cr-4L. BoltzmannE. Meyerson P. DuhemV. KraftGiambattista Vico    
 
BERNARD BOLZANO
Wissenschaftslehre I
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    "So wandle du - der Lohn ist nicht gering -
    nicht schwankend hin, wie jener Saemann ging,
    Daß bald ein Korn, des Zufalls leichtes Spiel,
    hier auf den Weg, dort zwischen Dornen fiel:
    Nein! streue klug wie reich, mit männlich steter Hand,
    den Segen aus auf ein geackert Land;
    dann laß es ruhn: die Ernte wird erscheinen,
    und dich beglücken, wie die Deinen." - Goethe

Vorwort der Verlagshandlung

Die unterzeichnete Verlagshandlung hat in reinem Eifer für die deutsche Literatur es sich von jeher zu einem besonderen Vergnügen gemacht, solche Werke durch den Druck ans Licht zu fördern, die, wenn auch von kostspieligem Umfang und ohne Aussicht zu schneller, pekuniärer Enschädigung, doch ausgezeichnet durch ihre Verfasser und ihren inneren Gehalt, die Förderung eines  gemeinnützigen Zweckes für Wissenschaft und Leben, den Zeitgenossen wie der Nachwelt verbürgen. Ein solches ausgezeichnetes Werk erkannte sie auch in gegenwärtiger  Wissenschaftslehre oder  Logik, das verlässige Hände ihr zur Publikation übergeben und anvertraut haben. Indem sie zu vollständiger und gefälliger Herausgabe desselben weder Aufwand noch Sorgfalt gescheut hat, rechnet sie vertrauensvoll auf Teilnahme und Dank der Männer vom Fach, der gelehrten Anstalten, ja aller gebildeten Literaturfreunde. Zumal nimmt sie hierbei die Aufmerksamkeit aller deutschen Bibliotheken in Anspruch, so wie sie einer unbefangenen Würdigung des in seiner Art vielleicht einzigen Werkes durch die öffentlichen Blätter mit Ruhe entgegengesetzt. Den Herausgebern muß sie bezeugen, daß sie das Manuskrip ihr ganz unentgeltlich geliefert und sie dafür nur zu einer möglich niedrigsten Stellung des Verkaufspreises verpflichtet haben. Dieser Verpflichtung glaubt sie Genüge zu leisten und erklärt überdies, daß sie zum Besten derer, denen die Anschaffung des ganzen Werkes auf einmal zu schwer fallen würde, die Bände auch einzeln ablassen wolle.

J. E. v. SEIDELsche Buchhandlung



Vorwort der Herausgeber

Die Herausgeber haben nicht Anstand genommen, dem Buch, das sie hier endlich ans Licht treten lassen, sogleich den Namen des Verfassers vorzusetzen, da derselbe ohnehin nicht lange unbekannt bleiben darf und soll. (1) Dann aber werden auch alle, die seine Sinnesart und Verhältnisse näher kennen, sich zu erklären wissen, warum es nötig geschienen, dieses Werk wider sein eigenes Wissen und Wollen ins Publikum zu bringen. Auf einem Weg, den wir uns hüten wollen, dem Verfasser bekannt zu geben, - obgleich wir nicht die geringste Ursache haben, uns der dabei angewendeten Mittel zu schämen, - gelang es uns, sein Werk zu erhalten, nachdem er so eben eine neue Revision desselben beendigt hatte. Zwar gestehen wir, vernommen zu haben, daß nach des Verfassers Absicht auch diese Revision noch nicht die letzte sein sollte: doch erlauben wir uns, den sich selbst nie genügenden Verfasser auf seine eigenen, § 710 seines Buches aufgestellten Grundsätze zu verweisen, nach denen wir ihm sonnenklar dartun können, daß er Unrecht hätte, wenn er sich der Drucklegung seines Manuskriptes noch länger widersetzen wollte. Pekuniäre Rücksichten hatten wir vollends keine zu nehmen, da es bekannt ist, daß der Verfasser für keine seiner Schriften je ein Mal ein sogenanntes Honorar verlangt habe. Dies zur Entschuldigung unseres Schrittes beim Verfasser; beim Publikum wird, wie wir zuversichtlich hoffen, das Buch selbst für uns sprechen. Es müßte alle Liebe zu einem gründlichen Denken, ja aller gute Geschmack aus der gelehrten Welt verschwunden sein oder wir haben für die Herausgabe dieses wichtigen Werkes Dank zu erwarten. Doch über das Buch oder vielmehr nur über den Eindruck, den die Lektüre desselben auf ihn gemacht, hat schon ein achtungswürdiger Gelehrter, welchem das Manuskript vor einigen Jahren war mitgeteilt worden sein Urteil abgegeben, indem er nachstehende Vorrede dazu abgefaßt hat.



Vorrede

Es kann kein Schriftsteller, welcher sich mit schüchternem Mut zum ersten Mal vor die Augen des Publikums wagt, so ängstlich um das  qu'en dira-t-on [Gerede - wp] bei seinem Werk besorgt sein, als Schreiber dieses bei seiner Vorrede. Er ist weder Professor der Logik, noch der Philosophie überhaupt; ja die Logik, nicht wie sie Jedermanns praktischer Hausbedarf ist, sondern als strenge Wissenschaft, ja als Wissenschaftslehre, liegt außer seinem Bereich. Gleichwohl hat man das Vertrauen zu ihm gefaßt, daß er fähig sei, das vorliegende, in jedem Sinne neue und an Geist wie an Gehalt gleich reiche Werk in die literarische Welt einzuführen. Wenn er sich frägt, wodurch ihm wohl dieses Vertrauen geworden sei, so kann er nur in der Unbefangenheit und Wahrheitsliebe, deren er sich bewußt ist, die Veranlassung zu dem ihm gewordenen ehrenvollen Auftrag finden. Man hat geglaubt, er werde nicht mit dem Auge eines durch sein eigenes System bestochenen Richters auf das Werk blicken, welches er bevorworten soll, und er werde ein offenes Ohr für die Wahrheit haben, die es vorträgt, und die eben nichts weiter voraussetzt, als die Fähigkeit des reinen Vernehmens und Auffassens. In beiderlei Hinsicht hat man sich nicht geirrt. Und so betrachtet er sich denn als einen aufgerufenen Zeugen, welcher gewissenhaft aussagen kann und soll, wie und was dieses Werk bei einem vorurteilsfreien und aufmerksamen Leser wirken könne, ja müsse. Einem solchen Zeugnis auszuweichen, findet er keinen Beruf und nicht einmal eine Entschuldigung; sondern hält es sogar für seine Pflicht, dasselbe abzulegen, umso mehr, da der Gegenstand, um den es sich handelt, von der größten Wichtigkeit für die geistige Bildung und Wirksamkeit ist. Denn nächst der Richtung der Gesinnung und des Willens ist, wie für das Leben überhaupt, so für die wissenschaftliche Tätigkeit insbesondere, nichts nötiger und ersprießlicher, als eine durch zweckmäßige und gründliche Überzeugung erlangte Stärke und Festigkeit des Verstandesgebrauches. Der Verstand ist eine Waffe, ohne deren geschickte Führung die gerechteste Sache ihr Recht nicht durchzusetzen vermag; er ist das Medium des Sehens in die geistige Welt, wie das Licht in der physischen; ja er ist das Band, welches die Geister, so wie der Glaube das Band ist, welches die Gemüter zusammenhält. Je heller und schärfer der Verstand, je geübter, um schnell und klar in alle Verhältnisse und Beziehungen des tätigen Lebens einzugehen und sie zu durchdringen, desto sicherer wird die Selbständigkeit des Menschen und desto eingreifender seine Wirksamkeit. Diese Bemerkung ist trivial, aber man kann sich ihrer so wenig enthalten, als derjenigen, daß ohne den Verstand und seinen richtigen Gebrauch die Künste, die Wissenschaften, alle Geschäfte des Lebens, ja die bürgerlichen Einrichtungen mitsamt dem Staat selbst zugrunde gehen würden, so wie alles dies sich ohne Hilfe des Verstandes nicht entwickelt und ausgebildet hätte. Nicht der Verstand ist Schuld an den Übeln, welche die Welt drücken, sondern nächst dem Grundübel selbst, welches aus Selbstsucht hervorwächst, trägt diese Schuld der Nichtgebrauch oder der falsche Gebrauch des Verstandes. Den Verstand ersticken, heißt das geistige Leben töten und den Verstand beleben und kräftigen, heißt der Quelle alles geistigen Lebens den Weg bahnen. Und so legt denn der Schreiber dieses, in Bezug auf vorliegendes Werk, das reine Zeugnis ab, daß es mehr als irgendein ihm bekanntes Werk über die Logik, durch unmittelbare Übung am Denken und im Denken selbst, den Verstand entwickelt und ihn seine Kraft in ihrem ganzen Umfang kennen und brauchen lehrt. Wie durch die geregelten und stufenweise zusammengefügten Aufgaben und Übungen der Fechtkunst das Auge immer umsichter und sicherer, der Arm immer kräftiger wird, so wird in diesem Werk das Denkvemögen auf dem natürlichsten, einfachsten und geradesten Weg Schritt für Schritt angeregt und angewiesen, das Gebiet der Vorstellungen, Begriffe, Urteile und Schlüsse, nach Form und Inhalt und in allen ihren Beziehungen und Verhältnissen zu durchmessen und hierdurch, sozusagen, vom ganzen Gebiet des Denkens Besitz zu nehmen. Der Verfasser, selbst ein Meister im Denken, steht für die Schüler zugleich als Muster und als Gegenstand der Bewunderung da, indem er sich mit der größten Leichtigkeit und Gewandtheit seine Bahn durch die verwickeltsten Aufgaben bricht und durch die stetige Klarheit, Ordnung und Bestimmtheit seines Gedankengangs, den ihm Schritt für Schritt Folgenden auf eine leichte und heitere Weise nötigt, die gleiche Klarheit, Ordnung und Bestimmtheit in sich zu erzeugen, und sich somit des Mittels zu aller Einsicht und aller Wissenschaft zu bemächtigen. Denn die Idee des gründlichen und vollständigen Wissens oder der Wissenschaft ist es, um welche sich das ganze Werk wie um seine Angel bewegt, weshalb ihm auch sein Verfasser mit Recht den Namen der  Wissenschaftslehre gegeben hat; freilich nicht in dem überschwenglichen Sinne, in welchem FICHTE seiner subjektiven Idealphilosophie diesen Namen beilegte; dafür aber auch mit der schönen Aussicht auf ein  erreichbares Ziel, zu welchem hin sich der Verfasser mit stiller Kraft bewegt, deren Streben nicht, wie das FICHTEsche, zuletzt in einen Widerspruch hinausläuft, sondern in harmonischem Abschluß des Ganzen endet. Übrigens ist eine Verwandtschaft dieser beiden Geister nicht zu verkennen. Zwar wird FICHTEs Genialität immer sein besonderes Eigentum bleiben; allein das redliche Ringen nach Wahrheit, das freie und klare Schweben über dem Gegenstand der Betrachtung und ganz vorzüglich die Gabe oder die Macht, den aufmerksamen Leser wie mit magnetischer Gewalt in den Gedankenkreis zu ziehen und darin festzuhalten, die der Zaubergriffel des Meisters um die zu lösende Aufgabe beschreibt, all das teilt unverkennbar der Verfasser der vorliegenden Wissenschaftslehre mit dem Erfinder dieses Lehrwortes. Ja, der Schreiber desselben erdreistet sich zu behaupten, daß, wenn Letzterer in einseitiger Richtung nach der Tiefe versinkt, ein besonderes Talent des Ersteren darin besteht, bei allem Streben nach Einheit, die Mannigfaltigkeit seiner Gegenstände nicht aus dem Auge zu verlieren, und auch dem Geringsten an Ort und Stelle die gebührende Aufmerksamkeit zu schenken. Der Schreiber könnte den Beweis hierfür leicht führen, wenn er den Gesamtinhalt eder vorliegenden Logik dem Leser in einer organischen Gliederung darlegen wollte; allein teils ist es nicht sein Beruf, sich in die Arbeit des Verfassers zu mischen, teils hat dieser selbst für das Ganze und Einzelne seines Werkes eine solche Übersicht auf das Sorgfältigste und Ausführlichste den Lesern vor Augen stellt.

