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GEORG WERNICK
Der Wirklichkeitsgedanke
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"Wenn ich z. B. sage: ein Dreieck hat niemals 4 Winkel, so ist es mir völlig gleichgültig, ob dieses Dreieck in irgendeiner Weise existiert oder nicht, ich will nur behaupten, daß ich am Inhalt Dreieck nicht 4 Winkel vorfinde. Das, was ich in diesem Satz negiere, ist keineswegs die Existenz eines Dreiecks mit 4 Winkeln. Zu fragen, ob ein Dreieck mit 4 Winkeln existiert oder nicht, hat nicht den geringsten Sinn, da ich mir hier unter dem, dessen Existenz in Frage käme, in der Tat gar nichts denke oder vorstelle. Die Vorstellung eines Dreiecks mit 4 Winkeln ist gar nichts, denn, wie sehr ich mich auch anstrengen mag, immer bringe ich es nur dahin, mir ein Dreieck mit 3 Winkeln vorzustellen und wenn ich will, noch den vierten Winkel daneben."

XI.

In diesem Abschnitt soll über das für nichtwirklich Halten, den N-W-Vorgang gesprochen werden. Die Ansichten darüber, was das Negieren in psychologischer Hinsicht sei, gehen weit auseinander. Doch kann man sie in zwei, scharf voneinander getrennte Gruppen einteilen. Die einen sehen im Verneinen einen dem Bejahen völlig gleichberechtigten, ihm durchaus zu koordinierenden Akt, während die anderen den einen dieser Vorgänge nur in seiner Beziehung auf den anderen verständlich finden. Die erstere Auffassung geht auf ARISTOTELES zurück und wird neuerdings von der Schule BRENTANOs vertreten. Diese erblickt im Verneinen so gut wie im Bejahen ein nicht weiter analysierbares geistiges Geschehen, das sich auf das Objekt der Vorstellung beziehen soll. So wie dieses im bejahenden Urteil anerkannt wird, so wird es im verneinenden Urteil abgelehnt. Der Hauptvertreter der zweiten Auffassung ist SIGWART. Dieser sieht im Bejahen oder wie man nach ihm besser sagen sollte, dem Aufstellen positiver Behauptungen, den ursprünglichen Akt, während die Verneinung als Ablehnung einer positiven Behauptung aufgefaßt wird. Die Verneinung bezieht sich demnach nicht auf Objekte, sondern auf Urteile. Bei anderen Autoren endlich finden sich, schon mehr mit Bezugnahme auf unser Spezialproblem, Hinweise darauf, daß der Gedanke der Existenz gar nicht auftreten könnte, wenn nicht vorher das Nichtexistieren gewisser Objekte aufgefallen wäre, wonach wir als das  Negieren  als den ursprünglichen Akt anzusehen hätten. Nur dadurch, so führt DYROFF aus, (1) daß Objekte, die Gegenstand meiner Wahrnehmung gewesen sind, aufhören es zu sein, wie es z. B. der Fall ist, wenn eine geliebte Person stirbt, werde ich auf das Moment der Existenz aufmerksam gemacht. Doch kommt diese letztere Ansicht für unser Problem nicht in Betracht. DYROFF will an der genannten Stelle offenbar die historische Entwicklung des Begriffs untersuchen, während es sich für uns um die Beschaffenheit des fertigen Gedankens handelt, der ganz unabhängig von der Entwicklung zu erkennen ist. In dem uns vorliegenden Fall wird niemand im Ernst behaupten, daß man, um ein Objekt für wirklich zu halten, jedesmal erst an seine mögliche Nichtwirklichkeit denken müsse, um so das Moment der Existenz zu erhalten. Zeigt doch in vielen Fällen, wo uns dieser Gedanke nicht im mindesten kommt, unser praktisches Verhalten auf das deutlichste, daß ein echter W-Vorgang vorliegt. Höchstens dieses kann zugegeben werden, daß der Wirklichkeitsgedanke durch seinen Kontrast gehoben wird, was jedoch auf einem ganz allgemeinen psychologischen Gesetz beruth, ohne eine spezielle Beziehung zu unserem Problem zu haben.

