cr-4ra-2F. BrentanoF. NietzscheP. ReeW. WindelbandA. Schopenhauer    
 
F. A. SCHMID-NOERR
Friedrich Heinrich Jacobi
[4/5]

"Wir begehren oder wollen einen Gegenstand nicht ursprünglich darum, weil er angenehm oder gut ist; sondern wir nennen ihn angenehm oder gut, weil wir ihn begehren und wollen, und das tun wir, weil es unsere sinnliche und übersinnliche Natur so mit sich bringt. Es gibt also keinen Erkenntnisgrund des Wünschenswürdigen und Guten außer dem Begehrungsvermögen - dem ursprünglichen Begehren und Wollen selbst."

"Eine geforderte formale Identität des reinen Willens mit dem Sittengesetz bleibt vielmehr auch eine bloß begriffliche Abstraktion. Im besten Fall ist sie eine nachträgliche, bloße Konturzeichnung nach dem einzig wertinhaltlichen Leben; sonst aber nichts, als die unter den Anschauungsformen der Vernunft verkappte, alte Anmaßung des Verstandes: den aus der Wirklichkeit zuerst  abgeleiteten Begriff durch einen sonderbaren Taschenspielerkniff zu dem die Wirklichkeit  begründenden und  beherrschenden, absolut realen Wert emporzutäuschen. Mit anderen Worten: es ist der Versuch des Verstandes, die  Kategorie zur  Norm umzudeuten."

"Es gibt Sätze, die keines Beweises bedürfen und keinen Beweis vertragen, weil alles, was zum Beweis angeführt werden könnte, schwächer, als die schon vorhandene Überzeugung sein, und diese nur verwirren würde. Einen solchen Satz sprechen wir aus, wenn wir sagen:  Ich bin! Diese Überzeugung ist ein  unmittelbares Wissen  und alles andere Wissen wird an ihm geprüft, mit ihm gemessen und nach ihm geschätzt."

"Der Sieg der Vernunft über Sinnlichkeit und Verstandesgesetze auf praktischem Gebiet ist die Geburt der Persönlichkeit. Im Rahmen ihrer Kräfte und Wirkungen breitet sich aus, was Gegenstand einer höheren Sittenlehre zu werden vermag."


Zweiter Abschnitt
Die Lehre vom Sittlichen

1.  Einleitung.  Die Darstellung der erkenntnistheoretischen Absichten und Resultate in der Philosophie JACOBIs dürfte wohl die Bestätigung dessen erbracht haben, was die einleitenden Kapitel über den persönlichen Charakter dieser Denkmotive und über die Art ihrer Zusammenfassung vorausschickte. Die Grundgedanken JACOBIs sind ohne Ausnahme auf einen einzigen Mittelpunkt gerichtet. Ihre Zahl ist klein, ihre Tendenz einfach und eindringlich. Daher ist der Eindruck einer beständigen Wiederholung im Grunde kaum verschiedener Lehrsätze, scheinbar oder tatsächlich, schwer zu vermeiden. Denn nach dem festen Mittelpunkt einer persönlichen Gottesvorstellung, die im religiösen Glauben ergriffen werden soll, laufen die mehr oder weniger ausgebildeten und fein abgeschatteten Gedankenreihen aller philosophischen Disziplinen bei JACOBI, gleich eng ausstrahlenden Radien, immer zurück. Es scheint daher nicht möglich, vom Endpunkt einer der von JACOBI in einer bestimmten Richtung entwickelten Erkenntnisreihen auf die nächst benachbarte überzugehen, ohne jeweils den Unweg über den Mittelpunkt zu nehmen. Auf der anderen Seite ist es im System JACOBIs auch jederzeit möglich, die entgegengesetzten Glieder zweier solcher Gedankenketten, indem man sie als zwei verschiedene Punkte der Peripherie auffaßt, sofort untereinander in Beziehung treten zu lassen, indem man sie aus ihrem gemeinsamen Mittelpunkt heraus betrachtet. Mit Recht darf dieser enge Zusammenhang aller möglichen Überlegungen und Forschungsrichtungen als ein Vorzug von JACOBIs Denkweise betrachtet werden, denn sie zeigt die geschlossene Einheit des Systems, das in seinem freibeweglichen Mittelpunkt mit natürlicher Schwerkraft hängt. Auf der anderen Seite aber herrscht die Einfachheit und die, jede weitere logische Zergliederung ablehnende, offenbarungsmäßige Tatsächlichkeit der letzten begrifflichen Bestandteile seiner Philosophie mit der Wirkung, daß die bis ins Einzelnste durchgeführte Anwendung dieses Prinzips auf die Erscheinungen des gesamten Denkens und Lebens, eine Fülle von Einzelbeobachtungen hervorruft, die in den feinsten Übergängen verschwimmen.

Oft überraschen derartige Bemerkungen durch ihre Wahrheit, durch Tiefe, durch die Schärfe des raschen, genialen Blicks und durch geistreiche Kombinationen und Beziehungen. Nicht selten freilich verrät sich dann auch dem genaueren Nachprüfen die verhältnismäßige Dürftigkeit der Vergleichspunkte und namentlich der beherrschenden Grundmotive. Der Eindruck wächst, daß bei einiger Aufmerksamkeit das Begriffs- und Argumentenalphabeth dieser Philosophie sich rasch erlernt, und daß man, wenn man es einmal nur recht beherrscht, die Geläufigkeit der Lösung aller nur denkbaren philosophischen Probleme nichts mehr zu wünschen übrig läßt. Denn zuletzt flüchtet sich doch auch das schwierigste Problem zurück in die Beruhigungen des Instinkts, der Ahnung und des Glaubens.

Dieser Umstand darf benutzt werden, wenn die Grundlagen von JACOBIs Philosophie so ausführlich aufgezeigt und in ihrer allseitigen Bedeutung entwickelt sind, wie es zu erreichen der Zweck der vorhergegangenen Abschnitte war.

In vielen Beziehungen mag sich daher die folgende Darstellung kürzer fassen. Die systematische Folgerichtigkeit der Gedanken JACOBIs wird keinen Schaden dadurch erleiden, und die Durchsichtigkeit und Übersichtlichkeit seiner Richtung gebenden Ansicht nur gewinnen können.

Wahrheitsgefühl und Sittlichkeitsgefühl sind im Grunde ein und dasselbe. Dies hat sich schon einmal im Laufe der Untersuchung deutlich ergeben (107). Denn das Vermögen der Voraussetzung des Guten und Wahren ist das gleiche: "Es heißt Vernunft". (108) Wie unlösbar die Vernunft in das System der Gefühle, Triebe und Instinkte eingefügt ist, bedarf keines Hinweises mehr. Alle Gegenstände der Moral ergeben sich daher aus unmittelbaren Trieben, alle Prinzipien der Sittlichkeit gehen zurück auf eine natürliche Veranlagung des Typus  Mensch.  Es ist auch auf dem Gebiet des Sittlichen, wie in dem des Wissens so, daß "nur soviel Gutes am Menschen ist, ... als er die Fähigkeit zu ahnen und zu glauben hat." (109) Und Ahnung und Glaube gehen auch dem Bewußtsein des Guten in jeder Form voraus. "Die Wissenschaft des Guten ist der Bedingung des  Geschmacks  unterworfen, ohne den sie gar nicht anfangen und über den sie nicht hinausgeführt werden kann." (110) Der Geschmack ist aber nichts anderes, als der instinktive Trieb, der, höchstens "durch vortreffliche Muster ausgebildet" (111), ansonsten aber frei und in einem natürlichen Wachstum dem rein Menschlichen entkeimt. In seinen Äußerungen ist er Tugend: ein Instinkt vor aller Erfahrung. Tugend ist "ein  besonderer  Instinkt des Menschen"; "er wirkt, wie jeder Instinkt, vor der Erfahrung nur blind. Das Tier strebt nach Speise, ehe es weiß, daß sie sättigt; der Mensch fühlt sich zu Handlungen des Wohlwollens, der Gerechtigkeit und Großmut angetrieben, ohne irgendeine andere Absicht, als die Befriedigung dieses Triebes. Und so entschieden ist dieser Grundtrieb der menschlichen Natur, daß der Mensch nicht allein Genuß und die Bestimmung seines Daseins darinnen fühlt, sondern auch daß er denjenigen nicht wert hält en  Mensch  zu heißen, der sein Leben mehr liebt, als diese Lust." (112) Im Unbewußten, und daher zwangsmäßig, im Sinne einer selbsttätig wirkenden Naturkraft, beginnen die Kräfte der Vorstellung und des Willens sich zu entfalten, die dazu bestimmt sind, in ihrer Weiterentwicklung das Reich der Sittlichkeit heraufzuführen.

Genau ebenso wie der Wahrheitsdrang, tauchen ihre Äußerungen zuerst im Verstand als bewußte, gegenständliche Erscheinungen auf und werden von diesem, genauso wie die Prophezeiungen des erkennenden Geistes, mißdeutet, in ein vorzeitig erstarrtes, mittels der Begriff leer gemachtes Dogmensystem gebracht, und erst nacher wieder durch die Vernunft mit Mühe befreit und zur freien Sittlichkeit der Person geläutert; im religiösen Bewußtsein aber aus allen Mühen der Unzulänglichkeit zuletzt erlöst und aufgenommen in die heilige Ruhe der Vollendung. Die Wandlungen, die der sittliche Trieb auf diesem Weg zur göttlichen Höhe durchlebt, ergeben seine Geschichte im Leben der Menschen. Die Stufen seiner Entwicklung manifestieren sich in der Reihe der landläufigen Ansichten und philosophischen Doktrinen, die sich über diese Gegenstände vorfinden. Eine kurze Darstellung des Systems der sittlichen Wertungen in ihrem gegenseitigen Verhältnis schließt sich an diesen Entwicklungsgang am besten an.

2.  Die Moral des Buchstabens.  Über das Sittliche im Bereich des Triebmäßigen ist ansich wenig zu sagen. Gewisse Ansätze zu triebsittlichen Äußerungen kennt schon die tierische Natur, namentlich wo die Berührung mit dem Menschen die Vorbedingungen günstig gestaltet. (113) Doch ist im ganzen Bereich solcher symptomatischer Vorstufen noch kein Anlaß zu kritischen Normbestimmungen. Der betrachtende Geist wird indessen schon hier sich fromm zu belehren wissen über den letzten Grund und die verborgene Herkunft dieses Triebes: in seinen menschlich unbewußten Anfängen ist er eine reine Wirkung der göttlichen Ordnung und Fügung des Daseins, ein einfältiger Verkündiger des höchsten Erkenntnis- und Willensziels. Gott ist der Anfang und das Ende. Schon hier müßten dem philosophischen Betrachter "alle sittlichen Überzeugungen untergehen, wenn das sittliche Urwesen als ein sittliches, das heißt persönliches Wesen, welches das Gute will und wirkt, verschwindet." (114)

Abgelöst von diesem ihrem Ursprung sind also die tugendhaften Triebe, an und für sich, rein um ihrer selbst willen da; "sie gehen aus keinem Bedürfnis, sondern aus einem Ursprung hervor,  ebenso unabhängig  vom Begriff der Pflicht, wie von der Begierde nach Glückseligkeit." (115) Beide Bestimmungsgründe, die hier genannt sind, haben ihren eigenen Ursprung, und danach ihre Berechtigung, erst dort, wo der sittliche Trieb zum moralischen Bewußtsein geworden ist; Glückseligkeit als mißglücktes Korrelat des  Verstandes  zur Pflichtlehre der  Vernunft;  diese Pflichtlehre selbst aber nur bedingt  in  ihrem Wert, da im höchsten, sittlichen Leben sich alles Pflichtartige von selbst unter größeren Gesichtspunkten verliert.

Die Unerzeugbarkeit, Unerzwingbarkeit, kurz, die vollkommene Unbeeinflußbarkeit des sittlichen Triebes, als wesentlichste Eigenschaft seines anfänglichen Charakters begriffen zu haben, ist notwendig, wenn man seine weitere Entwicklung verstehen will. (116) Diese Entwicklung vollzieht sich, wie schon angedeutet wurde, durchaus in dem für JACOBI feststehenden Schema der wachsenden Vergeistigung und religiösen Annäherung der mitwirkenden seelischen Kräfte. Der gefühlsmäßige Instinkt wird also zunächst ins Bewußtsein erhoben durch den Verstand. Der sittliche Trieb wird "verständig"; er wird sachlich. Seine formale Unbestimmtheit fügt sich in endliche, leicht ausfüllbare Formen; sein Inhalt wird nach Möglichkeit sinnlich-gegenständlich und begrifflich bestimmt. Der Verstand, der überall sofort dogmatisch systembildend vorgeht, ist der eigentliche Begründer der Moral, und zwar mit der sofortigen Tendenz, diese Moral unter die Macht des Begriffs zu zwingen. Sein ideales Zielt ist das objektive Gesetz, das Ritual, die Herrschaft des Buchstabens. In jeder Beziehung verfährt der Verstand in sittlichen Fragen ebenso, wie in denen des theoretischen Fürwahrhaltens. Er möchte den gesamten Komplex der sittlichen Erscheinungen in die Grenzen seiner wohlgegliederten und geordneten Zweckmäßigkeit pressen und alles Warum und Wozu an seinem Ort auf das säuberlichsts begründen, begreifen und etikettieren. Da er nur ein Verhältnis der kausalen oder logischen Abhängigkeit zwischen den Dingen anzuerkennen vermag, so ist ihm alles Unmittelbare, Ursprüngliche verhaßt, und er verkettet den sittlichen Trieb aufs Engste mit dem moralischen Ziel, indem er dabei nicht vergißt, zu betonen, daß der Trieb natürlich nur um des Zieles willen, Sittlichkeit nur des Gesetzes wegen, Tugend nur dem Lohn zuliebe da ist. Mit folgerichtiger Konsequenz errichtet er den Systembau der Glückseligkeitsmoral mit allen ihren typischen Einzelerscheinungen und betonten Nebenwerten. Daß dieses System im Wechsel seines historischen Ausdrucks gelegentlich variiert, manche Abweichungen den Betrug der wesensverschiedenen Artung vorspiegeln, tut nichts zur Sache. Das Prinzip ist deutlich und steht fest, der Typus ist unverkennbar. Er äußert sich überall im Gegensatz zur sittlichen Auffassung derer, die das Vorrecht der Unmittelbarkeit vor dem Zwang, des Wesens vor dem Begriff, der Freiheit vor dem Gesetz, des Göttlichen und Unendlichen vor dem Beschränkten und Endlichen der Individualwerte vor den Gattungswerten verteidigt haben. Und wenn ARISTOTELES solche Handlungen gut, gerecht und groß nannte, die so beschaffen waren, wie der gute, gerechte und große Mensch sie hervorbringt, so ist die Verstandesmoral stets zur Hand, im Gegenteil anzunehmen, daß die Forderung den guten oder schlechten Mann macht. Es ist mit den Worten des ARISTOTELES mit den sehr ähnlichen Aussprüchen LUTHERs und mit JACOBIs Meinung ein und dieselbe Sache: die Entscheidung der Frage, ob der gute Mann die gute Tat macht oder die gute Tat den guten Mann. (117)
    "Wunderbar! wir wollen den Leuten eine Tugend machen, wodurch sie tugendhaft werden; und sie werden tugendhaft, wie man durch Alchemie reich wird." (118) "Die Pferde sind hinter den Wagen gespannt." (119)
Deshalb richtet sich JACOBIs ganzer Eifer und die ganze Unermüdlichkeit seiner nach allen Seiten hingewandten Argumente gegen diese Moral des Buchstabens. Gegen das unerbittlich "geschriebene" Gesetz und gegen den Geist, der ein für allemal für gesprochen erklärt, was er gesprochen hat. Die Beziehungen dieser Kritik des Buchstabens mit der Kritik der Sprache, in deren Fesseln wir auch auf dem praktischen Gebiet unseres Lebens liegen, leuchten ein. Wo sich das Wort verselbständigt und auf eigene Faust darangeht, Systeme des Wissens und Wollens zu begründen, da flieht der Geist.
    "Sollte der Buchstabe mehr und bessere Kräfte verleihen als der Geist? Nur verschwindet alle Idee von Sittlichkeit, wenn ich Gesetz, herrschende Meinung, irgendeine  Buchstabenart, als etwas ansehen will, das über Vernunft und Gewissen herrschen, folglich sie aufheben, sie zerstören soll." (120)
Das heißt vergessen, daß "das Gesetz um des Menschen willen gemacht ist, nicht der Mensch um des Gesetzes willen." (121) Der Verstand sträubt sich zwar auch hier mit aller Macht gegen die Anerkennung einer höheren Autonomie, und er weiß seinen Einfluß auch dann noch geltend zu machen, wenn ihm die Vernunfteinsicht auch die Bestimmung der sittlichen Norm abgenommen hat: er überträgt die aprioristische Geltung des paragraphierten Moralgesetzes auf die Natur des absoluten, formalen Sittengesetzes.

3.  Der Standpunkt des Sittlichen.  Gegen diese Verwirrung der Begriffe und Machtverhältnisse ist nur die einzige Berufung auf den "gewisseren Geist", auf das Gewissen möglich, das sich gegen jede derartige Anmutung empört. So ist "das Verbrechen wider den reinen Buchstaben des absolut allgemeinen Vernunftgesetzes, das eigentliche  Majestätsrecht  des Menschen, das Siegel seiner Würde, seiner göttlichen Natur." (122)

Zum zweitenmal ist hier für JACOBI Gelegenheit, sich von KANT mit scharfer Kritik zu scheiden und diese gegen den übrigens ausdrücklich anerkannten Lehrmeister zu kehren. Es sind nahezu die gleichen Gründe, aus denen SCHILLER an KANTs Ethik Anstoß nahm, mit denen auch JACOBI gegen die Kritik der praktischen Vernunft zu Felde zieht. Wenigstens von außen gesehen: es ist die Auflehnung des künstlerischen Geistes gegen den philosophischen, um es mit Schlagworten zu sagen. Es ist genauer der Unterschied in der Auffassung von der wissenschaftlichen Aufgabe überhaupt, der sich äußert in der grundsätzlichen Betonung des durchaus inhaltlichen, und darum durchaus individuellen Wirklichen, gegenüber der durchaus formalen, die allgemein gültige Maxime anstrebenden Methode einer als Wissenschaft auftretenden Ethik. Es ist bei schärferem Zusehen jedoch bei JACOBI mehr der Widerspruch des religiösen, als des künstlerischen Wirklichkeitsgefühls der Person gegen den tatsächlichen oder scheinbaren Formalismus des wissenschaftlichen Verallgemeinerungsverfahrens; die Absicht der SCHILLERschen und der JACOBIschen Kantkritik ist verschieden, nur der Anlaß ist der gleiche.

Der ethische Rigorismus scheint das Recht der Persönlichkeit unterdrücken zu wollen, womit er die Erreichung des besten Menschheitsideals unmöglich zu machen droht: die Harmonie des sinnlichen und des sittlichen Lebens.