Und so wäre dann hiermit das versprochene Zeugnis nach bestem Wissen und Gewissen abgelegt und der Aussteller dieses Zeugnisses könnte zufrieden die Feder niederlegen, wenn es ihm nicht eben noch Gewissenssache wäre, zweier Eigenschaften des Verfassers zu gedenken, die jetzt unter die Seltenheiten gehören und die nicht wenig dazu beitragen, die vorliegende Logik zu empfehlen, wenn es nach dem bereits Ausgesprochenen noch einer Empfehlung bedürfte. Diese Eigenschaften sind  Bescheidenheit und  Billigkeit. Beide Tugenden durchdringen und würzen sozusagen das ganze Werk. Nämlich was die  erste betrifft, so maßt sich der Verfasser, so groß auch seine subjektive und objektive Klarheit ist, doch nicht an, gleich seinem Vorgänger in der Wissenschaftslehre, den Leser zum Verstehen zu zwingen; sondern selbst das Gewisseste und Unwiderlegbarste, was er ausspricht, trägt er immer nur als seine unvorgreifliche Meinung vor und überläßt es dem Leser selbst, frei zu prüfen und sich durch diese Prüfung zu überzeugen, daß der Verfasser die Wahrheit gesprochen hat. Diese Achtung vor der individuellen Freiheit der Leser gereicht dem ganzen Werk zum Schmuck, indem es demselben jenes Geräge von Ruhe und Mäßigung aufdrückt, welche der hohe Charakter des klassischen Altertums ist und dergestalt wohltätig auf den Leser zurückwirkt, daß auch er bei seinem Auffassen und Urteilen die gleiche Stimmung in sich zu bewahren veranlaßt und geneigt wird; was für beide Teile von großem Vorteil ist. Denn die Unterhaltung mit einem Schriftsteller ist eine Art von Gespräch, in welchem der Autor zwar immer das erste Wort hat, doch stets der Einrede des Lesers gewärtig sein muß. Je leidenschaftlicher und eigenwilliger nun der Erste bei der Darstellung seiner Ansicht zu Werke geht, desto leichter und gewisser erregt er den Widerspruch des Andern; dagegen je ruhiger und besonnener er seinen Gegenstand vorträgt, desto geneigter fühlt sich der Leser, ihn anzuhören und ausreden zu lassen. Wenn dies schon bei einem Gespräch höchst wünschenswert ist, wieviel mehr bei einer Schrift, in welcher sich der Verfasser gegen Einwürfe weder verantworten, noch rechtfertigen kann. Soviel über die erste der genannten Tugenden. Was nun die  zweite, die Billigkeit, anlangt, so äußert sie der Verfasser auf wahrhaft liebenswürdige Weise in Bezug auf die Begriffe, Grundsätze und Ansichten anderer Logiker von ARISTOTELES bis auf HEGEL. Denn dieses ist ein nicht geringer Vorzug des vorliegenden Werkes, daß sein Verfasser eine Kenntnis und Belesenheit auf dem Gebiet der Logik, wie dasselbe durch alle Zeiten angebaut worden war, entfaltet, welche schwerlich einen bedeutenden Schriftsteller in diesem Fach von der ältesten bis auf die neueste Zeit übergeht, wo sich eine Divergenz der Meinung hervortut und wo es gilt, fremde Ansicht an der eigenen und eigene an fremden zu prüfen. Der Leser kann hier nur gewinnen, indem ihm reiche Veranlassung zur Vergleichung nach allen Richtungen und in allen Teilen der Wissenschaft dargeboten wird. Denn es gibt kein Kapitel, bei welchem nicht der Verfasser in einer besonderen Rubrik einen Blick auf die seiner Vorstellungsweise mehr oder weniger entgegenstehene Darstellungsweise seiner Vorgänge geworfen hätte. Und hier weiß man nicht, ob man mehr die Gabe der unbefangenen, treuen Auffassung und Darstellung fremden Geistes oder die scharfsinnige und gründliche Würdigung desselben beifällig anerkennen soll. Gewiß ist es, daß sich in beiden Beziehungen die Billigkeit, oder, wenn man will, die rechtliche Geradheit des Verfassers im gleichen Grad beurkundet. Was man sonst hier und da bei Schriftstellern findet, daß sie die Ansichten ihrer Gegner entstellen oder in ein falsches Licht bringen, um die ihrige desto mehr hervorzuheben und geltend zu machen, davon finden wir in diesem Werk keine Spur, sondern das  suum cuique [Jedem das Seine. - wp] ist dem Verfasser heilig und nur tiefer Grund und klarer Beweis sind die Gewichte, die auf seiner Waage gelten.

Doch nun genug, damit nicht der Zeuge als Lobredner erscheine. Diesen Verdacht völlig niederzuschlagen, wäre freilich nichts geeigneter, als eine Aufstellung solcher Punkte, in welchen der Schreiber die gleiche Ansicht nicht teilt, oder die wenigstens einer besonderen Rechtfertigung bedürfen möchten; wie z. B. daß die Haupttendenz einer Wisenschaftslehre die Aufstellung der Bedingungen zu einem wahrhaft wissenschaftlichen Lehrbuch sei. Jedoch es obwaltet hier keine Pflicht, weder den Verfasser zu kritisieren, noch ihn zu vertreten. Das Letztere muß er selbst tun, das Erstere bleibt billig den Kritikern oder noch besser einem jeden Leser überlassen.

J. CH. A. HEINROTH



§ 1. Was der Verfasser unter
der Wissenschaftslehre versteht.

1. Wenn ich mir vorstelle, es wären alle Wahrheiten, welche nur irgendein Mensch kennt oder einst gekannt hat, in ein Ganzes vereinigt, z. B. in irgendeinem einzigen Buch zusammengeschrieben: so würde ich einen solchen Inbegriff derselben  die Summe des ganzen menschlichen Wissens nennen. So klein diese Summe auch wäre, verglichen mit dem ganz unermeßlichen Gebiet aller Wahrheiten, die es ansich gibt, die ihrem größten Teil nach uns völlig unbekannt sind; so wäre sie doch im Verhältnis zur Fassungskraft jedes einzelnen Menschen eine sehr große, ja für ihn  zu große Summe. Denn sicher ist selbst der fähigste Kopf unter den günstigsten Umständen und mit dem angestrengtesten Fleiß außerstand, sich - ich will nicht sagen alles, sondern auch nur das wahrhaft Wissenswürdige, das jener Inbegriff enthält, das die vereinigte Bemühung aller Menschen bis auf den heutigen Tag entdeckt hat, anzueignen. Wir müssen uns deshalb zu einer  Teilung verstehen; wir müssen, da wir ein Jeder bei Weitem nicht Alles, was uns in irgendeinem Betrachte wissenswert scheinen mag, erlernen können, der Eine sich nur auf das Eine, der Andere auf ein Anderes, ein Jeder auf dasjenige verlegen, was nach der Eigentümlichkeit unserer Verhältnisse für uns das Nötigste oder das Nützlichste unter dem Nützlichen ist. Sowohl um diese Auswahl des für uns Wissenswürdigsten und die Erlernung desselben uns zu erleichtern, als auch für manche andere Zwecke dürfte es zuträglich sein, das gesamte Gebiet des menschlichen Wissens oder vielmehr jenes der Wahrheit überhaupt in mehrere einzelne Teile zu zerlegen und die einer jeden einzelnen Gattung zugehörigen Wahrheiten, so viele es durch ihre Merkwürdigkeit verdienen, in eigenen Büchern so zusammenzustellen und nötigenfalls auch noch mit soviel anderen, zu ihrem Verständnis oder Beweis dienlichen Sätzen in Verbindung zu bringen, daß sie die größte Faßlichkeit und Überzeugungskraft erhalten. Es sei mir also erlaubt, jeden Inbegriff von Wahrheiten einer gewissen Art, der so beschaffen ist, daß es der uns bekannte und merkwürdige Teil derselben verdient, auf die soeben erwähnte Weise in einem eigenen Buch vorgetragen zu werden, eine  Wissenschaft zu nennen. Jenes Buch selbst aber oder vielmehr ein jedes Buch, welches nur so beschaffen ist, als wäre es von Jemand in der bestimmten Absicht geschrieben, um alle bekannte und für den Leser merkwürdige Wahrheiten einer Wissenschaft darzustellen, wie sie auf das Leichteste verstanden und mit Überzeugung angenommen werden könnten, so mir ein  Lehrbuch dieser Wissenschaft heißen. So werde ich also z. B. den Inbegriff aller Wahrheiten, welche Beschaffenheiten des Raumes aussagen, die Wissenschaft vom Raum oder die Raumwissenschaft (Geometrie) nennen; weil diese Sätze eine eigene Gattung von Wahrheiten bilden, die es unwidersprechlich verdient, daß wir den uns bekannten und für uns merkwürdigen Teil derselben in eigenen Büchern vortragen und mit Beweise versehen, die ihnen die möglichste Verständlichkeit und Überzeugungskraft gewähren. Dergleichen Bücher selbst werde ich Lehrbücher der Raumwissenschaft nennen.

2. Ich gestehe selbst, daß die Bedeutungen, die ich den beiden Worten  Wissenschaft und  Lehrbuch hier gebe, nicht eben die allgemein üblichen sind; allein ich darf auch beisetzen, daß es gar keine allgemein angenommene Bedeutung für diese beiden Worte gebe und daß ich nicht ermangeln werden, diese Begriffsbestimmungen tiefer unten eigens zu rechtfertigen. Vorderhand sei es genug, nur noch zwei andere Bedeutungen des Wortes  Wissenschaft aus dem Grunde hier in Erwähnung zu bringen, weil ich mich ihrer wohl selbst an Orten, wo kein Mißverstand zu besorgen ist, bediene. Gar Viele nämlich verstehen unter dem Wort:  Wissenschaft nicht eine bloße Summe von Wahrheiten einer gewissen Art, gleichviel in welcher Ordnung sie stehen, sondern sie denken sich unter der Wissenschaft ein Ganzes von Sätzen, in welchem die merkwürdigsten Wahrheiten einer gewissen Art schon so geordnet und mit gewissen anderen dergestalt verbunden vorkommen, wie es bei einer schriftlichen Darstellung derselben in einem Buch geschehen muß, damit der Zweck der leichtesten Auffassung und der festesten Überzeugung erreicht werde. In dieser Bedeutung kommt das Wort vor, wenn wir z. B. von einem echt  wissenschaftlichen Vortrag sprechen; denn da wollen wir durch den Beisatz:  wissenschaftlich ohne Zweifel nur andeuten, daß dieser Vortrag eine solche Ordnung der Sätze befolge, solche Beweise liefere, kurz solche Einrichtungen habe, wie wir sie etwa von einem recht zweckmäßigen  Lehrbuch verlangen. Überdies nehmen wir das Wort  Wissenschaft zuweilen auch gleichgeltend mit dem Wort  Kenntnis und also in einer Bedeutung, die im Gegensatz mit den beiden bisherigen, welche man  objektiv nennt, eine  subjektive genannt werden könnte. Dieses geschieht, wenn wir z. B. sagen: ich habe Wissenschaft von dieser Sache; denn da heißt Wissenschaft offenbar nur so viel als Kenntnis.