Was nun zweitens die Auffassung BRENTANOs betrifft, so müssen wir dieselbe gleichfalls ablehnen. Sie hängt auf das engste mit der Lehre vom intentionalen Objekt zusammen und gleichsam die Parallelerscheinung der Lehre von den positiven Existenzialsätzen. Wir haben wiederholt gezeigt, weswegen wir die diesbezüglichen Theorien BRENTANOs als Grundlage für die Erklärung der W-Vorgänge nicht anerkennen können, eine besondere Widerlegung der Lehr vom Negieren erübrigt sich damit.

So bleibt uns noch der Standpunkt SIGWARTs übrig, den ich denn auch als teilweise berechtigt anerkenne. Doch leidet er, wie ich glaube, an einigen Mängeln, weswegen eine nochmalige Behandlung der Frage an dieser Stelle, besonders auch mit Rücksicht auf unser eigentliches Problem, notwendig ist.

Das Negieren soll die Ablehnung eines positiven Urteils sein. Allein es es denn möglich, in einem Atemzug ein Urteil zu fällen und wieder aufzuheben, widerspricht das nicht vielmehr allem, was wir sonst über die Natur des Urteils hören? Ein Urteil kann natürlich nur dann abgelehnt werden, wenn es vorhanden ist und vorhanden kann das Urteil nur so sein, daß es gefällt wird. Hierin aber liegt, wie SIGWART selbst erklärt (Logik I, Seite 98) das  "Bewußtsein  seiner objektiven  Gültigkeit",  die  "Notwendigkeit  der In-Einssetzung". Gerade dadurch soll sich ja das Urteil von der Vorstellungsverbindung unterscheiden. Wenn dem aber so ist, so scheint es psychologisch unmöglich, ein gerade gefälltes Urteil abzulehnen. Wessen ich mir als objektiv gültig bewußt bin, kann ich unmöglich negieren. Oder bilden etwa die positiven Urteile, die die Voraussetzung der negierenden sind, eine besondere Klasse, die der objektiven Gültigkeit entbehrt? Eine derartige Behauptung hat SIGWART nirgends aufgestellt und das mit gutem Grunde, würde er damit doch ein Fundament seiner Urteilstheorie antasten.

In manchen Fällen liegt nun aber die Sache doch so, wie es der konsequent durchgeführten Lehre SIGWARTs vom negierenden Urteil entspricht, nämlich dann, wenn man ein eben gefälltes Urteil aufgrund von zwingenden Tatsachen als irrtümlich erkennt und es zurückzieht. Nehmen wir an, ich sehe in einer größeren Entfernung ein Haus, an dessen Seite sich ein Turm erhebt, so fälle ich, falls ich dem Wahrgenommenen meine Aufmerksamkeit schenke, das Urteil: "Dieses Haus hat einen Turm." Nehmen wir weiter an, daß während ich mich meinem Objekt nähere, ich bemerke, daß der Turm weit entfernt vom Haus steht und nur mein zufälliger Standpunkt Ursache war, daß er mir auf dieses projiziert erschien, so fälle ich unter Zurücknahme des vorher Geglaubten das negative Urteil: "Dieses Haus hat keinen Turm" oder auch "Der Turm hängt nicht mit diesem Haus zusammen." Hier entspricht in der Tat alles der SIGWARTschen Theorie: zunächst das Fällen des positiven Urteils mit dem "Bewußtsein der objektiven Gültigkeit", alsdann Ablehnung dieses Urteils. Wir können jedoch mit Anwendung der von uns sonst benutzten Begriffe den psychischen Vorgang noch etwas genauer beschreiben als es im Sinne SIGWARTs möglich ist. Das zunächst gefällte positive Urteil ist offenbar die sprachliche Begleiterscheinung einer bestimmten Assoziation der Inhalte Haus und Turm, die beide als Wahrnehmungsobjekte empfunden werden, nämlich einer simultanen, unvermittelten Gleichartigkeitsassoziation (unvermittelt insofern Teile des Komplexes Turm mit Teilen des Komplexes Haus ohne andere Zwischenglieder verbunden werden). Sobald mir nun die neue Wahrnehmung zuteil wird, löst sich die bis dahin vorhandene Assoziationi auf, indem die beiden Objekte nun in eine neue Beziehung treten, die man, insofern die Gegenstände jetzt durch Vermittlung von anderen Inhalten verbunden werden, im Vergleich zur früheren als relative Isoliertheit bezeichnen kann. Dieser Akt der Auflösung einer bestehenden Assoziation, oder, noch mehr positiv ausgedrückt, der Übergang zweier Inhalte aus der Beziehung einer bestimmten Assoziation in die Beziehung einer neuen, mehr vermittelten Assoziation ist es, der durch das negierende Urteil zum Ausdruck kommt. Jeder der beiden psychischen Zustände für sich genommen, würde zu einem positiven Urteil Anlaß geben, (das Haus hat einen Turm und der Turm ist etwa 100 m vom Haus entfernt), die Auflösung des einen zugunsten des anderen findet in einem negativen ihren natürlichen Ausdruck. Man kann also, wie ich glaube, in dem hier bemühten Fall ganz gut die Auffassung SIGWARTs vertreten, nur möchte ich "Ablehnung eines Urteils" durch das prägnantere "Auflösung einer Assoziation" ersetzen.