Dieser Rigorismus, so folgert JACOBI, wirkt nach zwei Richtungen hin verhängnisvoll: einmal entleert er das Sittengesetz, und damit auch das sittliche Ideal, jeder, das Dasein erfüllenden Gegenständlichkeit zugunsten rein formaler Maximen, und reißt auf diese Weise den Menschen aus dem lebendigen Zusammenhang seines Wirkens und Wollens; zwingt ihm "einen reinen Willen auf, der ein Unding ist" (123) und macht das Sittengesetz wieder in hohem Grad zum Selbstzweck; und zum andern bewirkt dieser Rigorismus ein tötendes Gefühl des Gefesseltseins durch eine Pflicht, von der das Herz und das Gemüt nichts weiß. Die naive, instinktive Freude am Guten, die von Gott stammt, wird verleugnet, um den Hochmut einer zwar edlen, aber allzustolzen "Autonomie" an ihre Stelle zu setzen: jene "kalte Billigung", die jede Neigung verschmäht, wenn nicht gar ausdrücklich ausschließt. Dagegen protestiert JACOBI: "Ich lasse mich nicht befreien von der Abhängigkeit der  Liebe um allein durch  Hochmut  selig zu werden." (124) - Zumal jene Autonomie, bezogen auf ein Sittengesetz des starren Formalismus, selber den Schein des Vorzugs einer freien Würde rasch wieder einbüßt. Denn auch dieses höchste "Moralprinzip der Vernunft: Einstimmigkeit des Menschen mit sich selbst; stete Einheit ist das höchste  im Begriff.  Aber diese Einheit selber ist nicht das  Wesen,  ist nicht das  Wahre." (125)

Hier scheint auf den ersten Blick ein sonderbarer Widerspruch in JACOBIs eigenen Ansichten vorzuliegen. Denn auf der einen Seite beschuldigt er KANT, durch sein Moralprinzip das höchste Ziel, die Einheit des Menschen in sich selber, unerreichbar zu machen; auf der anderen Seite bekennt er selbst, daß eine solche Einheit nicht das Wesen und das Wahre ist. Dieser Widerspruch löst sich indessen, sobald man sich des zentralen Gesichtspunktes erinnert, unter dem die Denkweise JACOBIs stets betrachtet werden muß. Zugleich wird unter dieser Bedingung einleuchtend, wo JACOBIs Kritik in jene grundsätzliche Differenz der Gesichtspunkte ausmündet, die von jeher intellektualistisch gewandtes Denken vom Voluntarismus unterschieden haben.

Aus dem Stadium der Verstandesherrschaft tritt nämlich auch der praktische Instinkt durch die Vermittlung der höheren Ahnung in den Bereich des eigentlich vernünftigen Bewußtseins. (126) Der Übergang vollzieht sich, dem Trieb des Erkennens analog, nicht ohne Kampf zwischen den verschiedenen Machtansprüchen der intellektuellen Kräfte, und dieser Kampf, mit dem die Vernunft sich auch auf dem sittlichen Gebiet den Vorrang sichert, ist die Geschichte der individuellen Individuation unter den Menschen:
    "Alle Moral - war sie doch von jeher bloß philosophische Geschichte; und jene innere Harmonie, jene Einheit in Tun und Dichten (das Ziel der emporstrebenden Menschheit) allemal nur die Geburt irgendeiner obsiegenden Liebe, welche den Menschen ihren Beruf und Plan erteilte!" (127)
So setzt sich also der verständigte Instinkt, der in dieser Form den höchsten "Begriff" des Moralsystems (eben KANTs reine Maxime) hervortreibt, durch Ahnung über sich selber hinaus fort und erreicht den Vernunftstandpunkt der freien Hingebung an das Wesentliche und Wirkliche, durch Überwindung des Gehorsams, auch des autonomen Gehorsams, mittels einer totalen Bestimmung aus Natur, aus Neigung, aus lebendigem Bedürfnis, oder wie auch immer man dies ausdrücken will, daß eben im eigentlichen Sinn das wahrhaft Wirkliche erst das sittliche Verhalten möglich macht, und nicht das sittliche Verhalten die Wertwirklichkeiten erschafft. Die Wirklichkeit läßt sich aber in ihrer gegenständlichen Erfahrbarkeit nicht anders ausdrücken als im metapsychischen Phänomen des Instinkts. Der Instinkt nun stellt nirgends formale Gesetze auf. Der Instinkt geht immer auf Inhalte: denn er offenbart Wirklichkeit. - Er geht vielmehr, genau genommen, immer auf den absoluten Inhalt überhaupt, von dem er herkommt: auf höchste Seinsheit, auf Gott, auf vollkommene Personalität.

Der scheinbare Widerspruch JACOBIs mit sich selber in seiner Kritik der kantischen Ethik erklärt sich so aus einem grundsätzlich anders gewählten Standpunkt, aus dem heraus die Reihe der Bedingungen des Sittlichen sich geradezu umkehrt. Das in der praktischen Vernunftkritik angestrebte Ziel: Einheit des (sittlichen) Menschen mit sich selber durch die Ausmerzung seiner sinnlichen Natur, ist nicht nur unerreichbar im Leben und darum persönlichkeitszerstörend, im Sinne SCHILLERs; eine so geforderte formale Identität des reinen Willens mit dem Sittengesetz bleibt vielmehr auch eine bloß begriffliche Abstraktion. Im besten Fall ist sie eine nachträgliche, bloße Konturzeichnung nach dem einzig wertinhaltlichen Leben; sonst aber nichts, als die unter den Anschauungsformen der Vernunft verkappte, alte Anmaßung des Verstandes: den aus der Wirklichkeit zuerst  abgeleiteten  Begriff durch einen sonderbaren Taschenspielerkniff zu dem die Wirklichkeit  begründenden  und  beherrschenden,  absolut realen Wert emporzutäuschen. Mit anderen Worten: es ist der Versuch des Verstandes, die  Kategorie  zur  Norm  umzudeuten. Dies und nichts anderes ist der Sinn einer "wissenschaftlichen" Ethik in den Augen JACOBIs. Denn eine andere Wissenschaft als eine solche der Begriffe kennt er nicht. (128)

JACOBI beschuldigt demnach die kritische Ethik des Versuchs, die aller Sonderbedeutung, aller "Natur", und darum aller Individualität und Personalität entkleideten, gewissermaßen begrifflich gereinigten Menschen zum sittlichen Endzweck der Vernunftrealisation emporleiten zu wollen; und zwar dies durch die Vermittlung von verstandeskategorialen, begriffserzeugten und darum recht eigentlich moralisierenden "Ideen"; er beschuldigt demnach diese Ethik eines Versuchs mit untauglichen Mitteln am untauglichen Objekt - mit einer untauglichen, nämlich niemals realisierbaren, und deswegen im Grund widersinnigen Absicht. (129)

Dieser, angeblich aus Funktionen des menschlichen Vernunftvermögens bloß abgeleiteten, ethischen Zielsetzung gegenüber hält JACOBI fest an der Überzeugung, daß ein solches Ziel substanziell gegeben sein muß vor aller und über alle Vernunft hinaus; und daß die Vernunft, eben als ein Vermögen  am  Menschen, nicht Gesetzgeberin jener letzten Menschheitsaufgabe, sondern allein Vermittlerin des Verstehens dieser notwendig transzendenten Aufgabe sein kann. Denn, so argumentiert er:
    "Wir sagen nicht von der Vernunft im Menschen, daß sie ihren Menschen gebraucht; sondern vom Menschen, er gebraucht seine Vernunft. Sie ist die ursprüngliche Kunst, das unmittelbare Werkzeug des in Sinnlichkeit gehüllten Geistes. - Aber das schlechterdings und ansich Wahre kommt auf diesem Weg nicht zum Menschen:  Unerzeugt zu sein ist dieses Wahren Natur." (130)
Dieses Wahre ist zuletzt nichts anderes, als die aus sittlichem Bewußtsein begründete, im Instinkt verankerter Evidenz des gesamten vernunft- und verstandesfunktionellen Verhaltens überhaupt.
    "Es gibt Sätze, die keines Beweises bedürfen und keinen Beweis vertragen, weil alles, was zum Beweis angeführt werden könnte, schwächer, als die schon vorhandene Überzeugung sein, und diese nur verwirren würde. Einen solchen Satz sprechen wir aus, wenn wir sagen:  Ich bin!  Diese Überzeugung ist ein  unmittelbares Wissen  und alles andere Wissen wird an ihm geprüft, mit ihm gemessen und nach ihm geschätzt." (131)
Dieses "Ich bin", das alle unsere Vorstellungen begleiten muß, deutet also immer zurück auf eine Gewißheit, die jenseits aller Arbeit des Geistes liegt, und darum jenseits aller Funktionen des theoretischen Vermögens. Aber auch jenseits aller schon gegenständlich gewordenen, also verarbeiteten Vorstellungsformen, die dem praktischen Vernunftverhalten zugrundeliegen. Weder eine Wahrheit, nocht eine sittliche Aufgabe vermag die Vernunft aus sich heraus zu konstituieren; sondern sie kann auch in diesem zweiten Fall nur vermitteln, was "dem Menschen unmittelar und allein sein  Herz  (will heißen: sein Instinkt-Trieb) sagt, daß es gut ist." (132) "Tiefe des Sinns", nicht Tugend und tugendgerechter Vernunftstolz ist Frucht und Bürgschaft des sittlich-persönlichen Lebens. Aus diesem Gesichtspunkt erledigt sich dann auch alle irdische und außerirdische Glückseligkeitskrämerei von selber. Denn "kann wohl jemand ... glücklich werden außerhalb seines Herzens?" (133) JACOBI könnte auch sagen: außerhalb seiner Natur, seinem eingeborenen Trieb. Es hat sich schon ergeben, daß aus dieser Auffassung heraus die Tugend jenen Charakter des Verdienstlichen und mühsam Errungenen verlieren muß, den sie in der kantischen Ethik ohne Zweifel nicht gänzlich zu verleugnen vermag: KANTs Lehre vom Radikal-Bösen der Menschennatur ist dazu die naturgemäße Ergänzung. Das Böse ist aber in der von Grund aus optimistisch gerichteten Denkart JACOBIs kein Problem, sondern, sofern in der Religionsphilosophie immerhin die Zulassungsfrage zu erörtern wäre, eines von den absoluten und undurchdringlichen Geheimnissen Gottes. Die Tugend also, als die ursprüngliche Triebäußerung des Instinktes im praktischen Gebiet, ist unmöglich zugleich auch das Ziel einer langsam erkämpften Entwicklung. "Man sollte, wenn man von der Tugend spricht, ... nicht sich des Ausdrucks bedienen, daß sie das höchste Gut ist." (134) "Gut" ist überhaupt kein unserem Wollen von irgendwoher vorausgesetzter Begriff, nach dem sich beurteilt, was unsere Gesinnungen und Handlungen taugen, sondern gut ist aus tiefstem Welt- und Lebensgeheimnis heraus unser Instinkt, derselbe Trieb, der uns die Nahrung des Leibes, wie die Unterscheidung des Wahren vom Falschen im logischen Verhalten finden und behaupten läßt; gut ist unser Begehrungsvermögen, das uns in der Folge zu sittlichen Personen erzieht. Und "wir begehren oder wollen einen Gegenstand also nicht ursprünglich darum, weil er angenehm oder gut ist, sondern wir nennen ihn angenehm oder gut, weil wir ihn begehren oder wollen; und wir begehren oder wollen ihn, weil es unsere sinnliche oder übersinnliche Natur so mit sich bringt. Es gibt also keinen Erkenntnisgrund des Wünschenswürdigen und Guten außer dem Begehrungsvermögen." (135) JACOBI nimmt PASCAL zum Zeugen: "L'intelligence du bien est dans la coeur." [Die Intelligenz des Guten ist im Herzen. - wp]

Es ist hier noch nicht der Ort, auf die Untersuchung der Frage einzugehen, wie aufgrund dieser scheinbar gänzlich anarchischen Dammzerreißung aller formal bindenden Vernunftgesetze ein Maß gefunden werden soll, an dem sich die Willkür subjektiven Beliebens, jeder, wie auch immer gearteten "Natur" gleichzeitig messen und brechen ließe. Es muß hier fürs Erste nur dies als die deutlich Meinung JACOBIs hingenommen werden, daß keinesfalls das Ziel der moralischen Aufgaben gesucht werden darf in einer Vollendung des sittlichen Individuums durch die Selbstzerstörung seines Trieblebens zugunsten autonomer Vernunftgesetze. Nun bleibt auch in der kantischen Ethik diese Aufgabe im sinnlichen Menschendasein aber unerfüllbar. Ja, schlimmer als das: die Widerstände der Außenwelt bewirken nur allzuhäufig eine vernunftwidrige Verkehrung der Wirkungen aus den Ursachen des sittenreinsten und vernunftvollkommensten Wollens und Handelns. Und diese Wirkungen kehren sich ebensowohl gegen den Urheber dieser Handlungen selber, wie gegen andere sittlich-vernünftige Wesen außer ihm, gegen seine Mitmenschen, in einer unabsehbaren Verkettung von Wirkungen, von denen sich schon die nächste gänzlich der Absicht und dem Einfluß des Veranlassers entzieht. Das sinnliche Dasein verweigert die rationale Durchwirkung seiner bunten Wirklichkeit durch den sittlichen Willen. Die Vernunft fordert den Ausgleich. Die Vernunft fordert, daß das höhere Prinzip das untergeordnete Prinzip der Naturkausalität durchaus meistert, daß am Ende auch der sittliche Wille, in einem absolut gerechten Zustand der von ihm erwirkten Tatsachenverhältnisse, seine Genugtuung erlangen soll.

Diese Genugtuung, unerreichbar auf Erden, erhebt sich daher als Forderung über dem Ablauf des erfahr- und erweisbaren Daseins der sittlichen Individuen und deutet hinüber auf einen jenseitigen Zustand, in welchem diese Genugtuung erreicht gedacht wird.

Diese jenseitige Genugtuungsforderung ist der Sinn der Lehre vom höchsten Gut bei KANT.

Nach JACOBIs Auffassung vom Wesen der sittlichen Vernunftautonomie kann nun dieses höchste Gut bei KANT nichts anderes sein, als die vollendete Übereinstimmung einerseits des sittlichen Willens des Individuums mit der Summe seiner ihm etwa außerdem noch anhaftenden, natürlichen Bedingungen und persönlichen Determinationen: also die Glückseligkeit aus vollkommener Tugend; und als die vollendete Übereinstimmung andererseits dieses sittlichen Willens mit der Summe aller übrigen Bedingungen, die ein solches jenseitiges Leben außerhalb des Individuums ausmachen mögen: also die Glückseligkeit aus vollkommener ethischer Rationalisierung des in Kausalverbindungen gedachten, irrational Wirklichen oder Lebendigen. Beide Interpretationen des Begriffs vom höchsten Gut, in diesem Sinn, lehnt JACOBI ab. Gleichgültig, ob er in seiner Auffassung KANT und seiner Lehre gerecht wird; es ist hier nur allein die Frage: Welche Stelle nimmt diese Lehre vom höchsten Gut, die JACOBIs Denken vielfältig beschäftigt hat, im Zusammenhang seiner Philosophie ein?

Die Antwort wird nicht nur den Punkt des Mißverständnisses zwischen JACOBI und KANT aufs Neue beleuchten; sie wird auch zugleich auf dem kürzesten Weg geradezu auf das Problem hinleiten, das im Mittelpunkt der praktischen Philosophie JACOBIs, und damit seiner Gedankenwelt überhaupt, steht.

JACOBI sagt einmal:  "Das ansich Gute  offenbart allein die Vernunft; sie ist ein Vermögen, sich das Höchste vorzusetzen." (136)

Ein Ausspruch, wie dieser, zeigt, wie an einem Schulbespielt, die doppeldeutige Möglichkeit der Auslegung, die so häufig und auf den ersten Blick bei JACOBI überrascht.

Die Vernunft  offenbart  das Gute, und sie ist zugleich das Vermögen, das Höchste, welches offenbar das Gute ist,  vorzusetzen.  Der erste Teil des Satzes scheint auszusprechen, was sich als wesentliche Meinung JACOBIs gelegentlich schon dargestellt hat: die Vernunft ist die Vermittlerin zwischen metaphysischer Wahrheit und menschlichem Erkennen. Sie offenbart, sie zeigt dem Menschen das absolut Vorausgesetzte, nach der Kraft seiner Aufnahmefähigkeit.

Aber der zweite Teil des Satzes scheint dafür umso präziser den Geist der kantischen Vernunftauffassung wiederzugeben: denn die Vernunft, welche sich das Höchste vorsetzt, ist die autonome Gesetzgeberin ihrer selbstgewählten Wirkungsweise. Von der leichten Ungenauigkeit des Ausdrucks "vorsetzen" abgesehen, ist dies zweifellos die Meinung JACOBIs, daß die Vernunft des Menschen zugleich imstande ist, die Offenbarung des Guten zu vermitteln und sich das Gute als freie Bestimmung aller Tätigkeit vorzusetzen.

Wie JACOBI sich in die Lage zu versetzen weiß, beides gleichzeitig behaupten zu können, dies wird sich alsbald zeigen.

Daß er es kann, darin beruth wesentlich die Erklärungsmöglichkeit des Umstands, daß JACOBI sich in der Tat, trotz so vieler bewußter Gegensätze zu KANT und seinen Nachfolgern, doch durch breite Gebiete der Philosophie hindurch ehrlich mit KANT verbunden glauben, sich auf ihn berufen konnte, und daß er ebenso ernsthaften Einfluß auf jene Nachfolger der kantischen Philosophie gewinnen konnte, von denen ihn im Übrigen eine Welt zu trennen schien. JACOBIs Vermittlerstellung, mit allen Vorzügen und all den Schwächen, die iener solchen Position anhaften müssen, stellt sich hier, wie schließlich fast überall in seinem Denken, deutlich vor Augen.

JACOBI nämlich ist davon durchdrungen, daß nur die Vernunft und außer ihr kein anderes Vermögen des Menschen, am allerletzten aber der Verstand und der Begriff, dazu imstande ist, über die sittliche Idee und über die Aufgabe des praktischen Verhaltens Auskunft zu geben. Außerhalb der Vernunft kann keine Regel und kein Gesetz der Moral gefunden werden, und wo wir ein solches Gesetz erkennen, erkennen wir es allein durch die Vernunft. In diesem Sinne also ist die Vernunft sehr wohl die Gesetzgeberin; und JACOBI kann mit KANT in allen Punkten übereinstimmen, in denen es allein darauf ankommt, die Unabhängigkeit und Lauterkeit der Vernunft als  Quelle  aller sittlichen Gesetzgebung gegen etwaige Ansprüche von anderer Herkunft kritisch zu verteidigen.

