über den jeweils zugemessenen Bereich der Privation hinaus gelten lassen wollen, werden als Kranke, als kindisch, als Diversanten, Chaoten stigmatisiert. Als "Spinner", bestenfalls als "Originale" führen sie ein absonderliches Dasein. Unangepaßtes Mitteilungsbedürfnis wird mit Entzug von Kommunikation bestraft. "Ordnung muß sein" heißt: wenn du die Zeichen meiner Ordnung nicht respektierst, beraube ich dich der Mittel, deine Ordnung zu zeigen.

Das Kind stößt auf Widerspruch, wenn es die Vorstellungen der Erwachsenen nicht übernimmt und seine Ordnung nicht den Vorstellungen der "Großen" anpaßt. Dieser Lernprozeß schränkt die Beliebigkeit der kindlichen Anordnung ein, an der sich das Subjekt bildet, indem es seine Umgebung abgrenzt und dabei eigene Vorstellungen entwickelt, wie diese Abgrenzung zu sein habe, konkret, wo dieser Bauklotz und jene Puppe und jenes Material zu liegen haben.

Die damit geschaffenen Zeichenrelationen sind nur dem interpretierenden Bewußtsein des Kindes zugänglich. Versuche, sie sich erklären zu lassen, enden gewöhnlich mit dem mehr oder weniger erstaunten "Aha", das auch in Vernissagen zu hören ist. Dieses "Aha ist selber kein Wort im diskursiven Sinn, sondern Eingeständnis der Überraschung und der Unfähigkeit, diskursiv sich zu äußern. Was in den Betonungen sich äußert, sind Gemütsverfassungen, es ist nicht Denken, es ist Gleichgültigkeit, Bewunderung, Abwesenheit, Aggressivität.

Die Erfahrung, daß die eigene Ordnung den Artgenossen als Unordnung erscheint, und durch sie gefährdet ist, geht einher mit der Erfahrung, daß Verzicht auf eigentümliche Anordnung belohnt wird. Sie bestimmt die Kindergarten-, Vorschul- und Schulerfahrung und manisfestiert sich beim Eintritt in die industrielle Produktion.

Das Subjekt wird vom Gestalter seines "Feldes" zu einer Figur in einem "Feld". Fremdbestimmung ersetzt Selbstbestimmung; aber auch jetzt noch braucht der Mensch sein  Gegenüber  als Zeichen seiner Anwesenheit. Dessen Schutzfunktion besteht nicht in rationalen Begrenzungen, wie sie bei jedem Grenzstreit, bei jedem Kompetenzstreit und überall behauptet wird, wo es um Übergriffe und Übertritte geht. Die Schutzfunktion der Markierung besteht zunächst darin, den Pfahlschläger  seiner  Anwesenheit zu versichern.

Zeichen schaffen Konflikt

An den Zeichen entzünden sich die Konflikte der Ordnungen, die nebeneinander bestehen. Das ist in der allmählichen Wandlung der menschlichen Sozietäten nicht anders als in der Entwicklung der Subjekte. Auch sie beginnen mit der Beziehung von Raum und Zeit als ihnen zugehörig. Auch sie einverleiben sich die Umwelt mit einem nicht weiter beweis- oder widerlegbaren Organisationsanspruch, den man naiv wie infantil nennen kann.

Die Techniken der Lebensführung änderten sich gewaltig; aber Mitteilungsbedürfnisse und  Techniken der Selbstdarstellung  scheinen nicht sehr entwicklungsfähig. Von Totem und Tabu zum Aufstellen der mitgebrachten Fahnenstange auf dem Mond ist der Menschheit in dieser Hinsicht nicht viel Neues eingefallen.

Die Gattung reproduziert milliardenfach die frühkindlichen vorsprachlichen Erfahrungen von hell-dunkel, innen-außen, oben-unten in der Selbstdarstellung von Subjekten und Gruppierungen. Wie das Kind seine Zeichen um sich herum setzt, so die Familie Interieur, Haus und Garten.

Die ideologischen Gebilde  Religion  und  Staat  werden durch Zeichensetzung zu Raumgebilden. Kirchturmspitzen und Wegekreuze zeigen an, ob eine deutsche Landschaft katholisch oder protestantisch "ist". Staaten "sind" nur innerhalb ihrer Grenzpfähle, und die Anordnung von Interieurs läßt sofort die wirksame "Ordnungsmacht" erkennen, egal welche Ordnung da Geltung hat.

 Wirksamkeit  und  Geltung  sind zu unterscheiden.  Geltung  bezeichnet die gültige Begründung,  Wirksamkeit  deren Umsetzung (Realisierung) in sozialem Verhalten und der Anordnung der Dinge.

In allen Ordnungen sind Zeichen dinglich und die Dinge Zeichen. Sie grenzen Räume zu Feldern ein. Sie regulieren die Bewegungsarten. Sie bestimmen die Ebenen des sozialen Verkehrs. Kein Wort wird außerhalb ihrer symbolischen Gewalt gesprochen. Insofern ist von der Allgegenwart der Ordnungen auszugehen. Es ist fast unmöglich, daß jemand sich bewege, ohne an eine fremde Ordnung anzustoßen, es sei, er gehe räumlich und zeitlich nicht über die ihm zugebilligte egozentrische Ordnung hinaus.