3. Begreiflich ist es nichts Gleichgültiges, auf welche Weise wir beim Geschäft der Zerlegung des gesamten menschlichen Wissens oder vielmehr des gesamten Gebietes der Wahrheit überhaupt, in solche einzelne Teile, denen ich Nr. 1 den Namen der Wissenschaften gab und bei der Darstellung dieser einzelnen Wissenschaften in eigenen Lehrbüchern zu Werke gehen. Denn auch ohne den Wert, welchen das bloße  Wissen hat, nur im Geringsten zu überschätzen, muß doch Jeder einsehen, daß es zahllose Übel gebe, welche nur Unwissenheit und Irrtum über unser Geschlecht verbreiten; und daß wir ohne Vergleich besser und glücklicher auf dieser Erde wären, wenn wir ein Jeder uns gerade diejenigen Kenntnisse beilegen könnten, die uns in unseren Verhältnissen die ersprießlichsten sind. Wäre nun erst das gesamte Gebiet der Wahrheit auf eine zweckmäßige Weise in einzelne Wissenschaften zerlegt und wären von jeder derselben gelungene Lehrbücher vorhanden und in hinreichender Anzahl überall anzutreffen: so wäre zwar dadurch der Zweck, von dem ich rede, noch eben nicht erreicht, aber wir wären doch seiner Erreichung, besonders wenn sich auch noch einige andere Einrichtungen hinzugesellten, bedeutend näher gerückt. Denn nun würde
    a) Jeder, der nur die gehörigen Vorkenntnisse hat, sich über jeden Gegenstand, worüber ihm Belehrung notwendig ist, am Sichersten und Vollständigsten unterrichten und Alles, was man bisher darüber weiß, erlernen können. Und

    b) wenn Alles, was er in jenen Lehrbüchern fände, so faßlich und überzeugend als möglich dargestellt wäre: so stände zu erwarten, daß selbst in denjenigen Teilen des menschlichen Wissens, wo sich die Leidenschaft gegen die Anerkennung der besseren Wahrheit sträubt, namentlich in den Gebieten der Religion und Moral, Zweifel und Irrtümer eine viel seltenere Erscheinung würden. Zumal da

    c) durch eine allgemeinere Verbreitung des Studiums gewisser Wissenschaften nach Lehrbüchern, die einen höheren Grad der Vollkommenheit hätten, auch eine viel größere Fertigkeit im richtigen Denken hervorgebracht würde. Da endlich

    d) die Entdeckungen, die wir bisher gemacht haben, wenn sie erst allgemeiner bekannt unter uns würden, uns sicher noch zu vielen anderen Entdeckungen führen würden; so begreift man, daß der Segen solcher Anstalten, statt im Verlauf der Zeiten sich zu vermindern, je länger je ausgebreiteter werden müßte.
4. Durch einiges Nachdenken muß es wohl möglich sein, die Regeln, nach denen wir bei diesem Geschäft der Zerlegung des gesamten Gebietes der Wahrheit in einzelne Wissenschaften und bei der Abfassung, der für eine jede gehörigen Lehrbücher vorgehen müssen, kennen zu lernen. Auch ist nicht zu bezweifeln, daß es der Inbegriff dieser Regeln verdiene, selbst schon als eine eigene Wissenschaft angesehen zu werden; weil es gewiß seinen Nutzen haben wird, wenn wir die merkwürdigsten dieser Regeln in einem eigenen Buch zusammenstellen und hier so ordnen und mit solchen Beweisen versehen, daß sie ein Jeder verstehen und mit Überzeugung annehmen könne. Ich erlaube mir also, dieser Wissenschaft, weil sie diejenige ist, welche uns andere Wissenschaften (eigentlich nur ihre Lehrbücher) darstellen lehren, im Deutschen den Namen  Wissenschaftslehre zu geben; und so verstehe ich dann unter der Wissenschaftslehre den Inbegriff aller derjenigen Regeln, nach denen wir beim Geschäft der Abteilung des gesamten Gebietes der Wahrheit in einzelne Wissenschaften und bei der Darstellung derselben in eigenen Lehrbüchern vorgehen müssen, wenn wir recht zweckmäßig vorgehen wollen. Da es sich aber im Grunde schon von selbst versteht, daß eine Wissenschaft, welche uns lehren will, wie wir die Wissenschaften in Lehrbüchern darstellen sollen, uns auch belehren müsse, wie wir das ganze Gebiet der Wahrheit in einzelne Wissenschaften zerlegen können, indem es nur dann erst möglich wird, eine Wissenschaft in einem Lehrbuch gehörig darzustellen, wenn man die Grenzen des Gebietes dieser Wissenschaft richtig bestimmt hat: so könnten wir unsere Erklärung der Wissenschaftslehre kürzer auch so fassen, daß sie diejenige Wissenschaft sei, welche uns anweise, wie wir die Wissenschaften in zweckmäßigen Lehrbüchern darstellen sollen.


§ 2. Rechtfertigung dieses Begriffs
und seiner Bezeichnung

Da ich soeben selbst behauptete, daß es nicht gleichgültig sei, wieviele und welche Wissenschaften man in die Welt einführe; so wird es sich geziemen, daß ich mich auch über die Wissenschaft, die ich hier unter dem Namen  Wissenschaftslehre aufstelle, eigens zu rechtfertigen suche. Da aber die Regeln, nach welchen man bei einer solche Untersuchung vorzugehen hat, erst im Verlaufe dieses Buches selbst vorkommen sollen: so will ich mich gegenwärtig nur auf Gründe von der Art berufen, die ich bei einem jeden meiner Leser schon durch den bloßen gesunden Menschenverstand oder doch anderswoher, als bekannt voraussetzen darft.

1. Ich wende mich also zuerst an das bloße Gefühl eines Jede und frage, ob er es nicht in der Tat befremdend finden müßte, wenn wir der Wissenschaften so viele und dennoch keine haben sollten, welche uns lehrt, wie wir bei ihrer Bildung und schriftlichen Darstellung in einem Lehrbuch vorgehen sollen? Denn daß eine solche Wisenschaft nicht inhaltsleer sein würde, daß es der Regeln, nach denen man bei der Einteilung des gesamten Gebietes der Wahrheiten in besondere Wissenschaften und beim Vortrag einer jeden vorzugehen hat, allerdings mehrere gebe: das werden uns alle diejenigen zugestehen, die sich mit der Ausarbeitng von Lehrbüchern beschäftigt haben und selbst jeder Anfänger wird, ohne eine dieser Regeln bestimmt angeben zu können, doch ihr Vorhandensein ahnen. Ebensowenig ist aber auch zu bezweifeln, daß die Zusammenstellung derselben in ein eigenes für sich bestehendes Ganzes, ihr Vortrag in einem eigenen Buch ihre Bekanntschaft unter uns befördern und schon hierdurch allein auf die Vervollkommnung auch aller übrigen Wissenschaften und ihrer Lehrbücher wohltätig einwirken werde.

2. Aber vielleicht regt sich bei Jemand der Zweifel, ob eine solche Wissenschaft, wie ich mir hier die Wissenschaftslehre denke, auch  möglich sei. Denn da die Wissenschaftslehre nach der gegebenen Erklärung lehren soll, wie Wissenschaften erst dargestellt werden können und dabei doch selbst eine Wissenschaft sein soll: so dürfte man fragen, wie sie zustande kommen könne, wenn man, so lange sie noch nicht da ist, nicht weiß, wie eine Wissenschaft dargestellt werden müsse? Diese Beseitigng dieses Zweifels ist leicht. man kann nach den Regeln der Wissenschaftslehre vorgehen und also manche Wissenschaft, unter anderen auch die Wissenschaftslehre selbst oder besser zu sagen, schriftliche Darstellungen derselben hervorbringen, ohne sich dieser Regeln deutlich bewußt zu sein; man kann diese Regeln, viele oder auch alle, durch Nachdenken gefunden haben, ohne sie gleichwohl so geordnet und verbunden zu haben, wie es in einem wissenschaftlichen Lehrbuch derselben geschehen muß. Mit diesen Regeln einmal bekannt, kann man nun eine jede Wissenschaft, mithin auch die Wissenschaftslehre selbst noch weiter bearbeiten und schriftlich darstellen; denn dieses heißt ja nichts anderes, als gewisse uns schon bekannte Wahrheiten in eine solche Ordnung und Verbindung bringen, als sie selbst vorschreiben.