Aber auch darüber hinaus: selbst bis zu diesem Punkt geht die Übereinstimmung, daß die Gesetzgebung  autonom  ist; denn außerhalb der Vernunft kann kein Gesetz gegeben sein. (137)

Die Differenz beginnt erst dort, wo KANT die Konferenz seines Standpunkts auch über die formale und logische Bedeutung dieses Sachverhalts hinaus behauptet und die Arbeit am sittlichen Ziel mit jener gewissen,  logischen Stimmung  erfüllt, die in der Bezeichnung der kantischen Autonomielehre als  Rigorismus  ihren Namen gefunden hat. Da betont JACOBI: Zu dieser autonomiesicheren Stimmung ist kein Anlaß. Denn nicht die Vernunft ist erhaben, sondern erhaben ist allein das, was sie offenbart, was sie vermittelt, - sofern nicht eben von einem erhabenen Gegenstand auch auf seinen Vermittler ein Glanz seines erhabenen Lichtes fällt. Dieses Erhabene dem Wesen nach, nicht der bloßen Vernunftform nach, ist der sittliche Urtrieb im Menschen, der Instinkt, der seinerseits noch einmal rückwärts und hinein deutet in die letzten Geheimnisse des Lebens.

Dieser Urtrieb nun heißt uns das, wovon "die eigene Kraft der Vernunft nur den Wunsch im Menschen zu erregen vermag (im Sinne einer noch nicht artikulierten Vermittlung (138),  Eins  mit sich selbst zu sein, ohne weiteres." (139)

Es ist gut, daß die Vernunft dieser Vermittlerrolle so durchaus angepaßt erscheint; daß sie ganz aus sich heraus, ohne den besonderen Anstoß einer bewußten Rechenschaftsablage, diese "Tugend-Liebe" auch im naiven Individuum schon wach und bereit hält: denn es ist da in uns das Vermögen der Begriffe, der Verstand, der überall darauf lauert, den ersten Schritt des Denkvermögens vom Jasagen zum Sichselberbejahen sogleich seinen Zwecken dienstbar zu machen und das denkende Bewußtsein von der reinen Quelle lebendiger Ideen abzulenken und in das tote Netzwerk abgeleiteter Begriffe zu verstricken.

Wie der Verstand sich das Ziel der moralischen Weltordnung denkt und was für ihn der Inhalt der Glückseligkeit, die Erfüllung des höchsten Gutes ist, dies darzustellen mit allen Bildfarben des Dichters und des Sittenschilderers ist JACOBI nicht müde geworden: zwei Möglichkeiten des Ideals lassen sich aus dem Standpunkt der Verstandesmoral herleiten, und in Pfaffentum und Epikuräertum erschöpft sich die Perspektive. (140)

Demgegenüber lehrt uns schon früh die Vernunft "den Vertrag zwishen allen unseren Begierden (141), gemäß den ewigen Gesetzen des Vorteils unserer fortdauernden Natur. Jede unserer Begierden hat auf ihre Befriedigung den gerechtesten Anspruch: so daß die Tugend in der möglichsten Vereinigung  aller  unserer Begierden, und die wahre Glückseligkeit, in ihrer  aller  möglichsten Befriedigung besteht: wodurch beide nur zu  einem  Ding werden." (142) Liebe deutet auf Harmonie, nicht auf irgendeine Art von Unterjochung und Gewalttat. Diese Harmonie soll aber nicht aus einem unbestimmten Gefühl, aus irgendeinem, im letzten Grund stets ästhetischen Bedürfnis des Ausgleichs von  Gegensätzen  beruhen. Nirgends liegt die Verwechslung jacobischer Denkungsart mit dem englischen Humanismus des 17. und 18. Jahrhunderts näher, und nirgends möchte sie zu gröberen Mißverständnissen verleiten, als hier. JACOBI ist von SHAFTESBURY in der Zeit seiner Annäherung an das SCHILLERsche Spätideal zumindest ebenso weit, im Grunde weiter entfernt, als dieser von den Vorbildern seiner eigenen, hymnischen Jugendvorstellungen. Viel eher drängt sich hier schon wieder dem aufmerksamen Beurteiler jener verwandte Zug einer durch alle Wissenschaft hindurch lebensbejahenden Denkrichtung auf, der GOETHE und JACOBI gemeinsam blieb, trotz aller Entfremdung und aller Verschiedenheit der Naturen. JACOBI könnte hier wie der Mittler zwischen der erdgewissen Lebensphilosophie GOETHEs und der vernunftsicheren, kantisch abgekühlten Spekulation SCHILLERs erscheinen. Denn:
    "das Verlangen nach Glückseligkeit ist nicht allgemeiner, als die Überzeugung, daß sie auf dem Weg der Vernunft allein gefunden wird." (143)
Im Grunde ist es so: JACOBIs Glaube an die Wirklichkeit aller Lebenswerte  vor  ihrer Erschließung durch das Erkenntnisvermögen gibt ihm die Gewißheit, daß ein nach Grundsätzen erstrebtes, sittliches Ziel nicht reiner und nicht vollkommener sich erreichen läßt, als dadurch, daß sich die ursprünglichen und instinktiven Begehrungen rein und ungehemmt zu entfalten vermögen, denen der richtige Trieb zur Vollendung von selber innewohnt. Die Vernunft vermag dann am Ende nicht mehr, als den erreichten Zustand zu bestätigen, ihm die objektive Wertigkeit des Gesetzmäßigen zu verleihen, weil in ihr das Vermögen aller Einsichten für Menschen einmal beschlossen ist. Die Vernunft bestätigt, "daß die Glückseligkeit nicht eine gewisse Art des äußerlichen Zustandes,  sondern eine Beschaffenheit des Gemüts, eine Eigenschaft der Person ist." (144)

Noch einmal: dieser harmonisierte Gemütszustand ist kein Zustand des ästhetischen Genügens. Dieser Zustand ist vielmehr  eine sittliche Forderung aus Vernunft  und gleichzeitig ein Trieb aus innerlich notwendiger Natur. Als Ideal einer sittlichen Forderung ist dieser Zustand in der Zeit nicht erreichbar. Alle Erfahrungen des realen Lebens widerstreben ihm unablässig. Stündlich erfüllen wir unsere Pflichten, die uns unser sittliches Bewußtsein in Form des Vernunftgesetzes vor Augen stellt, unter dem Widerspruch der Tatsachen und der Wirkungen unseres Handelns, und mit unserem Tun bleibt auch unsere Person Stückwerk. Und dennoch ist uns zugleich der Trieb eingepflanzt, und mit dem Sittengesetzt der Vernunftglaube, daß unser Handeln frei vom einem unverantwortlichen Zwang des naturkausalen Geschehens ist.
    "Also stehen wir zwischen dem drohenden Gebot der Sittlichkeit, das wir nicht abweisen, und zwischen der dringenden Begierde nach Glückseligkeit, die wir nicht vertilgen können, mit dem feindlichen Geschenk der Willensfreiheit in der Mitte, und müßten unser Dasein verwünschen, wenn nicht im ernsten Gesetz der Sittlichkeit, das uns schlechterdings gerecht zu sein befiehlt, zugleich ein gerechter Gott erschiene, dessen Allmacht mit der Würdigkeit, glücklich zu sein, auch die Glückseligkeit verbinden wird." (145) Wir können also den Glauben an unsere sittlichen Aufgaben nicht trennen von dem Glauben an "die Notwendigkeit einer  moralischen Regierung Gottes, mithin auch (nicht) von der Erwartung eines zukünftigen Lebens." (146) So ist

    "der Glaube an Tugend mit dem Glauben an einen weisen, allmächtigen und gütigen Urheber der Welt ... und an die Belohnung der Tugend in einem künftigen Zustand, auf das Innigste verknüpft, und muß jeden gründlichen Sittenlehrer zugleich zu einem Religionslehrer machen." (147)
Richtung, Ziel und Zusammenhänge der ethischen, geschichts- und religionsphilosophischen Gedanken JACOBIs sprechen sich in diesen Worten deutlich aus.

Ebenso einleuchtend ist, daß in diesen letzten und allgemeinen Ausläufern moralphilosophischer Probleme sich JACOBI zu KANT auf das Lebhafteste hingezogen fühlte. Denn was für KANT freilich nur erlaubte Folgerungen aus kritisch umgrenzten Postulaten war, das empfand JACOBI mit dem sicheren Instinkt einer gemeinsamen Grundstimmung aus einer gemeinsamen Tradition heraus, als ein auch bei KANT, wenigstens menschlich, wirksames Motiv, das ihm die kantische Sittenlehre gewissermaßen von oben her erhellte und vertraut machte. Was JACOBI selber am meisten am Herzen lag: zu zeigen, daß in allem sittlichen Tun nicht ein nach irgendwelchen Begriffen vorausgesetzter Zweck wirksam, daß nicht der moral- und buchstabenbegründende Verstand der Gesetzgeber unseres höheren Lebens ist, sondern der aller kategorialen und schematisierenden Funktion vorausgehende Trieb des Lebens selber, offenbart durch Vernunft, dies glaubte er im Zusammenschmelzen der Resultate bei KANT wiederzufinden; und er nahm es von seinem Standpunkt aus mit Recht und gutem Kantverständnis "für den Hauptgrundsatz dieser Philosophie", daß er  "die Unabhängigkeit des Prinzips der Sittlichkeit von dem der Selbstliebe ist." (148) Und nochmals betont er:
    "Mir ist alles an der Wahrheit dieses Grundsatzes gelegen, dessen Festsetzung und Verbreitung das Ziel aller meiner philosophischen Bemühungen von jeher gewesen ist." (149)
Wieder auf eine neue Weise tritt der vermittelnde Geist JACOBIs zwischen die großen Führer seiner Zeit, vielverstehend und mit dem ernsten Wollen seines eigenen Lehrens den weiten Umfang der damals lebendigen Probleme mit reicher Bildung umspannend. Von KANTs reinem Vernunftgesetz, unter das sich das Leben bedingungslos beugen und vor dem alle Kasuistik, im Grunde also alle individuell-persönliche, inhaltlich bestimmte Problematik zunichte werden sollte, schwingt sich der kühne Bogen der Gedanken in JACOBIs Sittenlehre hinüber zu GOETHE:

Für den ärmsten und niedrigsten wie für den reifen und der Vollendung zustrebenden Menschen gilt das eine Ziel der persönlichen Ausbildung und Befreiung von allgemeinen, leeren und begrifflichen Bestimmungen als das köstlichste von allen. Wie auf zwei Grundpfeilern steht so der verbindende Bogen der jacobischen Sittenlehre auf den beiden Grundsätzen der praktischen Lebensansicht KANTs und GOETHEs, auf jenem "Hauptgrundsatz der Unabhängigkeit des Prinzips der Sittlichkeit vom Prinzip der Selbstliebe"; und auf jenem anderen Grundsatz, in dem sich die Weisheit GOETHEs ausgeschmiedet hat:
    Herr und Knecht und Überwinder
    Sie gestehn zu jeder Zeit:
    Höchstes Glück der Erdenkinder
    Sei nur die  Persönlichkeit
Es ist Aufgabe der folgenden Abschnitte, zu dieser höchsten Forderung der formalen Ethik bei JACOBI die näheren Daten zusammenzutragen, aus denen heraus die Möglichkeit einer Realsierung dieser Forderung eingesehen werden kann.

4.  Das sittliche Individuum.  Leben  ist die Grundlage allen persönlichen Daseins. Leben allein. "Durch Anwendung, Gebrauch und Inhalt wird das Leben erst lebendig; es entwickelt sich in ihm ein Dasein; es entsteht eine Person." (150) - Damit scheidet JACOBI den Eingang jeder auf Individualität, auf Einmaligkeit der Erscheinung gehenden, philosophischen Betrachtung von allem ab, was durch Abstraktion und Begriff, was nur durch Kategorie und Urteil, kurz von allem, was allein durch Reflexion des Verstandes mittelbar besteht, das heißt: durch Wissen. In FICHTEs spätem Bekenntnis, daß alles Leben Nichtphilosophieren, alles Philosophieren Nicht-Leben ist, klingt, dieser, Welt und Wissen fordernde, Grundsatz der jacobischen Denkungsart wie ein fernes Echo nach. Entfernung und veränderte Natur des Schalles gibt wohl dem Echo eine fremdartig veränderte Klangfarbe; aber es wäre unerfahren, deshalb den Ursprung des Tons zu erkennen.

Leben, im Sinne des vollen Umfangs der Wertwirklichkeit, führt zurück in den Anfang und Urgrund aller Dinge: in Gott; und sein Gebrauch und Inhalt gründet sich auf das Urerlebnis: auf den reinen Instinkt. Gott und gottgegebenes Daseinsgefühl also, höchste Wirklichkeit und ihre erste Offenbarung, stehen unverhüllt als die beiden beherrschenden Prinzipien am Eingang der Menschheitsgeschichte, sofern unter ihr die Betrachtung der lebendigen Abfolge des wahrhaft Individuellen, des historisch Exemplarischen verstanden werden soll.

Zwischen diesen beiden Polen entfaltet sich die eigentümliche Wertbedeutung aller Individuation (151). Durch die doppelte Bezogenheit auf ihre beiden Prinzipien besteht die Ordnung der durch keinerlei Verstandesoperationen antastbaren, unvergleichlichen Gestaltungen des Wirklichen; besteht die lebendige Kette persönlicher Daseinsträger, von der Nacht bloßer, "die Gottheit verhüllender" Natur her, aus der Dämmerung des animalischen Trieblebens heraus, bis allmählich empor in das Licht der absoluten Gottpersönlichkeit. Schon im erkenntnistheoretischen Fortschritt des sinnlichen Wahrnehmungsgefühls zum Verstandeswissen und zu dem die Wahrheit als Norm konstituierenden Vernunftglauben, erwies sich jede dieser drei Äußerungen des Erkenntnistriebes als die jeweilige Offenbarung des Instinkts in der dreifachen Stufenfolge seines eigenen Aufstiegs. Im theoretischen Zusammenhang mußte es aber dabei sein Bewenden haben, daß durch den Hinweis auf den Instinkt, als auf den "ersten Beweger" des Erkenntnistriebes, die erkenntnistheoretische Vorfrage: nach der Herkunft dieses Triebes und nach der Möglichkeit einer Erkenntnis überhaupt, vorläufig beantwortet wurde. Im Wissen handelt es für JACOBI immer nur um eine begriffliche Allgemeinheit. Deshalb bleibt für die Erkenntnistheorie der Instinkt, in der begrifflichen Bedeutung eines allgemeinen Grundgesetzes für das theoretische Verhalten überhaupt, im Hintergrund. Die Aufgabe seiner begriffliche Erfassung im System des Verstandes stellt sich als der Grenzfall der theoretischen Aufgaben selbst dar, und gibt an dieser Stelle bekanntlich dem Verstand Gelegenheit, in der Ahnung der übergeordneten Vernunfteinsicht gleichzeitig sich zu beugen und anzugliedern.

Ganz ebenso bedeutet zunächst der Instinkt auch für die Entfaltung des sittlichen Triebes den ersten Anstoß und zugleich den verborgenen Führer zur sittlichen Vernunftanschauung, zur Ergreifung der Norm im Sittengesetz.

Aber nicht darum wendet sich das Erkennen im theoretischen Vernunftglauben von seinem eigenen Schema ab, und, durch die theoretisch-praktische Doppelbedeutung dieses Glaubens, der willensmäßig-ethischen Beherrschung des Lebens zu, um auch auf dieser Seite seines Verhaltens am Ende nichts wiederzufinden, als was es hinter sich zu lassen trachtete und trachten mußte: einen höchsten Begriff. Als solcher erscheint für JACOBI KANTs reines Sittengesetz. Ist das Höchste in der Wirklichkeit, und die Quelle des Daseins, der Instinkt, wäre nach wie vor nichts anderes, als jener Grenzfall in der mathematischen Kombinationsmethode des Verstandes. In diesem Gedankengang wurzelt JACOBIs Polemik gegen die Kritik der praktischen Vernunft. Gleichzeitig entspringt ihm aber auch positiv die auf praktischem Gebiet neugewonnene Ansicht des Instinktes. Er, der Willensgestalter, der Erwecker und Lenker des sittlichen Triebes, der in der Mannigfaltigkeit zahlloser Formen die Wirklichkeit zum Leben im Licht der Vernunft empor leitet, kann nicht zuletzt in Begriff und Gesetz, wie in einem Rauch, aufgehen. Leben sist nie etwas Allgemeines. Es ist immer die Fülle des gestalteten, einmaligen und besonderen Daseins. Darum kann auch der Instinkt, als ursprünglichste Äußerung des Daseins, auf nichts anderes abzielen, als auf persönliches Leben, gleichgültig, auf welcher Stufe seiner Triebentfaltung auch immer dieses Leben stehen mag.
    "Der Instinkt sinnlich-vernünftiger Naturen hat die Erhaltung und Erhöhung des perönlichen Daseins zum Gegenstand; und ist folglich auf Alles, was dieses befördert, unausgesetzt gerichtet." (152)
Das persönliche Leben beginnt mit dem Daseinstrieb selber und ist nichts anderes, als seine eigentümliche Erscheinungsform. Er ist identisch mit dem Wesen des Individuellen überhaupt. Wo daher ein lebendiges Individuum angetroffen wird, da ist "absolute Begierde" sein Wesen: reiner Daseinstrieb. Die Sinnlichkeit, "das ist der  geheime Handgriff  des Schöpfers" zur Erzeugung des Lebens. (153)

Alle Einzelbegierden, von den primitivsten Äußerungen des organischen Lebens an, sind nichts anderes, als die jeweiligen Äußerungsformen dieser absoluten Begierde der Selbstbehauptung, je nach dem Anlaß und den vielgestaltigen Widerständen des Lebens. In diesem Zustand einer Vielheit der Begierden findet sich die erste sinnliche Erfahrung. Aber die auseinanderstrebende Energie der Begierden bringt es mit sich, daß diese in Verfolgung ihrer Absichten gelegentlich in Widerspruch mit sich geraten, und so den Ablauf des triebhaften Lebens aus sich selber heraus hemmen. Dadurch gelangen sie zu einem, wenn auch noch so dumpfen Selbstgefühl und bewirken, daß sich in diesem Selbstgefühl der Daseinstrieb, die absolute Begierde, als mit sich selber identisch empfindet.

Dieses Identitätsgefühl ist die natürliche Grundlage der Individuation. Denn überall gehören zu seinem Zustandekommen die besonderen Bedingungen eines Zusammenstoßes, "Schranken", wie FICHTE sagen würde, an denen die Einzeltriebe sich gewissermaßen zum Bewußtsein ihrer selbst und ihrer Herkunft aufwecken. (154) Von dieser Selbstbesinnung des "ersten Bewegers" allen Trieblebens aus, die sich in notwendiger Selbstbeschränkung als Individuation begreift, ist dann der zweite Schritt zur notwendigen Einsicht in die Vielheit der Individuen nicht schwer. Er ist eigentlich in der Besinnung auf das Moment der Beschränkung schon geschehen. Auf dieser primitiven Stufe der natürlichen Individuation genügt die bloße Gegenüberstellung eines Subjekts und einer objektiven Außenwelt, um dann aus der erfahrbaren Vielheit und Mannigfaltigkeit der äußeren Einwirkungen und "Beschränkungen" auf eine weitere Spaltung jener Außenwelt in eine Mehrzahl von Individuen schließen zu können.

