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HANS SPERBER
Bedeutungslehre

Das Wort ist dem Sprechenden nicht nur ein Mittel zur Verständigung mit anderen Individuen, sondern in mindestens ebenso hohem Grade ein Mittel der Affektäußerung.

Die Aufgabe, die Bedeutung eines Wortes festzustellen, mag für den Logiker besagen: seinen begrifflichen Inhalt möglichst genau erfassen und abgrenzen, eine Definition liefern, die nach altbewährtem Rezept die übergeordnete Art und die unterscheidenen Merkmale angibt. Für den Sprachforscher bedeutet sie etwas anderes und in der Regel weit Schwierigeres, denn er ist schon hier, wie in allen weiteren Stadien seiner Arbeit, genötigt, neben den klar erfaßbaren logischen auch psychologische Faktoren von oft schwer greif- und wägbarer Natur in Betracht zu ziehen.

Was bedeutet z.B. der Name "Albrecht Dürer"? Für mich wie für jeden andern den großen Nürnberger Maler, geboren am 21. Mai 1471, gestorben am 6. April 1528. Diese Angaben genügen, um den Träger dieses Namens von anderen Menschen hinlänglich zu unterscheiden, mögen also vom logischen und praktischen Standpunkte aus als ausreichende Begriffsumschreibung gelten. Aber erschöpfen sie nur im entferntesten die Vorstellungen, die man mit dem Namen verbindet?

Schon deshalb nicht, weil diese Vorstellungen nicht bei zwei Menschen die gleichen sind, ja nicht einmal bei ein und demselben Individuum in den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Wer nur ein paar schlechte Reproduktionen nach Dürerschen Werken kennt, für den bezeichnet der Name des Meisters notwendig etwas anderes als für den, der vor seinen Originalgemälden gestanden hat. Wer seine Briefe und Tagebücher gelesen hat, dessen Vorstellung enthält Elemente, die demjenigen fehlen, der nur den Künstler DÜRER kennt.

Und wer, nachdem er sich von DÜRERs Eigenart schon einen einigermaßen klaren Begriff gebildet hatte, in Nürnberg, auf seinen Spuren wandelnd, sein Haus betreten durfte, für den hat dieses Erlebnis sicher eine neue wesentliche Bereicherung seiner Auffassung herbeigeführt, mithin auch eine Änderung der Bedeutung, die das Wort DÜRER für ihn besitzt. Und was die klare Erfassung der Wortbedeutung noch mehr erschwert, jede dieser Begriffswandlungen ist notwendig verbunden mit einer Wandlung der Gefühlstöne, die das Sprechen, Hören oder Lesen des Namens DÜRER ausgelöst.

Das Kennenlernen der Originale wird Gefühle erhöhter Bewunderung zur Folge haben, die Lektüre der Tagebücher vielleicht Enttäuschung darüber, daß der große Künstler zugleich ein so zäher und berechnender Geschäftsmann war, die Bekanntschaft mit seiner Heimat ein Gefühl der persönlichen Vertrautheit. Alle diese Gefühlsverschiebungen sind aber mit den Veränderungen der Vorstellungen so unlösbar verquickt, daß sie unmöglich von ihnen getrennt werden können. Müssen wir diese als Elemente der Wortbedeutung anerkennen, so haben auch jene darauf einen vollgültigen Anspruch.

Wenn hier an einem Beispiel dargelegt wurd, läßt sich auch an hundert zeigen. Es ist ein Verdienst K.O. ERDMANNs, klar und definitiv festgelegt zu haben, daß wir es bei der Behandlung einer Wortbedeutung nicht ausschließlich mit seinem logischen Begriffsinhalt zu tun haben, sondern mit drei verschiedenen Elementen:
  • dem begrifflichen Inhalt
  • dem Nebensinn
  • dem Gefühlswert oder Stimmungsgehalt
Unter Nebensinn verstehen wir mit ERDMANN "alle Begleit und Nebenvorstellungen, die ein Wort gewohnheitsmäßig und unwillkürlich in uns auslöst", unter Gefühlswert "alle reaktiven Gefühle und Stimmungen, die es erzeugt".

Diese verschiedenen Seiten der Wortbedeutung sind nicht bei allen sprachlichen Gebilden gleich stark entwickelt. Zahlreiche Wörter, wie z.B. "Tisch", "Stuhl", "gehen", "auf" enthalten zwar einen deutlich ausgeprägten Begriff und natürlich auch in jedem einzelnen Fall, wo sie gesprochen oder gedacht werden, gewisse Nebenvorstellungen, aber keinen, oder jedenfalls nur einen äußerst schwachen Gefühlston.

