tb-1Gegenstand der ErkenntnisPhilosophie des LebensOgden/Richards - Theorie der Definitionencc catch 4     
 
HEINRICH RICKERT
Zur Lehre von der Definition II

Die naturwissenschaftliche Methode
Begriff und Wirklichkeit
"Daß wir alle an der Hand der Sprache denken und lernen und fortwährend mit Hilfe der Sprache denken, ist gewiß richtig. Ja, man wird sagen dürfen, daß wir ohne Sprache nur unvollkommen oder vielleicht überhaupt nicht logisch denken können, und daß es daher nicht angeht, in der Logik die Sprache zu ignorieren."


I. Allgemeine Bestimmung der Definition

1. Worterklärung und Definition

Wir wenden uns jetzt zu einer  s y s t e m a t i s c h e n  Untersuchung über den Begriff der Definition. Fast alle Logiker beginnen ihre Lehren über sie mit einer Erörterung der bekannten Tatsache, daß bei der Mitteilung von Gedanken die in der Sprache verwendeten  W o r t e  für den Mitteilenden nicht immer dasselbe bedeuten wie für den, der die Mitteilung empfängt. Auch die Autoren, welche lehren, daß es sich beim Definieren nicht um eine Definition von Namen handeln kann, sind geneigt, den Gesichtspunkt, wonach es Aufgabe der Definition sei, den durch die Sprache hervorgerufenen Mißverständnissen abzuhelfen, in den Vordergrund ihrer Betrachtung zu rücken 1), und das ist aus der Geschichte der Logik leicht zu verstehen: sie schließen sich damit eng an die eigentümliche Form an, in welcher, wie wir gesehen haben, die Definition zuerst bei Sokrates auftreten mußte.

Nicht ohne Absicht haben wir daher am Anfange der Untersuchung den scheinbar selbstverständlichen Gedanken, daß das  A u f s u c h e n   v o n   W a h r h e i t  und die  s p r a c h l i c h e   F o r m u l i e r u n g  zum Zweck der  M i t t e i l u n g  zwei verschiedene Vorgänge sind, wiederholt ausgesprochen. Man kann diese beiden Gebildet und die Zwecke, die sie verfolgen, nicht scharf genug auseinanderhalten; denn, wenn auch ihre Verschiedenheit in der soeben gegebenen Form wohl von allen unbedingt zugestanden wird, so gewinnt die Sache doch sofort ein anderes Ansehen, sobald wir uns zu einer Frage wenden, die mit der vorliegenden Unterscheidung aufs engste zusammenhängt, zu der Frage nach dem Verhältnis von Sprechen und Denken überhaupt. Dies viel behandelte Problem muß hier wenigstens gestreift werden, bevor wir in eine Untersuchung über den Begriff der Definition eintreten.

Daß wir alle an der Hand der Sprache denken und lernen und fortwährend mit  H i l f e  der Sprache denken, ist gewiß richtig. Ja, man wird sagen dürfen, daß wir ohne Sprache nur unvollkommen oder vielleicht überhaupt nicht logisch denken können, und daß es daher nicht angeht, in der Logik die Sprache zu ignorieren. Aber der Grund hierfür liegt nicht etwa darin, daß Denken und Sprechen  z u s a m m e n f a l l e n . Eine einfache Ueberlegung muß das klarstellen. Es gibt einerseits Worte und Sätze, die wir verstehen, andererseits solche, die für uns  u n v e r s t ä n d l i c h  sind, und bei denen wir uns daher auch nicht denken können. Der Unterschied beruht darauf, daß manche Worte und Sätze eine  B e d e u t u n g  oder einen  S i n n  haben, während bei andern Worten und Sätzen dies für uns nicht der Fall ist. So eng also auch die Worte und ihre Bedeutungen miteinander  v e r b u n d e n  sein mögen, so lassen sie sich doch begrifflich voneinander trennen, ja sie müssen,  v o n einander verschieden sein, gerade wenn wir sagen können, daß sie  m i t einander verknüpft sind. Das  b l o ß e  Sprechen ist ohne Sinn oder Bedeutung und insofern gedankenlos. Das Denken bewegt sich seinem eigentlichen Wesen nach nicht im Reich der  W o r t e  und  S ä t z e , sondern in dem der  B e d e u t u n g e n  und  S i n n g e b i l d e .

Hiermit soll, wie schon hervorgehoben, nicht gesagt sein, daß wir auch ohne ein Mittel wie die Sprache denken können, sondern nur, daß die Sprache nicht ein vom Denken  b e g r i f f l i c h  unablösbares Element bildet. Ob der Mensch es durch Uebung dahin bringen könnte, ohne Worte zu denken, ist hier gleichgültig. Allein darauf kommt es an, daß, weil Denken und Sprechen, Wort und Bedeutung, Sinn und Satz nicht identisch sind, die Verwendung der Sprache bei dem Denkprozeß, der von der Mitteilung der Gedanken an andere absieht, eine prinzipiell andere Rolle spielen muß als bei den Bemühungen, die ausdrücklich darauf gerichtet sind, die gefundenden Resultate des Denkens in eine anderen verständliche sprachliche Form zu bringen. Ist die Sprache im ersten Fall nur etwas Sekundäres, äußerlich hinzutretendes, wenn auch vielleicht faktisch Unentbehrliches, so bildet sie im andern Fall den eigentlichen Gegenstand, auf den unser Denken sich richtet.

