p-4Ernst MeumannJoseph ChurchClara u. William Stern    
 
LEW SEMJONOWITSCH WYGOTSKI
Die kindliche Begriffsentwicklung
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Forschungsprobleme und -methoden
Ursprung des Denkens
Experimente zur Begriffsentwicklung
Gedanke und Wort
Die innere Sprache
"Ohne die gegenseitige Verständigung könnte kein Lautkomplex zum Träger der Wortbedeutung werden, könnten keine Begriffe entstehen."

Für den Aufbau eines Komplexes ist es wesentlich, daß ihm keine abstrakte und logische, sondern eine konkrete und faktische Beziehung zwischen den einzelnen dazugehörigen Elementen zugrunde liegt. Wir sind niemals in der Lage zu entscheiden, ob eine bestimmte Person der Familie Petrow angehört und ob sie so genannt werden kann, wenn wir uns nur auf ihre logische Beziehung zu den anderen Trägern des gleichen Namens stützen. Diese Frage wird auf Grund der faktischen Zugehörigkeit oder der faktischen Verwandtschaft zwischen den Menschen entschieden.

Dem Komplex liegen faktische Beziehungen zu Grunde, die in der unmittelbaren Erfahrung entdeckt werden. Daher ist ein solcher Komplex in erster Linie eine konkrete Zusammenfassung einer Gruppe von Dingen auf Grund ihrer "faktischen Nähe". Daraus ergeben sich auch alle übrigen Besonderheiten dieses Denkverfahrens. Da ein derartiger Komplex auf der Ebene des konkret-faktischen Denkens liegt, unterscheidet er sich nicht durch die Einheit der Beziehungen, die ihm zu Grund liegen und die mit seiner Hilfe hergestellt werden.

Der Komplex ist wie der Begriff eine Verallgemeinerung oder Vereinigung konkreter Dinge, aber während einem Begriff logisch untereinander identische Beziehungen eines einheitlichen Typus zu Grunde liegen, beruht der Komplex auf den verschiedenartigsten faktischen Beziehungen, die oft nichts miteinander gemeinsam haben. Im Begriff sind die Dinge nach einem einzigen Merkmal verallgemeinert, im Komplex aus den verschiedensten faktischen Gründen. Daher findet im Begriff der wesentliche Zusammenhang seine Widerspiegelung, im Komplex dagegen ein zufälliger und konkreter.

Die Vielfalt der Beziehungen unterscheidet den Komplex von der Einheitlichkeit der Beziehungen beim Begriff. Das heißt, daß jedes von einem verallgemeinerten Begriff erfaßte Einzelding in diese Verallgemeinerung auf Grund einer vollkommenen Identität mit allen anderen Dingen einbezogen wird. Alle Elemente sind hier mit dem Ganzen und miteinander durch ein einheitliches Bild, durch eine Beziehung ein und desselben Typus verbunden.

Zum Unterschied davon kann jedes Element des Komplexes mit dem Ganzen und mit den einzelnen Elementen durch die verschiedensten Beziehungen verknüpft sein. Im Begriff bestehen diese Beziehungen im wesentlichen in dem Verhältnis des Allgemeinen zum Besonderen und des Besonderen zum Besonderen durch das Allgemeine. Im Komplex können diese Beziehungen ebenso mannigfaltig sein wie die faktischen Berührungen und die faktischen Verwandtschaften der verschiedensten Dinge, die zueinander in irgendeiner konkreten Beziehung stehen.

Unsere Untersuchungen haben auf dieser Entwicklungsstufe fünf Grundformen von Komplexen ergeben, die den auf dieser Entwicklungsstufe entstehenden Verallgemeinerungen zu Grunde liegen.

Den ersten Komplextypus nennen wir den "assoziativen", da ihm eine assoziative Verbindung mit einem vom Kind festgestellten Gegenstandsmerkmal zu Grunde liegt, das im Experiment den Kern des künftigen Komplexes bildet. Das Kind kann um diesen Kern herum einen Komplex aufbauen und dabei die verschiedensten Gegenstände darin einbeziehen; die einen, weil sie in der Farbe, die anderen weil sie in der Form, wieder andere, weil sie im Format und wiederum andere, weil sie in noch irgendeinem dem Kinde in die Augen fallenden Unterscheidungsmerkmal mit dem gegebenen Gegenstand identisch sind.