Andere, wie z.B. die Interjektionen "Hu!" oder "Brr!" haben keinen klar ausgedrückten Begriff, hingegen einen kräftigen Gefühlston spezifischer Natur. Aber bei den allermeisten Worten, mit denen die Sprachgeschichte es zu tun hat, müssen wir mit dem Vorhandensein aller drei Elemente rechnen, und daß die Bedeutungslehre bisher die Veränderungen des eigentlichen Begriffsinhalts so sehr in den Vordergrund geschoben, es hingegen oft unterlassen hat, den Schwankungen des Nebensinns und der Gefühlstöne nachzugehen, hat vielleicht mehr als irgend etwas anderes den Fortschritt dieser Wissenschaft gehemmt.
Denn die Geschicke eines Wortes sind von seinem Nebensinn und Gefühlston mindestens ebenso abhängig wie von seiner Hauptbedeutung.
Das gilt vom Nebensinn deshalb, weil es ja gerade die assoziativen Verbindungen der Worte untereinander sind, die entscheiden, in welchem Zusammenhang ein bestimmtes Wort einem Sprechenden oder Schreibenden einfällt. Und welch großen Einfluß die Art und Stärke des Gefühlstons darauf hat, ob ein Ausdruck häufig oder selten, gleichgültig oder mit Nachdruck angewendet wird, darüber braucht wohl kein Wort verloren zu werden; im weiteren Verlauf werden wir sehen, daß die sprachverändernde und sprachbildende Kraft gerade dieser Seite der Wortbedeutung einen Faktor von nicht hoch genug einzuschätzender Wichtigkeit bildet.

Allerdings muß zugegeben werden, daß die vollständige und lückenlose Erfassung einer Wortbedeutung ein Ding der Unmöglichkeit ist, sobald man unter Wortbedeutung das versteht, was wir hier im Anschluß an ERDMANN dargelegt haben. Schon die Definition des Begriffes "Nebensinn" als "alle jene Begleit- und Nebenvorstellungen, die ein Wort gewohnheitsmäßig ... in uns auslöst", zeigt ja, daß eine auch nur annähernd erschöpfende Lösung dieser Aufgabe undenkbar ist.

Wer könnte auch nur für seine eigene Person allen jenen Irrgängen der Assoziationen nachgehen, die von jeder Wortvorstellung aus nach allen Richtungen hin verlaufen. Und noch viel weniger läßt sich die Bedeutung, die ein Wort für ein anderes Individuum oder gar für eine Gruppe von Individuen, eine Sprachgemeinschaft besitzt, restlos festlegen.

Aber von einem Ignorabimus (1) in diesem Sinn ist noch ein weiter Weg zur Gutheißung der bisher fast allgemein üblichen Praxis, sich um Nebensinn und Gefühlston der Worte, mit deren Bedeutung der Sprachforscher es jeweils zu tun hat, überhaupt nicht zu kümmern. Der Versuch, wenigstens einzelner wichtiger Charakteristika dieser weniger greifbaren Bedeutungselemente habhaft zu werden, ist, wie wir gleich sehen werden, keineswegs aussichtslos und "muß" überall dort gemacht werden, wo man die Geschichte eines Wortes nicht bloß buchen, sondern auch verstehen will.

Welche Mittel stehen uns also zu Geboten, um den Nebenelementen der Wortbedeutung wenigstens teilweise auf die Spur zu kommen? Wo es sich um Beobachtungen am Sprachgebrauch lebender Personen handelt, die gleichen Methoden, deren sich die Psycholologie in anderen Fällen bedient. Soweit der Forscher sich selbst als Studienobjekt verwendet, kommt in erster Linie die introspektive Selbstbeobachtung in Betracht, soweit ihn andere Personen interessieren, neben der direkten Beobachtung und Befragung auch das Experiment, vor allem auch die verschiedenen Arten des "Assoziationsversuchs", der natürlich ein vorzügliches Mittel ist, die Nebenvorstellungen, welche die Versuchsperson mit einem Wort verbindet, ans Licht zu fördern.

Aber auch für die Beantwortung der Frage, ob ein Wort für die Versuchsperson einen stärkeren Gefühlston besitzt, bietet diese Art des Versuchs, wie vor allem JUNG nachgewiesen hat, zuverlässige Anhaltspunkte (2).