Durch die Mehrzahl seiner Äußerungen, der Einzeltriebe, sich selbst bestimmender, absoluter Daseinstrieb: das ist der Akt der Individuation; von Fall zu Fall zur Selbstbesinnung gelangter, ursprünglicher, aber durch jenen Akt der Bestimmung "individualisierter" Instinkt: das ist das Wesen des Individuums. Deutlich ist nun, was JACOBI im Entwurf seines Briefes an JOHANN FRANZ LAHARPE, und nirgends in seinen Schriften deutlicher als dort, ausgesprochen hat:
    "Das absolute Wunschverlangen des Individuums ist das Wesen des Individuums. Es ist die Kraft, durch die es ist, was es ist. Wir nehmen diese Kraft nur in den Ergebnissen ihrer Beziehung zu anderen Mächten wahr. Weil die Existenz jedes endlichen Wesens Koexistenz voraussetzt, kann kein Individuum ein Daseinsgefühl besitzen, ohne sich gleichzeitig mehr oder weniger von diesen Beziehungen zu entfernen und ein von ihnen verschiedenes Wesen zu haben. Diese notwendigen Beziehungen sind die Vermittler, die Kuppler seiner Existenz." (155)

    "Jedes Individuum hat daher ein bestimmtes und reales und unendlich relatives Wesen und Existenz; und dieses Wesen des Individuums, zusammen mit seiner Abhängigkeit, nennen wir in den verschiedenen Formen  seine besondere Natur."

    "Die Erhaltung und Verbesserung dieser besonderen Natur ist Gegenstand des absoluten Verlangens des Individuums. (156)
Diese Bewahrung und Verbesserung der Individualität bewirkt der Instinkt mit zunehmender Vollkommenheit durch die allmähliche Emporleitung des Individuums aus seiner bloß sinnlichen Natur auf die Stufe der Erkenntnisfähigkeit und des vernünftigen Willens. Erkenntnistrieb und sittlicher Trieb erscheinen hier nochmals in einer neuen Beleuchtung: sie sind die Mittel, die der Instinkt aus sich selber, seiner trieberzeugenden Natur gemäß, erzeugt, um seiner Aufgabe so vollkommen wie möglich gerecht zu werden. Die Stufenfolge der sinnlichen, verstandesmäßigen und vernünftigen Natur steht demnach in einem wechselweisen, unablösbaren Zusammenhang mit der beabsichtigten Wirkung des Instinktes, Individuen hervorzubringen: Jener Aufstieg der sinnlichen Natur bedeutet nämlich zugleich einen notwendigen Fortschritt in der einzigartigen Bestimmtheit des emporsteigenden Individuums; und es verhält sich in Wahrheit so, daß das mit Verstand begabte, oder unter dem Gesichtspunkt seiner verstandesmäßigen Natur betrachtete Individuum ein Individuum höheren Grades darstellt gegenüber dem nur sinnlich aufgefaßten oder auffaßbaren; und ebenso das vernünftige Individuum gegenüber dem Individuum auf der Stufe der bloßen Verständigkeit: die Wertbedeutung des Individuellen und die intellektuell-moralische Vervollkommnung des Individuums halten von Anfang bis Ende in ihrem Aufstieg gleichen Schritt. Es muß sich deshalb finden, daß auf jeder dieser drei besonderen Stufen des sinnlich-geistigen Lebens die jeweils neu hinzutretende Vermögensart die Fähigkeit besitzt, in spezifischer Weise zur Verschärfung und Erhöhung des individuellen Charakters beizutragen (157).

Die Nachprüfung dieses Sachverhalts erneuert den Zwang, im Schema JACOBIs von Vermögen zu Vermögen fortzuschreiten; dieser Aufgabe sich mit Ausführlichkeit zu unterziehen, das hieße die ganze Problemreihe aufs Neue aufrollen, die aus JACOBIs Erkenntnistheorie und Sittenlehre bisher schon hervorgetreten ist. Dabei käme weder prinzipiell Neues zutage, noch lohnte die Wiederholung eines im Grunde so einfachen Gedankenaufbaus die aufgewendete Mühe. Daher beschränken sich die nachfolgenden Bemerkungen mit Fug auf eine Nachlese, aus der Genügendes gewonnen ist, wenn sie neue Bestätigungen des früher Gesagten verspricht, und wenn neue Streiflichter auf sachliche Zusammenhänge fallen, die prinzipiell schon da und dort einmal zur Erörterung standen.

Im Bereich der sinnlichen Natur hat es sich als die Eigenart der Begierden oder Triebe herausgestellt, daß sie durch ihre Wirkungsweise den Grund der Individuation legen, vermöge jenes Stutzens vor dem selbstgeschaffenen Widerstand. So findet sich demnach im sinnlich-natürlichen Individuum als Basis des Individualitätsbewußtseins das  Gefühl Das Gefühl ist der Ausdruck jenes ersten und primitivsten Garantievertrages, den der Instinkt mit seinen sich zuerst zur individuellen Selbständigkeit ablösenden Wirkungskomplexen, mit seinen noch rein triebhaften Schöpfungen, abgeschlossen hat. (158) Ist es das Wesen sinnlicher Natur, sich durch die Besonderung der Begierden, durch "individuelle Wahrnehmung", zur Individuation zu erheben, so ist der Verstand das Vermögen, durch den Schematismus der Kategorien und der Begriffe zum Wissen des Wahrgenommenen fortzuschreiten. Das Ziel des Verstandes ist also ein System der Erkenntnis nach Begriffen. Wahrheit ist für ihn höchste Allgemeinheit, äußerste Entfernung von jeder Besonderheit, die noch nicht in Begriffe eingegangen ist. - Wie reimt sich ein solches Vermögen zum "désir absolu de l'individu?" [absoluten Begehrungsvermögen des Individuums - wp]

Alle theoretische Erkenntnis ist vorläufig; denn keine Begriffsarbeit, auf jeden noch so beliebig an Umfang geringen Gegenstand der Erfahrungswelt gerichtet, kommt jemals zu Ende. Die extensive und intensive Unendlichkeit des Mannigfaltigen stellt dem Verstand unendliche Aufgaben. So korrigiert sich dann vor allem einmal das scheinbar individuationsfeindliche Wesen des Verstandes selber an dem für ihn  a priori  gegebenen Individualismus des Wirklichen. Es ist gesorgt, daß die Stammbäume der Begriffe nicht in den Himmel wachsen. Die "falsche Tendenz" des Verstandes wird paralysiert durch die vorverständige Zeugungskraft des Instinktes. Aber genügt es, diese Wirkungsweise des Verstandes für die Daseinssouveränität des Individuellen unschädlich gemacht zu haben?

Die Forderung war: daß die Kraft des Instinktwillens mit dem Aufsteigen der Vermögensarten sich gesteigert kundgeben soll, und daß somit für verstandesbegabte Wesen eine gesteigerte Individualisierung stattfinden muß, die zudem ausdrücklich durch die eigenartige Wirkungsweise dieser Vermögensart veranlaßt wird.

Dies findet nun in Wahrheit auch statt. Der Verstand ist aus seiner eigenen Natur heraus der Beförderung der Individuation dienstbar gemacht. Mit seinem eigenen Werkzeug muß er den Zwecken des Instinktes gehorchen.

Dieses Werkzeug ist die Sprache.

Der Verstand hat sich die Sprache nicht erschaffen. Auf ihre Herkunft aus den unmittelbaren Tiefen des Instinkts ist früher ausführlich hingewiesen worden. (159)

Der Instinkt aber, dieser leidenschaftliche Schöpfer der Individuation, hat die Sprache nicht etwa geschaffen, um sie dem Verstand als ein Werkzeug gegen seine eigensten Zwecke auszuliefern.

Die Sprache gestattet zwar allererst das Netzeflechten der Begriffe, ihr Spiel und ihren Pyramidenbau der begrifflichen Erkenntnis; aber sie ermöglicht und veranlaßt gleichzeitig auch den individuellen Ausdruck der theoretischen Resultate:  die Meinung. 

Die Meinung ist der notwendige Repräsentant der Endlichkeit allen Wissens. Endlichkeit aber ist Begrenztheit; und Begrenzung weist hin auf Individuation. Darum ist das Bestehen der Meinung ebenso notwendig, wie die unausgesetzte Wirkung, die von ihr ausgeht: das begrifflich Allgemeine immer aufs Neue wieder zu individualisieren und im Individuellen zu erhalten. Meinung und Gefühl der Person gehören zusammen. Die Gewalt der Meinung ist mächtiger als jeder Kartenhausbau aus Begriffen, Urteilen und Beweisen; denn  "daß jeder Mensch in dem, was ihm Wahrheit ist, sein Leben hat,  hierin hat die Gewalt der Meinung ihren Ursprung." (160)

Der bekannte verächtliche Nebenton, der dem Verbum "meinen" anzuhaften pflegt, besitzt weder Grund noch die geringste Rechtfertigung. Diese vornehme Geringschätzung der Meinung ist von Jenen aufgebracht, die in der sonderbaren Anmaßung des Verstandes blindlings gefangen geblieben sind, zu "meinen", daß sich mit dem Verstand ein  absolutes  Wissen, ein "wissenschaftliches" Wissen, wie sie es zu nennen lieben, erreichen lasse. Von dieser Anmaßung des Verstandes, von seinem Absolutheitsdünkel, ist an seinem Ort die Rede gewesen (161); und die Wurzeln dieses seines Wesens sind aufgedeckt worden.

Demgegenüber ist es Aufgabe der Kritik, den Verstand und seine Leistungsmöglichkeiten in seine Schranken zu weisen. Diese Schranken liegen in ihm selber und in der Wirklichkeit: hier in der unendlichen Ausdehnung des Gegenstandes, dort in der Endlichkeit der Natur; beide Male also im Urgeheimnis des Individuellen.

KANT hat diese kritische Selbstbestimmung des Verstandes erschöpfend geleistet.

Wer daher unter "Meinung" nicht eben jedes gedankenlose in den Tag hinein Reden, sondern vielmehr die persönliche Überzeugung von einer Sache versteht, die mit dem Verstand geprüft worden ist, für den muß auch gelten, daß "alle Meinungen im Schoß der Wahrheit empfangen worden sind, alle Wahrheiten im Schoß der Meinung." (162) Denn Verstand und Sprache sind ihre Erzeuger, und beide sind absolute Mächte des Wirklichen. So sind "die höchsten Grundsätze, worauf sich alle  Beweise  stützen, unverkleidet bloße Machtansprüche, denen wir ...  wie dem Gefühl unseres Daseins  glauben." (163)
    "Daß Begriffe, Urteile und Regeln, die wir durch Beweis empfangen, wenn sie wirksam in uns sein, sich als eine Kraft in uns beweisen sollen, erst die Natur des  Vorurteils annehmen, oder wieder erhalten, eine  persönliche Meinung oder Fertigkeit in uns werden müssen, ist eine alte Bemerkung." (164)
Würde und individualisierende Bedeutung der Sprache drücken sich deutlich im Wesen der Meinung aus; aber auch Sprachverderb und Sprachkritik nehmen von hier ihren Ausgang: neben der individualistisch beschränkenden Wirkung der Meinung tritt ihre eigene Beschränktheit zutage. Es zeigt sich neben dem Wert des Individuellen gleichzeitig und zum erstenmal auch seine  Gefahr.  Die allzu individualistisch betonte Meinung droht in begrifflicher Verstocktheit oder Skurrilität zu enden: "Die Sprache bleibt die alte Schlange, die sie schon im Paradies war." - Und außerdem:
    "Es geht eben den Sprachen, wie den Leibern; sie sterben von der Fortsetzung ihres Lebens, und es gibt für sie, wie überhaupt, kein Mittel, den Geist zu erhalten, außerhalb des Geistes. Wie das Nichtachten hierauf uns vornehmlich in der Philosophie, der eigentlich sogenannten (d. h. in der "begrifflichen"), täuscht, und uns glauben läßt, wir wären obenauf, dieses hoffe ich noch einmal recht ins Licht zu setzen", schreibt Jacobi im Hinblick auf dieses Problem an Herder. (165)
Für solche Gefahren freilich liegt in der Natur des Verstandes selbst wieder die abwehrende Kraft, der wertbefestigende "Geist".

Denn zuletzt zielt doch alle Meinung dahin zurück, woher sie stammt: auf den Erkenntnistrieb und das Wissen, damit aber auch auf die Allgemeingültigkeit einer begrifflichen Theorie. "Alle unsere Theorien und Systeme aber verhalten sich zu Wesen und Wahrheit, wie sich die Sprache zur Vernunft, der Leib zur Seele - mit einem Wort: der Buchstabe zum Geist verhält." (166) Das ist dem Verstand als  Ahnung  gegeben. Mit ihr schwingt er sich auf zur anschauenden Vernunft.

Nicht weniger erlebt das "verständigte" Individuum seine Grenzen in sich selber und den Anstoß zu ihrer Überwindung in der Ahnung.

Die persönliche Meinung, die zur unpersönlichen Theorie hinstrebt, ist ein unlösbarer Widerspruch, eine Antinomie im Geist der Sprache. Und noch mehr. Das Wesen des Individuums scheint sich selber aufzuheben, sobald es im Verstand zu seiner begrifflichen Selbsterfassung fortschreitet. Ein vollkommen begriffenes Individuum ist um nichts besser, als ein hölzernes Eisen.

Aber in der Ahnung des Lebendigen über dem Begriffenen, des Unmittelbaren hinter dem Gewußten, überwindet die individuelle Meinung sich selber, samt der Gefahr der Stagnation.

Die Individuation des Erkenntnistriebes setzt sich fort in den Individuationen des sittlichen Triebes. Das sittliche Individuum ist die notwendig abschließende Vollendung des erkennenden Individuums, das sich in den Überzeugungen einer persönlichen Meinung die geistige Basis geschaffen hat.

Das Wesen der Vernunft ist reine Anschauung; nichts Lebendiges erstarrt in ihrem Licht zu begrifflicher Abstraktion. (167) Es leuchtet daher ein, daß das Wesen des Individuellen sich in ihr vollenden muß. Denn vom eigenen  Wissen von der Meinung, muß das Individuum fortschreiten zum eigenen  Leben.  Vom Selbst gefühl  in der Sphäre des Sinnlichen, in dem das Individuum zuerst sich selber erwacht, führt sein Weg durch das Selbst bewußtsein  hinauf zur Selbst bestimmung. 

"Selbstbestimmung ist der Charakter des Menschen." (167a) Ein Individuum aber, das nicht allein in Gefühl und Wissen von sich selber, sondern auch in den lebendigen Äußerungen seines Daseins, das heißt: in seinem Wollen und Handeln, die Bestimmungsgründe aus sich selber, sondern auch in den lebendigen Äußerungen seines Daseins, das heißt, in seinem Wollen und Handeln, die Bestimmungsgründe aus sich selber schöpft; ist im höchsten Sinne des Wortes  Persönlichkeit Die lebendige Persönlichkeit ist das vernunftvollkommene Individuum.

Hier ist es Zeit, sich des Ursprungs aller Individuation, und also auch aller Persönlichkeit, zu erinnern: in der Urkraft des Instinkts nimmt sie ihren Anfang, und die ganze Stufenfolge der Individuationen ist die aufsteigende Reihe seiner Selbstoffenbarungen im Dasein. In der vernünftigen Persönlichkeit aber hat der Instinkt sich durchaus selber bestimmt. Er hat sich im ganzen Umfang der menschlichen Vermögensarten mit historischer Einmaligkeit manifestiert. In ihm, dem Wahrheitsgrund aller lebendigen Wirklichkeit, ruht demgemäß auch die vollkommene, praktische Wahrheit, der ethische Wert des Lebens. Wo er sich daher im Dasein zu der Einmaligkeit einer vernünftigen Person bestimmt, da trägt diese Selbstbestimmung ohne weiteres den Charakter absoluter Sittlichkeit.

Gleichzeitig mit der Aufzeigung des Instinkts als des  a priori  der sittlichen Normbildung, hat dieser Nachweis auch den Fortschritt angezeigt, der von der allgemeinen Vernunfteinsicht des Sittlichen hinüberleitet zur Einsicht in das Wesen der sittlichen Individuation: die Geschichte der Moral ist die philosophische Menschheitsgeschichte.

Der Entwicklungsgang der sittlichen Menschheit beginnt mit einigen wenigen, ganz groß angelegten Individuationen: mit den Heroen der Menschheit. In ihren Gliedern schreitet er allmählich höher empor, bis die sittliche Individualität, die Persönlichkeit als sittliches Ideal mit Bewußtsein ergriffen werden kann. Der Sieg der Vernunft über Sinnlichkeit und Verstandesgesetze auf praktischem Gebiet ist die Geburt der Persönlichkeit. Im Rahmen ihrer Kräfte und Wirkungen breitet sich aus, was Gegenstand einer höheren Sittenlehre zu werden vermag.

5.  Die starke Persönlichkeit.  Lebendige, sich selber bestimmende Persönlichkeit ist so stets  sittliche Persönlichkeit  kat exochen [schlechthin - wp]. Das Wesen ihrer absoluten Selbstbestimmung ist ursprüngliches und vollkommenes Ruhen im Urtrieb des Instinkts, ist im eigentlichen Sinne und durchaus  genial. 

Alle Kräfte dieses Ursprungs sind auch die Kräfte ihrer Entwicklung und ihrer Vollendung, und darum ist die vollkommene, sittliche Persönlichkeit durchaus stark, souverän, schöpferisch und heroisch: sie ist mit einem Wort, wie es ja genau im Entwicklungsplan der fortschreitenden Individuationen liegen mußte, schlechthin absolut, durchaus und nichts anderes mehr, als eine unvergleichliche und unwiederholbare Person. Und eine solche Personalität ist die unmittelbarste Aufgabe der Wirklichkeit. Mensch sein heißt, Persönlichkeit anstreben und Person sein im vollen Umfang der Wortbedeutung.