3. Bezweifelt man aber auch nicht die Möglichkeit, so kann man doch noch die Zweckmäßigkeit dieser Wissenschaft bezweifeln. Man kann nämlich fragen, ob das Gebiet der Wissenschaft, die wir durch diese Begriffsbestimmung erhalten, weder zu weit, noch zu eng sei? Allein das Erstere oder daß nach der gegebenen Erklärung unsere Wissenschaft zuviele und zu verschiedenartige Lehren enthalten müßte, kann man bei reiflicher Überlegung wohl nicht besorgen. Viel eher könnte man glaube, daß ihr Umfang mit Nutzen erweitert werden könnte. Einige könnte nämlich finden, daß es zweckmäßiger wäre, wenn man dieselbe Wissenschaft Anweisung geben ließe, nicht bloß wie eigentliche Lehrbücher, sondern auch wie alle anderen Schriften, die einen wissenschaftlichen Unterricht bezwecken, abgefaßt werden sollen. Andere dürften vielleicht, selbst hiermit noch nicht zufrieden, verlangen, daß man nicht bloß davon handle, wie die zu einer Wissenschaft gehörigen Wahrheiten  schriftlich dargestellt, sondern auch, wie sie  erfunden werden können. Noch Andere endlich dürften begehren, daß man nicht bloß die Art, wie man Wahrheiten durch Schrift, sondern auch wie man sie durch mündlichen Unterricht zu verbreiten habe, angebe. In diesem Fall müßten wir in eine und dieselbe Wissenschaft, somit auch in dasselbe Lehrbuch, neben den Regeln, die bei der Bildung der Wissenschaften und bei der Abfassung der ihren zugehörigen Lehrbücher zu beobachten sind, auch noch alle die Regeln aufnehmen, die bei der Erteilung eines mündlichen Unterrichts befolgt werden müssen; also z. B. auch alle Mittel besprechen, die zur Erweckung und Festhaltung der Aufmerksamkeit dienen; die Art und Weise besprechen, wie etwas schon Begriffenes dem Gedächtnis eingeprägt werden könne; die verschiedenen Weisen besprechen, auf welche Wahrheiten dargestellt werden müssen, um für den Einzelnen, den man gerade vor sich hat, nach seiner Eigentümlichkeit verständlich und überzeugend zu werden usw. Ich erinnere nun, daß von Demjenigen, was man zur Wissenschaftslehre hier noch hinzuzufügen würde, in einer anderen bereits bestehenden Wissenschaft, nämlich der  Unterrichtskunde oder  Didaktik gehandelt werde und daß es zweckmäßig sei, diese beiden Wissenschaften getrennt zu halten, weil die Geschäfte, zu denen beide Anleitung geben, von sehr verschiedener Art sind und auch verschiedene, selten vereinigt anzutreffende Anlagen fordern. Denn etwas Anderes ist es, den Begriff einer neuen Wissenschaft bilden, die Wahrheiten, die in dieselbe gehören, auffinden, sie schriftlich darstellen und in diejenige Ordnung und Verbindung mit anderen Sätzen, wie es in einem zweckmäßig eingerichteten Lehrbuch sein muß, bringen; und etwas Anderes, die schon gefundenen, in die gehörige Ordnung gebrachten und mit gehörigen Beweisen versehenen Wahrheiten durch mündlichen Vortrag noch weiter ausbreiten. Nicht Jeder, der die Fähigkeit hat, in einer Wissenschaft mündlich zu unterrichten, versteht es auch, ein Lehrbuch derselben zu schreiben; und umgekehrt gibt es Personen, die wohl das Letztere vermögen, doch zum Ersteren sich nicht herablassen können. Man hat dies längst schon bemerkt; und eben deshalb in mehreren Staaten eigene Bürger (Gelehrte, Akademiker usw.) mit dem Geschäft der schriftlichen Darstellung einer Wissenschaft, besonders der Erweiterung ihres Inhaltes, Andere dagegen (Lehrer und Professoren) mit dem Geschäft des mündlichen Unterrichts beauftragt. Da also die Geschäfte wirklich getrennt sind, so ist es sicher gut, auch die Anweisung zu denselben getrennt zu erteilen. Das Eine mag dann in den Lehrbüchern der Wissenschaftslehre, das Andere in jenen der (mündlichen) Unterrichtsstunde geschehen. Nicht ebenso zu tadeln wäre es meines Erachtens, wenn man von einem Lehrbuch der Wissenschaftslehre verlangte, was zuerst angeführt wurde, nämlich, daß es nebst der Kunst, eigentliche Lehrbücher zu verfassen, auch zur Abfassung anderer Schriften, die eines wissenschaftlichen Inhaltes sind, anleite; dergestalt, daß es die zu einer Wissenschaft gehörigen Wahrheiten nicht nur darstellen, sondern auch auffinden lehre. Aber das alles kann, wie ich glaube, geleistet werden, ohne daß der Begriff dieser Wissenschaft anders, als ich es oben getan habe, bestimmt zu werden brauchte. Denn weil man Wahrheiten nicht eher darstellen kann, als bis man sie gefunden hat; so sind wir auch beim oben angenommenen Begriff der Wissenschaftslehre berechtigt, in ihren Lehrvortrag die Frage, wie die in eine Wissenschaft gehörigen Wahrheiten erst gefunden werden können, aufzunehmen. Und wenn gewisse Bücher, auch ohne eigentliche Lehrbücher zu sein, doch einen wissenschaftlichen Unterricht bezwecken: so müssen sie auch fast nach eben denselben Grundsätzen wie diese abgefaßt werden; und das ist Grund genug, um ihrer dort, wo man die Anweisung zur Abfassung eigentlicher Lehrbücher gibt, gleichfalls in Kürze zu erwähnen.

4. Gesteht man mir nun aus diesen oder ähnlichen Gründen zu, daß eine Wissenschaft der Art, wie ich sie hier unter dem Namen der Wissenschaftslehre beschrieben habe,  zweckmäßig sei; dann dürfte man wohl auch gegen die vorgeschlagene  Benennung derselben nichts einzuwenden haben. Denn dieser rein deutsche Name drückt ja den Inhalt einer solchen Wissenschaft so deutlich, als man es wünschen kann, aus. Der Umstand aber, daß einige Gelehrte, wie J. G. FICHTE und BOUTERWECK, dieses Wort in einer anderen Bedeutung genommen haben oder vielleich noch nehmen, ist wohl nicht wichtig genug, um uns den Gebrauch desselben in einer so natürlichen Bedeutung für alle Zukunft zu verbieten; zumal da es, wie wir bald sehen werden, auch wieder Andere gibt, die mir in dieser Bedeutung des Wortes bereits vorangegangen sind.


§ 3. Des Verfassers Wissenschaftslehre ist eine
unter verschiedenen Namen schon längst
gekannte und bearbeitete Wissenschaft.

1. Wenn die Wissenschaft, deren Begriff ich soeben aufgestellt und auf deren selbständige Anerkennung ich gedrungen habe, wirklich so nützlich und notwendig ist, als ich behaupte; so läßt sich kaum denken, daß man ihrer bisher vergessen haben sollte. Das ist auch meines Erachtens eben nicht geschehen; sondern ich glaube vielmehr, daß diese Wissenschaft, anzufangen vom Zeitalter des eleatischen ZENO, oder allenfalls des PARMENIDES, bis auf den heutigen Tag ein steter Gegenstand der Aufmerksamkeit für alle Weltweisen gewesen ist; ich bin der Meinung, daß es in allen den zahllosen Schriften, die unter den mancherlei Titeln:  Kanonik, Dialektik, Topik, Logik, Heuristik, Organon, Dianoiologie, Ideologie, Vernunftlehre, Denklehre, Verstandeslehre, Weg zur Wahrheit, Weg zur Gewißheit, Heilkunde des Verstandes und vielen anderen zutage gefördert worden sind, die von mir oben erklärte Wissenschaftslehre sei, die man bald mehr, bald weniger ausführlich und getrennt von andern verwandten Untersuchungen abhandeln wollte und abgehandelt habe. Das Buch, das EPIKUR unter dem Namen  Kanon (gleichsam das Buch der Regeln) geschrieben hat, ist zwar verloren gegangen; allein was können wir aus seinem bloßen Namen und aus der Beziehung, in welche seine Schüler die in demselben enthaltene Wissenschaft (kanonike, d. h. die Regellehre) in ihren philosophischen Untersuchungen setzten, anderes vermuten, als daß es den Regel gewidmet gewesen, nach welchen man sich bei philosophischen Untersuchungen, also (nach der Bedeutung, in der man das Wort  Philosophie, damals nahm) bei allem wissenschaftlichen Nachdenken überhaupt zu richten habe? Das Einzige, was man hier zugeben muß, ist, daß in diesem Buch die Regeln, die bei der schriftlichen Darstellung einer Wissenschaft, bei der Abfassung eines Lehrbuches derselben zu befolgen sind, allem Anschein nach noch nicht getrennt sein mochten von jenen, die beim mündlichen Unterricht, namentlich bei einem Streit zu beobachten kommen. Die  Kunst des Vortrages, welche einst die  Megariker unter dem Namen  dialektike betrieben, artete freilich sehr frühzeitig in eine schimpfliche Kunst aus, jeden beliebigen (gleichviel ob wahren oder falschen) Satz scheinbar zu machen; bevor dies aber geschah, verstand man unter derselben gewiß nur eine Kunst, das Wahre einleuchtend darzustellen; und bessere Weltweise dachten sich, wie wir aus PLATOs Schriften ersehen, unter der Dialektik kaum etwas anderes, als eine Anweisung zu einem zweckmäßig eingerichteten (mündlichen oder auch schriftlichen) Vortrag über gelehrte Gegenstände. [...] In den bekannten Büchern des ARISTOTELES, welche man unter dem Namen des  Organons zusammengefaßt hat, kommt nichts vor, was sich nicht näherer oder entfernterer Weise auf den Zweck bezöge, uns in der Kunst des wissenschaftlichen Vortrags zu unterrichten; und sicher hat man durch die Benennung  organon nur eben andeuten wollen, daß die Belehrungen, die wir aus diesen Büchern schöpfen, uns in den Stand setzen, eine jede Wissenschaft gehörig zu bearbeiten. Das Buch von den Kategorien, desgleichen die Einleitung des PORPHYRIUS (von den Kategoremen) sollen den Leser vorläufig mit den allgemeinsten Begriffen, unter welche beim Denken alles gebracht werden kann, bekannt machen. Das Buch  peri ermenaias soll eine Theorie der Darstellung unserer Gedanken durch Sprache ungefähr so weit ausführen, als ihre Kenntnis dem ARISTOTELES für einen wissenschaftlichen Stil hinreichend scheinen mochte. Die  Analytica priora handeln von den verschiedenen Arten der Urteile und Schlüsse, die  posteriora vom Erklären und Beweisen. Die Topik gibt eine Anleitung zur Erfindung von Lehrsätzen und Beweisen, teils solchen, die Gewißheit, teils solchen, die bloße Wahrscheinlichkeit gewähren. Die Sophistik endlich spricht von den verschiedenen Trugschlüssen, um sie vermeiden und die von andern begangenen gehörigt aufdecken zu lernen. Wer könnte den Zusammenhang, den alle diese Untersuchungen mit dem Zweck haben, uns in der Kunst der schriftlichen Darstellung einer Wissenschaft zu unterrichten, verkennen? - Ein Gleiches gilt auch von den meisten späteren Schriften, die unter den oben erwähnten Titeln, am gewöhnlichsten aber unter dem Titel  Logik, erschienen sind; wobei ich jedoch garnicht in Abrede stelle, daß bei einigen der Mangel an Ordnung den Zweck zu dem alles dasteht, verdunkle, bei andern aber in der Tat sichtbar ist, daß dem Verfasser ein anderer Zweck, z. B. der einer Anweisung zum Erfinden der Wahrheit und dgl. als Hauptzweck vorgeschwebt habe. Seit der Erscheinung der kritischen Philosophie ist es gewöhnlich geworden, die Lehrbücher der Logik aus zwei Abteilungen, deren die eine  Elementarlehre, die andere  Methodenlehre genannt wird, zusammenzusetzen. Die letztere nun handelt, wie schon ihr Name anzeigt, nur von der  Methode, und zwar der  wissenschaftlichen, d. h. von der Art und Weise, wie eine Wissenschaft dargestellt werden soll; während die erstere nichts anderes, als die für den zweiten Teil nötigen Vorkenntnisse liefert. Ist aber dies der Fall, und steht sonach alles, was wir in unsere heutigen Lehrbücher der Logik aufnehmen, am Ende nur da, um uns zu glücklichen Bearbeitern einer jeden Wissenschaft zu bilden: so liegt ja zutage, daß man sich unter der Logik im Grunde nichts anderes, als eine Wissenschaftslehre denkt. Gesetzt aber auch, in vielen Lehrbüchern der Logik käme gar manches vor, was sich mit dem einer Wissenschaftslehre von mir soeben angewiesenen Zweck nur gezwungen oder garnicht vereinigen läßt; so wird man doch eingestehen müssen, daß diese Zutaten alle aus Lehren und Anweisungen bestehen, die man bloß wegen des hier gefundenen  Anlasses vorträgt, obgleich sie auch noch in einer anderen Wissenschaft, und zwar dort  einheimisch erscheinen. Die Lehren, die nur in der Logik allein vorkommen, die wir demnach als dieser Wissenschaft  eigen betrachten dürfen, sind durchaus von der Art, daß sie auch dann noch in ihr beibehalten werden müßten, wenn wir voraussetzten, daß sie nichts anderes als eine  Wissenschaftslehre sein soll. Alles dagegen, was bei diesem Begriff der Logik in ihrem Vortrag nicht mehr gehören würde, das ist aus irgendeiner anderen Wissenschaft, z. B. aus der Psychologie, Didaktik und dgl. entlehnt, und mag dann billig diesen Wissenschaften wieder zurückgestellt werden, wenn man es nicht etwa bloß seiner Nützlichkeit wegen, also einschaltungsweise aufnehmen will, was freilich auch bei meiner Ansicht von dieser Wissenschaft unverwehrt bleibt.