Dies mußte hervorgehoben werden, um zu zeigen, daß es berechtigt ist, das Denken seinem  S i n n  oder seiner  B e d e u t u n g  nach auch ohne Rücksichtnahme auf  d i e  sprachliche Formulierung zu behandeln, die zum Zwecke der Mitteilung an andere vorgenommen wird, denn daraus ergibt sich, daß die Definition welche  n u r  den Zweck verfolgt, die Bedeutung eines  W o r t e s  anzugeben, etwas prinzipiell anderes ist als die Definition, die darauf ausgeht, den Inhalt eines  B e g r i f f e s  zu bestimmen. Im ersten Fall kommt es auf das Wort selbst an, und der damit zu verbindende Begriff wird als fertig bereits  v o r a u s g e s e t z t . Im zweiten Fall dagegen haben wir es mit den an den Worten haftenden Bedeutungen und Sinngebilden zu tun, die wir beim Sprechen meinen oder verstehen, und gerade der  B e g r i f f , den wir denken und mit einem Worte verbinden sollen, steht in  F r a g e .

Zunächst jedoch wenden wir uns der sprachlich formulierten Definition zu und bestimmen die Aufgabe, die sie zu lösen hat. Sie ist logisch betrachtet eine ganz einfache. Jeder, der irgendeinen Satz ausspricht, hat das Bedürfnis, verstanden zu werden, d. h. er muß wünschen, daß, wer seinen Satz hört oder liest, mit den darin verwendeten Worten  d i e s e l ben  Bedeutungen oder Begriffe verbindet wie er selbst, oder, wie man auch zu sagen pflegt, dieselben "Vorstellungen" hat. Soweit es sich dabei um einfache, d. h. nicht weiter analysierbare Bedeutungen handelt, muß er entweder voraussetzen, daß die Worte und das, was sie bezeichnen, bekannt sind, oder wenn dies nicht der Fall ist, muß er imstande sein, auf Objekte, die er mit den Worten meint, hinzuweisen, jedenfalls auf irgendeine Weise bewirken können, daß sein Zuhörer das, was er sagen will, direkt an sich selbst erfahre, denn sonst hat er kein Mittel, ihm seine Gedanken näher zu bringen. Bei einem Worte jedoch, das einen zusammengesetzten Begriff bezeichnet, liegt die Sache anders. Er kann diesen Begriff in einfache Bedeutungen oder auch wiederum in zusammengesetzte Begriffe zerlegen und nun angeben, daß der Name, den er hier gebraucht, den Begriff bezeichnen soll, der aus den und den, ihrem Inhalt wie ihrer Bezeichnung nach als bekannt vorausgesetzten Bedeutungen oder Begriffen besteht, oder, falls die dabei verwendeten Begriffe wiederum nicht eindeutig sprachlich bezeichnet sind, kann er sie von neuem zerlegen und so fortschreiten, bis er schließlich den ganzen Begriff in einfache Wortbedeutungen aufgelöst hat, die er dann entweder durch den Hinweis auf die gemeinten Gegenstände oder durch Nennung von Worten seinem Hörer oder Leser ins Bewußtsein bringt. Wenn dies vollständig geschehen ist, wird er sicher sein, daß sein Zuhörer sich unter den von ihm gebrauchten Worten dasselbe (idem) denkt, was er selbst (ipse) sich dabei gedacht hat.

Es ist selbstverständlich, daß jener soeben angedeutete Weg der Zerlegung eines Begriffes in elementare Wortbedeutungen bsiweilen sehr umständlich ist, und daß man ihn nur einschlagen wird, wenn man auf andere Weise nicht zum Ziele gelangt. Da nun bei den meisten Menschen eine große Anzahl von Begriffen mit den übereinstimmend gebrauchten Bezeichnungen als bekannt vorausgesetzt werden darf, so wird es für gewöhnlich genügen, zur Angabe der Bedeutung eines Wortes ein anderes Wort zu nennen, mit dem in dem Zuhörer eine größere Anzahl der Elemente des zu übertragenden Begriffs zugleich ins Bewußtsein gerufen wird, und dann noch diejenigen Worte hinzuzufügen, welche den Rest der von dem Sprechenden gemeinten Bedeutungen hervorrufen. Die Form wird sich immer so darstellen: dieser oder jener Name bezeichnet einen Begriff, dessen Elemente die mit diesen oder jenen anderen Namen bezeichneten Bedeutungen bilden.

Man nennt auch dieses Verfahren in der Logik  D e f i n i t i o n , und SIGWART ist der Ansicht, daß es sich bei der Definition überhaupt nur um eine  W o r t erklärung handeln kann, nicht um eine  B e g r i f f s erklärung. "Das  W o r t  allein, das dem Begriffe gegenüber äußerlich und zufällig ist", sagt er, "bedarf einer Erklärung, einer immer erneuten Erinnerung an seinen Gehalt" 2). Aus dieser Behauptung Sigwarts ergibt sich mit Notwendigkeit, daß, wenn man sie annehmen wollte, die Lehre von der Definition dann nur in dem Teil der Logik ihre Stelle haben würde, der von der sprachlichen Formulierung der Gedanken handelt, und daß die Logik dabei nur die Regeln angeben könnte, wie man am besten sich sprachlich ausdrückt. Der  B e g r i f f  soll ja nicht definiert werden, sondern muß bereits vorhanden sein, damit die Worterklärung möglich ist. Die Bezeichnung Definition wäre für die Worterklärung insofern gerechtfertigt, als es sich darum handelt, den Geltungsbereich eines Wortes auf bestimmte Bedeutungen oder Begriffe zu  b e s c h r ä n k e n , im gewissen Sinne also einen Namen zu "definieren".