Eine beliebige vom Kind entdeckte konkrete Beziehung, eine beliebige assoziative Verbindung zwischen dem Kern und dem Element des Komplexes ist ausreichend, um diesen Gegenstand der Gruppe zuzuweisen und mit einem gemeinsamen Familiennamen zu belegen.

Die Elemente brauchen untereinander überhaupt nicht verbunden zu sein. Das einzige Prinzip ihrer Verallgemeinerung ist ihre faktische Verwandtschaft mit dem Kern des Komplexes. Dabei kann die Beziehung, die sie mit letzterem verknüpft, eine beliebige assoziative Verbindung sein. Berücksichtigt man, daß diese Verbindung nicht nur in einem ihr zu Grunde liegenden Merkmal verschieden sein kann, sondern auch im Charakter der zwischen den Dingen bestehenden Beziehungen selbst, dann wird klar, wie bunt, ungeordnet, wenig systematisiert, uneinheitlich, obwohl auf objektive Verbindungen gegründet, der Wechsel zahlreicher hinter dem komplexen Denken aufgedeckter konkreter Merkmale ist.

Dieser Vielzahl kann nicht nur eine direkte Identität der Merkmale, sondern auch ihre Ähnlichkeit oder Gegensätzlichkeit, bzw. ihre assoziative Verbindung auf Grund einer Berührung usw., aber immer und unbedingt eine konkrete Beziehung zu Grunde liegen.

Für das in dieser Entwicklungsstufe stehende Kind hören die Wörter bereits auf, Bezeichnungen für einzelne Dinge, Eigennamen zu sein, sie sind zu Familiennamen geworden. Einen gegebenen Gegenstand mit dem entsprechenden Namen zu nennen bedeutet für das Kind, ihn einem bestimmten konkreten Komplex zuzuweisen, mit dem er verbunden ist. Ein Ding zu bezeichnen heißt für das Kind in dieser Zeit, es beim Familiennamen zu nennen.

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Die zweite Phase in der Entwicklung des komplexen Denkens ist die Vereinigung der Dinge in Gruppen, die in ihrem Aufbau an Sammlungen erinnern. Hier werden verschiedene konkrete Dinge durch gegenseitige Ergänzung nach einem einzigen Merkmal vereinigt und bilden so ein Ganzes, das aus heterogenen Teilen besteht. Die heterogene Zusammensetzung, die gegenseitige Ergänzung und die Vereinigung in einer Sammlung kennzeichnet diese Stufe in der Entwicklung des Denkens.

Unter den Bedingungen des Experiments wählt das Kind zu einer gegebenen Vorlage andere Figuren, die sich von dieser in Farbe, Form, Größe oder einem anderen Merkmal unterscheiden. Es wählt sie jedoch nicht zufällig aus, sondern nach ihrer Unterscheidung und Ergänzung zu einem Merkmal, das in dem Muster enthalten und von dem Kind für das Vereinigungsprinzip gehalten worden ist. Eine solche Sammlung in Farbe oder Form verschiedener Gegenstände stellt einen Satz von Grundfarben oder -formen dar, die im Experimentiermaterial vorkommen.

Der wesentliche Unterschied des Sammlungstyps vom assoziativen Komplex ist der, daß in die Sammlung keine Dubletten der Gegenstände aufgenommen werden, die ein und dasselbe Merkmal besitzen. Von jeder Gruppe von Gegenständen werden gewissermaßen Einzelexemplare als Vertreter der ganzen Gruppe ausgewählt. Anstelle von Ähnlichkeitsassoziationen wirken hier eher Kontrastassoziationen. Allerdings verbindet sich diese Form. Bei der Zusammenstellung der Sammlung führt das Kind das von ihm bei der Bildung des Komplexes zu Grunde gelegte Prinzip nicht konsequent durch, sondern verbindet assoziativ verschiedene Merkmale, legt aber dennoch jedes Merkmal der Sammlung zu Grunde.