Etwas weniger günstig liegt die Sache für SIGWART, wenn es nun zu erklären gilt, wie ich dazu komme, auch nachdem ich meinen früheren Irrtum auf das deutlichste erkannt, trotzdem beim Urteil zu verharren: Dieses Haus hat keinen Turm. Jetzt kann keine Rede mehr vom Urteil sein, dieses Haus hat einen Turm (A); vermag ich doch beim besten Willen nicht mehr, dieses Urteil zu fällen, wiewohl ich mir sehr wohl ein Haus mit Turm  vorstellen  kann. Nur dieses Urteil fälle ich: ich sah vor einer gewissen Zeit den Trum über dem Haus; doch es handelt sich ja nicht um die Ablehnung dieses, sondern eines ganz anderen Urteils. Auch der Vergleich der beiden Tatsachen, daß ich mich erinnere  A  geglaubt zu haben und daß ich gegenwärtig den Turm entfernt vom Haus wahrnehme, kann niemals zu einem negativen Urteil führen, da diese Tatsachen sich gegenseitig gar nicht berühren, vielmehr die eine die andere vollständig zu Recht bestehen läßt. Dagegen bleibt uns noch übrig, die Negation in der  Erinnerung  an die eben vollzogene Auflösung der dem Urteil  A  entsprechenden Assoziation zu setzen. Der Moment des Hinschwindens des früheren (positiven) Urteils wäre damit gewissermaßen festgelegt und in einem neuen (negativen) Urteil verewigt. Ich halte diese Erklärung nicht für unmöglich, immerhin aber für etwas gezwungen.

Arg in die Brüche aber kommen wir mit SIGWARTs Theorie, wenn wir den Sinn der Negation in Fällen begreiflich machen wollen, wo es uns niemals eingefallen ist und einfallen konnte, das entsprechende positive Urteil zu fällen. Ich will nicht einmal von Fällen reden, wo dieses letztere Urteil einen inneren Widerspruch enthält (z. B. das Ganze ist kleiner als ein Teil), um mich nicht von unserem eigentlichen Thema zu weit zu entfernen, sondern mich auf Fälle beschränken, wo das positive Urteil an sich denkbar wäre. Wenn ich vor einem beliebigen Haus stehend das Urteil fälle: dieses Haus hat keinen Turm, so hat das ganz gewiß seinen guten Sinn, auch ohne daß das positive Urteil vorhanden ist, war oder sein wird. Hier bleiben nun die Schwierigkeiten bestehen, die am Anfang dieser Erörterung hervorgehoben wurden. Ein Urteil, das gar nicht vorhanden ist, kann auch nicht abgelehnt werden. Aber vielleicht ist es ein bloß fingiertes Urteil, das abgelehnt werden soll. Sehr schöne, nur macht man sich damit die Sache etwas zu leicht. Denn was ist ein fingiertes Urteil anderes, als ein Urteil, dessen Richtigkeit ich ablehne; demnach wäre die Negationi die Ablehnung eines abgelehnten Urteils, eine Erklärung, die man auch beim besten Willen nicht für sehr tiefsinnig halten kann. Bliebe noch übrig, das, was abgelehnt wird, nicht als fingiertes Urteil, sondern als bloße Vorstellungsverbindung anzusehen. Damit wäre man dann glücklich just bei der BRENTANOschen Theorie angelangt, mit deren Bekämpfung man sich so viel Mühe gegeben hat.