Historisch betrachtet, hat die seit Renaissance und Reformation von Europa ausgehende Expansion bestehende Ordnungen vernichtet, überlagert und durchdrungen, so daß mit erleichterten Kommunikationen etwas wie eine "Weltinnenordnung" sich anbahnt, deren Geltung umstritten und deren Wirksamkeit fraglich bleiben, solange sie nicht von gemeinsamen Wertvorstellungen getragen werden. Die Aussicht hierfür ist gering, denn die "Anarchie der Wertsysteme" (Dilthey) liegt in der Sache selber.

Definition

Die französischen Soziologen BOURDIEU und PASSERON haben 1970 für die Fähigkeit, in der Erziehung durch Zeichensetzung Bedeutungen als legitim durchzusetzen, den Begriff "symbolische Gewalt" vorgeschlagen. Er ist geeignet, das Verhältnis von geistiger Energie und Wirklichkeit zu erhellen, das von Idealismus und Materialismus polarisch verstanden wurde. Die Schule, als ein abgeschlossener Raum mit eigenen Regeln der Mitteilung, ist tatsächlich ein Beobachtungsfeld für die Versuche, geistige Energien zu realisieren, indem man sie festgesetzten Kindern akzeptabel macht.

Vor der Anerkennung der Legitimität von Bedeutungen ist aber ein Prozeß der Identifikation mit den Bedeutungsträgern nötig. So definieren wir  symbolische Gewalt  als die Macht, die  Geltung  von Bedeutungen durch  Zeichensetzung  soweit effektiv zu machen, daß andere Leute sich damit  identifizieren. 

Das wirft sogleich die Frage nach den Sanktionen auf, die in der Schule eine gewisse Rolle spielen. Unterscheidet man körperliche und andere Strafen, so erweisen sich die anderen wiederum als symbolisch: Aussonderung durch das In-die-Ecke-stellen ist eine symbolische Verstoßung, Strafarbeiten werden im Bereich des diskursiven Symbolismus der Sprache absolviert; aber sie halten den Bestraften davon ab, sich in der Zeit anderen mitzuteilen. Sie nehmen ihm etwas von seiner Kommunikationsfähigkeit und rühren daher an die natürliche Mangelsituation, der wir durch Kommunikation abhelfen wollen. Denselben Effekt hat aber auch die Anwendung brachialer Gewalt, die ihrerseits  Über legenheit und  Unterwerfung symbolisiert.

Die symbolische Gewalt ist an die Materialität der Zeichen gebunden. Infolgedessen hängt alles davon ab, daß diese Zeichen dinglich genommen werden, angefangen von der abstrakten Formel eines wissenschaftlichen Codes bis zu dem gezeichneten Grenzstrich, der den Hoheitsanspruch einer Herrschaft von der anderen abgrenzt und sie dadurch räumlich erst konstituiert.

Immer sind die Zeichen dinglich und haben Dimensionen. Die Energie, die sie verkörpern, hat als solche keine. Sie wird zur sozialen Gewalt erst in dem Verhältnis: materielles Signal, Bedeutung und Interpret; aber niemals ohne diese Konkretisierung.

Mein zehnjähriger Sohn wollte von mir wissen, wie schnell denn CHRISTUS zum Himmel gefahren sei, wenn der Himmel doch unendlich und JESUS schon am dritten Tag wieder zurück und auferstanden sei. Die Frage eines Kindes, für das der Raumflug eine alltägliche Fernseh-Erfahrung ist; der Versuch, die christliche Verkündigung an dieser Erfahrung zu begreifen. Darüber hinaus aber ein Beispiel jener halbmythischen Form, die dem tieferen Begreifen der Symbole entgegensteht.

Sprache, Literatur, Wissenschaft

Man hat die  Sprache  häufig mit einer Landkarte verglichen, um darzutun, daß sie ein System von Zeichen sei und deutlich zu unterscheiden von einer Wirklichkeit, die sie nur unvollkommen erfaßt.

Dieser bildlich Vergleich hat zwei Vorzüge. Er läßt sehen, daß die Sprache ein von den Dingen abgehobener Symbolismus ist, und er zeigt zugleich die Möglichkeit, sprachlich Bilder herzustellen, die ihrerseits wieder vereinfachen, was für die Beschreibung zu kompliziert ist. Denn wenn wir sagen oder schreiben "die Sprache gleicht einer Landkarte", machen wir anschaulich und führen einen Sachverhalt dem Verständnis zu, indem wir vor der Kompliziertheit dieses Sachverhaltes zurückweichen. Das setzt voraus, daß ein Vorverständnis darüber bestehe, was als  Landkarte  bezeichnet wird.