Dabei muß aber bemerkt werden, daß die Lehre von  d i e s e r  "Definition" durch das soeben Vorgetragene methodologisch vollkommen erschöpft ist. Die Logik hat nach Sigwart als Methodenlehre nur anzugeben, was geschehen soll, wenn ein bestimmter Zweck gewollt wird. Der Zweck dieser Definition besteht in der Hervorrufung des Denkens bestimmter Bedeutungen durch die Nennung eines Wortes. Daraus ergibt sich die Forderung, daß an Stelle eines Wortes, mit dem mehrere oder gar keine Bedeutungen verbunden sind, so daß es vieldeutig oder nichtssagend ist, solche Worte gesetzt werden, mit denen jeder eine und nur eine Bedeutung verbindet. Da ferner das Bestreben darauf gerichtet sein wird, diesen ZWeck möglichst schnell und einfach zu erreichen, so kann die Logik noch die Regel hinzufügen, daß man Worte suchen möge, die möglichst viele der gemeinten Bedeutungen auf einmal angeben, damit man so wenig wie möglich Worte braucht, um doch die ganze Summe der Bedeutungen, von denen man wünscht, daß sie im fremden Bewußtsein auftauchen, zu erschöpfen. Alles dies bleibt  l o g i s c h  sekundär.

Auf keine Weise darf man, ohne weitere Voraussetzungen zu machen, aus  d i e s e m  Zweck der Definition die Regel ableiten, daß man durch das genus proximum und die differentia specifica definieren solle. Es lassen sich vielmehr Fälle denken, in denen man durch Angabe eines einen nebengeordneten, ja untergeordneten Begriff bezeichnenden Namens viel schneller zu seinem Ziele kommen wird, als durch Angabe des übergeordneten. Und gar die Forderung, die wesentlichen Merkmale des Objektes anzugeben, hat hier noch keinen Sinn. Es kommt ja doch nur darauf an, daß, wenn ich definiere, durch Nennung eines Namens in einem andern Menschen die Bedeutungen erweckt werden, die ich bereits habe, und von denen ich wünsche, daß er sie auch hat. Mein Wille ist das einzig Maßgebende dafür, welche Bedeutungen der andere denken soll, und ich kann nur wollen, daß er dieselben Bedeutungen denkt, die Elemente meine Begriffes ausmachen, und zwar, daß er sie alle denkt, denn sonst hätte er meinen Begriff nicht vollständig. Was ich daher in meinen Begriff aufgenommen habe, das muß ich auch so mit Worten bezeichnen, daß der andere es versteht, und alles ist gleich wesentlich, denn wenn es unwesentlich wäre, würde ich es nicht in meinen Begriff aufgenommen haben und natürlich erst recht nicht in meiner Definition mit einem Worte bezeichnen.

Man wird nun aber hiergegen mit Recht den Einwand erheben, daß doch immer anders definiert werde, daß es nicht allein darauf ankomme, mit der Definition die Bedeutung eines Wortes anzugeben, sondern daß der Definierende von bestimmten wissenschaftlichen Voraussetzungen ausgehe und durch die Angabe von genus und differentia und der wesentlichen Merkmale seine Definitionen bilden müsse. Sigwart selbst sagt: "bloß sprachliche Erklärungen, wie Logik heißt Denklehre, Demokratie heißt Volksherrschaft, oder Erklärungen sprachlicher Abkürzungen, wie eine Grade ist eine gerade Linie, nennt niemand Definitionen" 3). Das ist gewiß richtig. Aber  w a r u m  wir diese Erklärungen von Worten nicht Definitionen nennen, ist nach Sigwarts Lehre nicht einzusehen. Der  B e g r i f f  wird ja nach ihm nicht definiert, sondern das  W o r t , und was soll die Wort-Definition anders sein, als eine "bloß sprachliche Erklärung"? Welches ist der prinzipielle Unterschied zwischen ihr und der Sigwartschen Definition?

Es gibt keinen, und es kann keinen geben, wenn Definition nur Worterklärung und nicht Begriffsbestimmung ist. Sigwart hat sich hier selbst widerlegt, und gerade seine Bemerkung, daß niemand bloße Uebersetzungen Definitionen nennt, führt auf das hinaus, was diese Untersuchung klarstellen wollte.

Bevor nämlich jemand die Bedeutung eines einen Begriff bezeichnenden Wortes angeben will, muß in ihm ein im Gebiet des  l o g i s c h e n   S i n n e s  sich bewegender Denkprozeß  v o r a n g e g a n g e n  sein, der dann erst seinen sprachlichen Ausdruck finden kann, und es ist ganz willkürlich, diesen  s p r a c h l i c h e n   A u s d r u c k   a l l e i n   D e f i n i t i o n   z u   n e n n e n . Weder bezeichnet das Wort orismos bei Aristoteles nur die Worterklärung, noch wird das Wort Definition in diesem Sinne heute gebraucht. Man verwendet es vielmehr für den logischen Denkprozeß  u n d  den sprachlichen Ausdruck zugleich. Dieser Denkprozeß aber ist auch für den heutigen Sprachgebrauch nichts anderes als die  B i l d u n g  des  B e g r i f f s . Der logische Denkakt als die eigentliche Definition eines Begriffs muß also bereits abgeschlossen sein, ehe man sie sprachlich formuliert, denn erst wenn ich einen Begriff völlig bestimmt habe, kann ich einen Satz aussprechen, in welchem ich sage, daß ein bestimmter Name als Zeichen für den von mir definierten Begriff in der Sprache benutzt werden soll. Jede Definition, die wir, um sie auf ihren allgemeinsten Ausdruck zu bringen, mit Lotze in der Formel S = f (a, b, c ...) darstellen wollen 4), läßt sich, wenn sie sprachlich formuliert ist, in zwei Urteile auflösen: 1. f (a, b, c ...) ist ein Begriff, 2. dieser Begriff soll den Namen S tragen. Für die Logik ist jedenfalls der logisch sinnvolle Denkakt, der den Begriff bildet, der wesentliche Teil, und es ist daher nicht willkürlich, wenn wir ihn als die  e i g e n t l i c h e  Definition bezeichnen. Das, was Sigwart Definition nennt, ist die von dieser eigentlichen logischen Definition oder Begriffsbestimmung sorgfältig zu trennende sprachliche Formulierung des vorhergegangenen Denkprozesses und kommt auf eine "Uebersetzung" in der weitesten Bedeutung des Wortes hinaus, d. h. auf die Nennung verständlicher Namen für unverständliche oder unverstandene.