Es unterliegt unter diesen Umständen keinem Zweifel, daß die experimentelle Psychologie berufen ist, auch der Bedeutungslehre wichtige Aufschlüsse zu geben. Im einzelnen auf die dabei zu verwendenden Methoden einzugehen, ist vorläufig unmöglich, da die auf anderen Gebieten mit Erfolg angebahnte Arbeitsgemeinschaft zwischen Sprachforschern und Experimentalpsychologen auf das Gebiet der Bedeutungslehre leider kaum noch hinübergegriffen hat.


Die Rolle des Affekts

Wir erinnern uns, daß uns die Erwägungen des vorigen Kapitels mit Notwendigkeit zu dem Schluß führten, hinter jedem Bedeutungswandel müsse irgendeine Energiequelle stecken die den begonnenen Prozeß gegen die ihm entgegentretenden oft sehr beträchtlichen Widerstände durchzusetzen vermag. Als psychische Energiequellen sind aber, im Gegensatz zu den bloßen Vorstellungen, Gefühle jeder Art ohne Zweifel anzuerkennen.

Es liegt in ihrer Natur, daß sie danach streben, sich in irgend einer Weise nach außen zu projizieren. Jede Art von Handlungen wird durch das Vorhandensein von Gefühlen, sobald diese eine bestimmte Stärke erreichen, beeinflußt, und selbstverständlich bilden die sprachlichen Äußerungen des Menschen von dieser allgemeinen Regel keine Ausnahme.

Mit der Erkenntnis, welche Wichtigkeit die an den Worten haftenden Gefühlstöne für den Bedeutungswandel besitzen, haben wir erreicht, daß sich uns die semasiologischen (semantischen) Vorgänge nicht mehr als ein in seinen Ursachen unverständliches Hin- und Herschieben von logischen Begriffen und Merkmalen darstellen, sondern "als Prozesse, die offenbar in einer Hauptfunktion der menschlichen Sprache tief begründet sind". Der Sprachforscher darf nämlich nie vergessen, daß das Wort eine doppelte Aufgabe zu erfüllen hat. Es ist dem Sprechenden nicht nur ein Mittel zur "Verständigung" mit anderen Individuen, sondern in mindestens ebenso hohem Grade ein Mittel der "Affektäußerung".

Von diesen beiden Funktionen muß die letztere als die ursprünglichere gelten: sowohl das einzelne Individuum, wie der Mensch als Gattung, konnte schreien, lange bevor er sprechen konnte. Und daß sich die Sprache ununterbrochen verändert, ist weit eher aus ihrer Fähigkeit zu verstehen, zur Entladung affektischer Spannungen zu dienen, als aus der Rolle, die sie als Mittel zum Gedankenaustausch spielt. Denn die Rücksichtnahme auf einen Zweiten, der das Gesprochene verstehen soll, mahnt in der Regel zum Anschluß an das Traditionelle, allgemein Bekannte, während jene Elemente des Sprachlebens, die der Affektäußerung dienen, in weit stärkerem Maße den jeweiligen Ausdrucksbedürfnissen des Sprechenden angepaßt werden können und tatsächlich auch angepaßt werden, häufig sogar auf Kosten der Verständlichkeit.

Daran ändert die Tatsache nichts, daß die modernen Kulturverhältnisse der ungehemmten Affektäußerung nichts weniger als günstig sind. Mag auch der Sprechende in der Regel gezwungen sein, selbst beim Abreagieren seiner Gefühle auf die durch die Sitte gezogenen Grenzen Rücksicht nehmen, so wird sich doch immer und überall beobachten lassen, wie das Vorhandensein affektischer Spannungen mit Notwendigkeit zur Folge hat, daß der Sprechende von seinen Sprachgewohnheiten irgendwie abweicht, sei es in der Lautbildung, im Ton oder in der Wortwahl, welch letzteres natürlich gleichbedeutend sein kann mit der Entstehung neuer, dem Sprechenden sonst ungewohnter Bedeutungen.