Die  symbolische Gewalt der Sprache  erneuert sich in der Begegnung der Subjekte mit ihrer Umwelt an dieser Umwelt; und die Grundordnung ist daran beteiligt, soweit ihre Symbole präsent sind (ein Polizist, eine Plakatwand, ein Heiligenbild, der Staatsrundfunk) und die  Spontaneität des Erkennens  auf sich ziehen. Deshalb brauchen dogmatische Grundordnungen soviel Bildmaterial. Wo diese unmittelbare Präsenz fehlt, geht das Subjekt seine eigenen Wege und setzt das Wahrgenommene in die Struktur der Sprache um, die ihm entsprechend seiner biologischen Zeit aus dem Sprachgebrauch der umgebenden Subjekte und der Massenkommunikation angewöhnt worden ist.

Wobei die Selbsttätigkeit des Erkennens auch mit diesen Strukturen unterschiedliche Vorstellungen verknüpft, die aus jeweils einzigartigen Erfahrungen stammen. KANT setzte die Spontaneität des Erkennens gleich Verstand; aber der Aspekt der symbolischen Gewalt lehrt uns, daß dieser Verstand mit einem Netz von  metaphorischen Behelfen  arbeiten muß, deren Übertragung er nicht durchschaut und die deshalb zum Manipel werden können.

Wer Sprache nicht als von Grund auf metaphorisch versteht und daher interpretationsbedürftig im Sinne eines zweifelnden "das  soll  heißen", der wird die Grenze zwischen bloß Vorgestelltem und dem Wahrgenommenen verwischen. Das geschieht in den allermeisten sozialen Beziehungen, wo ein "gesagt ist gesagt" genügt, das die Frage nach der dahinterliegenden Metaphysik erübrigt.

Insofern der alltägliche Sprachgebrauch zwischen Bild und Sache nicht unterscheidet und die in der gewohnten Struktur angelegten Erkenntnismöglichkeiten ihrer selbst negiert, erneuert er auch das  mythische Bewußtsein  derjenigen, die diese selbe Sprache sprechen. "Muttersprache" und "Vaterland" sind Schlüsselsymbole dieses ins Biologische gedeuteten Zusammenhangs. Die Auffassung der Literaturen als Nationalliteraturen und der Sprachwissenschaften als Nationalwissenschaften im Europa des 19. Jahrhunderts folgen der oft unbewußten Gewalt der Sprache, indem sie deren Ganzes artikulieren.

Die Zweifel, was etwas heißen  soll,  zu unterdrücken, und bestimmten Worten und Sätzen apriorische Bedeutung zu verleihen, liegt nahe, wenn die mögliche Erkenntnis der Vieldeutigkeit von Sprache und Begriff bewußt oder unbewußt vernachlässigt wird. Wo der  Zweifel  zum Schweigen verurteilt ist, durch Gewalt, durch Bequemlichkeit oder einfach, weil er "sich nicht einstellt", gewinnt das Verfahren an Boden, mit verbalen  Symbolen  der Grundordnung (Staat, Volk, Nation, Demokratie, Christenheit, Arbeiterklasse) so umzugehen, als seien sie gesichertes Wissen, und von ihnen als scheinbar sicheren Prinzipien streng methodisch Sätze abzuleiten, die  Geltung  beanspruchen, weil sie streng-systematisch von Begriffen und Grundsätzen a priori abgeleitet sind (Dogmatismus).


Dogmatismus und Pragmatismus

Das dogmatische sprachliche Verfahren kommt der  pragmatischen Verkürzung  der Sprache im Alltag entgegen, umgekehrt neigt das aufs Handeln gerichtete Abkürzungsverfahren zum  Dogmatismus.  Beiden Tendenzen nehmen das Wort für die Sache selber und stärken damit einen Mythos, der in  politics  ein eschatologischer zu sein pflegt. Gleichwohl erstarrt die Sprache zu einem allein verfügbaren Instrument der Hüter einer Grundordnung. Noch die rigorose sprachliche Diktatur unterliegt der Diktatur der Sprache: Wir erinnerten daran, daß SS- und Polizeichef Himmler schließlich den Gebrauch des für den Judenmord verwendeten terminus "Sonderbehandlung" verbot, weil er ins Gerede gekommen war.

Das verhindert bald vierzig Jahre später nicht, für lernbehinderte Kinder in der Bundesrepublik die "Aussonderung" auf die "Sonderschule" vorzuschreiben. In bezug auf die politische Grundordnung, die gewöhnlich von einem gedruckten Verfassungstext her begründet wird, ist zu fragen, ob der unerläßliche  Dogmatismus von Recht und Gesetz  verabsolutiert oder auf "Gerechtigkeit als Rechtsidee" (RADBRUCH, 1932) hin relativiert wird, eingedenk der Zweifel, die den Symbolismen Sprache und Verfahren gegenüber angebracht sind.

Eine Rechtsprechung, die nicht zu den Postulaten ihrer Verfassung auflebt, voll bewußt, daß diese Sollenssätze sind, sondern glaubt, in ihnen metaphysisches Wissen zu besitzen, wird unabhängig vom Inhalt dieser Sätze die Menschen verfehlen, die ihr als Rechtssubjekte unterworfen sind.
LITERATUR - Harry Pross, Zwänge - Essay über symbolische Gewalt, Berlin 1981