2. Doch ist es nicht bloß der  Inhalt dieser Schriften, aus dem wir es schließen können, daß ihre Verfasser uns mit denselben eine Anweisung zum wissenschaftlichen Vortrag zu geben beabsichtigt hatten; sondern sie haben das auch zuweilen bald mehr, bald minder ausdrücklich selbst gesagt. Im 5. Kapitel des zweiten Buches seiner  Metaphysik spricht ARISTOTELES ausdrücklich von der Notwendigkeit einer eigenen Wissenschaft, welche uns lehre, wie wir bei der Darstellung der Wissenschaften überhaupt vorgehen sollen. [...] Muß er sich also vorgestellt haben, daß er uns diese Wissenschaft (die den  proton epistemes [das erste Wissen - wp] lehrt]) geliefert habe; und wo wäre dies anders geschehen, als im  Organon? In der Topik beschreibt er, wozu die Topik (d. h. ein wesentlicher Teil dessen, was man bisher Logik genannt hat) brauchbar sei, und sagt, sie diene zur Übung im Denken, zum Disputieren und zur  Bearbeitung philosophischer Wissenschaften. Das Letztere geschehe, weil diese Wissenschaft uns in den Stand setzt, Wahres und Falsches zu unterscheiden, und den Weg zur Erkenntnis der ersten Grundsätze einer jeden andern Wissenschaft lehre. Wenn AUGUSTINUS die Logik die Kunst aller Künste, die Lehrerin und Richterin aller anderen Wissenschaften nannte; so war das genau der Begriff, den ich mit meiner Wissenschaftslehre verbinde. Und was der große BACO von VERULAM durch sein Werk  de augmentis scientiarum und durch sein  novum Organon leisten wollte, war seinem eigenen Geständnis nach nichts anderes, als eine Darstellung der Regeln, nach denen die ganze Summe des menschlichen Wissens in einzelne Wissenschaften zerlegt und bearbeitet werden sollte. Hierbei setzte er stillschweigend voraus, daß auch das Organon des ARISTOTELES und die ganze bisherige Logik denselben Zweck gehabt habe, dem sie nur seiner Meinung nach schlecht entsprochen hatte. Nur bei dieser Voraussetzung konnte er (Novum Organon, Kap. 1, Aphorismus 11) der Logik den Vorwurf machen: "Logica, quae nunc habetur, inutilis est ad inventionem scientiarum." [Die jetzige Logik ist unnütz zur Erfindung der Wissenschaften. - wp] Er glaubte also die Möglichkeit einer Logik, die diesem Zweck besser entspräche. MELANCHTHON, PETER RAMUS und viele andere erklärten die Logik als eine Kunst zu lehren (artem docendi). Hätte man ihnen nun die Frage vorgelegt, ob in der Logik wohl eine  jede Art zu lehren, z. B. auch die Art, Kinder zu lehren, und dgl. abzuhandeln sei: so würden sie dieses gewiß verneint und somit ihren Begriff enger beschränkt haben; allem Anschein nach nicht anders, als daß sie gesagt hätten, die Logik sei nur die Kunst der wissenschaftlichen Lehrart. - Das Buch des JACOB ACONTIUS (de methodo et de recta investigandarum, tradendarumqua artium etc.) konnte ich mir nicht verschaffen. - KIESEWETTER - um nun zu einigen Neueren überzugehen, sagt in seiner Logik für Schulen (§ 1 und 6) ausdrücklich, daß die Logik die Regeln anzugeben habe, nach welchen der Verstand Wissenschaften zustande bringt. GOTTLIEB MEHMEL bemerkte in der Vorrede zu seinem "Versuch einer vollstänädigen analytischen Denklehre" (Erlangen 1903): "Es muß eine Propädeutik geben, die den Geist in sich selbst methodisch entwickelt, ihm die Weihe des wissenschaftlichen Studiums erteilt, und ihn lehr, worin die Wissenschaftlichkeit in der Wissenschaft bestehe. Diese Aufgabe zu lösen, ist das Geschäft einer vollständigen Denklehre. Sie schwebt über der Wissenschaft als ein Spiegel ihrer gemeinschaftlichen Form und der Bildungsstufen, durch welche man zu dieser gelangt usw." (siehe auch Seite 346). - GOTTLOB ERNST SCHULZE (Grundsätze der allgemeinen Logik, 2. Ausgabe, Helmstädt 1810) behauptete gleichfalls (Vorrede Seite XII), die Angabe der Erfordernisse und Methoden der Wissenschaften mache das Hauptziel der Logik aus, wozu alles Übrige eigentlich bloße, jedoch unentbehrliche Vorbereitung ist. Und § 3. erklärt er die Logik als die Wissenschaft, welche die Erforschung und Darstellung der Gesetze, an welche der Verstand gebunden ist, wenn er die  Einheit des Denkens hervorbringen will, zu ihrem Gegenstand hat. Vergleichen wir dies mit dem Begriff, den er von Wissenschaft hat; so zeigt sich, daß der Sinn dieser Erklärung in der Tat kein anderer ist, als die Logik sei Wissenschaftslehre. Dieser Name ist es, den er auch wirklich dem letzten Teil der Logik, weswegen alle übrigen da sind (nämlich demjenigen, der anderen die  Methodenlehre heißt) erteilt; und (Vorrede Seite XIII) wird erinnert, daß mit diesem Titel der Wissenschaftslehre wohl auch die ganze Logik versehen werden könnte. Herr SCHULZE hat also den Vorschlag, den ich in diesem Buch mache, schon vor mir getan. Auch Herr HEGEL (Wissenschaft der Logik, Bd. 1, Nürnberg 1812, Einleitung Seite II) sagt, daß der Begriff der Wissenschaft und die wissenschaftliche Methode das letzte Resultat der Logik ausmachen. In GERLACHs "Grundriss der Logik" (Halle 1817, § 15.) heißt es, daß die Logik ihre entscheidende Rolle bei der Erbauung eines Systems in einer Wissenschaft spiele. GEORG MICHAEL KLEIN (Anschauungs- und Denklehre, Bamberg 1818) sagt § 107: "Die Logik ist die Grundlage zu allen Wissenschaften und die Anleitung zu allem Verstandesgebrauch, weil sie die Bedingungen erforscht, gemäß denen der Geist jedes Ding erkennen und das Erkannte darstellen kann;" und in der Anmerkung zu § 119.: "Die griechischen Philosophen, wie die meisten und bedeutendsten nach ihnen, bis auf die neuesten Zeiten, haben die Logik als das Fundament aller (logischen) Wissenschaften, als die allgemeine Wahrheits- und  Wissenschaftslehre angesehen." - Nach Herrn F. A. LANGE (Lehrbuch der reinen Logik, Rostock 1820, § 4.) ist eine systematische Anordnung unserer Erkenntnisse der Zweck der reinen Logik, die man eben deshalb (§ 6.) als eine Vorbereitungswissenschaft für alle anderen Wissenschaften (Propädeutik) zu betrachten hat. Diese Benennung gab ihr bekanntlich auch schon KANT. - Herr von CALKER (Denklehre, Bamberg 1822, Seite 9) sagt, daß "die Lehre von den Denkgesetzen (die Logik und Dialektik) eine  allgemeine Wissenschaftslehre, d. h. eine Gesetzgebung für die Aufstellung einer jeden Wissenschaft überhaupt ist." Selbst Herr Prof. TWESTEN (Logik, Schleswig, 1825, Vorrede, Seite XXVI und XXIX) stellt nicht in Abrede, daß die Logik im weiteren Sinne eine Wissenschaftslehre sei, und die Gesetze der wissenschaftlichen Form und Methode zu entwickeln habe. Der ungenannte Verfasser der Leipziger Rezension von ESSERs System der Logik (1823, Nr. 136) sagt: "Wir halten die Logik für die eigentliche Wissenschaftslehre, welche die Gesetze, nach denen alle Gedanken, sowohl einzeln, als in ihrem Zusammenhang gedacht werden müssen, aufstellt. Darum muß sie in zwei Teile zerfallen, in die Lehre von den Denkgesetzen in Beziehung auf einzelne Gedanken, und von der Anordnung derselben zu einem organischen Ganzen und System." Noch ausdrücklicher erklärt sich hierüber Herr Prof. BACHMANN (System der Logik, Leipzig 1828, Vorrede Seite VIIIf). [...]


§ 4. Warum man diese Erklärung
doch niemals aufgestellt habe?

Je deutlicher aus dem Gesagten hervorgeht, daß man sich unter der Wissenschaft, die man bisher am Gewöhnlichsten mit dem Namen  Logik bezeichnete, meistens nichts anderes vorgestellt habe, als eine bloße Anweisung, wie alle Wissenschaften bearbeitet und schriftlich dargestellt werden sollen: umso auffallender ist es, daß man dies gleichwohl noch nie in der Erklärung dieser Wissenschaft geradezu ausgesprochen. Denn soviel mir wenigstens bekannt ist, hat man die einfache Erklärung, daß die Logik die Lehre vom wissenschaftlichen Vortrag sei, noch nirgends aufgestellt. Diese Erscheinung weiß ich mir nun nicht anders, als etwa aus folgenden Gründen zu erklären:

1) Bevor man die Regeln, welche beim wissenschaftlichen Vortrag zu beobachten sind, verständlich darstellen, und mit ihren gehörigen Beweisen versehen kann, muß man erst eine große Menge von Lehren anderer Art vorausgeschickt haben; vielleicht also, daß mancher ein Bedenken trug, ob er auch dasjenige, womit sich eigentlich nur der kleinste Teil seines Buches beschäftigt, doch für den Gegenstand des Ganzen ausgeben dürfe?

2) Diese Bedenklichkeit mußte noch größer werden, als man (wie jetzt fast allgemein geschieht) die Logik nur zum Unterricht für junge Leute vortrug. Der Umstand nämlich, daß die Bearbeiter der Logik ihre Schriften fast durchgängig nur für junge Leute bestimmen, hat überaus nachteilig auf die Entwicklung der wesentlichsten Lehren dieser Wissenschaft einwirken müssen. Denn weil man ganz richtig fühlte, daß gewisse Untersuchungen wohl für einen Gelehrten, der soeben als Schriftsteller auftreten will, keineswegs aber für einen Jüngling, der die ersten Anleitungen zu einem regelmäßigen Denken erhalten soll, sich eignen: so ließ man sie entweder völlig weg oder begnügte sich, sie mit wenigen Worten höchstens nur angedeutet zu haben, und im Gegenteil so manches andere, was in diesem Lehrvortrag der Logik nur sehr am Rande erscheint, was aber umso nützlicher für junge Leute ist, z. B. Belehrungen über die Mittel zur Übung der Sinne und dgl. nahm man sehr gerne auf. Obgleich nun dies alles gar nicht zu tadeln war, vielmehr noch Lob verdiente; so ist doch leicht einzusehen, daß es der Anerkennung des rechten Begriffs der Logik nicht günstig, sondern hinderlich sein mußte. Über die Art und Weise, wie eine Wissenschaft bearbeitet und schriftlich dargestellt werden soll, stand in dem Buch so wenig, dagegen stand hier so vieles, was sich auf diesen Zweck eben nicht wesentlich bezieht; und nicht das Erstere, sondern gerade das Letztere war es, was für den größten Teil der Leser das Wichtigste sein sollte: war es zu wundern, wenn es da niemand recht klar werden wollte, daß die ganze Wissenschaft, die man hier vortrage, eine bloße Wissenschaftslehre sein solle?