Mit allem Feuer seines Vortrags betont JACOBI wieder und wieder die grundsätzliche Bedeutung dieser seiner Auffassung vom Wesen der Persönlichkeit für den ganzen Zusammenhang seiner Philosophie. "Mir ist Personalität α und ω", schreibt er an LAVATER (168); und: "Wer Persönlichkeit in meinem Sinne nicht gelten läßt, der kann auch meine Philosophie nicht gelten lassen, ich bin kein Mann für ihn, meine Lehre ist keine Lehre für ihn." (169)

Persönlichkeit ist alles. Unmittelbar und genial anschauende Erfassung der Wirklichkeitswerte ist die eigentlich letzte Aufgabe des vollkommenen Daseins. Der Vernunftstandpunkt scheint fürs Erste die Erreichbarkeit dieser vollkommenen Individuation zu gewährleisten. Das sinnlich dumpfe Ich-Gefühl hat sich zum erkennenden Selbstbewußtsein erweitert; die antinomistische Beschränkung der Individuation durch die begriffliche Verallgemeinerungstendenz des Verstandes ist in der anschauenden Vernunft überwunden. Es ist die spezifische Wirkungsweise des Vernunftvermögens, das Individuum zur tatsächlichen Unvergleichbarkeit emporzuheben. Kein allgemeines Schema, kein nivellierendes Gesetz durchkreuzt mehr die Absicht der vollendeten Individuation.

Aber gerade in ihrer endgültigen Erfüllung bereitet sich diese Absicht gewissermaßen die letzte und zugleich die größte Schwierigkeit. JACOBIs Philosophie des Lebens und der durchgehenden, lebendigen Individuation läuft Gefahr, in eine Philosophie des Individualismus und, letzten Endes, des absoluten Relativismus auszumünden. Beschränkt auf die Idee der sittlichen Individuation, erscheint somit als die Konsequenz der drei sich selbst bestimmenden, sittlichen Persönlichkeit die ausdrückliche Bestätigung einer persönlichen Verhaltensweise nach Gutdünken, einer Moral der Willkür, der souverän entscheidenden, sittlichen Genialität.

JACOBI hat sich dieser Konsequenz keineswegs überall einwandfrei entzogen. Aber, je nach Umständen, war es auch gar nicht seine Meinung, sich ihr entziehen zu wollen.

Seine Haltung in dieser Frage ist vielmehr im höchsten Grad bezeichnend für die durchaus eigentümliche Stellung, die JACOBI in seiner Zeit einnimmt. Eine durchgeführte Betrachtung der Art und Weise, wie JACOBI sich im Lauf seines Lebens mit dem Problem des genialen Individualismus auseinandergesetzt hat, könnte nahezu als eine monographische Darstellung seiner Philosophie im Kleinen gelten.

Mit seiner ursprünglichen Hinneigung zu den betonten Werten der Personalität und mit seiner Abneigung gegen jede schematisierende, Gesetze gebende und dogmatisierende Theorie fühlt sich JACOBI in innigster Übereinstimmung mit HAMANN und mit der Mystik überhaupt, der zu allen Zeiten die Stimmung einer der Erkenntnis gegenüber skeptischen, genialen Lebensunmittelbarkeit nahegelegen hat.

Durch JACOBIs Persönlichkeitsphilosophie hindurch klingt unaufhörlich die Mahnung des ANGELUS SILESIUS:
    "Mensch, werde wesentlich; denn wenn die Welt vergeht,
    so fällt der Zufall weg, das Wesen, das besteht."
Gleichzeitig entwickelte sich aber auch das Denken JACOBIs im lebhaftesten Austausch mit den grundlegenden Gedanken des kritischen Idealismus. JACOBI war stets beflissen, alle Teile seiner Lehre, so gut es nur irgend gehen mochte, der Denkungsart dieser ihm zuletzt doch am meisten wesensverwandt erscheinenden Philosophie anzupassen und womöglich unterzulegen. Daher gewann JACOBI jenen vielfältigen Zusammenhang mit den meisten seiner philosophischen Zeitgenossen. Ganz besonders aber gewann er auf diese Weise und gerade mit demjenigen Teil seiner Lehre, der seine Persönlichkeitsphilosophie ausmacht, jene bedeutsame Stellung, die ihn zum Lehrer und eigentlichen Vorläufer der Romantik gemacht hat. Die grundsätzliche Bedeutung seiner Gedanken für diese Epoche deutscher Geisteskultur scheint wohl noch nicht genügend gewürdigt zu sein. Vielleicht den größten Vorrat an begrifflicher Scheidemünze, womit die Romantiker ihre mit so großer Kühnheit ausgestellten philosophischen Wechsel einzulösen versuchten, haben die philosophischen Formulierungen JACOBIs liefern müssen.

Es ist leicht erklärlich, daß JACOBI in seinen jüngeren Jahren, als der Genierausch im Freundschaftsbund mit GOETHE kaum erst ausgebraust war, am rücksichtslosesten geneigt war, diese Geniemoral, die in der Konsequenz seiner Grundanschauungen zu liegen schien, nur so kurzhin auf sich selber gestellt, zu behaupten und zu verfechten. Es ist der Verfasser von  Allwill  und von  Woldemar,  der mit solchen Behauptungen sowohl der rationalistischen Auklärungsmoral, wie auch den kantischen Rigorismus nur erst einmal mit kühnem und entschiedenen Widerspruch gegenübertreten will, mehr zum Trotz gemeint, als zum kritischen Abwägen. In den beiden Romanen finden sich dann auch vorzüglich jene kraftgenialischen Aussprüche, die herhalten müßten, wenn man aus JACOBIs Persönlichkeitsphilosophie jenen bedenklichen, ethischen Individualismus herleiten wollte, der ihm nicht eben selten zum Vorwurf gemacht worden ist. (170)

"Selbstbestimmung, Freiheit ist die Seele der Natur, und auch - dier Erste Quelle aller Gesetze, Sitten und Gebräuche" (171): Von diesem Grundsatz aus beurteilt sich ebensosehr jede Äußerung der sittlichen Persönlichkeit, jede Handlung im Leben, jede Tat in der Geschichte, wie sich von ihm aus der Wert der Form bestimmt, unter der jene Handlungen stattfinden. Sei diese Form nun das Moralgesetz, der Brauch, oder die moralische Revolution.

Oberster Richter in allen Fragen der praktischen Philosophie ist die geniale Persönlichkeit. Das Sittengesetz ist im besten Fall ihr Werk, niemals aber ihre Aufgabe, eine prinzipiell übergeordnete Norm, im Sinne KANTs. JACOBIs Polemik gegen KANTs Ethik fließt, von hier aus gesehen, wie es scheint aus einer vollkommenen Umkehrung des Standpunkts. Nicht die Norm offenbart, im Maß ihres erzieherischen Einflusses auf den sittlichen Charakter, die sittliche Größe des Menschen, sondern das sittliche Genie offenbart, wirkt und erzeugt die Norm. Und sie gilt nur, solange ein neues Genie ausbleibt, das in neuer Auswirkung vielleicht eine noch höhere und vollkommenere Offenbarung der Vernunft gewährleistet. Vielleicht, - wie alles Geniale unberechenbar ist. Weder Leugnen noch Prophezeien hat hier einen Sinn. Ist aber die nur durch sich selber bestimmte Persönlichkeit nicht wenigstens in den Grenzen ihres eigenen Wirkens gebunden an die Einmaligkeit der geoffenbarten Form des Sittlichen? Wird ihr nicht wenigstens auf diesem Weg schließlich ihre eigene "Schöpfung" zur Regel, zur verbindlichen, autonomen Gesetzgebung? Oder überspringt die Genialität der sittlichen Persönlichkeit sogar ihre selbstgeschaffene Form? - Und bis an diese äußerste Grenze reicht die Antwort JACOBIs:
    "Allerdings verändert der vortreffliche Mann - nicht eben seine Grundsätze, sondern wohl nur sein Verhalten  nach diesen Grundsätzen, wie es Zeit und Umstände von ihm fordern; allerdings schreibt er seine Pflichten, nach eigenem Gutfinden, sich selber vor, und muß oft, indem er immer nur dasselbe will, im äußerlichen von sich selbst verschieden scheinen; allerdings hat er alles getan, was er soll, wenn er nur beständig, einig mit sich selbst, sich selbst gefallen kann." (172)
Man kann der Vorsicht des "nicht eben" und "wohl nur" jede gebührende Beachtung schenken, und wird sich dennoch nicht des Eindrucks erwehren können, als sein in diesen Sätzen geradezu das Alarmzeichen zu den Proklamationen der wildesten und unter den souveränen Romantikern gegeben. Weder geistige noch bürgerliche Bevormundung duldet die Majestät der Person, und wo darum JACOBI Anlaß hat, das Gebiet der Politik und des Rechts zu streifen, läßt die Deutlichkeit seiner Stellungnahme nichts zu wünschen übrig. Nicht uninteressant in diesem Zusammenhang ist sein gelegentlicher Angriff auf WIELAND. WIELAND hatte im  Deutschen Merkur  bekanntlich jenen Aufsatz veröffentlicht (173), der, wie es sich versteht, mit dem abgebrauchten Argumentenvorrat der Aufklärung die ethische Berechtigung der absolutistischen Staatsordnung wohlweise demonstrierte, dabei aber merkwürdig nahe an HEGELschen Gedanken vorbeistreifte, wenn er zum Beispiel ausführte: "Alle und jede Rechte sind auf gleiche Weise im höheren Recht der Natur der Dinge und der Notwendigkeit gegründet", und wenn er zu beweisen suchte, "daß alles recht ist, was wirklich geschieht, und daß nichts unrecht ist, als das, was nicht geschehen kann". (174) JACOBIs außerordentlich scharfe Kritik dieser Ausführungen WIELANDs müße mit der Notwendigkeit auch HEGELs Lehre vom Vernünftigen alles Wirklichen mittreffen; und es ist an dieser Stelle aufs Neue ein Einblick in das sonderbare Verhältnis möglich, in dem sich JACOBI durchgehends zum kritischen Idealismus befindet: eine tiefe Verwandtschaft, selbst in den Grundprinzipien, findet ihre Schranken und geht in Feindseligkeit über, wo der theoretische Geist sich der Tatsachen des Wirklichen unmittelbar bemächtigen will und wo somit der Grundsatz der Superiorität [Höherrangigkeit - wp] der Individuation über die Abstraktion durchbrochen wird. Gegen WIELAND mußte JACOBI einen leichten Sieg behalten; seine Polemik gegen diesen schließt mit den bezeichnenden Worten:
    "Unverletzliches Eigentum der Person, und freier Genuß des Seinigen! - Welcher Elende darf einem Mann von Verstand hierfür Ersatz bieten? Krümmen wird er sich vor Ekel vor dem Gecken, und böte ihm dieser in seinen Händen alle Schätze von Golkonda!" [Schatzkammer des britisch-indischen Fürstenstaates Hyderabad - wp] (175)
Es versteht sich, daß JACOBI in der Entschiedenheit seines Standpunktes nicht schwankend wird, bei der Erwägung, daß die Durchbrechung des Herkommens in Sitte und Satzung durch das sittliche Genie unter Umständen nicht vonstatten gehen kann, ohne Gewalt. Ja, am Ende nicht einmal ohne eine gewisse, vorübergehende Störung der geraden Linie, in der sich der sittliche Aufstieg vollziehen soll. Konflikte sind auf dem Gebiet des Sittlichen bis zu einem gewissen Grad nicht ausgeschlossen. Es ist JACOBIs zugestandene Meinung, "daß sich eine Folge von heroischen Handlungen, ein  Heldenleben,  ohne Gewalttätigkeit schwerlich denken läßt"; und die Frage ist nur, "ob darum dem Heroismus schlechterdings der Stab gebrochen werden soll." (176)

Die Frage muß verneint werden. Denn das Ärgernis der Unmündigen, die am Herkommen hängen, wiegt geringer, als der sittliche Kulturfortschritt der Menschheit; und wo diesem die Sitte feindlich wird, da wirkt sie statt des Guten Böses. Das Hergebrachte, sagt JACOBI mit TERTULLIAN, hat unsern Herrn ans Kreuz geschlagen. Aber neben dem Kirchenvater ist ihm, sofern er sich nach Bestätigungen seiner Ansicht umsehen zu müssen glaubt, die Autorität des englischen Aufklärungsphilosophen EDMUND BURKE nicht weniger willkommen als die MACCHIAVELLIs: große und weise Männer haben zu allen Zeiten behauptet, "daß es Fälle gibt, wo die heiligen Bildnisse der Gerechtigkeit und Milde für einen Augenblick verhüllt werden müssen. Die Moral selbst unterwirft sich alsdann einer vorübergehenden Hemmung ihrer Gesetze,  damit  ihre Prinzipien erhalten werden." (177)

Was sich aus einer solchen Denkungsart Gutes und Schlimmes folgern läßt, liegt auf der Hand. Und es möchte zunächst so scheinen, als ob das Schlimme überwiegt. Denn diese Geniemoral legt alle Schranken nieder zugunsten einer Selbstbestimmung der Person, die ihren sittlichen Charakter von keinem Gesetz herleitet, das außerhalb ihrer eigenen Natur gelegen wäre. Damit verzichtet sie aber offenbar auf einen objektiven Maßstab der Beurteilung, auf eben jene allgemeingültige Verbindlichkeit, die KANT für das Sittengesetz in Anspruch genommen hat, und mit ihm jeder Denker, der ein kritisches, das heißt wissenschaftliches System der Ethik darzustellen unternimmt.

Dieser Verzicht liegt durchaus in der Konsequenz des jacobischen Gedankengangs: ist sittliches Dasein und Handeln an ein ethisches Wissen gebunden, dann allerdings muß das Maß aller Dinge der Moral ein übergeordneter Begriff, ein Gesetz sein, dessen moralische Allgemeinverbindlichkeit sich nur vermöge des Freiheitswunders von der natürlichen Allgemeingültigkeit der Naturgesetze unterscheidet. Aber ein solcher Gesetzesbegriff ist immer nur das Höchste im Verstand. Der Standpunkt des Sittlichen bedeutet seine Überweindung durch die Vernunftanschauung. Die Sittlichkeit der freien und vernünftigen Person kann sich also nicht auf einen noch so hoch ins Absolute gesteigerten Begriff des Verstandes gründen. Noch mehr: das Gegenteil der beabsichtigten Wirkung ist die Folge der verstiegenen Abstraktionen. Denn die formale Steigerung der Begriffe bedeutet jedesmal nur die Steigerung ihrer inhaltlichen Leere. Dazu ist aber die Fülle des vollkommenen Lebens der äußerste Widerspruch; und niemals kann das absolute Nichts die absolute Wirklichkeit bestimmen und regieren.

Bindet man demnach die Idee der Sittlichkeit, als eines objektiven Wertes, an die Bedingung einer höchsten objektiven Erkenntnis, die dann, nach der Natur der Sache, als ein objektives Gesetz hervortreten muß, so verschwindet allerdings diese Idee einer Sittlichkeit vollkommen und der Begriff der sittlichen Persönlichkeit wird mehr als problematisch; er löst sich in Widersprüchen auf.

Dies wäre genau das Schicksal einer verstandesmäßig aufgefaßten Geniemoral, eines ethischen Meinens, dem die Souveränität der moralischen Begriffsbildung ebensosehr zum Verderb gereicht, wie dem theoretischen Erkennen der willkürliche Mißbrauch und Verderb der Sprache.

Nun aber ist der Verstand, und damit alle Moral,  niemals  genial. Darum ist es gut, schon in den Worten sorgfältig zu unterscheiden. Das Wort  Geniemoral  ist ein bewußter, oder unbewußter Betrug der Sprache. Denn eine "geniale Moral" könnte immer und überall nur hinauslaufen auf eine Zucht- und Zügellosigkeit der Begriffe, und also am Ende auf Torheit und Aberwitz. Ganz anders verhält es sich demgegenüber mit der Idee der genialen Sittlichkeit. Der Begriff der Genialität, wie er sich im Lauf der Darstellung ganz von selber dem Begriff der Vernunftsittlichkeit angeschlossen hat, bedeutet die Ursprünglichkeit und vollkommene Unabhängigkeit der sittlichen Individualität in ihren Motiven von irgendeiner objektiven Gegebenheit, die auf dem Weg des Lernens oder irgendeiner sonstigen, erkenntnismäßigen Mitteilung an das sittliche Bewußtsein herangetragen werden könnte. In diesem Sinne ist die sittliche Persönlichkeit ohne Lehrer und Belehrung, gänzlich auf sich selber gestellt und in allen ihren Äußerungen eine vollkommene, unvergleichliche und niemals in ähnlicher Bildung wiederkehrende Individualität. JACOBI ist es Ernst mit der Behauptung vom Wert der Individuation, bis zu den äußersten Konsequenzen.

Angesichts dieser Tendenz, den Prozeß der Individuation bis in die Idee des Sittlichen selber hineinzutragen, erhebt sich die entscheidende Frage nach der objektiven Bedeutung dieser Idee. Eine Idee von bloß persönlich-subjektiver, als willkürlicher Bedeutung, ist ein Widerspruch in sich selber. Wenn mit ihrem Begriff ein Sinn verbunden werden soll, so muß sich auch diese Idee am Ende doch in irgendeiner Weise auf ein Maß, auf eine objektive Norm beziehen, von der sie einen objektiven Gehalt empfängt und die ihr die Macht verleiht, der Verhaltensweise sittlich-vernünftiger Personen im Einzelfall Regel und Richtung zu geben.

Wo läßt sich ein solches Maß finden, nachdem ausgemacht ist, daß ein formales Gesetz dieses Maß nicht sein kann? Um auf diese Frage die Antwort zu finden ist es notwendig, sich darauf zu besinnen, daß sowohl die Grundlage aller Individuation, wie auch alles praktische Wirken, das wirkliche Dasein, das Leben selber ist. Alle Dinge und alle Personen sind im Leben; und so ist auch zunächst und in einem unbedingten Sinn das Leben notwendig das Maß aller Dinge. Freilich, das Leben als bloße, vollkommene Wirklichkeit, als bloßes lebendiges Geschehen und als unendlicher, unterschiedsloser Ablauf, kann so wenig das Maß eines vernünftigen Einzelentschlusses und einer sittlichen Einzeltat werden, wie ein abstrakter Gesetzesbegriff das Maß des wirklichen und lebendigen Lebens. Dieser stammt aus dem Erkennen und Wissen und stellt sich, in Gestalt der letzten und höchsten Leistung dieser menschlichen Vermögensart, dar als die  reine Form  der Beurteilung, die aufgrund der Beziehung zwischen Norm und Einzelfall stattfinden kann. Die bloße Tatsache der unendlichen Lebensfülle aber kann andererseits als die höchste Leistung immer nur den ganzen Umfang des Wirklichen selber aufweisen; und insofern sich in ihm jedes größte und jedes kleinste Geschehen abspielen muß, stellt es sich dar als der  reine Inhalt,  auf den sich alle Beurteilungen in den Wertverhältnissen zwischen Norm und Einzelfall beziehen müssen.