Ich fasse das Gesagte dahin zusammen, daß SIGWARTs Theorie in gewissen Fällen dem psychologischen Tatbestand entspricht und zwar da, wo es sich wahr und wahrhaftig darum handelt, einen Irrtum zurückzuweisen. In allen anderen Fällen versagt sie aber. SIGWART hat zwar eine Quelle der negierenden Urteile aufgedeckt, aber es ist nicht die einzige, die existiert. Jedoch dürfen wir nicht annehmen, daß die der SIGWARTschen Theorie entsprechenden negierenden Urteile nur ausnahmsweise auftreten. Im Gegenteil, sie sind häufig und von großer praktischer (biologischer) Wichtigkeit. Überall da liegen sie vor, wo ein Motiv des W-Vorgangs durch ein stärkeres unterdrückt wird. In dem von uns bemühten Beispiel wurde eine Wahrnehmung durch eine andere korrigiert, ebensogut kann eine (geglaubte) Mitteilung durch eine Wahrnehmung, ein Schluß durch eine Wahrnehmung, eine Wahrnehmung durch einen Schluß (bei Sinnestäuschungen) usw. korrigiert werden.

Ich will jetzt zunächst, um die Erörterung in möglichst enge Bahnen zu schließen, die Frage beantworten, ob  jedes  negative Urteil der Ausdruck für einen Nichtwirklichkeitsvorgang ist. Man könnte geneigt sein, diese Frage zu bejahen mit der Motivierung, daß die Negation gleichbedeutend sei mit dem Ausschluß irgendeines zunächst gedachten Dinges aus dem Bereich der objektiven oder subjektiven Wirklichkeit. Allein eine nähere Überlegung zeigt, daß das keineswegs der Fall ist. Es gibt eine Gruppe von negativen Urteilen, die sich lediglich auf  Inhalte  bezieht, unbekümmert darum, ob ihnen ein Wirklichkeitswert zukommt oder nicht. Entsprechend einem früher gemachten Vorschlag möchte ich diese Urteile als negative Inhaltsurteile bezeichnen. Wenn ich z. B. sage: ein Dreieck hat niemals 4 Winkel, so ist es mir völlig gleichgültig, ob dieses Dreieck in irgendeiner Weise existiert oder nicht, ich will nur behaupten, daß ich am Inhalt Dreieck nicht 4 Winkel vorfinde. Das, was ich in diesem Satz negiere, ist keineswegs die Existenz eines Dreiecks mit 4 Winkeln. Zu fragen, ob ein Dreieck mit 4 Winkeln existiert oder nicht, hat nicht den geringsten Sinn, da ich mir hier unter dem, dessen Existenz in Frage käme, in der Tat gar nichts denke oder vorstelle. Die Vorstellung eines Dreiecks mit 4 Winkeln ist gar nichts, denn, wie sehr ich mich auch anstrengen mag, immer bringe ich es nur dahin, mir ein Dreieck mit 3 Winkeln vorzustellen und wenn ich will, noch den vierten Winkel daneben. Wenn aber die betreffende Vorstellung nichts ist, so ist der zugehörige Gedanke ebensowenig etwas, da er ja Sinn und Bedeutung nur von der Vorstellung erhält. Zwar ist der sprachliche Ausdruck zulässig und sogar gebräuchlich: Ein Dreieck mit 4 Winkeln existiert nicht, allein dieser Ausdruck ist durchaus irreführend. Was ich negiere ist nicht, daß ein Dreieck mit 4 Winkeln existiert, sondern daß ein Dreieck vier Winkel hat. Bevor man über die Wirklichkeit eines Inhalts entscheiden kann, muß dieser Inhalt natürlich vorhanden sein, er kann jedoch nicht ersetzt werden durch eine bloße Kombination von Worten, es sei denn, daß man die Wirklichkeit der Wortklänge oder der entsprechenden Schriftzeichen in Frage stellen will. (2) Dagegen hat es seinen guten Sinn zu behaupten, daß ein Dreieck nicht 4 Winkel hat. Sowohl das Dreieck kann ich mir vorstellen als auch die 4 Winkel, wobei ich finde, daß diese nicht als Teile in jenem enthalten sind.