Wenn man die logischen Gebilde und die sprachlichen Sätze nicht immer genau unterschieden hat, so lag das wohl daran, daß auch bei dem logischen Denkprozeß die Sprache eine eigentümliche Rolle spielt, die man mit ihrer bereits erörterten Bedeutung bei der Definition, soweit sie nur Mittel zu Uebertragung von Gedanken ist, verwechselte. Dies Verhältnis jedoch, in welchem die Sprache zu dem lediglich auf das Finden und Darstellen von Wahrheit gerichteten Denken steht, können wir erst später untersuchen 5), und dann wird auch die Wichtigkeit der hier gemachten Unterscheidung noch klarer hervortreten. Wir werden dann erkennen, daß allerdings das  W o r t  für die Definition als Bestimmung des Begriffs, auch ohne Rücksicht auf die Mitteilung von Gedanken, in gewisser Hinsicht entbehrlich ist.


2. Der Zweck der Definition

Zunächst jedoch wenden wir uns dem logischen Denkakte zu, der immer Definition genannt worden ist, nämlich der  B e g r i f f s b e s t i m m u n g , indem wir dabei von all den Bemühungen, die nur auf Fixierung von Wortbedeutungen zum Zwecke eindeutiger Mitteilung abzielen, ausdrücklich absehen. Wir betrachten die Definition als den Denkprozeß der Begriffsbildung, ohne Beziehung auf den Austausch von Gedanken, als Werkzeug und Hilfsmittel bei wissenschaftlichen Darstellungen. Daß diese Betrachtungsweise gerechtfertigt ist, glauben wir nachgewiesen zu haben. Für die andern Gebiete der Methodenlehre würde ein solcher Nachweis kaum nötig gewesen sein, obwohl faktisch  a l l e s  Denken mit Worten und Sätzen verknüpft ist. Der Definition haftet noch immer etwas von ihrer Herkunft an, das sie in besonders nahe Beziehung zur Sprache bringt: sie ist entstanden im dialogischen Kampf um die Wahrheit. Aber ihre Herkunft ist nicht entscheidend für ihre logisches Wesen. Sie ist Mittel zu einem Zweck, der nicht  n u r  in der Angabe der Bedeutung eines Namens besteht, und es wird sich daher wieder gemäß unserer Methode zunächst darum handeln, diesen Zweck, der ganz allgemein die Bestimmung des Begriffs ist, genauer kennen zu lernen. Erst dann können wir das logische Wesen der Definition verstehen.

Die Meinung darüber, welches das letzte Ziel der menschlichen Erkenntnis überhaupt sei, sind außerordentlich geteilt, vielleicht nicht so sehr in bezug auf das, was wünschenswert, als vielmehr in bezug auf das, was möglich ist; und damit hängt denn allerdings zusammen, daß viele Menschen von Bestrebungen, deren Erfüllung sie für ganz unmöglich halten, auch nicht mehr wünschen, daß man sie anstelle, und sie als überflüssig bekämpfen.

Aber gleichviel, mag man, um die Ausdrücke Lotzes zu gebrauchen, sich darauf beschränken, den Weltlauf zu  b e r e c h n e n , oder mag man weitergehen und ihn auch  v e r s t e h e n  wollen 6), in einigen Punkten werden doch alle, die nicht vortheoretische "Pragmatisten" geblieben sind, d. h. die überhaupt eine Erkenntnis  o h n e  Rücksicht auf praktische Zwecke  a n s t r e b e n , einig sein. "Niemand versucht es, eine Wissenschaft zustande zu bringen, ohne daß ihm eine Idee zugrunde liege", sagt Kant, "und unter der Regierung der Vernunft dürfen unsere Erkenntnisse überhaupt keine  R h a p s o d i e , sondern sie müssen ein  S y s t e m  ausmachen" 7) Das ist von  w i s s e n s c h a f t l i c h  ernsthaft zu nehmenden Leuten wohl kaum je bestritten worden. Der Positivist, für den die Philosophie nichts anderes bedeutet als ein "Denken der Welt gemäß dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes" 8), und der Hegelianer striktester Observanz - in diesem Punkte werden sie übereinstimmen. Der vorwissenschaftliche, atheoretische Mensch begnügt sich mit einem  A g g r e g a t  von Kenntnissen, deren er im täglichen Leben bedarf. Der wissenschaftliche Mensch strebt dahin, daß aus dem Aggregat von Kenntnissen, die er besitzt, ein System werde, und jeder wirkliche Fortschritt in der Wissenschaft ist für ihn ein Schritt zu diesem Ziele hin 9).