Das höchste Maß des sittlichen Verhaltens kann weder ohne Inhalt noch ohne Form sein. Es muß Form und Inhalt, Wissen und Leben in sich vereinigen, wie die sittlichen Individuen selber, für die es das Maß ist: das höchste Maß ist also nicht ein totes Gesetz und kein blindes Fatum, sondern notwendig ein lebendiges Bewußtsein, eine höchste sittliche Person. Ein Mensch kann diese Person nicht sein. Denn die endlichen Individuationen sind, ohne ein Merkmal prinzipiellen Wertunterschiedes, alle gleichermaßen ursprünglich, frei und in ihren Wirkungen beschränkt durch die unendliche Vielzahl ihrer Nebenindividuen. Gesetzt, ein Mensch vermöchte die Bedingung zu erfüllen, in vollkommener Erkenntnis den höchsten formalen Ausdruck für die Möglichkeiten der sittlichen Wertbeziehungen zu finden, so bliebe ihm doch versagt, der anderen Bedingung je gerecht zu werden, die an die Fähigkeit, als sittlicher Gesetzgeber aufzutreten, geknüpft ist: gleichzeitig den ganzen Umfang des Wirklichen auszufüllen und mit der Summe seiner Wirkungen das ganze, lebendige Dasein selber darzustellen.

Das Maß der Dinge ist darum nicht der Mensch; aber notwendig doch seine Person. Und zwar die Person, die das absolute Leben selber auf irgendeine Weise mit dem absoluten Selbstbewußtsein in sich vereinigt. Eine höchste, absolute Persönlichkeit, vollkommen unvorstellbar und unbegreiflich für jedes menschliche Ermessen; aber darum nicht weniger unentbehrlich, unleugbar und unentrinnbar vor Augen gestellt jedem menschlichen Versuch, das Leben sinnvoll auf irgendwelche Werte zu beziehen. Eine solche absolute Person nennen wir Gott.

6.  Die Persönlichkeit Gottes.  
    "Das vernünftige Wesen ist vom unvernünftigen durch einen höheren Grad des Bewußtseins, folglich des Lebens, unterschieden, und dieser Grad muß in demselben Verhältnis steigen, wie das Vermögen steigt, sich von anderen Dingen extensiv und intensiv zu unterscheiden. - Gott unterscheidet sich von allen Dingen auf das vollkommenste und muß die höchste Persönlichkeit, und allein eine  ganz reine Vernunft besitzen." (178)
In diesen Worten begründet und erschöpft sich zugleich JACOBIs ganze Theologie. Die nächstliegende Frage: wie sich eine, den ganzen Umfang der lebendigen Wirklichkeit und des Bewußtseins umspannende, persönliche Intelligenz neben der dinghaften und lebendigen Vielheit der endlichen Personen denken lassen soll, begegnet dem Hinweis auf die Unerforschlichkeit des göttlichen Wesens, welches das Urgeheimnis allen Daseins in sich birgt. Dieser Hinweis verstärkt sich durch die Gegenfrage, wie eine höchste Intelligenz ohne das Merkmal der höchsten Personalität gedacht werden soll; denn der Annahme einer solchen höchsten Intelligenz könne sich zuletzt doch keine Philosophie ganz entziehen. JACOBI, der von dem Gedanken ausgeht, daß "alle wahrhaft wirklichen Dinge  Individua  oder einzelne Dinge sind" ((179), verirrt sich in der Steigerung dieses Gedankens auf eine merkwürdige Weise in die Denkungsart eines scholastischen Realismus, indem er nun zu folgern fortfährt: daß Gott, als  ens perfectissimum,  notwendig auch  ens realissimum  sein muß.

Hier ist in der Tat die schwächste Stelle der Philosophie JACOBIs. Alle Angriffe, die seinem System mit Erfolg zu Leibe gegangen sind, haben hier ihren Ausgang genommen. Denn hier offenbart sich plötzlich ein Stück SPINOZA mitten in dieser spinozafeindlichen Lehre. Mehr als das; hier zeigt sich der ungelöste und im Zusammenhang dieses Systems wohl auch unlösbare Rest eines durchaus vorkritischen, rein verstandesmäßigen Begriffsrealismus. Ein Rest, der in dieser Vernunft- und Wirklichkeitsphilosophie wie der fremde Zeuge einer vergangenen Epoche des Denkens unvermittelt und unverbunden stehengeblieben ist. Es ist dasjenige Element in seiner Philosophie, das JACOBI gezwungen hat, angesichts der Fortentwicklung des nachkantischen Idealismus, trotz so vieler und entscheidender Berührungspunkte mit dieser Philosophie und den bedeutendsten unter ihren Vertretern, abseits zu treten und auf einem verlorenen Posten auszuhalten; ihn, der von Anfang an und aus großen Verdiensten um den Fortschritt des Gedankens in seiner Zeit mit an erster Stelle berufen schien, die Einsichten einer grundsätzlich anderen und neuen Art der Wirklichkeitsbeurteilung dem absterbenden Zeitalter der Aufklärungsphilosophie gegenüber zu behaupten und ihr zur breiten Wirkung zu verhelfen. Es wäre nun denkbar, daß dieses einsame Rudiment einer im Grunde so ganz anders gearteten Gedankenwelt sich auf eine Stelle im System festlegen ließe, so daß man es, nachdem man es einmal als Fremdkörper begriffen hat, reinlich umgehen und auf sich beruhen lassen könnte. Dem ist aber nicht so. Vielmehr durchdringt dieser eine Fehler in der Berechnung den ganzen Plan und Aufbau des philosophischen Systems, in dem alle Denkmotive so eng miteinander verflochten sind und durch die gemeinsame Bezogenheit auf einen zentralen Gesichtspunkt in einer bestimmten Art von gegenseitiger Abhängigkeit angeordnet erscheinen. Soll daher in die möglichst durchsichtige Darstellung der trotz alledem einheitlich erlebten Weltanschauung dieser Philosophie nicht eine unauflösliche Verwirrung getragen werden, so ist es notwendig, wie bisher, so auch im Folgenden nach Möglichkeit von dieser gedanklichen Gegenströmung abzusehen, und das Versäumte dort nachzuholen, wo zur Philosophie JACOBIs in ihrer Gesamtheit kritisch Stellung genommen werden soll. In den Briefen über die Lehre des SPINOZA sagt JACOBI: "Die Frage war, ob die Ursache der Welt, das ist, das höchste Wesen, bloß eine ewige, unendliche Wurzel aller Dinge, eine  natura naturans  [naturende Natur - wp], eine erste Springfeder, oder ob sie eine Intelligenz ist, die durch Vernunft und Freiheit wirkt; und da war meine Meinung: diese erste Ursache ist eine Intelligenz." (180) "Von einer Intelligenz ohne Persönlichkeit" aber "hatte ich keinen Begriff". Und da nach allgemeinem Sprachgebrauch der Name  Gottes  doch in der Tat etwas anderes bezeichnen soll, als eine solche mechanische Springfeder, so wünscht JACOBI in diesem Punkt eine ehrlichere, philosophische Sprache. "Nach meiner Einsicht", erklärt er, "ist es nicht gut, den Namen Gottes auch einem  nicht lebendigen  oder  nicht persönlichen  Gott, der nur ist, der da ist, ohne sich selbst sagen zu können,  ICH bin der ICH bin,  einem ärmeren Wesen, als das ärmste unter den Lebendigen, beizulegen." (181) Denn in Wahrheit verhält es sich so, daß ohne das Dasein eines persönlichen Gottes, der "durch Verstand und Willen die Ursache der Natur" ist, der ganze Prozeß der Individuation undenkbar wäre. Dieser Prozeß nimmt seinen Ausgang von der Individuation des Instinktes, und dieser wieder bedeutet nichts anderes, als die Offenbarung eines persönlichen Willens, der sich in Gefühl, Ahnung und Glauben dem fortschreitenden Bewußtsein der Individuen mitteilt. Der Instinkt hat Personalität nicht nur zum Gegenstand, sondern er geht aus von Personalität. So allein begreift sich auch die Tatsache "eines unstreitig vorhandenen, kategorischen Imperativs der Sittlichkeit, seines Vermögens und Unvermögens" (182): Er ist  zwischen  die Gesetzesmoral des Verstandes und die freie geniale Sittlichkeit der Vernunft gestellt als der ethische Ausdruck jener höheren  Ahnung,  deren der Verstand vermöge der emporziehenden Kraft des Instinktes eben noch fähig ist; und die dazu berufen erscheint, den Individualismus der  Meinung  hinüberzuleiten zu einem Individualismus der sich selbst bestimmenden, sittlichen  Überzeugung.  Im Begriff des  "autonomen  Sittengesetzes" kommt dieser Übergangscharakter der verstandesmäßig geahnten, sittlichen Autonomie oder Genialität unmittelbar zum sprachlichen Ausdruck. Gleichzeitig erweist sich aber von hier aus auch die Befürchtung als hinfällig, daß die so begründete sittliche Autonomie in irgendeine Art von Willkür ausarten könnte. Das Maß aller persönlichen Eigenüberzeugungen ist in der allervollkommensten Persönlichkeit Gottes und die Äußerung ihres heiligen Willens in der Offenbarung des Gewissens deutlich vor uns aufgestellt. Eine Genialität, die aus dem göttlichen Urgrund selber entspringt, kann nicht auf Abwege geraten. Gerade insofern wir also frei von Vorurteil, Befangenheit und Hemmung unserer vernünftigen Entschließungen als autonome Persönlichkeiten, unserer eingeborenen Überzeugung treu, wollen und wirken, sind wir die rechten Gotteskinder und in den Schoß des vollkommenen Lebens aufgenommen. "Die Ichheit endlicher Wesen ist nur ein gebrochener Strahl des ... allein Lebendigen." (183) Völlig lebendig sein, heißt völlig fromm, heißt am Ende heilig sein, wie Gott, der das Leben in seiner Fülle ist. Die Philosophie der Persönlichkeit mündet aus in eine Anweisung zum seligen Leben; die bis auf diese Höhe der Betrachtung erhobenen Gedanken gehen über in Gebet und in einen Hymnus auf die Schönheit und die Gewalt des Daseins.  "Jacobi  hat einen Enthusiasmus des Lebens", hat FICHTE einmal an REINHOLD geschrieben (184). Dieses Urteil, dem die unausgesprochene Sympathie des verwandten Standpunkts leicht anzumerken ist, trifft mindestens die Grundstimmung der jacobischen Gedankenwelt genau; besser jedenfalls, wie das herkömmliche Urteil, das aufgrund dieses Stimmungsgehalts mit einigermaßen schiefer Charakteristik von der religiösen Sentimentalität des jacobischen Standpunktes spricht. Denn gerade eigentlich gegen diese Deutung seiner Persönlichkeitsphilosophie wendet sich der Kern all der Folgerungen, die JACOBI aus den nun endgültig klargestellten Grundanschauungen seiner Philosophie zieht. Ein religiös sentimentaler Überschwang, ein mystisches Sichversenken in die Allgegenwart Gottes im Dasein und ein panegyrisches [bruchstückhafte, lobrednerisches - wp] Zerfließenlassen aller bisher doch leidlich streng und nicht ohne Kritik entwickelten Gedankenreihen in dem zwar tiefen, aber unbestimmten Allgefühl des Lebens und der Gottesgemeinschaft käme vielleicht an solchen Höhepunkten der Betrachtung einem unterrichteten Leser der jacobischen Schriften nicht überraschend. Denn zu jeder Zeit hat JACOBI der Neigung seiner Natur und dem starken Einfluß seiner, der Mystik zugeneigten, Lehrmeister HAMANN und HEMSTERHUIS nachzugeben und den Zoll zu entrichten, gerne Gelegenheit ergriffen. Aber gerade in diesem entscheidenden Punkt, wo die philosophische Erfassung des individuellen Lebens als eines besonderen, ja als des höchsten Wertes dazu verlocken konnte, aus der aufdämmernden, neuen Erkenntnis voreilig die alte Konsequenz der Mystik zu ziehen, ist JACOBI, unbeirrt von den im Grunde doch individualitätsfeindlichen Tendenzen der mystischen Betrachtungsweise, andere Wege gegangen und mit unverminderter Besonnenheit und Kritik, wenn schon immer unter dem unheilvollen Fluch einer zwiespältigen und in ihren Wurzeln unversöhnlichen Grundvoraussetzung, zu einer Philosophie der individuellen Wertung, nämlich zu einer  Philosophie der Geschichte wenigstens in ihren problematischen Anfängen, fortgeschritten. Einem in mystischen Neigungen gefangen gebliebenen oder auf religiöse Sentimentalität gestimmten Geist wäre dieser Übergang zum geschichtsphilosophischen Interesse wohl kaum möglich gewesen. Für die Gesamtbeurteilung JACOBIs und seiner Philosophie scheint mir aber gerade dieser Teil seiner philosophischen Ansätze und versuchten Ausführungen von grundsätzlicher, wenn auch nicht genügend beachteter Bedeutung.

7. Das Heroentum.  Moralität und Sittlichkeit gegründet auf die Urtatsache der Individuation: ohne Persönlichkeit kein moralisches Erkennen und kein sittliches Handeln. Aber ohne die Voraussetzung einer durchgängigen Individuation allen Daseins und allen Geschehens auch keine Möglichkeit einer zusammenhängenden, wissenschaftlichen Wertung des Individuellen, keine Möglichkeit der Geschichte.

Es ist demnach einleuchtend, wie eng verschwistert, in der Vorstellungsart JACOBIs, Ethik und Geschichte miteinander aus einem Schoß hervorgehen, nämlich aus der geheimnisvollen Urfunktion des Lebens selber: "Alle Moral - was sie doch von jeher bloß philosophische Geschichte". Der Eingang in die Geschichtsphilosophie ist darum mit Notwendigkeit moralisch. JACOBIs geschichtsphilosophische Anfänge haben sich noch nicht vom Mutterboden der Sittenlehre losgelöst, in dem die Geschichte, charakteristischerweise, für dieses ganze Zeitalter der Befreiung vom "Naturrecht", von PUFENDORF und LESSING bis zu KANT und FICHTE allgemein als wurzelnd angesehen zu werden pflegte. Es ist erforderlich, zu dem Punkt zurückzukehren, wo in der Darstellung sich die Frage nach dem ordnenden Maß für die freien Entschließungen der genialsittlichen Persönlichkeit erhob. Als dieses Maß fand sich die göttliche Persönlichkeit. Doch erwies es sich, daß die Person der Gottheit zwar von der Vernunft unerläßlich gefordert und, wie man zugeben mag, auch wohl vom Verstand als notwendig begriffen war; daß aber über ihre fernere Natur und über die Summe ihres Wesens nicht weiter auszumachen übrig blieb. Alles, was von ihr in die Erscheinung und also in unser menschliches Fassungsvermögen einzufließen vermag, erleben wir als ihre Offenbarungen eben in den elementaren Wirkungen des Instinktes, im Gefühl, in der überbegrifflichen Ahnung des Verstandes und im religiösen Vernunftglauben. Uns bleibt also, ins sinnliche Dasein gebunden, nichts übrig, als diesen Offenbarungen der Gottheit nachzugehen und sie in ihrer höchstmöglichen Vollkommenheit aufzusuchen, anzuschauen und zu erkennen, wie die Form ihrer Äußerung sich in jedem Fall wechselnd zum Wirklichkeitsinhalt der einzelnen sittlichen Erscheinung verhält.

Und dem aufmerksamen Zuschauer wird es nicht lange verborgen bleiben, wie sich dieses Verhältnis der Form zum Inhalt des Sittlichen von selber in einen gewissen Rhythmus der Entwicklung einfügt, der seinerseits wieder unter geschichtsphilosophische Gesichtspunkte gerückt, als notwendig oder als nach einer gewissen Regel verlaufend, begriffen werden kann. Das Schema davon ist einfach: eine menschliche Persönlichkeit von hochentwickelter, sittlicher Energie wird in ihren Leistungen von den übrigen Individuen, obwohl ansich nichts anderes, als "sittliche Natur", vollkommen frei sich bestimmende Genialität, aufgefaßt und begriffen als gesetzgeberisch und auch in der zufälligen Form ihrer Äußerung etwa, als allgemein verbindlich. Die genialsittliche Tat wird erläutert durch die begrifflich erfaßbaren Faktoren ihres Zustandeskommens; und so viele solcher Faktoren sich in ihr vorfinden, so viele Vorschriften von allgemeingültigem Charakter werden daraus für die Moralbedürftigen abgeleitet. Der diese Zergliederung und Paragraphierung der lebendigen Vernunfttat besorgt, ist natürlich der Verstand. Moral, Sitte und Brauch haben in seiner begrifflich objektivierenden und fixierenden Art ihren Ursprung: alle Moralgesetze sind erstarrte Taten des sittlichen Genies.

Der erzieherische Wert dieser Moral leuchtet ein. Es ist der Wert der Vorbilder, der sich in der Schule ebenso bewährt, wie im Leben. Aber der Wert wird Gefahr, der erzieherische Nutzen verkehrt sich in einen Schaden für den Fortschritt der sittlichen Individuation, wenn am Bollwerk irgendeiner Moral die reif und ebenbürtig gewordene Freiheit der sittlichen Persönlichkeit sich bescheiden und still stehen soll. Es gibt einen Punkt in der Fortentwicklung des Menschengeschlechts, wo jede Sitte einmal zur Unsitte, jeder geheiligte Brauch unheilig, jede Moral moralwidrig, oder vielmehr zum Feind der Sittlichkeit wird. Es gibt einen Punkt, wo das "Recht der Natur" gegen die  "Satzung des geschriebenen Buchstabens"  seine alten Majestätsrechte zurückfordert: denn niemals erschöpft sich das schöpferische Leben in einem Begriff.

Wenn dann die Schranke der überlieferten Moral, gestützt durch die Menge und Mehrzahl der Unmündigen, dem siegreichen Fortschritt eines neuen sittlichen Genies Widerstand entgegenzusetzen entschlossen bleibt, anstatt sich in mehr oder weniger beschleunigter Umbildung dem höheren Leben anzupassen, das allein recht hat, dann ist die gewaltsame Empörung der sittlichen Persönlichkeit, der revolutionäre Umsturz der Überlieferung durch das sittliche Genie, unaufhaltsam. Dann treten in der Geschichte der Menschheitskultur die großen Tafelzerbrecher auf, die immer zuerst als die großen Verbrecher verflucht und ans Kreuz geschlagen worden sind. Die Geschichte des Fortschritts der sittlichen Individuation ist die Geschichte all jener Genies, jener starken Persönlichkeiten, jener  Heroen  der Menschheit, die durch die Macht und die Entschiedenheit ihrer Wirkung das allgemeine Moralbewußtsein ihrer Zeit durchbrachen und durch weite Zeiträume ein neues sittliches Ideal der Menschheit vorausgestellt haben.
    "Was würde aus der Menschheit, wenn nicht von Zeit zu Zeit Heldengeister aufträten, um ihr einen neuen Schwung zu geben, ihr aufzuhelfen, sie zu erfrischen? Gerade durch diese Heroen wird das Leben der Sittlichkeit immer wieder neu geboren. - Ohne sie würde die Menschheit stinkend." (185)

    "Wir brauchen Heroen der Humanität, und sie werden erscheinen, wie sie noch jedesmal, wenn es die höchste Not forderte, erschienen sind. Nach dem Wie und Wann unterlasse man zu forschen", (186)
denn sie erscheinen als Genies, unerforschlich in ihrem Werden und unbegreiflich in der Einzigkeit ihrer Wirkungen. "Wenn es ... keine Heroen gegeben hätte ... wir kröchen immer noch auf allen Vieren." (187) Bis zu so einer derben Entschiedenheit vermag sich bei JACOBI der Ausdruck seiner Überzeugung zu steigern, daß von der einzigartigen Persönlichkeit alles, von den bloß vergleichsweisen, den eigentlich begrifflichen Individuen aber nichts zum Fortschritt der sittlichen Individuation unter den Menschen geleistet worden ist. Die Heroen sind die eigentlichen Propheten des göttlichen Weltwillens; und sie sind in diesem Sinne zugleich seine höchsten und allgemeinwertigsten, wie auch seine individuiertesten Offenbarungen. So muß es sich mit Notwendigkeit verhalten; denn der vorwärtsstrebenden Individuation kann nur das Individuelle vorbildlich sein, niemals das Begriffliche und Allgemeine.