Diese langdauernde und stabile Phase ist tief in der gesamten anschaulichen und praktischen Erfahrung des Kindes verwurzelt. Das Zusammenfügen von Einzeldingen zu einer Sammlung, der einheitliche Satz einander gegenseitig ergänzender Gegenstände ist die häufigste Form der Verallgemeinerung konkreter Eindrücke. Teeglas, Untertasse und Teelöffel, das Eßbesteck, bestehend aus Gabel, Messer, Löffel und Teller; die Kleidung des Kindes - all das sind Muster natürlicher Komplexe in Form von Sammlungen, mit denen das Kind in seinem Alltagsleben in Berührung kommt.

Daher ist es verständlich, daß das Kind auch in seinem verbalen Denken zum Aufbau solcher "Komplex-Sammlungen" kommt, indem es Gegenstände zu konkreten Gruppen nach dem Merkmal der funktionalen Ergänzung zusammenstellt. Wir werden sehen, daß auch im Denken des Erwachsenen, (auch in dem der Nerven- und Geisteskranken) solche Sammlungstypen eine bedeutsame Rolle spielen. Oft meint der erwachsene Mensch, wenn er von Geschirr oder von Kleidung spricht, nicht so sehr den entsprechenden abstrakten Begriff, als vielmehr die entsprechenden Sätze konkreteer Sachen, die eine Sammlung bilden.

Während den synkretischen (emotional-subjektiv verbundenen) Bildern emotional-subjektive Verbindungen zu Grunde liegen und dem assoziativen Komplex die Wiederholung und die aufdringliche Ähnlichkeit der Merkmale einzelner Dinge, so beruht die Sammlung auf den in der praktisch wirksamen und anschaulichen Erfahrung des Kindes festgestellten Beziehungen. Man könnte auch sagen, daß die Komplex-Sammlung eine  Verallgemeinerung von Dingen  auf der Grundlage ihrer Mitbeteiligung an einer einheitlichen praktischen Operation darstellt.


Der Kettenkomplex

Hinter der zweiten Entwicklungsphase des komplexen Denkens folgt nach den experimentellen Befunden der Kettenkomplex als notwendige Stufe im Verlauf zunehmender Beherrschung der Begriffe durch das Kind.

Der Kettenkomplex baut sich nach dem Prinzip der  zeitweiligen Vereinigung einzelner Glieder zu einer einheitlichen Kette,  nach dem Prinzip der Bedeutungsübertragung bei den einzelnen Gliedern dieser Kette auf. Unter experimentellen Bedingungen stellt sich dieser Komplextypus gewöhnlich in folgender Form dar:
Das Kind wählt zu der gegebenen Vorlage einen Gegenstand bzw. mehrere Gegenstände nach einer bestimmten assoziativen Beziehung aus; dann sucht das Kind weitere konkrete Gegenstände, wobei es sich nun von einem anderen nebensächlichen Merkmal des vorher ausgewählten Gegenstandes leiten läßt, das die Vorlage selbst gar nicht mehr besitzt.
So wählt das Kind beispielsweise zu der Vorlage, einem gelben Dreieck, einige eckige Figuren, danach, wenn die letzte ausgesuchte Figur zufällig blau ist, wählt es einige andere Figuren in blauer Farbe, z.B. kreis- oder halbkreisförmige. Dies genügt wieder, um zu einem neuen Merkmal zu kommen und weitere Gegenstände nun nach dem Merkmal der Rundheit auszuwählen. So vollzieht sich ein ständiger Übergang von einem Merkmal zu einem anderen.

Die Bedeutung eines Wortes verschiebt sich damit über die Glieder eines Kettenkomplexes. Jedes Glied ist sowohl auf das vorhergehende als auch auf das folgende bezogen, wobei der Charakter der Beziehung oder die Art der Verbindung ganz verschieden sein kann.

Jedes Kettenglied wird durch seine Einbeziehung in den Komplex ein der Vorlage gleichwertiges Glied und kann nach dem assoziativen Merkmal zum Anziehungszentrum für eine Reihe konkreter Gegenstände werden.