In bezug auf seine logische  F o r m  pflegt dies Ziel so bestimmt zu werden, daß man sagt: unsere Erkenntnis würde dann vollendet sein, wenn wir sie in ein Alles umfassendes System von  U r t e i l e n  gebracht hätten, deren Subjekte und Prädikate vollkommen bestimmte  Begriffe sind. Daraus ergibt sich für die Definition als Begriffsbestimmung mit Notwendigkeit:  s i e   m u ß   d i e   B e g r i f f e   s o   b i l d e n ,   d a ß   a u s   i h n e n   e i n   s o l c h e s   S y s t e m   v o n   U r t e i l e n   g e s c h a f f e n   w e r d e n   k a n n . Sie ist also ein Werkzeug zur Bearbeitung der Bausteine, aus denen die Wissenschaft als System aufgeführt wird, und aus diesem seinen Zweck heraus müssen wir das Werkzeug zu verstehen suchen.

Vorher jedoch wird es nötig sein, eine Unterscheidung zu machen, die im folgenden scharf festzuhalten ist. In dem Worte "Definition" liegt nämlich, abgesehen davon, daß man auch bloße Worterklärungen Definitionen nennt, noch eine andere  Z w e i d e u t i g k e i t , wie wir sie in der Sprache öfter vorfinden. Nehmen wir z. B. die beiden Sätze: "der Bau dieses Hauses schreitet schnell vorwärts" und: "dies ist ein prächtiger Bau", so ist sofort klar, daß darin das Wort "Bau" in zwei verschiedenen Bedeutungen gebraucht wird. Es bezeichnet einmal dasjenige Geschehen, wodurch ein Haus wird, und das andere Mal das Haus selbst. Diesen Doppelsinn haben fast alle Wörter auf ion und ung, und so verhält es sich auch mit dem Worte Definition. So selbstverständlich dies scheint, so wichtig ist es, sich klar zu machen, daß man unter Definition einmal den  A k t  des Definierens (definitio) und das andere Mal das  P r o d u k t  dieses Definitionsaktes (definitum) verstehen kann. Diese Unterscheidung ist, vielleicht gerade weil sie selbstverständlich ist, von der Logik niemals ausdrücklich gemacht und festgehalten worden. 10)

Hier wurde sie zunächst nur angedeutet, um zu erklären, daß, wo im folgenden von Definition die Rede ist, - falls nicht ausdrücklich anders bemerkt - vorläufig immer nur der Akt des Definierens damit bezeichnet sein soll. Man baut Häuser, aber der Bauende hat es zunächst nicht mit dem Haus, sondern mit Holz oder Steinen und mit einem Plane zu tun, nach dem er die Steine zusammenfügt. Daraus ergeben sich zwei Fragen: was ist das  M a t e r i a l  der Definition? Und:  w i e  muß sie aus diesem Material Begriffe bilden?

Wir suchen zuerst das Material kennen zu lernen. Die Logik pflegt den Begriff der "Vorstellung" unterzuordnen. "Der Begriff (notio, conceptus) ist diejenige Vorstellung, in welcher die Gesamtheit der wesentlichen Merkmale oder das Wesen (essentia) der betreffenden Objekte  v o r g e s t e l l t  wird, " sagt Ueberweg 11). Da es für den Begriff als wesentlich betrachtet wird, daß er  a l l g e m e i n  sei, so wird er unter dieser Voraussetzung der "allgemeinen Vorstellung" untergeordnet werden. Die Aufgabe, welche die Definition hiernach hätte, wäre also zunächst die, aus allgemeinen Vorstellungen Begriffe zu machen. Das vorwissenschaftliche Denken unterscheidet sich von dem wissenschaftlichen dadurch, daß das Eine sich in allgemeinen Vorstellungen, das Andere in Begriffen bewegt. Das Material, das die Definition zu bearbeiten hat, sind also hiernach die sogenannten  a l l g e m e i n e n   V o r s t e l l u n g e n .

Man hat nun aber behauptet, daß es so etwas wie allgemeine Vorstellungen nicht geben könne. Jede Vorstellung sei individuell. Niemand habe eine allgemeine Vorstellung von einer Blume, sondern immer nur von einer bestimmten Blume, einer Rose, Nelke usw., und auch nicht von einer Rose überhaupt, sondern nur von einer bestimmten Rose mit ganz bestimmter Form, von bestimmter Größe usw. usw. Das ist vielleicht richtig. Psychologisch betrachtet mag meine Vorstellung immer nur eine individuell bestimmte sein. Aber das ist dann eben die Frage, ob es sich bei den Bedeutungen der Worte, die wir verstehen, auch ohn daß der Begriff definiert ist, um etwas handelt, das man mit Recht als "Vorstellungen" in dem von der Psychologie gemeinten Sinne bezeichnen darf. Ohne hierauf näher einzugehen, können wir uns auf die Tatsache berufen, daß auch der wissenschaftlich ungebildete Mensch, dem keine definierten Begriffe zur Verfügung stehen, Dinge, die er noch nicht gesehen hat, unter allgemeine  W o r t b e d e u t u n g e n  subsumiert, was dadurch zum Ausdruck kommt, daß er sie mit demselben Namen wie die ihm schon bekannten bezeichnet. Hiermit soll keineswegs gesagt sein, daß er sich ausdrücklich zum Bewußtsein gebracht hätte, welche Bestimmungen für das bezeichnete Objekt wesentlich sind und welche nicht, und woraus daher die allgemeine Wortbedeutung, die er verwendet, besteht. Ein Wort kann mehrere verschiedene Bedeutungen haben, so daß wir bald an diese, bald an jene denken. Dann wird das, was wir dabei denken, in hohem Grade  u n b e s t i m m t  sein, so daß wir sagen können, es sei ein unbestimmter Bedeutungsgehalt mit den Namen verknüpft, die wir zur Bezeichnung der Dinge verwenden, oder die Worte hätten "unbestimmte Bedeutunge". Wegen dieser Unbestimmtheit werden die unwissenschaftlichen und die wissenschaftlichen Menschen in der Subsumtion von manchen Dingen stark voneinander abweichen. Der Walfisch wird, wie dies schon sein Name anzeigt, von dem vorwissenschaftlichen Bewußtsein immer wo anders untergebracht werden als von dem wissenschaftlichen.