3) Doch wer es auch nicht übersah, auf welchen Zweck alle in einem Lehrbuch der Logik vorkommenden Untersuchungen wesentlich gerichtet sind; den konnte von der Annahme dieser Erklärung auch schon der Umstand abschrecken, daß sie  nicht leicht genug sei. Denn wenn wir die Logik als eine  Wissenschaftslehre erklären, als eine Anweisung, wie das gesamte Gebiet der Wahrheit in einzelne Wissenschaften zerlegt und eine jede derselben gehörig bearbeitet und schriftlich dargestellt werden sollte: so sind wir genötigt, dem Anfänger erst einen ungefähren Begriff von dem, was wir uns unter dem Wort  Wissenschaft vorstellen, beizubringen; indem wir ja doch nicht voraussetzen dürfen, daß dies schon jeder wisse. Diese Notwendigkeit einer vorläufigen Erklärung nun mochte wohl manchem nicht nur beschwerlich vorkommen, sondern sogar als ein recht arger Übelstand erscheinen, weil der Begriff der Wissenschaft zu den noch strittigen und in der Logik selbst erst zu bestimmenden Begriffen gehört. Nur also um eine Erklärung zu geben, die ganz bekannte und keinem Streit unterliegende Begriffe in sich faßt, die sich recht leicht verstehen und behalten ließe, mochte man sich so kurz und unbestimmt ausdrücken, als es z. B. in den Erklärungen  Logica est ars cogitandi [Logik ist die Kunst des Denkens - wp] oder  disserendi [Dialektik - wp] oder  docendi [Didaktik - wp] oder  rationis formandae [des gestaltenden Verstandes - wp] oder  inveniendae veritatis [der Wahrheitsfindung - wp] und ähnlichen geschah.

4) In der neueren Zeit hat sich der Anerkennung der Wahrheit, daß die Logik nur Wissenschaftslehre sei, in Deutschland noch ein eigenes Hindernis in den Weg gestellt durch die Behauptung KANTs, daß man die Logik (auch selbst die sogenannte transzendentale) durchaus nicht als ein  Organon ansehen dürfe. Denn da es insgesamt den Verdacht eines Mangels an Scharfsinn erregt, wenn jemand einen Unterschied, den doch ein anderer zu sehen vorgibt, nicht wahrzunehmen vermag: so war es wenigstens in Deutschland noch seit kurzem eine gefährliche Sache, etwas zu sagen, was ungefähr so klang, als ob man den Unterschied, der zwischen der Logik und einem Organon obwalte, nicht eingesehen hätte. Da nun die Erklärung, daß die Logik eine Wissenschaftslehre sei, gar so viel Ähnlichkeit hat mit der verpönten Behauptung, daß sie ein Organon sei; so scheint es, man habe für nötig erachtet, sich auch der ersteren zu enthalten; und wenn man es jetzt auch schon hie und da wagt, so geschieht es nur in der Vorrede oder an sonst einem Ort, wo es doch weniger auffällt, als in der Erklärung selbst.


§ 5. Wie der Verfasser von
diesen Gründen denkt

Sind es wirklich nur diese Gründe, durch welche sich die bisherigen Bearbeiter der Logik abgehalten sahen, ihre Wissenschaft auf die § 1. versuchte Art zu erklären: so deucht mir, ihr Beispiel dürfe uns nicht zum Gesetz dienen. Denn

1) auf die größere oder geringere Anzal und Weitläufigkeit der Untersuchungen, welche vorausgeschickt werden müssen, um gewisse Lehren recht faßlich und überzeugend darzustellen zu können, kommt es doch bei der Bestimmung des Begriffes der Wissenschaft,, der diese letzteren beigezählt werden sollen, nicht an. Wie schwankend wären sonst solche Begriffe; und bei wie vielen anderen Wissenschaften tritt nicht der gleiche Fall ein, daß ihre Vorbereitungslehren einen viel größeren Raum einnehmen, als irgendwelche Sätze, um derentwillen sie dastehen!

2) Ebensowenig kommt es bei der Bestimmung dieses Begriffes auf die größere oder geringere  Wichtigkeit der Untersuchungen an. Mögen auch die Lehren, die wir nach dem Begriff einer Wissenschaft als die ihr  eigentümlichen ansehen müssen, zuweilen von einer geringeren Wichtigkeit sein, als manche, die wir hier nur  gelegentlich vortragen; mögen wir deshalb die letzteren auch mit einer besonderen Ausführlichkeit behandeln: darum ist es noch immer nicht nötig, den Begriff dieser Wissenschaft anders zu fassen. So sind ja z. B. auch in der Analysis gar manche Lehren, welche hier nur gelegentlich angebracht werden, z. B. Anwendungen auf die Geschäfte des Lebens usw. von einer größeren Wichtigkeit als die ihr eigentümlichen Sätze.

3) Was aber die Dunkelheit anlangt, die man besorgen möchte, wenn man die Logik als eine Wissenschaftslehre erklärt haben würde: so muß man gestehen, daß diese wenigstens kein Hindernis von einer solchen Art sei, das sich durch einige Bemühung nicht überwinden ließe. Sollte die in § 1. versuchte Erklärung des Begriffs einer Wissenschaft die richtige sein, so wäre es wahrlich nicht schwer, den Begriff der Logik auch jedem Anfänger faßlich zu machen. Daß aber der Begriff der Wissenschaft noch strittig sei, und von der Logik selbst erst seine vollständige Bestimmung erwarte, ist wahr; allein dies darf uns keineswegs hindern, ihn der Erklärung der Logik zugrunde zu legen; denn ein Gleiches muß ja offenbar auch bei vielen anderen Wissenschaften geschehen. Die Rechtswissenschaft z. B. ist ihrem Begriff nach gewiß nichts anderes als die Wissenschaft vom Recht, und folglich auch nicht anders als so zu erklären; gleichwohl ist es bekannt, daß man darüber, wei der Begriff des Rechts selbst zu fassen sei, gar nicht viel gestritten habe, und daß diese Frage erst eben in dieser Wissenschaft entschieden werden müsse. Dasselbe gilt von der Klugheitslehre, von der Staatswissenschaft, von der Ästhetik und mehreren anderen Wissenschaften. Endlich mag man was immer für eine Erklärung der Logik ersinnen; so muß man, wenn man nicht einer in unseren Tagen allgemein angenommenen und gewiß richtigen Ansicht widersprechen will, bei der Vorstellung bleiben, daß die Logik selbst eine Wissenschaft sei. Soll also die Erklärung, die man von ihr gibt, nicht zu weit sein, so wird man in ihr diese Bestimmung und somit den Begriff der Wissenschaft niemals umgehen können.

4) Endlich liegt doch gewiß nichts Anstößiges in der Behauptung, daß die Logik eine  Wissenschaftslehre, ja selbst ein  Organon sei; wenn man dies so versteht, daß sie die Regeln aufstelle, nach welchen man in der Zerlegung des gesamten Gebietes der Wahrheit in einzelne Wissenschaften und bei der Bearbeitung einer jeden vorgehen muß. Falsch wäre es nur, wenn man sich vorstellte, daß diese Wissenschaft die  ersten Grundsätze, auf welche das Gebäude einer jeden anderen Wissenschaft aufgeführt werden muß, enthalte. Nicht von den Grundsätzen, die einer jeden Wissenschaft zugrunde liegen, sondern vom Verfahren, das man bei ihrer Darstellung zu beobachten hat, ist in der Logik die Rede.


§ 6. Der Verfasser wird seine Wissenschaftslehre
gewöhnlich Logik nennen

Nach allem, was bisher beigebracht wurde, erlaube ich mir, es als entschieden anzusehen, daß die Wissenschaft, deren Begriff ich § 1. unter dem Namen Wissenschaftslehre aufstellte, wesentlich eben die nämliche sei, die man schon längst unter verschiedenen Namen, am gewöhnlichsten aber unter dem Namen  Logik, gekann und bearbeitet hat. Wegen des letzteren Umstandes will ich nun, so bezeichnend auch der rein deutsche Name  Wissenschaftslehre wäre, doch mich seiner nur selten bedienen, sondern insgesamt den schon allhergebrachten, durch seine Kürze und Geschmeidigkeit sich so empfehlenden Namen  Logik gebrauchen.


§ 7. Prüfung anderer Erklärungen

Da die Erklärung der Logik, die ich in diesem Buch gebe, von den Erklärungen anderer abweicht; so ist es billig, auch diese anzuführen, und in gedrängter Kürze die Gründe anzuzeigen, warum ich bei keiner derselben glaubte verbleiben zu dürfen.

1) Eine der gewöhnlichsten Erklärungen sagt, daß Logik die Lehre von der  Wissenschaft vom Denken sei. So heißt es in KANTs durch JÄSCHE herausgegebener Logik (Seite 4): "Die Wissenschaft von den notwendigen Gesetzen des Verstandes und der Vernunft überhaupt oder von der bloßen Form des Denkens ist, Logik." Ein Ähnliches findet man auch bei KIESEWETTER, KRUG, TIEFTRUNK, CALKER, ESSER, RÖSLING, SIGWART und vielen anderen. - Mich dünken dieser Erklärungen, sofern sie wörtlich, wie sie vorliegen, ausgelegt werden sollen, alle zu weit. Denn wie wir auch immer bei dem Geschäft des Denkens vorgehen, was wir auch dadurch erreichen, oder nur zu erreichen bestrebt seien, wir mögen Wahrheit finden, oder uns in Irrtümern verstricken; die Wahrheit suchen, oder im Gegenteil bemüht sein, uns selbst zu hintergehen; oder wir mögen keines von beiden tun, sondern uns bloß unserer Unterhaltung bald diese bald jene Vorstellungen vormals, ohne zu glauben, daß Dinge da sind, welche so aussehen, wie sie durch diese Vorstellungen geschildert werden: verfahren wir nicht in allen diesen Fällen doch nach gewissen  Gesetzen oder  Regeln? Muß nicht z. B. derjenige, der sich selbst täuschen will, die Regel befolgen, daß er die Aufmerksamkeit seines Geistes von den Gründen der Wahrheit abziehe, und sie dagegen auf jene Scheingründe, die der entgegengesetzte Irrtum für sich hat, richte und dergleichen? Kann also nicht jede Beschreibung von Regeln dieser Art eine  Lehre vom Denken, von den Gesetzen und Regeln des Denkens, ja (wenn man will) selbst eine Wissenschaft  vom gesetzmäßigen Verstandes- und Vernunftgebrauch heißen? Und doch wäre eine solche Sammlung von Regeln gewiß nichts weniger, als was wir uns alle unter der Logik denken. - Wollte man aber zur Rettung jener Erklärungen sagen, daß man unter den anzugebenden Gesetzen nur solche verstehe, welche  dem Zweck unseres Erkenntnisvermögens entsprechen: so müßte ich noch eine nähere Auslegung dieser Worte verlangen. Meint man Gesetze, die ohne Voraussetzung eines willkürlich angenommenen Zweckes, oder (wie man sagt)  unbedingt bestehen; so sind es die sittlichen, deren Entwicklung in die Moral gehört und also würde sich, dieser Erklärung zufolge, die ganze Logik in ein Kapitel der Sittenlehre, in das  "vom pflichtmäßigen Gebrauch unseres Erkenntnisvermögens" verwandeln. Dies hat Herr DAMIRON (in seinem "Cours de Philosophie") allen Ernstes vor; aber wie viele Vorschriften, von denen man sich in der Logik bisher nichts träumen ließ, wird er nun nicht in ihren Vortrag aufnehmen müssen! - Meint man dagegen Gesetze, die erst aus einem gewählten  Zweck entspringen; so ist es zur Vollständigkeit der Erklärung nötig, daß man uns diesen nenne. Sollte man die  Erkenntnis der Wahrheit als diesen Zweck angeben; so würde die Erklärung in eine derjenigen übergehen, die ich gleich später prüfen werde.