Hier sehen wir, bis zu welchem Grade das komplexe Denken  anschaulich-konkreten und bildhaften Charakter  trägt. Der nach einem assoziativen Merkmal in einen Komplex einbezogene Gegenstand geht darin mit allen seinen Merkmalen ein, aber nicht als Träger eines bestimmten Merkmals, durch das er zu dem gegebenen Komplex gehört. Ein solches Merkmal hat das Kind nicht von allen übrigen abstrahiert und ihm kommt keine spezifische Bedeutung zu, sondern es ist  pares inter pares  (Gleiches unter Gleichen), eins unter vielen Merkmalen.

Hier haben wir die für das komplexe Denken wesentliche Eigenart vor Augen, durch die es sich vom begrifflichen Denken unterscheidet. Im Komplex fehlen zum Unterschied von den Begriffen die hierarchischen Beziehungen der Merkmale. Alle Merkmale sind in ihrer Bedeutung grundsätzlich gleich. Die Beziehungen des Allgemeinen zum Besonderen, d.h. des Komplexes zu jedem einzelnen zu ihm gehörenden konkreten Element, und die Beziehung der Elemente unter sich, ebenso wie auch das Gesetz des Aufbaus der gesamten Verallgemeinerung, unterscheiden sich vom Aufbau des Begriffs wesentlich.

In einem Kettenkomplex kann das strukturelle Zentrum völlig fehlen. Einzelne konkrete Elemente brauchen mit anderen Elementen nichts gemeinsam zu haben, können aber dennoch ein und demselben Komplex angehören, weil sie mit einem anderen Element ein Merkmal gemeinsam haben, und dieses andere Element seinerseits mit einem dritten verbunden ist usw. Das erste und das dritte Element braucht miteinander in keinerlei Verbindung zu stehen, außer daß beide, jedes nach seinem Merkmal, mit dem zweiten verbunden ist.

Wir sind daher berechtigt,  den Kettenkomplex als reinste Form des komplexen Denkens  zu betrachten, denn zum Unterschied vom assoziativen Komplex fehlt ihm das von der Vorlage gebildete Zentrum. Das bedeutet, daß im assoziativen Komplex die Verbindungen der einzelnen Elemente immer noch über ein gewisses ihnen allen gemeinsames Element hergestellt werden, während der Kettenkomplex kein solches Zentrum hat.

Um das Verhältnis des einzelnen Elements zum ganzen Komplex zu charakterisieren, könnten wir sagen, daß das konkrete Element als anschauliche Einheit mit allen faktischen Merkmalen und Verbindungen in den Komplex eingeht. Der Komplex steht im Gegensatz zum Begriff nicht über seinen Elementen.

Diese Verschmelzung des Allgemeinen und des Besonderen, des Komplexes und des Elements, dieses - wie WERNER sagt -, psychische Amalgam - bildet den wesentlichsten Zug des komplexen Denkens und des besonderen Kettenkomplexes. Deshalb nimmt der Komplex häufig einen sehr unbestimmten, verschwommenen Charakter an.

Die Beziehungen gehen unmerklich ineinander über und unmerklich verändert sich auch ihr Charakter. Häufig ist eine entfernte Ähnlichkeit, die oberflächlichste Berührung der Merkmale ausreichend für eine faktische Verbindung. Die Annäherung der Merkmale wird oft nicht so sehr durch ihre Ähnlichkeit vorgenommen, als vielmehr durch eine entfernte Gemeinsamkeit. So entsteht unter den Bedingungen der experimentellen Analyse die vierte Phase in der Entwicklung des komplexen Denkens, der diffuse Komplex.

Der diffuse Komplex

In diesem Komplex-Typus wird das die einzelnen Elemente verbindende Merkmal selbst gewissermaßen unbestimmt und verschwommen. Im Ergebnis bildet sich dann ein  Komplex, in dem durch diffuse, unbestimmte Verbindungen, die anschaulich -konkreten Gruppen von Bildern oder Dingen vereinigt  werden. Ein Kind wählt z.B. zu einer gegebenen Vorlage - einem gelben Dreieck - nicht nur Dreiecke, sondern auch Trapeze, da die kindliche Versuchsperson dadurch an Dreiecke mit einer abgeschnittenen Spitze erinnert wird.