Mag diese Behauptung JACOBIs vom Wert des Besonderen, die den Anfang und das Ende seiner Philosophie ausmacht, in allen Einzelheiten ihrer Ausführung sich nur wenig unterscheiden von den Argumenten der Vernunft- und Verstandes-Aufklärung, die zu dieser Zeit ganz allgemein die Köpfe beherrschte, mag sie immerhin aus den größten Widersprüchen in den Denkvoraussetzungen hervorgegangen sein, und mag sie zu noch so widerspruchsvollen Folgerungen, bei einem zwiespältigen Interesse seines Denkens, geführt haben; bestreiten läßt sich nicht, daß JACOBI mit ihr zur wesentlichen Vorbereitung einer Einsicht in das Wesen historischer Werte beigetragen hat, die für die ernsthafte Begründung einer geschichtsphilosophischen Methode unerläßlich war.

8.  Die Philosophie der Geschichte.  Jede historische Betrachtungsweise zielt auf eine individuelle Wertung; alle Werte der Individuation konzentrieren sich in einem Universalwert der vollkommen sittlichen Persönlichkeit; und jeder Ausdruck einer Wertbeziehung zwischen sittlicher Idealpersönlichkeit und Gott, als der absoluten Wirklichkeitsnorm, stellt sich dar als höchster religiöser Glaube. So ist es verständlich, daß es für JACOBI von vornherein keinen anderen Eingang in die Geschichtsphilosophie gibt als den, der Sittlichkeit und Religion zu den unentbehrlichen Voraussetzungen alles historischen Weltbegreifens zählt. "Das erste, notwendigste Bedürfnis, wie für den einzelnen, so für die Gesellschaft, ist  ein Gott." (188) Dieser Satz muß im Zusammenhang der jacobischen Philosophie endlich als ein Dogma hingenommen werden. Gott und die sittliche Tat, als seine Offenbarung im Menschenleben, sind der feste Rahmen, in den sich das Erfaßbare der Menschheitsgeschichte einfügt. Kein vorausgestelltes Gesetz der Vernunft, kein eingeborender  Begriff  von höheren und höchsten Entwicklungsarten leitet die Menschheit aus sich selber heraus, "naturmechanistisch" ihren letzten Wertbestimmungen entgegen, sondern "alle Geschichte geht in Unterricht und Gesetze vorwärts aus" ... und "nicht von Vernunftgesetzen oder rührenden Ermahnungen, sondern von  Anweisung, Darstellung, Vorbild, Zucht, Hilfe, Rat und Tat, Dienst und Befehl". (189) Vollkommene Unterwerfung unter ein höheres Wesen, strenger, heiliger Gehorsam, ist der Geist jeder Zeit gewesen, welche große Taten, große Gesinnungen, große Menschen in Menge hervorbrachte." (190) Nicht Selbstentfaltung, sondern Erziehung durch  Autorität  und Ehrfurcht ist die Grundlage der historischen Entwicklung: "Der heiligste Tempel der Spartaner war der Furcht geweiht". - Die  Grundlage  ist dieser erziehende Gehorsam; aber nicht der  Sinn. 

Der Sinn der Geschichte ist die Erfassung des Prozesses der Individuation; vornehmlich von dort an, wo der Prozeß in den Bereich der sittlichen Vernunft eingetreten ist, und damit die Entwicklung der Persönlichkeit im eigentlichen Sinn in Frage kommt. Notwendig muß sich diese Absicht in der Methode aussprechen, mittels deren die Geschichtsschreibung ihrer Aufgabe wissenschaftlich gerecht zu werden versucht. Da diese Methode auf die Entdeckung eines Gesetzes nicht ausgehen kann, so ist ihr von vornherein der Weg der Naturwissenschaften verschlossen, die es sich zur Aufgabe machen, eine Erscheinung aus dem Begriff einer anderen Erscheinung zu erklären. Der letzte Zweck jeder solchen Begriffswissenschaft ist die Aufdeckung der rationalen Elemente, aus denen sich die Erscheinung begreifen läßt. Der letzte Zweck des Forschers aber, der "Dasein enthüllen" will, ist "was sich nicht erklären läßt: das Unauflösliche, Unmittelbare, Einfache." (191) Damit scheidet sich die Methode der historischen Wissenschaften von der Methode aller Erklärungswissenschaften. Jeder Versuch einer materialistischen Geschichtsschreibung ist ein Verkennen der Aufgabe an ihrem ersten Anfang. Der Irrtum ist alt, aber darum nicht weniger tief, trotz allem leicht durchschaubar und von GOETHE auf einen guten Ausdruck gebracht worden:
    "Wir sollten, dünkt mich, immer mehr beobachten, worin sich die Dinge, zu deren Erkenntnis wir gelangen mögen, voneinander unterscheiden, als wodurch sie einander gleichen." (192)
JACOBI stimmte zu und führte den Gedanken weiter:
    "Ungemessene Erklärungssucht läßt uns so hitzig das Gemeinschaftliche suchen, daß wir darüber des Verschiedenen nicht achten; wir wollen immer nur verknüpfen; da wir doch oft mit ungleich größerem Vorteil trennten. ... Es entsteht auch, indem wir nur, was erklärlich zu den Dingen ist, zusammenstellen und zusammenhängen, ein gewisser Schein in der Seele, der sie mehr verblendet, als erleuchtet."
Notwendig; denn durch das Erklären und Ähnlichmachen der Dinge verlieren sie von ihrem Inhalt und damit verwischt sich ihre Individualität. Auf JACOBIs Standpunkt kann es sich in der Philosophie im Grunde und folgerichtig um gar nichts anderes handeln, als um eine Philosophie der Geschichte. Alles übrige ist mehr oder weniger Begriffsmathematik des Verstandes mit der einzigen Absicht der Erklärung von Zuständen, des Begreifens von Tatsachen und Tatsachenzusammenhängen; niemals aber mit der Absicht, eine Einsicht in die  Bedeutung  dieser Erscheinungen aufzutun oder sie in den lebendigen Zusammenhang einer Fortstreben und Entwicklung fordernden Wertbeziehung zu stellen. Diese Aufgabe, das Leben selber zu beurteilen, leistet allein eine Philosophie der Geschichte. "Kann  lebendige  Philosophie je etwas anderes, als Geschichte sein?" (193) frägt JACOBI von seinem Standpunkt aus nicht ohne Grund. Denn: "Wie die Gegenstände, so die Vorstellungen; wie die Vorstellungen, so die Neigung und Leidenschaften; wie die Neigung und Leidenschaften, so die Handlungen;  wie die Handlungen, so die Grundsätze und die ganze Erkenntnis" - denn moralische Erkenntnis ist nichts anderes, als die  Beurteilung  der in sich selbst geordneten und ruhenden, praktisch-vernünftigen, aber mit Rücksicht auf die Erkenntnis, eben  wesentlich irrationalen  Natur.

Die Antwort auf jene Frage, die das  Nein  begründet, lautet bei ihm: "Die Philosophie kann ihre Materie nicht erschaffen; diese liegt immer da in gegenwärtiger oder vergangener Geschichte." (194) Die gründliche Abkehr von allem, was JACOBI den Dogmatismus des Verstandes und was er, als die vollkommenste Ausprägung dieses Standpunkts, Spinozismus zu nennen liebte, trennt ihn in Wahrheit durch eine tiefe und entscheidende Kluft vom Zeitalter des Rationalismus, dem er nach Geburt und mancherlei erheblichen Resten in seinen Denkvoraussetzungen verbunden scheint. Sie hat ihm zumindest die Fähigkeit jenes objektiven (und im Grunde echt wissenschaftlichen) Blicks gegeben, der im Wechsel der Zeitalter und ihrer Erkenntnis- und Willensleistungen nicht eine Kette wechselnder Irrtümer und Betrügereien glaubt sehen zu sollen, sondern in ihren Äußerungen die innere Notwendigkeit erkennt und begreift, daß "jedes Zeitalter seine eigene Wahrheit hat, deren Gehalt wie der Gehalt der Erfahrungen ist, und ebenso auch seine eigene, lebendige Philosophie, welche die herrschende Handlungsweise dieses Zeitalters  in ihrem Fortgang  darstellt." (195)

Es kann auf solche Weise JACOBI nicht begegnen, daß er nach der Art ROUSSEAUscher Geschichtskonstruktionen an den  Anfang  der menschlichen Dinge ein goldenes Zeitalter setzt, dessen naiver Unschuldszustand bei genauerem Zusehen sich als irgendein aus spitzfindigen Rechts- und Moralbegriffen knifflich erräsoniertes [erklügeltes - wp] System der praktischen Philosophie entpuppt, an dessen willkürlichem Vorbild nun, nach dem freien Ermessen des Erfinders dieser Utopie, Fortschritt oder Rückschritt der Menschheit gemessen und abgeurteilt wird; aber ebensowenig ist es JACOBIs Meinung, daß die philosophische Gesetzgebung imstande sein soll, dieser Menschheitsentwicklung eine endgültig formulierte Endaufgabe, ein seinem Wesen nach begreifbares und darum begriffliches Ziel vorauszustellen, wodurch ein goldenes Zeitalter heraufgeführt und an das  Ende  der menschlichen Dinge gesetzt würde, das seiner Natur nach wieder nichts anderes darstellt, als die subjektive, am Schreibtisch erklügelte, systematische Ethik des jeweiligen Philosophen. KANTs Sympathie mit ROUSSEAU schreibt sich von dieser Verwandtschaft der Denkungsart her; diese Sympathie beruth im letzten Grund aber auf einer "gleichmäßigen Erklärungssucht", die das eigentliche Wesen einer lebens- und geschichtsfeindlichen Philosophie ausmacht. Ob dabei das Paradies an den Anfang oder an das Ende des hitorischen Prozesses gerückt wird, macht für den Geist der Beurteilung, der in solchen Systemen steckt, keinen Unterschied. Die Philosophie, als die Reflexion auf die Gegenstände der Erkenntnis, ist vielmehr stets sekundär, und es verhält sich so,
    "daß die Handlungen der Menschen nicht sowohl aus ihrer Philosophie müssen hergeleitet werden, als ihre Philosophie aus ihren Handlungen; daß ihre Geschichte nicht aus ihrer Denkungsart entspringt, sondern ihre Denkungsart aus ihrer Geschichte." (196)

    "Menschengeschichte entsteht durch Menschen, wo dann der eine mehr, der andere weniger zu ihrem Fortgang beiträgt. - Wenn also die Philosophie, die Denkungsart eines Zeitalters verbessert werden soll, so muß seine Geschichte, seine Art zu handeln, seine Lebensweise erst verbessert werden, was einfach so aus  freier Faust  nicht wohl geschehen kann." (197)
Der ausgehenden Epoche der heteronomen Moral- und Geschichtsspekulation war JACOBI also wohl auf diese Weise entwachsen. Die begriffliche Rationalität des ethischen und geschichtsphilosophischen Prinzips war für ihn ein zerstörter Wahn. Aber in die aus diesem Sachverhalt sich ergebenden Folgerungen und Probleme der neuen Zeit: die Grenzbedingungen des Irrationalen erkenntnistheoretisch aufzuzeigen und zu bestimmen, darin vermochte sich sein alterndes Denken gleichwohl nicht mehr mit derselben Spannkraft zu bequemen:

Die Art, wie JACOBI, ewniger in ausdrücklichen Hinweisen, als vielmehr durch eine im Zusammenhang unzweideutige Wendung seiner Polemik, aufs Neue gegen KANT Stellung nimmt, liegt daher ganz in der Konsequenz seines früher gekennzeichneten Mißverstehens; und sie bestätigt seine eigene Befangenheit in Voraussetzungen, die einer durchaus vorkritischen Zeit angehören und nach denen sich die ethische Norm nun nicht einmal anders deuten läßt, außer entweder als metaphysische Wesenheit, oder als psychologisch begründetes Gesetz. Auf der anderen Seite aber ist es dem Wirklichkeitsphilosophen ein unerträglicher Gedanke, wenn der Sinn der Wirklichkeit der Wirklichkeit selber in irgendeinem Begriff vorweggenommen werden soll. Der Fortschritt aller Erkenntnis muß vielmehr an den Fortschritt des Lebens selbst Schritt für Schritt gebunden sein; und "es ist ein Gedanke hoher Ahnung, daß nur die Entwicklung des Lebens eine Entwicklung der Wahrheit ist; beide, Wahrheit und Leben, sind ein und dasselbe." (198) Diese Entwicklung hat weder Wahrheit noch Begriff, sondern sie geschieht, wie sie und weil sie so und nicht anders geschieht. Was davon in unsere Erfahrung eintritt und darum Gegenstand einer wissenschaftlichen Betrachtungsweise werden kann, das ist lediglich jene Offenbarung des indivuierenden Instinkts von Fall zu Fall, dessen Vorhandensein wir fühlen, dessen Bedeutung wir ahnen und dessen Wesen wir anschauen können: Geschichtsphilosophie ist die Propädeutik der Religionsphilosophie.

An dieser Stellung des geschichtsphilosophischen zum religionsphilosophischen Problem bei JACOBI scheitern alle ferneren Versuche, die vorhandenen Ansätze methodisch weiterzubilden. Die religionsphilosophische Spekulation tritt allzurasch an ihre Stelle.

Was JACOBI über die ersten Ansätze hinaus zu einer neuen Auffassung vom Wesen der Geschichte beigetragen hat, sind Gedankenfragmente, die sich über alle seine Schriften verstreuen und überall in anderen Gedankengängen wieder verlieren. Aus solchen Bruchstücken läßt sich nur ein unvollkommenes Mosaikbild zusammensetzen und die Gefahr der willkürlichen Ein- und Umdeutung ist bei all dem größer, als das Verdienst der zusammenhängenden Darstellung. Darum sollen hier nur einige Einzelheiten nachgetragen werden, die da stehen bleiben müssen, wie gut oder schlecht sie sich immer zum Ganzen fügen mögen.

Die Geschichte der Menschheit ist die Geschichte der fortschreitenden Individuation durch den Fortschritt der Persönlichkeitswerte in den einzelnen Individuen. Der Kollektivbegriff der "Menschheit" hat also streng genommen in der historischen Betrachtungsweise JACOBIs keine Stelle. Die Menschheit als solche hat keine Entwicklung; zumindest ist eine solche bei der extensiv unübersehbaren Mannigfaltigkeit der erfahrbaren Welt nicht unerweisleich, und eine solche Behauptung aus spekulativen Erschließungen zu folgern, dazu liegt kein Grund vor. Denn im lebendigen Zusammenhang des Wirklichen handelt es sich immer nur um die einzelnen Persönlicheiten und niemals um die Gattung, oder umsonst irgendeine Abstraktion. Es kann demnach nicht auffallen, wenn JACOBI seinen  Woldemar  annehmen läßt, "der großen Haufen der Menschen bliebe in demselben Grad eigensüchtig, gewalttätig, tierisch -  von Herzen lasterhaft.  Zu einem äußerlich sittlichen Verhalten bequemten sie sich nur aus Not, der Verträglichkeit wegen." (199) Denn an diesem Punkt machen sich in der Geschichtsphilosophie die Anschauungen der jacobischen Ethik aufs Neue geltend, die allen Fortschritt und alle sittliche Neuschöpfung unter den Menschen vom Einzelnen, von der großen Persönlichkeit, vom sittlichen Genie erwarten. JACOBI stellt sich selber klar die Frage:
    "Gibt es ein Fortschreiten der Menschheit im Guten und im Licht?" - Und er antwortet: "Wenn unter dem Guten und dem Licht verstanden wird, was die erhabensten Weisen des Altertums, ein  Pythagoras  und  Platon,  darunter verstanden haben, so ist meine entschiedene Meinung, daß es ein solches Fortrücken der Menschheit nicht gibt. Ich behaupte sogar, es hätten diese beiden Männer den Zunamen der  Göttlichen  nicht verdient, ... wenn sie geglaubt haben, ... eine Art von Auswendiglernen des Inwendigen stiftet Weisheit ... vermöge eines tief ersonnenen Mechanismus leise und allmählich zur Volks- ja Welt-Sitte machen zu können" ... usw. (200)
Überraschende Anklänge an KANTs Lehre vom radikal Bösen der menschlichen Natur werden an solchen Stellen der jacobischen Aphoristik vernehmbar; aber zu einer klaren Durchführung dieses Gedankens ist keine Gelegenheit, wo die letzten Konsequenzen der ersten Voraussetzungen JACOBIs mit sich selber in Widerstreit geraten. Es fehlt dazu sogar an jeder Möglichkeit. Denn wie versich die behauptete Unverbesserlichkeit der verstockten Masse der Menschheit mit der zuvor behaupteten Urgenialität jeder anhebenden Individuation? Es ist die Schwierigkeit, die das Problem des Bösen in der Welt jeder Metaphysik bereitet. "Geheimnis des göttlichen Wirkens" - das ist alles, was JACOBI darauf z usagen weiß. Aber noch mehr; wohl freut sich sein kritisches Vermögen an der Aufdeckung aller Einseitigkeiten des begrifflichen Dogmatismus; wohl erkennt er mit genialem Scharfblick die weittragende Bedeutung, die den neuen Wertungsmöglichkeiten des Einmaligen und Unvergleichbaren für die Geschichte und viele andere Gebiete der Wissenschaft zukommt; aber von einem gewissen Punkt an verlieren bei ihm plötzlich alle auf dieses Ziel gerichteten Untersuchungen den Weg. Sie geraten in die Hypnose des genialen Persönlichkeitsglaubens und versinken von hier aus rasch in die anschauende Seligkeit und in das unmittelbare Gotterleben der Mystik, die zu jeder Zeit der Tod aller Geschichte gewesen ist. So erweist sich auch auf dem Gebiet der eigentlichen Verdienste JACOBIs, in der Wertlehre des Individuellen oder in der Kulturphilosophie, die Kollision zwischen seinen entgegengesetzten, philosophischen Neigungen als unvermeidlich. Der Versuch, die Entwicklung der sittlich genialen Persönlichkeiten kulturphilosophisch zu begreifen, ist in sich selber ein Widerspruch. Das Genie hat keine Entwicklung. Eben darum ist es Genie. Und die geniale Vernunftanschauung ist kein zeitlich-individueller Akt, sondern die zeitlos-unterschiedslose, selige Ruhe des Mystikers in Gott. Unter der Herrschaft einer solchen Auffassung verwandelt sich die Überzeugung von der Notwendigkeit der Umwertung aller Werte des dogmatisch-begrifflichen Erkennens in eine Gefahr für die Auffassung vom Wesen der Erkenntnis und für den Bestand aller Wissenschaft überhaupt. Denn sollen, wie Jacobi verlang, die höchsten Aufgaben der Philosophie von der Philosophie der Persönlichkeit geleistet werden, so kann diese den gesamten Bau des Erkennens tragende Wissenschaft am allerwenigsten den wissenschaftlichen Charakter entbehren. Aber ihn
    "lehren Erfahrung und Geschichte, daß des Menschen Tun viel weniger von seinem Denken, als sein Denken von seinem Tun abhängt; daß seine Begriffe sich nach seinen Handlungen richten, und sie gewissermaßen nur abbilden; daß also der Weg zur Erkenntnis ein  geheimnisvoller  Weg ist - kein syllogistischer - kein  mechanischer". (201)
Dieses Zurückleiten der historischen Begriffsbildung in den geheimnisvollen Urgrund schon an der Quelle, dieses Umbiegen einer mit Kritik, aber kaum erst anhebenden, neuen Werttheorie in metaphysische Spekulation und in eine, diesen Ansätzen und ihren Zielen im tiefsten Grund feindliche Mystik, ist typisch für JACOBIs ganze Denkorganisation. Es ist, von einer neuen Seite her gesehen, die unheilbare, das System in der Wurzel zerstörende, alte Schwäche einer Philosophie, die begriffsrealistische Metaphysik und transzendentale Kritik miteinander in Übereinstimmung zu bringen versucht. Indessen besteht JACOBI andererseits darauf, die Idee der historischen Entwicklung der Menschheit festzuhalten, und mit der außerzeitlichen Bedeutung der Heroenerscheinungen, die jemals das drohende Einerlei der Massenindividuen durchbrechen, in Verbindung zu setzen. In welcher Weise dies geschehen soll, hat JACOBIs Sittenlehre gezeigt. Die Heroen der menschlichen Kultur sind die freien Darsteller der höchsten Sittlichkeitswerte und zugleich die moralischen Gesetzgeber für die Masse. Ihre Wirkung durch die Jahrtausende ist die einer langsamen Erhöhung der Ebene, auf der sich das durchschnittliche Gewissen, die durchschnittliche Fähigkeit zur Verpersönlichung des Willens bewegt. Sie wirken als Vorbilder; und darum mehr erweckend als erziehend, mehr lösend als bindend. Ihre Wirkung bezieht sich nicht so sehr auf die Erkenntnis und deren Verbesserung, nicht auf den Verstand, als vielmehr auf das Gemüt und auf die Beförderung eines unmittelbar vertrauenden Glaubens.