Wie weit die hier gekennzeichnete Gruppe von Urteilen reicht, ist in Einzelfällen zweifelhaft und oft von der Bedeutung, die man den Worten beilegt, abhängig. Wer z. B. unter Schnee jede lockere, weiße Masse versteht, für den ist das Urteil "Schnee ist nicht schwarz" ein Inhaltsurteil, wer darunter gefrorenes, kristallinisches Wasser versteht, muß dasselbe Urteil als Wirklichkeitsurteil ansehen. - Da, wie unsere Erörterungen zeigen, die negativen  Inhalts urteile keinen Nichtwirklichkeitsvorgang voraussetzen, brauchen sie einer weiteren Besprechung nicht unterzogen zu werden.

Ich gehe jetzt zu den negativen Urteilen, die sich auf die Wirklichkeit beziehen, über und behaupte, daß jedem derartigen Urteil ein Nichtwirklichkeitsvorgang zugrunde liegt, vielen derselben außerdem noch ein Wirklichkeitsvorgang. Je nachdem das letztere der Fall ist oder nicht, kann das Urteil ersetzt werden durch ein positives und ein negatives Existenzialurteil. Die erste dieser beiden Alternativen liegt in den meisten Fällen vor, ja, man kann sich eine Ansicht bilden, wonach sie in allen Fällen vorliegt. Der Satz: "SOKRATES ist nicht krank" ist äquivalent den Urteilen: "SOKRATES existiert, seine Krankheit existiert nicht", (der Einwand, das Urteil, "SOKRATES ist nicht krank" ließe auch die Möglichkeit offen, daß SOKRATES tot ist, ist als Albernheit der Schullogik zurückzuweisen); der Satz: "Kein Pferd ist geflügelt" den Urteilen: "Pferde existieren, an keinem derselben Flügel"; ebenso faßt man am besten den Satz auf: "Geflügelte Pferde gibt es nicht." Wollte man hier behaupten, daß mit diesem Satz über die Existenz oder Nichtexistenz von flügellosen Pferden nichts ausgesagt ist, so möchte ich dagegen einwenden, daß, wenn es überhaupt keine Pferde gäbe, es keinen rechten Sinn hätte, die Nichtexistenz gerade von geflügelten Pferden zu behaupten, vielmehr wäre dann der Terminus  geflügelt,  weil überflüssig, geradezu irreführend. Selbst aus dem Satz: "Flügelpferde gibt es nicht" möchte ich noch den positiven Satz herauslesen, daß es dann doch wenigstens andere Pferde gibt. Weit fraglicher ist das Enthaltensein des positiven Existenzialurteils in dem unzweifelhaft richtigen und an sich möglichen Satz: Es gibt keine sechsbeinige Zentauren. Allein auch hier kann man vielleicht versucht sein, die Behauptung wenigstens der subjektiven Wirklichkeit von andersgestalteten Zentauren als implizit in jenem Satz enthalten zu betrachten.