Weiter schließen sich den Trapezen Quadrate an, den Quadraten Sechsecke, den Sechsecken Halbkreise und dann Kreise. Ebenso wie hier die für das Hauptmerkmal gehaltene Form verschwommen wird, verschmelzen mitunter die Farben, wenn dem Komplex ein diffuses Farbmerkmal zu Grunde gelegt wird. Das Kind wählt nach den gelben Gegenständen grüne, zu den grünen blaue, zu den blauen schwarze.

Diese unter natürlichen Bedingungen der Entwicklung des Kindes ebenfalls sehr stabile Form des komplexen Denkens ist für die experimentelle Analyse auch deshalb interessant, weil sie die Unbestimmtheit der Konturen und die prinzipielle Grenzenlosigkeit hier erkennen läßt.

So wie der alttestamentarische Stamm, als ganz konkreter Familienverband von Menschen, davon träumte, sich zu vermehren und unzählbar zu werden wie die Sterne des Himmels und der Sand des Meeres, so stellt auch der diffuse Komplex im Denken des Kindes einen Familienverband von Dingen dar, der unendliche Möglichkeiten der Erweiterung und der Einbeziehung immer neuer, jedoch völlig konkreter Dinge in den ursprünglichen Stamm in sich einschließt.

Während die Komplex-Sammlung im natürlichen Leben des Kindes vorwiegend durch Verallgemeinerungen aufgrund einer Verwandtschaft einzelner Dinge vertreten ist, so sind die natürlichen Analogien des diffusen Komplexes die kindlichen Verallgemeinerungen, die keiner praktischen Kontrolle unterliegen, also die des nicht-anschaulichen und nicht-praktischen Denkens.

Wir wissen, welche unerwartete, dem Erwachsenen oft unverständlichen Annäherungen, welche Gedankensprünge, welche gewagten Verallgemeinerungen und welche diffusen Übergänge beim Kind häufig erkennbar werden, wenn es mit seinen Überlegungen über die Grenzen seiner anschaulich -gegenständlichen kleinen Welt und der aus seiner praktischen Tätigkeit gewonnenen Erfahrungen hinausgeht.

Hier gerät das Kind in diffuse Verallgemeinerungen, bei denen die Merkmale unmerklich ineinander übergehen. Hier gibt es keine festen Konturen. Hier herrschen unabgegrenzte Komplexe, die oft durch die Universalität ihrer Beziehungen überraschen.

Aber sowohl bei diesem Komplextyp wie bei dem begrenzten konkreten Komplex geht das Kind nicht über die Grenzen der anschaulich -bildhaften, konkreten Beziehungen zwischen den einzelnen Dingen hinaus. Der Unterschied besteht lediglich darin, daß - da ja dieser Komplex Dinge vereint, die außerhalb der praktischen Erkenntnis des Kindes liegen -, diese Beziehungen eben auch auf falschen und unbestimmten Merkmalen beruhen.

Der Pseudo-Begriff

Die letzte Form des komplexen Denkens, die sowohl im Experiment als auch im wirklichen Leben für das Denken des Kindes von großer Bedeutung ist, beleuchtet alle Stufen des komplexen Denkens und stellt die Brücke zum Übergang zu einer neuen, höheren Stufe - zur Begriffsbildung - dar.

Wir nennen diesen Komplextypus "Pseudobegriff", weil die kindlichen Verallgemeinerungen ihrer äußeren Form nach an den Begriff des erwachsenen Menschen erinnern, aber ihrer psychologischen Natur nach etwas völlig anderes darstellen.

Wir haben es hier mit einer komplexen Verbindung einer Reihe konkreter Dinge zu tun, die phänotypisch, d.h. in ihrer äußeren Form mit dem Begriff zusammenfällt, die aber genetisch, also nach den Bedingungen ihrer Entstehung und Entwicklung, bzw. nach ihren kausal -dynamischen Grundlagen, keinen Begriff darstellt. Darum bezeichnen wir ihn als Pseudobegriff.