Die beiden Fragen, die wir uns zunächst zu stellen haben, sind
erstens: wie hat man sich in jenen Fällen, bei denen offenbar ein Gefühlston mitspielt, das Wirken desselben bei der Entstehung einer neuen Bedeutung zu denken? und

zweitens: wie verhalten sich zu der Erkenntnis von der Wichtigkeit des Gefühlstons für die Bedeutungsentwicklung jene Fälle, bei denen sich das Vorhandensein irgend einer affektbetonten Nebenvorstellung zunächst nicht erkennen läßt?
Um hier vorwärtskommen zu können, müssen wir etwas weiter ausholen und daran erinnern, daß die in der Psyche des Menschen wirkenden Gefühle und Affekte nicht ein Dasein für sich führen, sondern ganz allgemein die Tendenz haben, sich an bestimmte Vorstellungskreise anzuknüpfen.

Man kann nicht auf unbegrenzte Dauer ein Angstgefühl empfinden, ohne daß sich dieses früher oder später in Furcht oder Besorgnis vor irgend etwas ganz Bestimmtem umsetzt. Ebenso wird gesteigertes Lebensgefühl zwar gelegentlich als solches empfunden werden, in der Regel aber als Freude an bestimmten Gegenständen und Tätigkeiten, usw.

Diesem Streben der Affekte, sich an bestimmte Vorstellungen anzuknüpfen, entspricht nun auf sprachlichem Gebiete ganz genau die Erscheinung, daß solche Affekte nicht nur durch unbestimmte interjektionsartige Ausrufe zur Entladung gebracht werden können, sondern auch durch regelrechtes, artikuliertes Sprechen über jene Gegenstände und Vorstellungskreise, an die sich die ausdrucksbedürftigen Affekte angeschlossen haben.

Durch eine solche Verknüpfung von Affekt, Vorstellung und zur Vorstellung gehörigem Wort geht aber auf letzteres ein Teil jener Energie über, die wir als für den Affekt charakteristisch erkannt haben. Ein mit einem starken Gefühlston verbundenes Wort oder, wie wir im Folgenden kurz sagen werden, ein "Affektträger", verhält sich im Sprachbewußtsein nicht als rein passives Material, es führt vielmehr ein gewissermaßen aktives Dasein, indem es sich dem Sprechenden von innen her oft auch dann aufdrängt, wenn ein objektiver äußerer Anlaß zu seiner Verwendung nicht gegeben ist.

Mit anderen Worten: haftet an einem bestimmten Vorstellungskreis ein starker Gefühlston irgendwelcher Art, so ist die Folge in der Regel eine Tendenz, von diesem Vorstellungskreis oder damit verwandten so viel und so oft zu sprechen, bis die Stärke des Gefühlstons unter ein gewisses Minimum herabgesunken ist.

Affektstarke Vorstellungen werden also zu bevorzugten Gesprächsthemen und zwar selbstverständlich nicht nur des Einzelnen, sondern, wenn sie für ganze Gruppen von Menschen gefühlsbetont sind, auch für diese Gruppen, von der Familie angefangen bis hinauf zum Volk und zu der im gleichen Kulturkreis vereinigten Völkergruppe.

Vielfach aber läßt sich beobachten, daß die sich darbietenden Gelegenheiten, von solchen Themen zu sprechen, weniger häufig sind, als es den Sprechenden im Hinblick auf die Stärke des vorhandenen Gefühlstons erwünscht wäre. Jedermann erlebt Zeiten, wo er das Bedürfnis hat, von irgend einem bestimmten Gegenstand ununterbrochen zu sprechen, aber meistens kann man in solchen Fällen seinen Neigungen nicht ungehemmt folgen, wenn man nicht als monoman gelten will.

Man ist also gezwungen, einen Teil des auf das betreffende Thema konzentrierten Ausdrucksbedürfnisses zu unterdrücken, indem man auch auf die von außen sich darbietenden, etwa von anderen Menschen zur Sprache gebrachten Gegenstände eingeht. Eine kleine Entschädigung hierfür kann man sich aber in der Regel dadurch verschaffen, daß man im Gespräche über andere Themen gelegentlich eine Anspielung auf den unterdrückten Vorstellungskreis, ein damit eng assoziiertes Wort einfließen läßt.

Wenn ich z.B. ein noch so eifriger Politiker bin, so kann ich nicht nur von Parteikämpfen und Wahlen sprechen. Aber selbstverständlich hindert mich niemand, in einem Gespräch über die Vorzüge verschiedener Kunstwerke zu erklären, daß zwei davon, "in die engere Wahl kommen", oder ich kann einen Neuerer auf künstlerischen Gebiet einen "Bolschewiken" nennen und so dem nach Ausdruck suchenden Gefühlskomplex ein kleines Ventil öffnen, ohne irgendwie den Gang des Gesprächs zu stören.