Der  Wirklichkeitsvorgang,  der durch die meisten, wenn nicht alle, negativen Wirklichkeitsurteil zum Ausdruck gebracht wird, geht uns an dieser Stelle nichts an, dagegen stellen wir jetzt direkt die Frage nach dem Wesen der in ihnen enthaltenen Nichtwirklichkeitsvorgängen. Die Antwort, sie bedeuteten die Ablehnung von Wirklichkeitsvorgängen, kann dem Gesagten zufolge nicht völlig genügen. Im übrigen müssen wir uns bemühen, nach Möglichkeit einen positiven psychologischen Tatbestand als Wesen der Verneinung aufzuweisen. Denn auch die Verneinung, insofern sie überhaupt etwas ist, ist etwas Positives, ja man kann das Paradoxon aussprechen, die Verneinung ist ebenso positiv wie die Bejahung. So wäre es ganz verfehlt, die Verneinung mit dem Ausbleiben eines Tatbestandes erklären zu wollen. Nicht etwas, was nicht ist, sondern nur etwas, was ist, kann ein Seiendes, wie es die Verneinung ist, verständlich machen.

Nehmen wir als Beispiel einen Fall, in dem der Nichtwirklichkeitsvorgang mit großer Sicherheit eintritt. Es soll ein architektonisch gebildeter Mann vor das Straßburger Münster treten, so wird ihm sofort das Fehlen des Oberteils der Türme auffallen, er wird die Nichtwirklichkeit dieses Objekts feststellen. Der hier auftretende Vorgang umfaßt offenbar folgende Momente: zunächst wird die Vorstellung des fehlenden Teiles reproduziert; jedoch nicht nur dieses, soll doch nach unserer Voraussetzung nicht nur das Nichtvorhandensein eines Objektes, sondern sein Fehlen gerade an einer bestimmten Stelle der Wirklichkeit festgestellt werden. Es wird also

2) der reproduzierte Inhalte außerdem mit dem wahrgenommenen Objekt  assoziiert  und zwar im wesentlichen in derselben Art, wie es der Fall wäre, wenn auch das Fehlende wirklich wäre. Daß hier trotzdem kein Wirklichkeitsvorgang vorliegt, liegt offenbar daran, daß wir uns

3) der besonderen gedankenhaften Natur des reproduzierten Inhaltes im Gegensatz zur Qualität des Wahrgenommenen bewußt sind, daß wir das Wahrgenommene mit dem Gedachten zu vergleichen und als verschieden zu spüren imstande sind.

Ich finde also im fraglichen Vorgang der Negierung drei Momente:
    1) eine  Reproduktion, 
    2) Assoziation und
    3) einen  Vergleich, 
der mir eine Verschiedenheit zu Bewußtsein bringt; halte damit den Vorgang aber auch für  völlig erschöpft,  wenigstens vermag ich trotz genauer Selbstbeobachtung ein weiteres nicht zu entdecken.

Wie man sieht, beruth auch unsere Erklärung des Nichtwirklichkeitsvorgangs auf der Anerkennung des Unterschiedes zwischen Inhalten mit und ohne Wirklichkeitsfarbe. Wir können darauf die Probe machen, indem wir einmal annehmen, jener Unterschied wäre nicht vorhanden. Ich behaupte, wir würden alsdann negative Wirklichkeitsurteile nicht fällen, wenigstens nicht so, wie wir es jetzt tun. Kennten wir nichts als Wahrnehmungen, so wäre offenbar der ganze Weltinhalt in positiven Urteilen zu erschöpfen, nirgends wäre der geringste Anhalt, irgendetwas zu negieren. Aber auch wenn alle Inhalte gedankenhaften Charakter trügen, läge die Sache nicht anders, denn jeder überhaupt vorhandene Inhalt wäre dann so wirklich, wie er es nur sein könnte und wie es denkbar wäre, so daß wir auch ihn durchaus nicht negieren könnten. Auch das bloße Vorhandensein beider Arten von Inhalten würde allein zu positiven Existenzialurteilen führen; etwa von der Form: es gibt Wahrgenommenes und es gibt Gedachtes, erst der  Vergleich  kann uns dazu führen, das Gedachte am Wahrgenommenen als etwas Besonderes zu empfinden, als etwas, das aus dem Rahmen der objektiven Wirklichkeit herausfällt. Wollte man diesen Gedanken nach Möglichkeit auf die Spitze treiben, so könnte man sagen: das Grundschema für alle negativen auf objektive Wirklichkeit bezüglichen Urteile lautet: das Gedachte ist nicht wahrgenommen.