Im Experiment bildet das Kind immer dann einen Pseudobegriff, wenn es zu der gegebenen Vorlage eine Reihe von Gegenständen wählt, die auch als Grundlage irgendeines abstrakten Begriffs zusammengestellt und miteinander vereinigt werden könnten. Die Verallgemeinerung könnte also echt begrifflich erfolgen, tatsächlich ensteht sie aber durch komplexes Denken.

Nur im Endergebnis fällt die komplexe mit einer begrifflichen Verallgemeinerung zusammen. Das Kind stellt beispielsweise zu der gegebenen Vorlage - einem gelben Dreieck - alle im Versuchsmaterial vorhandenen Dreiecke zusammen. Einer solchen Gruppe könnte auch der Begriff oder die Idee des Dreiecks zu Grunde liegen. Wie die weitere Untersuchung aber zeigt, hat das Kind die Gegenstände in der Wirklichkeit auf Grund ihrer konkreten und anschaulichen Verbindungen vereinigt, also lediglich einen begrenzten assoziativen Komplex gebildet, und ist dabei zu dem gleichen Ergebnis gekommen, obgleich es einen ganz anderen Weg gegangen ist.

Dieser Komplextypus ist für das reale Denken des Kindes von dominierender Bedeutung. Wir müssen deshalb etwas ausführlicher auf ihn eingehen, da hier ein Einschnitt vorliegt, der das komplexe vom begrifflichen Denken trennt und gleichzeitig beide Stufen der Begriffsbildung verbindet.

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Die Pseudobegriffe sind die verbreitetste und oft fast ausschließliche Form des komplexen Denkens im Leben des Vorschulkindes. Ihre Verbreitung und Vorherrschaft hat ihre Ursache darin, daß sich die der Wortbedeutung entsprechenden Komplexe  nicht frei, nicht spontan  in irgendwelchen vom Kinde selbst umrissenen Bahnen entwickeln, sondern in Richtung der in der Sprache der Erwachsenen bereits festliegenden Bedeutungen der Wörter, die zueinander in irgendeiner konkreten Beziehung stehen.

Im Experiment befreien wir das Kind von diesem lenkenden Einfluß der Wörter unserer Sprache mit ihrem bereits feststehenden Bedeutungsumfang, lassen das Kind die Bedeutung der Wörter entwickeln und nach seinem Ermessen komplexe Verallgemeinerungen schaffen. Das Experiment zeigt uns, wie die Kindersprache beschaffen wäre und zu welchen Verallgemeinerungen das Kind durch sein Denken käme, wenn es nicht durch die Sprache seiner Umwelt gelenkt wäre. Die Sprache setzt aber von vornherein den Kreis konkreter Dinge voraus, auf die die Bedeutung eines gegebenen Wortes ausgedehnt werden kann.

Man könnte uns entgegenhalten, daß der gebrauchte Konjunktiv eher gegen als für das Experiment spricht. Das Kind ist doch während der Entwicklung von Bedeutungen, die es aus der Sprache der Erwachsenen erhält, tatsächlich nicht frei.

Aber das Experiment enthüllt uns die dem oberflächlichen Betrachter verborgene, aktive Tätigkeit des Kindes bei der Bildung von Verallgemeinerungen. Diese Aktivität ist nicht ausgelöscht, sondern wird nur verdeckt und nimmt durch den lenkenden Einfluß der Erwachsenensprache einen komplizierten Ausdruck an. Das von den konstanten Wortbedeutungen gelenkte Denken des Kindes verändert die Grundgesetze seiner Tätigkeit nicht, diese drücken sich unter den konkreten Bedingungen der wirklichen Entwicklung des kindlichen Denkens lediglich besonders aus.

Die Sprache der sozialen Umwelt lenkt die eigene Aktivität des Kindes auf eine genau umrissene Bahn. Aber während das Kind diesen vorgezeichneten Weg geht, denkt es gemäß seiner Entwicklungsstufe des Intellekts.