Es ist derselbe Glaube, der auch der freigenialen Sittlichkeit des Heros Maß und Bestimmung gibt: der Glaube an die vollkommenere Persönlichkeit. Darum sind die ersten Kulturverbindungen unter den Menschen, "alle Verfassungen, in ihrem Ursprung theokratisch." (202) Die Geschichte der Menschheit beginnt mit ihrer  Religion.  Und immer mit Rücksicht auf dieses vollkommen freie Verhältnis zwischen Beispiel und spontan gläubiger Nachfolge hat sich nach JACOBIs Ansicht eine tatsächliche Verbesserung des allgemeinen Weltzustands allmählich vollzogen und wird sich in der gleichen Art und Weise weiter so vollziehen. (203) So ist schließlich die einzige und wahre Erzieherin der Menschheit, von ihren vornehmsten bis zu ihren geringsten Vertretern hinunter, die persönliche Hingabe des Einzelnen an die höchste, seinem Erlebnisvermögen zugängliche Persönlichkeit, oder die Religion. Die Geschichte der Menschheit beginnt nicht nur, sie endet auch in Religion; und die Geschichtsphilosophie hat als Propädeutik zur Religionsphilosophie ihre Stelle im System gefunden.

Der Religionsphilosophie fällt die Aufgabe zu, den Gedanken der Menschheitsentwicklung, des Fortschritts im Leben, in welchem die Bedeutung der Wirklichkeit beschlossen ist, zu Ende zu denken. Auf diesem Weg zu immer höherer Gestaltung und immer reinerer Ausprägung der sittlichen Idee im irdischen Wandel ist die Gelegenheit, in günstiger Stunde zu verweilen und im Bild eines Zustands auszuruhen, durch dessen verhältnismäßige Harmonie die göttliche Absicht durchscheint. Dieses Ruhen im Bild ist eine erlaubte Freude unter der Arbeit des rastlos fortschreitenden Lebens. Die Gutheit des strebenden Bemühens hat irgendwo immer eine Schönheit des Zustandes im Gefolge.

Es ist hier der Ort, JACOBIs Gedanken über die Natur des Schönen und über das Wesen einer Wissenschaft der Ästhetik im Zusammenhang darzustellen, und so, wie es sich finden wird, den Übergang zur Religionsphilosophie auch noch von einer anderen Seite her vorzubereiten.
LITERATUR: Friedrich Alfred Schmid-Noerr, Friedrich Heinrich Jacobi, Heidelberg 1908
    Anmerkungen
    107) siehe oben
    108) Werke III, Seite 318
    109) Werke I, Seite 245
    110) Werke V, Seite 78
    111) ebd.
    112) Woldemar, Werke V, Seite 79f
    113) Vgl. Werke V, Seite 80
    114) Werke IV, Abt. I, Vorrede, Seite XLVII. Also kann sich z. B. die Auffassung der tierischen Mutterliebe als einer triebsittlichen Äußerung sehr wohl verbinden mit dem naturwissenschaftlichen Entwicklungsgedanken und mit dessen Auffassung von der Erhaltung der Art. Arterhaltung nach  naturgesetzlicher Ordnung und ursittlicher Trieb als offenbarte  göttliche Ordnung sind nur zwei verschiedene Ansichten ein und derselben Sache: - Reine Wirkung der göttlichen Ordnung.
    115) Werke III, Seite 319
    116) In der für JACOBI bezeichnenden Weise wiederholt sich bei ihm dieser Gedanke, in den allerverschiedensten Abwandlungen, durch alle seine Schriften. Die empirisch-psychologische Begründung des  A priori im Begehrungsvermögen ist dazu das dienlichste Paradigma, Bd. III, Seite 322: "Wir begehren oder wollen einen Gegenstand nicht ursprünglich darum, weil er angenehm oder gut ist; sondern wir nennen ihn angenehm oder gut, weil wir ihn begehren und wollen, und das tun wir, weil es unsere sinnliche und übersinnliche Natur so mit sich bringt. Es gibt also keinen Erkenntnisgrund des Wünschenswürdigen und Guten außer dem Begehrungsvermögen - dem ursprünglichen Begehren und Wollen selbst." (Vgl. dazu Werke II, Seite 371f)
    117) Vgl. Werke V, Seite 78f
    118) Werke II, Seite 497
    119) ebd.
    120) Werke V, Seite 429; vgl. ebd. Seite 89; Werke VI, Seite 231.
    121) Werke III, Seite 37f.
    122) Werke III, Seite 38
    123) Werke VI, Seite 67f
    124) Werke III, Seite 41
    125) Werke III, Seite 40f
    126) Vgl. Werke IV, Abt. I, Seite 248f: "Der Verstand des Menschen entwickelt sich durch seinen Willen, der ein Funken aus dem ewigen, reinen Licht und eine Kraft der Allmacht ist. Wer mit diesem Licht geht, der erfährt seinen Ursprung und seine Bestimmung."
    127) Werke I, Seite 72
    128) Die ganze Klarheit und Stärke von JACOBIs Standpunkt, damit zugleich aber auch seine unheilbare Schwäche gegenüber KANT, bekundet sich hier, wenn irgendwo, so unmißverständlich wie möglich. Er selber sagt: "Lehret mich nicht, was ich weiß, und besser als euch lieb sein möchte, darzutun verstehe: nämlich daß jener Wille, der Nichts will, jene unpersönliche Persönlichkeit, jene bloße Ichheit des Ich, ohne Selbst; daß mit  einem  Wort: lauter reine und bare Unwesenheiten notwendig zugrunde gelegt werden  müssen, wenn - ein  allgemeingültiges, streng wissenschaftliches System der Moral zustande kommen soll. ... Ja bei allen euern Himmeln, und so wahr  Kategorien allein euch  Apollo und die Musen sind, ihr  müßt! Denn nur so werden  unbedingt allgemeine Gesetze, Regeln ohne Ausnahme und  starrer Gehorsam möglich. So allein weiß das Gewissen überall auch äußerlich gewiß und weist, eine hölzerne Hand, nach allen Heerstraßen unfehlbar recht -  vom Lehrstuhl aus. - - - Aber  will ich denn, daß keine allgemeine, streng erwiesene  Pflichtenlehre aufgestellt wird ...? Verkenne ich den Wert, leugne ich den Nutzen einer solchen  Disziplin? Oder bestreite ich die Wahrheit und Erhabenheit des Grundsatzes, von dem die Sittenlehre der reinen Vernunft ausgeht?  Keineswegs!" - Aber "sie selbst in sich allein ist öde, wüst und leer. So kann ihr Gesetz auch nie das  Herz des Menschen (was JACOBI meint, ist genau der  Instinkt!) werden und ihn über sich selbst wahrhaft erheben; und wahrhaft über sich selbst erhebt den Menschen dann doch nur sein Herz (= sein Instinkt), welches (welcher)  das eigentliche Vermögen der Ideen, der nicht leeren,  ist". (Vgl. Werke III, Seite 39f) Die Kritik an JACOBIs Kant-Kritik ist von hier aus nicht schwer. JACOBI kann sich unter Wissenschaft nichts anderes denken, als ein System von Begriffen nach "naturwissenschaftlicher Methode". Unter dieser Voraussetzung ist eine wissenschaftliche Ethik allerdings unmöglich; und da er eine andere Art der Wissenschaft nicht kennt, so hört er an diesem Punkt auf, KANT zu verstehen.
    129) Von einer ganz anderen Seite her, als von SCHILLER und dem ästhetischen Harmoniebedürfnis der schönen Seele, ist JACOBI in diesem Streit gegen KANT und die kantische Ethik Zuzug und kritischer Beistand erwachsen: Wer HEGELs Polemik gegen KANT und die Kritik der praktischen Vernunft kennt, der weiß, wie nahe diese Einwürfe denen JACOBIs verwandt sind.
    130) Werke V, Seite 123
    131) Werke V, Seite 121f
    132) Werke V, Seite 115
    133) Werke II, Seite 375
    134) Werke III, Seite 320
    135) Werke III, Seite 322, Anmerkung
    136) Werke VI, Seite 51
    137) Vgl. Werke II, Seite 343f
    138) Die "heiligen Vokale" sind im Menschen. (vgl. Werke III, Seite 327)
    139) Werke V, Seite 432.
    140) Vgl. Werke VI, Seite 56f
    141) JACOBI selber merkt ausdrücklich an: "Das Wort  Begierde wird hier in seinem eigentlichen Sinn genommen, welcher auch die allerhöchsten und allerreinsten Bestrebungen der Seele in sich faßt und in welchem die Begierde dem Abscheu entgegengesetzt ist. In diesem Sinne gibt es keine Begierden, die nicht an und für sich selber gut, und der Vernunft gemäß wären."
    142) Werke II, Seite 344
    143) ebd.
    144) Werke II, Seite 344
    145) Werke I, Seite 303
    146) Werke I, Seite 304
    147) ebd.
    148) ebd.
    149) Werke I, Seite 305
    150) Werke I, Seite 276
    151) Hier beginnen Erwägungen und Gedankenfolgen, die JACOBI auf weite Strecken der methodisch-problematischen Geschichtsphilosophie HERDERs wieder annähert: freilich auch ihrer Wirklichkeit, als einer nur vorläufigen Gelegenheitsspekulation für philosophische Liebhaber.
    152) Werke I, Vorrede, Seite XIV, Anmerkung
    153) "Allein durch dieses Mittel konnte die Wohltat des Lebens ... einer unendlichen Schar von Wesen verliehen, und eine Welt aus dem Nichts hervorgerufen werden." - Und JACOBI fügt, ein Beispiel für die visionäre Inbrunst seiner Denkweise hinzu:  "Ein Schauer ergreift mich, so oft ich dieses denke; mir ist jedesmal, als empfinge ich in diesem Augenblick unmittelbar aus der Hand des Schöpfers meine Seele." (Vgl. Werke II, Seite 272f)
    154) Vgl. den Brief an LAHARPE vom 5. Mai 1796 (Werke II, Seite 533f)
    155) a. a. O., Seite 534.
    156) a. a. O., Seite 536.
    157) Wie immer, so bedeutet auch hier der Gang der prinzipiellen Erörterung JACOBIs gleichzeitig eine rein theoretische Kritik der menschlichen Vermögensarten, wie sich auch andererseits aus dem Gang des vernunftkritischen Verfahrens die sachliche Parallelität der  logischen Entfaltung der drei Vermögen mit der psycho-physiologischen Entwicklungsreihe der Lebewesen herleiten läßt. JACOBI hat diese mehr oder weniger immer mit im Auge.
    158) siehe oben
    159) siehe oben
    160) Werke I, Seite 275
    161) vgl. oben
    162) Werke I, Seite 274
    163) ebd.
    164) ebd.
    165) Werke III, Seite 557-558
    166) Werke III, Seite 565
    167) Mit Rücksicht auf die  Kritik der Sprache  heißt das so viel, als daß das noch nicht konventionell erstarrte, das Lebendige Wort seine Wurzel im "anschauenden Geist" haben muß; und "schlüpfrig wird das philologische Verfahren allemal, wenn es sich mehr vornimmt, als nur den Geburtsort der Begriffe, die Anschauungen, aus welchen sie hervorgingen, zu entdecken." (Jacobi an Herder im Dezember 1793) Vgl. Werke III, Seite 555f
    167a) Werke V, Seite 88
    168) Briefwechsel, Bd. I, Seite 436
    169) Werke IV, Vorrede, Seite XXIII
    170) Einer der Ersten, der diesen Vorwurf erhoben hat, war merkwürdigerweise HEGEL, der die Gefahr der jacobischen "genialen Sittlichkeit" tadelt, obschon er gleichzeitig JACOBIs Verdienst gegenüber KANTs formaler Ethik die Inhaltlichkeit der sittlichen Werte betont zu haben, besonders hervorhebt (vgl. Heidelberger Jahrbücher, Jahrgang 1812, Seite 22f).
    171) Werke V,  Woldemar, Seite 426.
    172) Werke V,  Woldemar, Seite 86f
    173) "Über das göttliche Recht der Obrigkeit", Deutscher Merkur 1777
    174) Deutscher Merkur, 1777, Seite 123f, insbesondere Seite 131f.
    175) Werke VI, Seite 463f
    176) Werke V, Seite 425f
    177) Werke V, Seite 109f
    178) Werke II, Seite 264
    179) vgl. Werke II, Seite 261
    180) Werke IV, Abt. II, Seite 76. - JACOBI beruft sich dazu auf KANT, Kritik der praktischen Vernunft, Seite 225 und 226; Kritik der reinen Vernunft, 2. Auflage, Seite 631.
    181) Werke II, Seite 476, Anmerkung
    182) Werke I, Vorrede, Seite XV, Anmerkung
    183) JACOBI an LAVATER, Briefwechsel, Bd. I, Seite 436
    184) Karl Leonhard Reinholds Leben und literarisches Wirken, Seite 196f
    185) Woldemar, Werke V, Seite 425f
    186) Werke VI, Seite 58
    187) JACOBI an FORSTER vom 25. November 1783 (vgl. Werke III, Seite 487)
    188) Werke IV, Abteilung I, Seite 242
    189) ebd. Seite 241
    190) ebd. Seite 242
    191) Werke IV, Abteilung I, Seite 72
    192) Über "Kristallisation und Vegetation"; zuerst in WIELANDs Merkur 1789; in GOETHEs Werke, Bd. 39 (Cotta-Jubiläumsausgabe), Seite 9f - Bezeichnend für GOETHEs Art, sich über diesen Gegenstand zu äußern und für JACOBIs rückhaltlose Beistimmung ist eine Anekdote, die JACOBI nicht ohne Befriedigung seinen Lesern aufbewahrt hat: "Ich erinnere mich", erzählt er, "daß ich in einer vermischten Gesellschaft einmal die Frage aufwerfen hörte: wie das menschliche Geschlecht wohl möchte fortgepflanzt worden sein, wenn der Sündenfall nicht eingetreten wäre? Goethe antwortete schnell: ohne Zweifel durch einen vernünftigen Diskurs." (vgl. GOETHE, "Vier Jahreszeiten", Nr. 55) JACOBIs Werke II, Seite 276.
    193) Werke IV, Abteilung I, Seite 72 und 234.
    194) ebd. Seite 236
    195) ebd. Seite 236f
    196) ebd. Seite 237
    197) ebd. Seite 237f
    198) Werke I, Seite 281
    199) Werke V, Seite 216
    200) Werke VI, Seite 233f
    201) Werke I, Abteilung I, Seite 249
    202) Werke IV, Abteilung I, Seite 242
    203) Vier Gesichtspunkte, unter denen sich eine solche Höherentwicklung behaupten läßt, hat JACOBI an einer Stelle seines "Woldemar" aufgeführt. Diese sind: Erstens, "wir sind der Rechtschaffenheit im Grunde näher"; sodann: "auch unsere allgemeine Menschenliebe, die man so lächerlich zu machen sucht, ist kein ganz leeres Ding"; drittens: "hat unser Interesse wirklich und wahrhaftig eine Richtung auf das Ganze  bekommen"; und viertens: "ist ein Mensch als Mensch dem andern jetzt unendlich mehr, als er ihm ehemals war." - - - Manche dieser Sätze tragen das Gepräge ihrer Herkunft aus der Aufklärungsmentalität allzu deutlich an der Stirn, als daß man nicht glauben sollte, JACOBI habe diese Stelle deshalb aus dem Zusammenhang seines Romans herausgenommen, weil sie dem neuen Geniezeitalter allzusehr als aufgewärmte, aber darum als nicht weniger altbackene Ware widerstehen mochten. (vgl. Werke V, Beilage zum Woldemar, Seite 19