Der Begriff unterscheidet sich nun von den in dem angegebenen Sinne unbestimmten, d. h. wechselnden Wortbedeutungen oder den sogenannten "allgemeinen Vorstellungen" dadurch, daß ausdrücklich festgestellt ist, aus welchen Bestandteilen oder Elementen er zusammengesetzt sein soll, und daß mit dem Worte dann also nur der eine genau angebene Bedeutungsgehalt verknüpft wird. So hat man den Begriff in gewisser Hinsicht nur als graduell verschieden von der sogenannten allgemeinen Vorstellung oder der ohne Definition bereits vorhandenen allgemeinen Wortbedeutung ansehen können und ihn als die Vollendung der geistigen Arbeit betrachtet, die von dem vorwissenschaftlichen Bewußtsein in der Bildung der allgemeinen Wortbedeutung bereits begonnen ist. Ob dies richtig ist, wollen wir zunächst dahingestellt sein lassen. In einer Hinsicht ist der Begriff sicher etwas von den im angebenen Sinne unbestimmten Wortbedeutungen prinzipiell verschiedenes, und diese Verschiedenheit beruht auf dem logischen  W e r t , den er für die Erkenntnis des Wahren besitzt. Während die unbestimmte Wortbedeutung nicht nur ein unsichere Erkenntnis liefert, sondern sogar, vom wissenschaftlichen Standpunkte betrachtet, zu Irrtümern verleitet, besteht das Eigentümlich des Begriffs darin, daß sich mit absoluter Sicherheit und Notwendigkeit ersehen läßt, welche Objekte unter ihn subsumiert werden sollen, und der Wert der Definition als der Begrenzung beruht eben gerade darauf, daß sie den Geltungsbereich des Begriffes genau bestimmt. Das menschliche Denken bildet die Begriffe, indem es die unter die allgemeinen Wortbedeutungen subsumierten Objekte analysiert und nun, nach hier noch nicht näher zu erörternden Prinzipien, eine bestimmte Anzahl von "Merkmalen" dieser Objekte zu einem Begriff zusammenschließt mit dem Bewußtsein, daß gerade diese Merkmale als die Elemente des Begriffes zusammen g e h ö r e n . Wenn das geschehen ist, dann ist nicht das Wort oder der Name, sondern die daran haftende  B e d e u t u n g  oder die "allgemeine Vorstellung"  d e f i n i e r t , d. h. sie ist scharf gegen andere Bedeutungen oder Vorstellungen abgegrenzt und kann nun als "Begriff" wissenschaftlich verwendet werden. Auch nach Sigwart ist die  K o n s t a n z  das charakteristische Merkmal, wodurch sich der Begriff von der allgemeinen Vorstellung unterscheidet.

Außerdem lassen sich selbstverständlich Begriffe bilden, ohne daß die zur Bestimmung verwendeten Elemente schon vorher in einer sogenannten allgemeinen Vorstellung zusammen vorhanden waren. Sie können zusammengestellt werden, gleichviel woher man sie nimmt. Auch diese Zusammenstellung ist eine Definition, denn auch durch sie wird der Begriff genau bestimmt, indem sein Inhalt angegeben und dadurch gegen andere Begriffe scharf abgegrenzt ist, so daß er im wissenschaftlichen Denken gebraucht werden kann.


II. Wesentliche und unwesentliche Merkmale

1. Die Unzulänglichkeit der bestehenden Lehren

Der eben angedeuteten Zweiteilung der Begriffsbildung entsprechend unterscheidet die Logik zwischen "analytischen" und "synthetischen" Wissenschaften. Die einen, zu denen weitaus die meisten gehören, führen ihren Namen daher, daß bei ihnen die wissenschaftliche Arbeit mit einer Analyse  b e g i n n t . Ihr Material sind die soeben charakterisierten "allgemeinen Vorstellungen", die eine Mannigfaltigkeit von Objekten umfassen, und die bereits vorhanden sind, ehe wir wissenschaftlich zu denken anfangen. Sie bestehen, falls sie zerlegbar sein sollen, aus Komplexen von elementaren Wortbedeutungen, d. h. schon sie enthalten irgendwelche unwillkürlich entstandene Synthesen von Elementen, die Merkmale 12) der unter sie fallenden Objekte sind, und an diese Synthesen macht sich die wissenschaftliche Kritik. Sie will die Komplexe nicht nur als gegeben hinnehmen, sondern über das Zusammensein ihrer Bestandteile Rechenschaft ablegen. Sie analysiert daher, um dann das, was ihr wesentlich scheint, mit dem Bewußtsein des Grundes seiner Zusammengehörigkeit wieder zusammenzufügen.