Das von uns bemühte Beispiel zeichnete sich dadurch aus, daß der zu negierende Inhalt sich mit besonderer Gewalt dem Beschauer aufdrängte; nicht anders liegen aber die Sachen, wenn die Reproduktion mehr den Charakter des Willkürlichen hat. Wenn ich, während ein Rappe vor mir steht, sage: dieses Pferd ist nicht weiß, so ist damit folgender Vorgang zum Ausdruck gebracht: ich reproduziere die Vorstellung "weiß" und vereinige sie mit den den Komplex  Pferd  zusammensetzenden Wahrnehmungsinhalten in derselben Art, wie die Vorstellung "schwarz" bereits mit ihnen verbunden ist, wobei ich mir der gedankenhaften Beschaffenheit des reproduzierten Elementes im Unterschied zum wahrgenommenen bewußt bind.

Das bisher Gesagte bezog sich auf negative Wahrnehmungsurteile (3), wir können es jedoch ohne Schwierigkeit auch auf solche negative Wirklichkeitsurteile ausdehnen, deren sämtliche Inhalte reproduziert sind. Wir haben oben gesehen, daß der Umstand, ob ich Inhalte von gleicher oder ungleicher Wirklichkeitsfarbe assoziiere, sich auch dann nicht verleugnet, wenn bei späterer Reproduktion diese Inhalte aufgrund der früheren Assoziationsart, die sich zwischen Inhalten entwickelt, die als Wahrnehmungen öfters assoziiert wurden, hier tritt uns als Gegenstück die Ungleichartigkeitsassoziation entgegen. Wenn ich, während ich mich in Norddeutschland befinde, das Urteil fälle: dem Straßburger Münster fehlt der obere Teil eines seiner Türme, so haben in diesem Augenblick zwar sämtliche Inhalte gedankenhaften Charakter, allein das schließt nicht aus, daß das Münster im ganzen als objektiv wirklich, der Turmteil als unwirklich bewertet wird. Ersteres beruth, wie wir gesehen haben, darauf, daß der Inhalt "Münster" mit Objekten, deren Wirklichkeit anerkannt wird, so assoziiert wird, wie es uns die Assoziation von Wahrnehmungen gelehrt hat, dieses darauf, daß die besondere Beziehung von Inhalten, die nach der eben erfolgten Auseinandersetzung auftritt, wenn ich negative Wahrnehmungsurteile fällen soll, auch da dem Bewußtsein erhalten bleibt, wo alle Inhalte reproduziert sind. Der Übergang zwischen Wahrgenommenem und Gedachtem, den mich die Erfahrung kennen gelernt hat, wenn ich das Münster sehe und mir den Turmteil denke, begründet ein besonderes Verhältnis der Inhalte, das sich schließlich auch unabhängig von den gerade vorhandenen Wirklichkeitsfarben geltend macht. So kann der Unterschied der Wirklichkeitsfarben auch da dem Bewußtsein lebendig bleiben, wo er durch direkten Vergleich der vorhandenen Inhalte nicht mehr gefunden werden könnte. - Die ganze Frage ist übrigens schon oben prinzipiell entschieden und bedarf keiner weiteren Erörterung.

Die bisher betracheten Nichtwirklichkeitsvorgänge beruhten auf einer  simultanen  Ungleichartigkeitsassoziation, selbstverständlich beruhen sie in anderen Fällen auf  sukzessiven  Ungleichartigkeitsassoziationen. Eine besondere Begründung auch dieser Behauptung ist jedoch nicht nötig.