Die Wiege der Verbreitung und Übertragung der Wortbedeutungen werden von den Menschen der Umgebung dem Kind im sprachlichen Umgang gegeben. Aber das Kind kann sich nicht gleich die Denkweise der Erwachsenen aneignen, und so entsteht ein Produkt, das dem der Erwachsenen ähnlich ist, das aber mit andersartigen intellektuellen Operationen erzielt worden ist. Und das ist der Pseudobegriff. Er fällt äußerlich mit den Wortbedeutungen der Erwachsenen zusammen, ist aber innerlich von ihnen verschieden.

Es wäre falsch, in dieser Dualität eine Diskrepanz im Denken des Kindes zu erblicken. Eine Diskrepanz besteht für den Beobachter, der den Prozeß von zwei Standpunkten untersucht. Für das Kind selbst bestehen Komplexe, die den Begriffen der Erwachsenen äquivalent sind, d.h. Pseudobegriffe. Das Kind bildet einen Komplex mit allen typischen Eigenschaften des komplexen Denkens, aber sein Produkt fällt praktisch mit der Verallgemeinerung zusammen, die sich durch begriffliches Denken hätte ergeben können.

Wegen dieses gemeinsamen Denkresultats wird es schwierig zu unterscheiden, womit wir es nun tatsächlich zu tun haben, mit komplexem oder mit begrifflichem Denken. Die verdeckte Form des komplexen Denkens, die durch äußere Ähnlichkeit zwischen dem wirklichen und dem Pseudobegriff entsteht, ist das wichtigste Hindernis einer genetischen Analyse.

Dieser Umstand, die äußerliche Ähnlichkeit zwischen dem Denken eines dreijährigen Kindes und dem eines Erwachsenen, die praktische Übereinstimmung in den Wortbedeutungen bei den Kindern und Erwachsenen, die funktionale Äquivalenz von Komplex und Begriff führten einige Forscher zu dem falschen Schluß, daß das Denken des dreijährigen Kindes - allerdings in unentwickelter Form - bereits alle intellektuellen Tätigkeiten des Erwachsenen enthält, und daß folglich im Übergangsalter kein entschieden neuer Schritt bei der Aneignung der Begriffe erfolgt.

Die Ursache dieses Irrtums ist leicht zu erkennen. Das Kind eignet sich sehr früh eine Reihe von Wörtern an, deren Bedeutung für es mit den gleichen Bedeutungen bei den Erwachsenen zusammenfällt. Durch die Möglichkeit der Verständigung entsteht der Eindruck, daß  der Endpunkt der Entwicklung der Wortbedeutung mit dem Anfangspunkt zusammenfällt,  daß von Anfang an der fertige Begriff vorhanden ist. Wer (wie ACH) Begriff und anfängliche Bedeutung des Wortes gleichsetzt, wird unvermeidlich zu diesem falschen Schluß kommen.

Die Grenze zwischen dem Pseudobegriff und dem echten Begriff zu finden, ist eine sehr schwierige, für eine rein formale, phänotypische Analyse fast unlösbare Aufgabe. Äußerlich hat der Pseudobegriff mit dem echten Begriff ebensoviel Ähnlichkeit wie ein Wal mit einem Fisch. Wendet man sich dagegen dem "Ursprung der Arten" der intellektuellen und tierischen Formen zu, dann ist der Pseudo-Begriff genau so eindeutig zum komplexen Denken zu zählen wie der Wal zu den Säugetieren.

Wir haben es also mit einem Komplex zu tun, der praktisch mit dem Begriff zusammenfällt und faktisch denselben Kreis konkreter Dinge so erfaßt wie dieser. Wir haben den Schatten eines Begriffs, seine Konturen vor uns. Nach dem bildhaften Ausdruck eines Autors haben wir es mit einem Bild zu tun, das "man in keiner Weise für ein einfaches Zeichen des Begriffes ansehen kann. Es ist eher das Gemälde, die geistige Zeichnung eines Begriffs, eine kleine Erzählung von ihm". Andererseits ist der Komplex nach völlig anderen Gesetzen aufgebaut als ein echter Begriff.