Das Verfahren der synthetischen Wissenschaft ist ein anderes. Sie findet ihr Material nicht in der angegebenen Weise vor, sonder sie erzeugt es. Ihre Arbeit beginnt also von vorneherein mit einer Synthese von Elementen, und selbstgeschaffene Begriffe von Objekten, an denen die Elemente als Merkmale sich finden, bilden die Grundlage der weiteren Untersuchung. Das vollkommenste Beispiel einer solchen synthetischen Wissenschaft ist die Mathematik.

Wir wenden uns zunächst den sogenannten analytischen Wissenschaften zu. Ihre Aufgabe besteht, wie wir gesehen haben, darin, aus allgemeinen Wortbedeutungen oder "Vorstellungen", die in dem angegebenen Sinne unbestimmt sind, bestimmte Begriffe zu bilden. Man nennt dies Verfahren auch Abstraktion, weil dabei von denjenigen Merkmalen der Dinge abstrahiert wird, die nur bei einzelnen Objekten als individuelle vorkommen. Die allen Objekten gemeinsamen Merkmale dagegen werden als Elemente des festzustellenden Bedeutungsgehaltes, der mit einem Wort verknüpft werden soll, zu einem Begriff zusammengefügt. Die individuellen Elemente dagegen, aus denen der Begriff gebildet wird, und welche in seiner sprachlich formulierten Definition anzugeben sind, werden die wesentlichen Merkmale genannt.

Auf die zweite Frage also, die wir oben stellten,  w i e  die Definition die allgemeinen Wortbedeutungen oder "Vorstellungen" zu bearbeiten habe, würde hiernach die Antwort lauten - und diese Antwort wird auch von der Logik gegegeben - :  d i e   D e f i n i t i o n   h a t   d i e   w e s e n t l i c h e n   M e r k m a l e   d e r   O b j e k t e   z u   b e s t i m m e n   u n d   a u s   i h n e n   d e n   B e g r i f f   z u   b i l d e n .

Diese Antwort macht jedoch eine Voraussetzung, die einer Prüfung unterzogen werden muß. Wir hatten die wesentlichen mit den gemeinsamen Merkmalen, die bei allen den in Betracht kommenden Objekten sich finden, identifiziert. Hier entsteht nun die Frage, welche Dinge es sind, die unter denselben Begriff gebracht werden sollen? Welches Kriterium haben wir, um zu erkennen, daß gerade diese und nicht andere Objekte unter einen Begriff fallen?

Das einzige Kriterium, das wir ohne wissenschaftliche Voraussetzung hierfür angeben können, ist die  S p r a c h e . Wir bilden für diejenigen Objekte einen gemeinsamen Begriff, welche die Sprache mit demselben Namen bezeichnet. Die Kriterium ist aber in keiner Weise ausreichend. Allerdings, bis zu einem gewissen Grade kann es uns als Wegweiser dienen, ja mehr noch, ohne daß schon das vorwissenschaftliche Denken eine gewisse Klassifikation begonnen hat, wozu es allgemeine Wortbedeutungen braucht, würde die wissenschaftliche Arbeit der Begriffsbildung in den analytischen Wissenschaften keinen Punkt finden, an dem sie einsetzen könnte. Gewisse Merkmale an den Dingen haben die Aufmerksamkeit des unwissenschaftlichen Menschen auf sich gezogen, und deswegen hat man die Objekte, an denen diese Merkmale sich fanden, in eine Klasse zusammengefaßt und mit demselben Namen benannt, also derselben allgemeinen Wortbedeutung untergeordnet. Aber die wissenschaftliche Betrachtung muß auch den Grund, der die Aufmerksamkeit auf gewisse Merkmale in besonders hohem Grade gelenkt hat, einer Prüfung unterziehen, und da ist es denn Tatsache, daß sie sich oft veranlaßt sieht, andere Merkmale der Objekte für wesentlich zu halten als diejenigen, welche die Aufmerksamkeit des vorwissenschaftlichen Menschen erregt haben, als andere Dinge unter einen gemeinsamen Begriff zu bringen, als das vorwissenschaftliche Denken mit demselben Namen benannt hat, z. B. den Walfisch nicht zu den Fischen zu zählen. Welches ist das Kriterium? Wann ist ein Merkmal wesentlich und wann nicht?

Die traditionelle Logik gibt hierauf keine genügende Antwort. Ihre Bestimmungen laufen meist darauf hinaus, daß wesentlich die Merkmale genannt werden, welche ein Objekt mit dem Begriff gemeinsam hat, unter den es fällt. Der Begriff hat aber doch nur gebildet werden können, wenn man schon wußte, welche Merkmale die wesentlichen sind. Die Antwort dreht sich also im Kreise. Wenn wir wissen wollen, worin eigentlich die Aufgabe der Definition besteht, und wie sie den Begriff zu bilden hat, so werden wir uns nicht mit der vorläufig nichtssagenden Antwort begnügen können, daß sie die wesentlichen Merkmale der Objekte anzugeben habe. Wir müssen vielmehr untersuchen, welche Merkmale ein wissenschaftlicher Begriff haben soll, und wie sie als die wesentlichen  g e f u n d e n  werden, ohne daß das Denken dabei die Bezeichnung der Sprache als Richtschnur besitzt oder gar den Begriff bereits als vorhanden voraussetzt, den es erst bilden soll.