Weniger deutlich ist es, daß der N-W-Vorgang in der von uns behaupteten Art auch in den Fällen zustande komme, wo die Wirklichkeit ganz allgemein negiert wird ohne Bezugnahme auf örtliche oder zeitliche Verhältnisse, wo also das entsprechende Urteil nicht singulär, sondern generellt ist. (4) Allein schließlich hat das allgemeine Urteil doch keinen anderen Sinn, als daß eine unbestimmt große Anzahl von Einzelurteilen gelten soll und muß daher auf demselben psychischen Vorgang beruhen wie dieses. Wenn ich behaupte, daß es kein geflügeltes Pferd gibt, so meine ich doch damit: welchen Ort und welche Zeit ich auch betrachten mag, ein in ihm oder ihr gedachtes geflügeltes Pferd ist sicher nicht wirklich; und umgekehrt kann ich jene Behauptung nicht aufstellen, wenn ich nicht die Gewißheit habe, daß sie für jeden Ort und jede Zeit gilt. Mag also die Beziehung auf Ort und Zeit und damit die besondere Assoziationsform mit dem als wirklich Anerkannten nicht immer zu Bewußtsein kommen, gemeint ist sie doch und die Reduktion des N-W-Gedankens führt unausweichlich auf sie hin. Man nehme diesem Gedanken seine Beziehung auf die räumlich-zeitliche Wirklichkeit und man wird finden, daß er völlig leer wird, daß irgendein vernünftiger Sinn an ihm nicht mehr zu erkennen ist.

Wir schließen hiermit diesen Abschnitt, zu dem wir umso mehr verpflichtet waren, als wir früher die Tatsache des Nichtfürwirklichhaltens gegen gewisse Theorien, die wir zurückweisen wollten, ausgespielt haben. Es sei nur noch hervorgehoben, daß wir eine vollständige Theorie der Negation, oder auch nur die vollständigen Grundlagen einer solchen nicht gegeben haben. Die Negation fließt, wie schon einmal angedeutet, aus sehr vielen Quellen, von denen eine der wichtigsten, nämlich das Willensphänomen des Abscheus, hier nicht zur Besprechung kommen konnte. Das Gewässer, zu dem diese Quellen sich schließlich vereinigt haben, macht nun zwar einen ziemlich einheitlichen Eindruck, nichtsdestoweniger dürfte die Negation auch für den entwickelten Intellekt nicht immer genau denselben Sinn haben. Unsere Aufgabe bestand ausschließlich darin, den Sinn der Negation zu erklären, insofern durch sie vorhandenen Inhalten objektive Wirklichkeit abgesprochen wird.
LITERATUR - Georg Wernick, Der Wirklichkeitsgedanke, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie und Soziologie, Bd. 31, Leipzig 1907
    Anmerkungen
    1) ADOLF DYROFF, Der Existenzialbegriff, 1902, Seite 56 und 57. Über eine verwandte Ansicht von COMPANELLA vgl. SIGWART, Logik I, Seite 166
    2) Die entgegengesetzte Ansicht findet man in der Schule BRENTANOs, die dabei einem für sie unabweisbaren Zwang folgt; da nach ihr jede Negierung in der Leugnung eines intentionalen Objekts bestehen soll, muß dieses natürlich wenigstens in der Vorstellung vorhanden sein. Siehe z. ANTON MARTY, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie 18, Seite 469. Seine Behauptung, daß ein hölzernes Bügeleisen die Wirklichkeit des Gedachtwerdens hat, wird bei jedem unbefangenen Leser Kopfschütteln erregen.
    3) Man hat am Ausdruck  negatives Wahrnehmungsurteil  Anstoß genommen und in der Tat ist derselbe nicht ganz zutreffend, da ja in den damit gemeinten Urteilen auch nicht wahrgenommene Inhalte auftreten müssen. Man könnte etwa das negative Wahrnehmungsurteil als ein solches erklären, das sich an eine Wahrnehmung anschließt. Doch scheint mir ein Streit um die Terminologie sich an dieser Stelle nicht der Mühe zu lohnen.
    4) Daß jedes negative (Existenzial-)Urteil generell sei, wie MARTY lehrt, kann ich nicht zugeben. FÜr das von MARTY als Paradigma benutzte Beispiel: es gibt keine schwarzen Rosen, trifft seine Behauptung zwar zu, dagegen ist z. B. das Urteil: der Oberteil am Turm des Straßburger Münsters ist nicht vorhanden, ohne Zweifel singulär.