Dieses überaus häufige Eindringen von Elementen gefühlsbetonter Vorstellungskomplexe in sachlich fernliegende Zusammenhänge ist nun eine außerordentlich ergiebige Quelle für Bedeutungsverschiebungen, nicht nur im Sprachleben des Einzelnen, sondern auch in dem ganzer Nationen. Wer Worte aus einem bestimmten Begriffskreis in einen anderen überträgt, der verleiht ihnen eben, wenn nicht direkt eine neue Bedeutung, so doch regelmäßig neue assoziative Beziehungen, und ob aus einer solchen gelegentlichen Verschiebung schließlich eine feststehende, allgemein anerkannte Bedeutungsänderung wird, das hängt nur davon ab, ob die vom Einzelnen vorgeschlagene Neuerung Anklang und Nachahmung findet.

Ob aber wiederum letzteres der Fall ist, dafür ist offenbar maßgebend, ob der Urheber einer solchen Änderung mit seinen Gefühlen isoliert dasteht, oder ob der von ihm bevorzugte Vorstellungskreis auch für andere affektbetont und ausdrucksbedürftig ist.

In der Natur des geschilderten Vorgangs liegt es nun aber, daß sich der Gefühlston, der das Eindringen eines Wortes in einen fremden Vorstellungskreis verursacht, umso mehr abschwächt, je häufiger sich der Prozeß wiederholt. Erstens verliert nach einem allgemein gültigen Gesetz der psychischen Mechanik die treibende Affektspannung umsomehr an Kraft, je öfter sie eine Möglichkeit zur partiellen Entladung findet, und zweitens wird das Wort, das ursprünglich Angehöriger eines affektstarken Komplexes war, diesem umsomehr entfremdet, je häufiger es in anderem Zusammenhang auftritt.

Ist es so weit gekommen, daß es sich auf dem beschriebenen Wege einem ganz anderen Vorstellungskreis angeschlossen hat, als dem, dem es ursprünglich angehörte, so besitzt es selbstverständlich nicht die dem Ausgangskomplex zukommende Affektstärke, sondern diejenige Vorstellung, die sich sekundär damit verknüpft hat. Selbstverständlich kann der Affektton dieser neuen Vorstellung unter Umständen ein ganz anderer und wesentlich schwächerer sein, als der der primären. Nichts ist daher gewöhnlicher, als daß der Bedeutungswandel mit Affektverlust verbunden ist.

Schon in den ersten Stadien seines Lebens macht der Mensch die Erfahrung, daß die ungehemmte Äußerung seiner Affekte zu Konflikten mit der Umwelt führen kann. Sobald das Kind überhaupt fähig ist, die Wünsche seiner Umgebung zu erfassen, pflegen die Eltern ihm klar zu machen, daß das Schreien, mit dem es bisher die Befriedigung seiner Wünsche zu verlangen pflegte, für die Erwachsenen nicht unter allen Umständen willkommen ist, und da ihnen Mittel zu Gebote stehen, an diese aufdringliche Art der Affektäußerung erzielten Lustgefühlen überlegen ist.

So wird das Kind schon frühzeitig daran gewöhnt, seine Affekte nicht ungehemmt zu entladen, sondern in seinen Äußerungen jenes Maß an Intensität einzuhalten, welches zwischen seinem Ausdrucksbedürfnis und den Wünschen seiner Umgebung die richtige Mitte hält.

Auch der Mensch als Gattung muß auf einem sehr frühen Stadium der Entwicklung dazugekommen sein, wenigsten sin gewissen Situationen die Intensität der Affektentladung zu beschränken. Schon das Tier versteht es ja, beim Beschleichen seiner Beute oder wenn es sich vor einem überlegenen Gegner versteckt, die in solchen Lagen ohne Zweifel vorhandene Affektspannung bis zur Lautlosigkeit zu unterdrücken.

Abgesehen von ganz primitiven Stadien der Entwicklung drängt also die Außenwelt dem Individuum ununterbrochen Erfahrungen auf, deren Niederschlag in der Psyche schließlich gewisse der Affektäußerung widerstrebende Hemmungen oder, wie wir mit einem der Psychoanalyse entlehnten Ausdruck sagen können, eine "Zensur" schafft.