Man hat häufig die Unterscheidung wesentlicher und unwesentlicher Merkmale als eine hinfällige bezeichnet und diese Behauptung damit zu begründen gesucht, daß vor einem Geiste, der das  G a n z e  der Welt begriffen habe, alles gleich wesentlich oder unwesentlich sei. Dies ist vielleicht richtig. Aber jene Unterscheidung in der Logik und speziell in der Methodenlehre nicht anzuerkennen, würde nur dann berechtigt sein, wenn man darauf ausginge, eine  U n i v e r s a l m e t h o d e  der wissenschaftlichen Erkenntnis zu finden, mit Hilfe deren der menschliche Geist sich der Welt in ihrer  T o t a l i t ä t  zu bemächtigen habe. Die Erfindung einer solchen Universalmethode ist wohl vorläufig wieder einmal aufgegeben. Wenn einige Vertreter des allein berechtigten "naturwissenschaftlichen" Verfahrens sich noch immer im Besitz einer Methode zu befinden glauben, mit der man das "Ganze der Welt" einheitlich zu erkennen vermag, so ist das mehr ein Anzeichen für den geringen Grad logisch-philosophischer Bildung als eine Erscheinung, mit der die Methodenlehre sich ernsthaft zu beschäftigen hätte.Jede Wissenschaft hat vielmehr ihre eigene Methode, die sie sich selbst schafft, und die ihre Zielen und Absichten angemessen sein muß. Die Methoden der einzelnen Wissenschaften sind daher nur aus ihren besonderen Zwecken heraus zu begreifen. Wir müssen also, um zu verstehen, was wesentliche und unwesentliche Merkmale sind, einzelne Wissenschaften für sich betrachten. Für eine Universalmethode würde allerdings alles in der Welt gleich wesentlich sein. Für die Methode einer Sonderwissenschaft, die sich eine beschränkte Aufgabe stellt, kommt nur ein  T e i l  des Weltganzen bei der Bildung der Begriffe in Betracht, und die Unterscheidung des Wesentlichen vom Unwesentlichen ist deshalb nicht zu umgehen. Ein Kriterium für die Unterscheidung können wir wieder nur aus der Aufgabe gewinnen, welche eine Wissenschaft sich stellt. 13).



LITERATUR - Heinrich Rickert, Zur Lehre von der Definition, Tübingen 1929
    Anmerkungen
    1) z. B.  L o t z e , a. a. O. Seite 192ff.
    2)  S i g w a r t , a.a.O. Seite 387
    3)  S i g w a r t , a.a.O. Seite 388
    4) 1)  L o t z e , a.a.O. § 28, Seite 47
    5) Vgl. unten den Abschnitt: Der Begriff und das Wort.
    6)  L o t z e , a.a.O. Seite 608.
    7)  K a n t , Kritik der reinen Vernunft, S. W. (Hartenstein) III, Seite 549.
    8) Vgl.  R i c h a r d  A v e n a r i u s , "Philosophie als Denken der Welt gemäß dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes, Prolegomena zu einer Kritik der reinen Erfahrung". 1876
    9) Als ich in meiner Jugend diese Sätze niederschrieb, konnte ich nicht wissen, daß man der Philosophie das Streben zum System und damit den Charakter als Wissenschaft wieder zu nehmen versuchen und in diesem Rückgang auf das vorwissenschaftliche Stadium einen "Fortschritt" erblicken würde. Ich hielt daher eine Begründung nicht für notwendig. Die Berufung auf Kant schien mir zu genügen. Auch heute wende ich mich nur an Leser, die in der Philosophie Wissenschaft  w o l l e n . Wo dieser Wille fehlt, hat eine logische Diskussion keinen Sinn.
    10) Man braucht sie nur in ihre Konsequenzen zu verfolgen, um einzusehen, daß überall der  s e e l i s c h e  Akt des Denkens prinzipiell von dem  l o g i s c h e n  Gehalt des Gedachten zu  t r e n n e n  ist.
    11)  U e b e r w e g , a.a.O. § 56, Seite 147
    12) Die Begriffe des "Elements" und des "Merkmals" sind absichtlich nicht streng geschieden. Man könnte von "Elementen" der  B e g r i f f e  im Unterschied von "Merkmalen" der  O b j e k t e  reden. Doch müssen die Merkmale der Dinge, um sprachlich bezeichnet zu werden, ebenso wie die Elemente der Begriffe,  B e d e u t u n g e n  von Worten sein, und  i n s o f e r n  fallen Begriffselemente mit Objektsmerkmalen zusammen. Im übrigen ist die ganze Merkmalslehre nur vorläufig akzeptiert. Vgl. unten Seite 51 ff
    13) Die eingehende Begründung dieser Sätze habe ich in meinem Buch über die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 1896 - 1902, 5. Aufl. 1929, gegeben. Den entscheidenden Grund kann man sich in Kürze auch zu zum Bewußtsein bringen. Das unmittelbar gegebene Material alles Erkennens ist unübersehbar mannigfaltig oder "unendlich". Im Gegensatz dazu trägt alles dem endlichen Menschen zugängliche Erkennen den Charakter der Endlichkeit. Wollen wir trotzdem uns einem universalen Erkennen annähern, so müssen wir die Welt unter mehreren Gesichtspunkten ins Auge fassen. Nur eine Mannigfaltigkeit der Methoden wird dem anschaulich unübersehbaren Reichtum der Welt gerecht. Daraus ergibt sich dann zugleich, daß jedes Erkennen der Begriffsbildung bedarf, oder anders ausgedrückt, daß es ein rein anschauliches Erkennen in der Wissenschaft nicht geben kann. Wer die notwendige Endlichkeit des Erkennens eingesehen hat, sollte daher jeden Intuitionismus in der Erkenntnistheorie ablehnen. Intuitives Erkennen müßte unendlich sein.