2) Einige, die diese zu große Unbestimmtheit der eben betrachteten Erklärung gefühlt zu haben scheinen, erklärten die Logik als  eine Lehre von der Ausbildung unseres Erkenntnisvermögens. [...] Durch diese Erklärung wird freilich die Anweisung zu jedem solchen Gebrauch unserer Erkenntniskraft, der ihrer eigenen Vollkommenheit Abbruch tut, aus der Logik verwiesen; von einer anderen Seite aber werden nun eine Menge von Untersuchungen, die ihr ganz fremdartig sind, in ihr Gebiet bezogen. Oder wie viele und verschiedenartige Mittel, die Vollkommenheit unserer Erkenntniskraft zu erhöhen, gibt es, von denen man wohl z. B. in der Erziehungskunde, in der Arzneiwissenschaft, in der Moral, in der Staatswissenschaft, und in noch manchen anderen Wissenschaften teils wirklich handelt, teils handeln sollte, die aber nur in der Logik an einem ganz unrechten Ort ständen! Gehört den z. B. die Frage, ob Koriander ein Mittel zur Stärkung des Gedächtnisses sei, in die Logik? Und doch müßte sie es, wäre die Logik eine  ars rationis formandae im ganzen Umfang der Worte.

3) Viel bestimmter schon war es, wenn man die Logik als  die Wissenschaft von den Gesetzen erklärte,  nach denen wir beim Denken vorgehen müssen, wenn wir die Wahrheit finden wollen. [...] Ich gebe zu, daß alle diese Regeln, die man beim Denken beobachten muß, um zur Erkenntnis der Wahrheit zu gelangen, in der Logik gelehrt werden können, und in gewisser Rücksicht sogar gelehrt werden  sollen. Denn gehören sie auch nach dem Begriff, den ich von der Logik gebe, nicht eben wesentlich zu ihrem Inhalt; so hängen sie doch mit ihm so nahe zusammen, daß ihre Aufnahme auf keinen Fall Tadel verdienen kann. Ist es nämlich der eigentliche Zweck der Logik, zu lehren, wie Wissenschaften dargestellt werden sollen; so würde sie zwar ihrer Pflicht streng genommen schon genug tun, wenn sie nur lehrte die Regeln, wodurch wir beurteilen können, ob eine vorgelegte Wahrheit in diese oder jene Wissenschaft gehöre, und in welcher Ordnung und Verbindung sie daselbst aufzuführen sei: allein wer sieht nicht, daß es sehr dankenswert sein wird, wenn sie noch mehr tut, und auch über die wichtige Frage, wie dergleichen Wahrheiten selbst erst gefunden werden können, Belehrungen erteilt? Ja insofern, als wir noch keine eigene von der Logik getrennte Wissenschaft haben, welche sich die Beantwortung dieser besonderen Frage vorsetzt, wird es den Lehrern der Logik sogar zur Pflicht gemacht werden können, daß wenigstens sie diese Frage, welche den Menschen überhaupt so wichtig ist, nicht mit Stillschweigen übergehen. Aber wie sehr man auch unsere Logiker zur Untersuchung dieser Frage verpflichte; so bleibt doch die obige Erklärung der Logik noch immer fehlerhaft; und verrät ihre Unrichtigkeit meines Erachtens schon dadurch, weil man aus ihr gar nicht begreifen könnte, warum die Regeln des wissenschaftlichen Vortrags einen so äußerst wesentlichen Bestandteil der Logik, ja ihren letzten Zweck selbst ausmachen sollen? Denn wenn die Logik als die Lehre von den Regeln erklärt wird, nach denen wir beim Denken vorgehen müssen, um Wahrheit zu finden: so ist ja ihr letzter Zweck offenbar kein anderer als - die Erfindung der Wahrheit. Zu diesem Zweck aber trägt die Verbindung der schon gefundenen Wahrheit in ein wissenschaftliches Ganzes nur wenig bei. Diese Verbindung mag wohl viel beitragen, um die Erlernung der Wahrheit anderen zu erleichtern; wenn aber die Logik bloß die Regeln angeben soll, die man beim  eigenen Denken zu beobachten hat, um Wahrheit zu erkennen: so liegt die Angabe der Mittel, wodurch man die einmal gefundene Wahrheit auch  anderen beibringen kann, außerhalb ihres Zwecks. Man mußte also nur fragen, die Logik lehre die Regeln des wissenschaftlichen Vortrags bloß in sofern, als eine wissenschaftliche Zusammenstellung der schon gefundenen Wahrheiten ein Mittel ist, das uns zuweilen auch noch auf manche neue Wahrheiten leitet. Nun will ich eben nicht leugnen, daß ein echt wissenschaftlicher Vortrag auch diesen Nutzen verspreche; aber wer könnte glauben, daß dieses der einzige Grund sei, weshalb die Kunst des wissenschaftlichen Vortrages überhaupt gelehrt werden soll?

4) Anderen, denen die Wichtigkeit dieser Kunst und das Verdienst, das sich die Logik durch sie um die Erleichterung des Unterrichtes beigelegt hat, stärker ins Auge fiel, ließen sich hierdurch bestimmen, die Logik als  die Lehre des Vortrags überhaupt zu erklären. Diesen Begriff von der Logik scheint schon der Redner CICERO gehabt zu haben, weil er sie unter der Benennung  ratio diligens disserendi aufführt. Hierher gehören auch die Erklärungen MELANCHTHONs  dialectica est ars docendi [...] und andere mehr. Wären diese Erklärungen richtig; so müßte der Inhalt der Logik viel größer sein, als er ist; wir müßten dann nicht bloß von Begriffen, Urteilen, Schlüssen, und von der Ordnung und Verbindung, in welcher die Wahrheiten in einem Buch dargelegt werden müssen, sprechen; sondern wir müßten auch von allem dem handeln, was beim  mündlichen Vortrag solcher Wahrheiten zu beobachten kommt; wir müßten die Regeln nicht bloß für diese oder jene, sondern für eine  jede Art des mündlichen Vortrages, die unter gewissen Umständen und für gewisse Personen zweckmäßig werden kann, entwickeln; also z. B. auch die Regeln, die man bei Kindern, oder bei Blindgeborenen, oder bei Stummen und dgl. befolgen muß, um sich verständlich zu machen und sie zu überzeugen usw. Nicht nur, daß man dergleichen Untersuchungen bisher nie in der Logik vorgenommen; sondern zufolge dessen, was ich schon in § 2. berührte, wäre es auch nicht einmal zu billigen, wenn man die Regeln, die beim Unterricht, mit jenen, die bei der Bearbeitung und schriftlichen Darstellung der Wissenschaften zu beobachten sind, d. h. die Unterrichtskunde und Wissenschaftslehre in  eine Wissenschaft vereinigen wollte.

5) SALOMO MAIMON (Versuch einer neuen Logik oder Theorie des Denkens, Berlin 1794, Vorrede, Seite XXXI) gibt von der  Philosophie die Erklärung, sie wäre eine Wissenschaft, deren Gegenstand die "Form einer Wissenschaft überhaupt" ist; und das wäre mit anderen Worten gerade das, was ich die Wissenschaftslehre, andere die Logik nennen. Da er jedoch unter dieser Form "die absolut ersten Prinzipien der menschlichen Erkenntnis" versteht, so ist dies freilich etwas ganz anderes. Von der Logik selbst gibt er nun § 1. die Erklärung, daß sie die Wissenschaft des Denkens eines durch innere Merkmale unbestimmten und bloß durch das Verhältnis zur Denkbarkeit bestimmten Objektes überhaupt wäre. Es sei hiermit, meint er, ebenso wie mit der "allgemeinen Größenlehre", welche "bloß alle möglichen Formen, worin Größen gedacht werden können, betrachte, unbekümmert, ob sie in der Anwendung auf bestimmbare, unbestimmbare oder gar unmögliche Größen führen werden." - Meines Erachtens ist es wohl nicht ganz richtig gesagt, daß man sich in der allgemeinen Größenlehre (Arithmetik, Algebra und Analysis) gar nicht darum bekümmere, ob die hier betrachteten Größenformen in der Anwendung auf bestimmbare, unbestimmbare oder gar unmögliche Größen führen; vielmehr besteht die ganze Betrachtung, die man über eine gewisse Größenform anstellt, meistenteils darin, zu untersuchen, ob und wie sie bestimmbar sei. Ferner muß man die bloße  Denkbarkeit einer Sache nie mit der  Möglichkeit, nicht einmal mit der sogenannten  inneren Möglichkeit, welcher das sich selbst Widersprechende entgegengesetzt wird, verwechseln. Denn auch das Widersprechend, z. B. ein viereckiger Kreis oder die Wurzel aus  -1 ist denkbar und wird von uns wirklich gedacht, so oft wir davon sprechen. Undenkbar ist uns etwas nur dann und insofern, als wir gar keine Vorstellung davon besitzen; wie etwa die rote Farbe undenkbar sein mag für einen Blindgeborenen. Aus diesem Beispiel sieht man zugleich, daß die bloße Denkbarkeit oder Undenkbarkeit der Dinge in der Logik nur selten zu berücksichtigen komme, geschweige, daß sie den einzigen Inhalt derselben ausmachen sollte. Aber auch wenn wir statt des Wortes "Denkbarkeit" -  innere Möglichkeit (oder Widerspruchslosigkeit) setzen, ist es sehr falsch, daß sich die Logik mit nichts anderem, als mit den Gesetzen dieser inneren Möglichkeit befasse. Sie lehrt zwar mehrere Regeln, durch deren Befolgung wir vermeiden können, daß unsere Behauptungen nicht in einen inneren Widerspruch miteinandert treten; aber offenbar machen dergleichen Regeln nicht ihren ganzen Inhalt aus. Endlich begreife ich auch nicht, wie gesagt werden könne, daß wir uns die Objekte in der Logik "ganz unbestimmt nach ihren inneren Merkmalen" denken. Denn wenn wir uns einen Gegenstand als völlig unbestimmt denken; so können wir auch nichts von ihm behaupten. Diese ganze Erklärung rührt also wohl nur daher, weil in den Beispielen, die in der Logik angewandt werden, wie im Syllogismus  A sind B, alle B sind C, also sind alle A auch C, die Zeichen  A, B, C, wie man sagt, "was auch immer" bedeuten können. Dieses ist aber nicht ganz genau gesprochen. Die Zeichen  A, B, C können hier freilich sehr Verschiedenes, aber doch nicht alles, was man nur will, bedeuten. Sie müssen Vorstellungen, und zwar  B eine Vorstellung, die sich von allen  A, C eine, die sich von allen  B prädizieren läßt, bezeichnen. Und so sieht man dann, daß die Objekte  A, B, C gar nicht nach allen, sondern nur nach einigen ihrer Merkmale unbestimmt gelassen werden. Viel Ähnliches mit dieser MAIMONschen hat auch Herrn TWESTENs Erklärung (Logik, Schleswig, 1825), daß Logik die Theorie von der Anwendung der Grundsätze der Identität und des Widerspruchs sei.