Von den ersten Fällen, in denen das Kind oder der primitive Mensch seine Stimme dämpfen lernte, um irgend eine unwillkommene Reaktion von seiten der Umwelt zu vermeiden, führt nun eine ununterbrochene Entwicklungsreihe zu der großen Gruppe von sprachlichen Erscheinungen, die man unter dem Namen "Euphemismus" (beschönigende Bezeichnung) zusammenzufassen pflegt. Das Gemeinsame aller hierher gehörigen Fälle ist, daß der Sprechende statt eines zur Auslösung starker Affekte geeigneten Wortes ein anderes einsetzt, welches die Eigenschaften des Affektträgers nicht odre in geringerem Grade besitzt. Im übrigen umfaßt das, was man als "Euphemismus" bezeichnet, recht verschiedene Gruppen von Fällen.

Sprachlich vielleicht die wichtigsten sind jene, wo sich auf Grund bestimmter Kulturverhältnisse allgemein gültige, gegen die unverhüllte Bezeichnung bestimmter Vorstellungskreise gerichtete Zensurverbote herausgebildet haben. Solche Verbote, wie sie der Aberglaube gegen die Benennung gewisser dämonischer Mächte, die verschiedenen Religionen gegen die direkte Erwähnung Gottes und des Teufels, die Sitte gegen die offene Besprechung sexueller und damit in Beziehung stehender Vorgänge geschaffen hat, beziehen sich regelmäßig auf stark affektbetonte Vorstellungskreise, deren Tendenz, sich sprachlichen Ausdruck zu verschaffen, durch das Bestehen der Zensur natürlich nicht aus der Welt geschafft, sondern höchstens beschränkt werden kann.

Ein Kompromiß zwischen dem durch die Affektspannung gegebenen Trieb zum Sprechen und dem dagegen gerichteten Widerstand der Zensur ist dadurch möglich, daß man zwar gelegentlich doch von dem verbotenen Gegenstand spricht, aber nicht in direkten, unzweideutigen Ausdrücken, sondern verhüllend, andeutend, eventuell sogar, indem man sich den Anschein gibt, direkt das Gegenteil von dem zu meinen, was man sagt.

Die letzteren Fälle, das "Gutsprechen" von Dingen, die man eigentlich für gefährlich hält, sind jene, für die der Ausdruck "Euphemismus" ursprünglich geprägt wurde. Auch sonst zeigt sich hier oft die deutliche Tendenz zu beschönigen, d.h. statt des normalen Ausdrucks einen mit angenehmen Assoziationen verbundenen einzusetzen, um den Hörer, der in solchen Fällen als Repräsentant der Zensur behandelt wird, dadurch zu begütigen.

Neben den mit mit allgemeinen Zensurverboten belegten Vorstellungskreisen gibt es andere, die zwar in der Regel unanstößig sind, die aber auf "gelegentliche" Zensurwiderstände stoßen, weil sie aus bestimmten Gründen bei einer oder der anderen Person unlustbetonte Assoziationen erwecken können. So ist es ja für gewöhnlich nicht verboten, Ausdrücke für "schlecht" in den Mund zu nehmen, aber in allen jenen Fällen, wo die Hörenden Veranlassung finden könnten, solche Ausdrücke auf sich selbst oder auf ihre Leistungen zu beziehen, liegt natürlich alle Ursache vor, sich der Vorsicht zu befleißen.

Man kann daher vielfach die Tendenz beobachten, derartige Ausdrücke durch neutralere zu ersetzen, ein dem Euphemismus nahe verwandter Vorgang, der natürlich dazu führt, daß bei häufiger Wiederholung die mildernden Ausdrücke ganz den Sinn derjenigen annehmen, die sie ursprünglich verdrängten. Auf diese Weise ist eine große Anzahl herabsetzender Ausdrücke aus solchen hervorgegangen, denen ursprünglich nichts Tadelndes innewohnte, so bedeutet ja "schlecht" ursprünglich "schlicht", "miserabel" "bemitleidenswert", "ordinär" "der Ordnung gemäß".

In dieselbe Kategorie gehört es, wenn derjenige, der einem andern einen Befehl zu erteilen hat, dies durch die Verwendung von Worten zu bemänteln sucht, die nicht "befehlen", sondern "bitten, anempfehlen" bedeuten. Die Folge ist natürlich, daß diese Worte mit der Zeit den Sinn annehmen, der vermieden werden soll. Beispiele für diesen Vorgang sind vor allem "befehlen2 selbst (ursprünglich "anvertrauen", "anempfehlen") ebenso "kommandieren", das in letzter Linie auf lat. "commendare" "anvertrauen" zurückgeht.