Wie dieser Widerspruch entsteht und wodurch er bedingt ist, haben wir oben bereits dargelegt. Wir haben gesehen, daß die Sprache der Erwachsenen mit ihren konstanten Bedeutungen die Wege der Entwicklung der kindlichen Verallgemeinerungen bestimmt. Das Kind baut seine Komplexe nicht frei auf. Es findet sie im Verstehen der Rede anderer bereits aufgebaut vor. Es erhält in in fertiger Form eine durch das betreffende Wort bereits verallgemeinerte Reihe konkreter Dinge.

Einfach ausgedrückt, schafft sich das Kind seine Sprache nicht selbst, sondern eignet sich die fertige Sprache der Erwachsenen seiner Umgebung an. Damit ist alles gesagt, auch die Tatsache, daß das Kind die der Wortbedeutung entsprechenden Komplexe mit Hilfe allgemeiner Wörter und Bezeichnungen fertig klassifiziert vorfindet.

Wir haben auch bereits gesagt, daß der kindliche Pseudobegriff mit dem echten Begriff zwar in der äußeren Form, im Endergebnis des Denkens zusammenfällt, daß aber das Kind mit dem Erwachsenen im Denkverfahren durchaus nicht übereinstimmt. Gerade daraus entsteht die große funktionellen Bedeutung des Pseudobegriffs als  besondere, innerlich widersprüchliche Doppelform des kindlichen Denkens. Gäbe es den Pseudobegriff nicht, würden die kindlichen Komplexe, wie in der experimentellen Praxis, in der das Kind nicht durch die gegebene Wortbedeutung gebunden ist, mit den Begriffen des Erwachsenen völlig divergieren.

Das gegenseitige Verstehen, der sprachliche Verkehr zwischen Erwachsenen und Kindern wäre unmöglich. Dieser Verkehr ist eben nur möglich, weil die kindlichen Komplexe sich faktisch mit den Begriffen der Erwachsenen decken. Die Begriffe und das geistige Gemälde der Begriffe sind funktionelle Äquivalente. Das in Komplexen denkende Kind und der in Begriffen denkende Erwachsene stellen eine gegenseitige Verständigung deshalb her und treten in sprachlichen Verkehr, weil sich ihr Denken in dem zusammenfallenden Komplex-Begriffen trifft.

Wir haben bereits am Anfang dieses Kapitels gesagt, daß die ganze Schwierigkeit des genetischen Problems der Begriffsbildung darin besteht, diesen in den kindlichen Begriffen vorhandenen inneren Widerspruch zu verstehen. Das Wort ist von den ersten Tagen seiner Entwicklung ein Mittel der Kommunikation und des gegenseitigen Verständnisses zwischen dem Erwachsenen und dem Kind. Wegen der gegenseitigen Verständigung mit Hilfe von Wörtern entsteht, wie ACH gezeigt hat, eine bestimmte Wortbedeutung und wird zum Träger eines Begriffs. Ohne die gegenseitige Verständigung könnte kein Lautkomplex, wie USNADSE sagt, zum Träger der Wortbedeutung werden, könnten keine Begriffe entstehen.

Bekanntlich entsteht aber der sprachliche Kontakt zwischen Erwachsenen und Kindern sehr früh, was viele Forscher zu der Annahme veranlaßte, daß sich die Begriffe ebenso früh entwickeln. Wie wir oben mit USNADSE gesagt haben, entwickeln sich die echten Begriffe im Denken des Kindes jedoch relativ spät.

"Es ist völlig klar", sagt USNADSE, "daß die Wörter, ohne bereits die Stufe voll entwickelter Begriffe zu erreichen, deren Funktion übernehmen und als Verständigungsmittel zwischen sprechenden Menschen dienen können". Dieser Widerspruch zwischen der späten Entwicklung des Begriffs und der frühen Entwicklung der sprachlichen Verständigung findet seine Lösung im Pseudobegriff als der Form des komplexen Denkens, die das Denken und die Verständigung zwischen Erwachsenen und Kindern zusammenfallen läßt.
LITERATUR - Lew S. Wygotski, Denken und Sprechen, Berlin 1906