6) Während die Philosophen  Deutschlands sich bemühen, alles Empirische aus dem Gebiet der Logik zu entfernen, will man in  Frankreich eine durchaus empirische und subjektive Wissenschaft (eine Art von Erfahrungslehre) aus der Logik machen. Einer der neuesten und originellsten Bearbeiter dieser Wissenschaft in Frankreich, Herr Graf DESTUTT de TRACY sagt [...] Nach dieser Erklärung wäre also die Logik  die Wissenschaft von der Art, wie wir zu unseren Erkenntnissen gelangen. Unter den Deutschen dürfte besonders ERNST PLATNER etwas Ähnliches gedacht haben, wenn er (philosophische Aphorismen, Leipzig 1800, § 21) die Logik in der weitesten Bedeutung eine pragmatische, d. h. kritische Geschichte des menschlichen Erkenntnisvermögens nannte. So sagt auch BENEKE (Lehrbuch der Logik, Berlin 1832), der Logik, als der Wissenschaft vom Denken, wäre die Aufgabe gestellt, die Form und die Entstehungsweise unserer Denkentwicklung vollständig und klar darzulegen. Man erachtet leicht, daß ich gegen diese Erklärung ähnliche Einwendungen zu machen haben, wie gegen die in Nr. 3 geprüfte. Wenn es zum Inhalt der Logik nicht eben wesentlich gehört, daß sie uns mit den Mitteln, uns zu versichern, ob etwas wahr oder falsch ist, bekannt mache; so wird es noch viel weniger notwendig sein, daß sie uns über die Art, wie irgendeine Erkenntnis in uns entstehe, unterrichte. Denn es ist keineswegs zu glauben, daß dieses Letztere unumgänglich nötig zum Ersteren sei; d. h. daß wir uns gar nicht versichern könnten, ob irgendeine unserer Meinungen wahr sei, solange wir nicht, wie sie entstanden sei, wissen. "Es ist, " sagt hierüber sehr treffend Professor KRUG (System der theoretischen Philosophie, Teil 1, § 8, Anm. 1), "gar nicht notwendig, zu wissen, wie Gedanken erzeugt werden, um zu erfahren, wie sie in ihrer Beziehung aufeinander behandelt werden müssen." (Und zu dieser Behandlung gehört wohl auch die Beurteilung ihrer Richtigkeit und Unrichtigkeit:) "Von wie viel Dingen in der Welt kennen wir den Ursprung nicht, und vermögen sie doch zweckmäßig zu behandeln!" - Inzwischen gebe ich zu, daß die Untersuchung über den Ursprung unserer Erkenntnisse ein in der Logik sehr verdienstliches Geschäft sei, weil es uns auf die Quelle so mancher Irrtümer aufmerksam macht, und dadurch in den Stand setzt, sie umso sicherer zu vermeiden. Ja, so lange wir aus dieser Untersuchung noch nicht eine eigene Wissenschaft gemacht, sie auch nicht irgendwie anders vornehmen; so lange, sage ich auch hier wie in Nr. 3, daß es dem Logiker sogar als eine Art von Schudligkeit obliege, hiervon in seiner Wissenschaft zu handeln: nie aber kann man diese Untersuchung zum einzigen Zweck der Logik erheben, und als Erklärung derselben aufstellen. Denn wäre dies so, müßten wir ganz gegen den Begriff, den man dem herrschenden Sprachgebrauch nach mit dem Wort  Logik verbindet, mit de TRACY behaupten, daß diese Wissenschaft eine bloß theoretische (une science purement spéculative) sei; und weder die Regeln für die Erfindung der Wahrheiten, noch jene für die Zusammenstellung derselben in einen wissenschaftlichen Vortrag würden in ihren Inhalt gehörten.

7) Eine in neuerer Zeit sehr beliebt gewordene Erklärung, die auch Herr ERNST REINHOLD (in seiner "Logik", Jena 1827) annimmt, sagt, daß die Logik die allgemeine "Denkformenlehre, d. h. die Lehre von denjenigen  Weisen der Gedankenvorstellung sei, die im Hinblick auf jeden möglichen  Stoff unserer Gedanken die nämlichen sind. Ich werde mich über den hier zugrunde gelegten Gegensatz zwischen Materie oder Stoff und Formen oder Weisen erst später (§ 12.) aussprechen.

8) Nach des tiefsinnigen HERBARTs "Einleitung in die Philosophie" wäre Logik derjenige  erste Teil der Philosophie d. h. der Bearbeitung der  Begriffe (ß), welcher die  Deutlichkeit in Begriffen, und die daraus entspringende Zusammenstellung der letzteren im Allgemeinen betrachtet. Aber sollte denn die Logik in der Tat nichts anderes als nur Begriffe und nur ihre Deutlichkeit, nicht auch gar viele andere Beschaffenheiten und Verhältnisse derselben betrachten?

9) Sehr abweichend von der bisherigen Ansicht war nicht bloß die  Erklärung, sondern auch der  Begriff, den HEGEL von unserer Wissenschaft aufstellte, indem er sagte, daß sie "als das System der reinen Vernunft, als das Reich des reinen Gedankens, überhaupt als die reine Wissenschaft zu fassen sei, welche die Befreiung vom Gegensatz des Bewußtseins voraussetzt, und den Gedanken enthält, sofern er ebensosehr die Sache, und die Sache, sofern sie ebensosehr der reine Gedanke ist." - Ich gestehe, daß es mir nie gelungen ist, in dieser Erklärung einen vernünftigen Sinn zu entdecken. Denn der Gedanke einer Sache, und sie, die Sache selbst, welche durch diesen Gedanken gedacht wird, sind meines Erachtens immer verschieden; sogar noch in dem Fall, wenn die Sache worüber wir denken, selbst ein Gedanke ist. Denn auch hier ist ja auch noch der Gedanke von meinem Gedanken nicht eben derselbe, sondern ein anderer Gedanke. Sonach begreife ich nicht, wie man sagen könne, daß die Logik den Gedanken enthalte, sofern er ebensosehr die Sache, und die Sache, sofern sie eben so sehr der Gedanke ist.

10) Herr TWESTEN ("Die Logik", Schleswig 1825) behauptet, daß die Logik im hergebrachten Sinn, bei dem auch er beharren will, "die Theorie von der Anwendung der beiden "Grundsätze der Identität und des Widerspruchs und des Widerspruchs sei." Ich bin dagegen der Meinung, daß sich aus diesen beiden Grundsätzen nicht einmal die wenigen Regeln der Syllogistik, die ARISTOTELES aufgestellt hat, ableiten lassen.

11) Nach Herrn TROXLER (Logik, Stuttgart u. Tübingen 1829, Teil 1, Seite 13) "ist die Logik eine selbständige Wissenschaft, durch die der menschliche Geist und die Denkkraft zur  "Selbsterkenntnis ihres ursprünglichen Vermögens, und ihrer naturgemäßen Wirksamkeit geführt werden, und einer eigentümlichen  Kunstübung, in welcher nicht bloßes Aneignen und Nachahmen durch Beispiele und Regeln beabsichtigt wird, sondern  Selbstentwicklung und  Freiheitlichkeit im eigenen, inneren Geisteswerk." Soll und kann wohl das Letztere von irgendeiner Wissenschaft geleistet werden? - Jedenfalls würde die Anleitung zu solchen Kunstübungen mehr in die Erziehungskunde, als in die Logik gehören. Seite 46 heißt es, die Logik sei "die eigentliche Philosophie des Denkens, ja sozusagen, die zur Wissenschaft und Kunst gewordene und als solche wieder in ihre eigene Natur zurückwirkende Vernunft." Seite 53 aber wird vorausgesetzt, daß die Logik "die Wissenschaft vom rechten Gebrauch der Erkenntniskraft und von Verhütung des Irrtums, sowie vom Wesen und der Behandlung der Wahrheit und Gewißheit sein müsse. - Eine deutlichere Erklärung hab' ich nicht finden können.

12) Herrn Dr. UMBREIT (System der Logik, Heidelber 1833) ist die Logik "die im Moment des Denkens sich durch- und ausbildende Idee des Denkens." (Seite 18) - Sind solche Spiele mit Worten wohl auch Erklärungen zu nennen; und dürfen wir sie ernstlich beurteilen?
    Anmerkung. Die Wissenschaft, welche JOHANN GOTTLIEB FICHTE unter dem Namen der  Wissenschaftslehre verstand, sollte sich zu derjenigen, welche er Logik, besonders  philosophische oder  transzendentale Logik, nannte, ungefähr wie ein Ganzes zu seinem Teil verhalten. Die Wissenschaftslehre nämlich sollte nach Bd. I, Seite 106 der nachgelassenen Werke (Bonn 1884) die Lehre vom  Wissen überhaupt, vom  ganzen Wissen sein, welches aus  Anschauen und  Denken bestehe; während die Logik nach ihm das bloße  Denken zum Objekt habe; daher sagte er Seite 107 ausdrücklich, daß die transzendentale Logik auch in der Wissenschaftslehre vorkommt, ja ihr Teil sei. - Allein ich meine, wenn man die Logik als eine Lehre vom Denken erklärt hat, sei oder habe dies nie in dem Sinne geschehen sollen, in welchem das Anschauen vom Denken ausgeschlossen wird. Denn wie hätte bei dieser Beschränkung des Begriffs die Logik z. B. nur all diejenigen Regeln vollständig aufzählen können, welche sich für die  Erfindung der Wahrheiten aufstellen lassen; da der Unterschied zwischen Anschauungen und Begriffen, Erfahrungen und Wahrheiten  a priori in dieser Hinsicht von größter Wichtigkeit ist. Den von FICHTE hier angegebenen Unterschied zwischen seiner Wissenschaftslehre und der Logik kann ich sonach keineswegs gelten lassen. Bei dieser Gelegenheit aber will ich auch noch ein anderes Geständnis ablegen, nämlich dies, daß auch ich zur Zahl derjenigen gehöre, denen der eigene  ganz neue Sinn, den FICHTE zum Verständnis seiner Wissenschaftslehre verlangt (Seite 4), bis jetzt nicht in Erfüllung gegangen, obgleich ich mir einige Mühe gegeben, alles, was FICHTE zu diesem Zweck von seinen Lesern verlangte, zu tun. Ich glaube also zwar, daß FICHTE Unrecht habe; ich glaube auch bei einiger seiner Behauptungen zu begreifen, was ihn zu einem solchen Irrtum verleitet haben mochte. Da ich dies aber nur bei den wenigsten vermag; ein anderer sehr beträchtlicher Teil seiner Äußerungen dagegen mir so befremdende klingt, daß ich fast zweifle, ob ich auch nur den rechten Sinn derselben verstehe: so fehlt noch viel, daß ich denjenigen Grad von Überzeugung von der Unrichtigkeit dieses Systems hätte, welcher mir selbst nichts mehr zu wünschen übrig ließe. Ein ähnliches Geständnis muß ich zur Steuer der Wahrheit auch in Bezug auf SCHELLING, HEGEL und andere in ähnlicher Weise philosophierende Schriftsteller, selbst in Beziehung auf HERBART ablegen; was denn hier ein für allemal gesagt sei.
LITERATUR - Bernard Bolzano, Wissenschaftslehre I, Versuch einer ausführlichen und größtenteils neuen Darstellung der Logik mit steter Rücksicht auf deren bisherige Vorarbeiter, Sulzbach 1857
    Fußnote
    1) Lebensbeschreibung des Dr. B. BOLZANO mit einigen seiner ungedruckten Aufsätze und dem Bildnis desVerfassers, eingeleitet und erläutert vom Herausgeber. Sulzbach, J. E. von SEIDELsche Buchhandlung, 1836, Seite 78f