Die berechnende Rücksichtnahme auf die Reaktionen Anderer ist schließlich auch im Spiele bei einer weiteren Gruppe von Bedeutungsverschiebungen, welche zwar gleichfalls affektisch bedingt sind, jedoch nicht durch das Streben des Sprechenden, eigene Affekte zu entladen, sondern dadurch, daß er bewußt auf für den Hörer gefühlsbetonte Vorstellungen anspielt und so dessen Bedürfnis nach Affektentspannung gewissermaßen zuhilfe kommt.

Wer in politisch erregten Perioden längere Zeit hindurch die Leitartikel einer Zeitung verfolgt, der wird sich oft nicht des Eindrucks erwehren können, daß die ursprünglich vielleicht echte Erregung, die in diesen Aufsätzen zum Ausdruck kommt, sich aller Erfahrung nach im Laufe der Zeit abschwächen müßte. Wenn gleichwohl der zwanzigste oder dreißigste Artikel noch in genau so starken Ausdrücken gehalten wie der erste, so liegt der Grund in vielen Fällen sicher darin, daß der Verfasser das Gefühl hat, er müsse der bei seinem Publikum vorhandenen Gefühlsbetontheit gewisser Komplexe dadurch Rechnung tragen, daß er von diesen in stärkeren Ausdrücken spricht, als es seinem eigenen bereits abgestumpften Empfinden entsprechen mag.

Er gestaltet durch das Lesen seiner Artikel zu einer für sein Publikum affektbefreienden Tätigkeit und wird in den meisten Fällen des Beifalls und Dankes sicher sein. Ebenso weiß der politische Agitator, daß es für seine Ideen nicht gleichgültig ist, ob er sie in gefühlsmäßig neutraler Formulierung an die Öffentlichkeit bringt oder unter einer Bezeichnung, die bei der großen Masse angenehme Vorstellungen erweckt. Die Tendenz, eine neue Sache durch einen in dieser Hinsicht glücklich gewählten Namen zu empfehlen, hat mehr als einen Bedeutungsübergang zustande gebracht, der vielleicht unterblieben wäre, wenn nicht sein Urheber neben dem Bedürfnis, eigene Affektspannungen nach außen zu projizieren, auch den Gefühlen bewußt Rechnung getragen hätte, die der gewählte Ausdruck voraussichtlich bei seinem Publikum auslösen würde.

Höchst lehrreich ist in dieser Hinsicht der von GOETZE ausführlich behandelte Bedeutungswandel des Wortes "evangelisch", das ja ursprünglich nicht die Bezeichnung eines religiösen Bekenntnisses war, sondern einfach "dem Evangelium entsprechend" bedeutete. Es ist natürlich nicht zu bezweifeln, daß dieser Begriff für jeden der Männer, die ihn zuerst auf die LUTHERische Lehre anwendeten, ein stark affektbetonter und expansionsfähiger war, aber ebensowenig lassen die von GOETZE beigebrachten Belege einen Zweifel daran aufkommen, daß wenigsten einige unter den Vertretern der neuen Lehre ihn bewußt propagierten, um dieser durch einen für die Allgemeinheit mit Gefühlen der Andacht und Hingebung verbundenen Namen einen Vorsprung zu verschaffen.

Ebenso genau wie der religiöse oder politische Agitator weiß auch der Kaufmann, daß es für den Erfolg keineswegs gleichgültig ist, ob der Name, den er seiner Ware beilegt, den Gefühlen der Allgemeinheit als Ausdrucksventil dienen kann oder nicht. Den Erfinder des Heizapparates "Sonne" werden wir uns wohl nicht als einen begeisterten Lichtanbeter vorstellen dürfen, sondern als einen klug berechnenden Mann, der genau weiß, daß ein so allgemein mit Lustempfindungen verknüpfter Name der Verbreitung seiner Ware nützen kann.
LITERATUR - Hans Sperber, Einführung in die Bedeutungslehre, Bonn 1965
    Anmerkungen
  1. Ignorabimus (lat., "wir werden es nicht wissen"), eine Formel, die die gegenwärtigen Grenzen des Erkennens zu Grenzen für alle Zukunft machen will.
  2. C.G. JUNG, Diagnostische Assoziationsstudien I, Leipzig