ra-2LotzeLotzeH. PöhlmannL. StählinF. Goldner    
 
FRANZ CHELIUS
Lotzes Wertlehre
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"Die bloße Entwicklung, der bloße Fortschritt ist in keiner Form etwas Wertvolles; denn, wenn auch die Menschen tatsächlich vorwärts kommen, so ist es doch immer bloß das fortgeschrittene Geschlecht, das sich diese Werte aneignen kann, und die vorhergehenden Geschlechter haben ohne Lohn und ohne Dank gearbeitet. Es widerstrebt unserem Gerechtigkeitsgefühl, wenn Glück und Lust so ungleich auf die verschiedenen Generationen verteilt würden, und Erziehung hat überhaupt nur dann Sinn und Wert, wenn der Erzogene ihre Früchte genießen kann. Kein Entwicklungsprozeß, auch nicht der der Menschheit, ist an und für sich wertvoll, wenn sich dabei kein wertempfindendes Subjekt ausfindig machen läßt."

"Immer wieder taucht bei Lotze der Gedanke auf, daß es töricht ist, wenn wir uns zuviel mit dem dunklen  Ansich  der Dinge abgeben. Was immer die schönen und die häßlichen Dinge innerlich erleben mögen, sie sind keine in sich abgeschlossenen Werte, zu denen unser Fühlen und Werten als etwas im Grunde Überflüssiges hinzukäme. Das Aufblühen einer Welt sinnlicher Empfindungen steht nicht als eine müßige Zugabe neben dem übrigen Zusammenhang der Dinge, als wäre der Sinn allen Seins und Geschehens vollendet auch ohne sie; sie selbst ist vielmehr eines der größten, ja das größte aller Ereignisse überhaupt, neben dessen Tiefe und Bedeutsamkeit alles Übrige verschwindet, was sich sonst zwischen den Bestandteilen der Welt ereignen könnte. Keine Verehrung starrer Kerne der Realität! Keine Kraftverschwendung an die unlösbare Aufgabe, die Welt und insbesondere die schönen Gegenstände in ihrem Ansich, abgesehen vom genießenden Bewußtsein, begreifen zu wollen!"

II.
Die Forderung objektiver Werte
im Licht der Kritik

Daß der Wert eines Dings durch die körperliche und geistige Beschaffenheit des wertenden Subjekts bestimt wird und nicht eine bereits fertig im Gegenstand liegende Vortrefflichkeit ist, diese Erkenntnis befriedigt nicht völlig. Denn "wenn man auch garn zugibt, daß es mit manchen Eigenschaften der Dinge z. B. der Nützlichkeit so gehalten werden darf, daß diese gar nichts den Gegenstand Ausmachendes, sondern bloße eine zufällige Beziehung des fertigen Gegenstandes zu uns sind" (1), so wird man wohl doch nicht damit einverstanden sein, daß alle Dinge, die wir in positivem oder negativem Sinn werten, nichts weiter als Ursachen, Mittel und Reize zur Erregung unseres Wertgefühls sind. Es drängt sich uns immer wieder die Frage auf: was bleibt von den angenehmen Dingen, den schönen Erscheinungen, den guten Handlungen, wenn wir das Subjekt hinwegdenken, das sie gewertet hat? Haben wir uns getäuscht, als wir einen Wert dahinter vermuteten, oder haftet auch dann noch den Dingen ein Wert an? Ein solcher Wert, der, vom genießenden Bewußtsein unabhängig, in der eigenen Würde des Objekts liegt, kann ein objektiver (2) Wert genannt werden, oder ein Wert, der dem Ding-ansich anhaftet. Es ist nun die Frage, ob es solche Tatbestände gibt, denen, abgesehen vom genießenden Bewußtsein, ein Wert zukommt.

Der Gedanke, daß unempfindende Tatbestände ansich und insich wertvoll sind, ist von HEGEL und seinen Schülern bis in die letzten Konsequenzen durchgedacht worden. Kein Lebens-, kein Wissensgebiet gibt es, das nicht nach diesen philosophischen Gesichtspunkten erklärt und durchforscht worden wäre. "Die Welt ... sei keine bloße Tatsache, hatte HEGEL gelehrt, sondern habe auch einen Sinn. In diesem Ganzen habe jedes Einzelne seine bestimmte Stelle, und das Wesen jedes Dings bestehe eigentlich nur in der partiellen Idee, deren Verwirklichung ihm aufgetragen ist und durch welche es das Seinige zur lückenlosen Erfüllung der höchsten oder totalen Idee der Welt beiträgt" (3). Alles, was in der Welt geschieht, geschieht letztlich um der denknotwendigen Entwicklung willen, damit das Absolute den Prozeß vom Ansichscin zum Anundfürsichsein durchmache. Die Verwirklichung einer Idee ist Zweck, Ziel und Wert des Weltgeschehens, und das Einzelding ist insich wertvoll, weil es eine irgendwie bestimmte Ausdrucksform dieser Zentralidee ist. LOTZE ist gewiß kein übermäßig heftiger Polemiker, aber gegen diese Entwicklungsgedanken hat er doch zu allen Zeiten auf das Entschiedenste protestiert. Es ist nie und nimmer, so führt er an den verschiedensten Stellen aus, der Zweck und Wert des Weltgeschehens, daß sich beständig ein formal-eintöniges Ideenspiel wiederholt (4). Wäre die Geschichte das, was HEGEL in sie hineingedacht hat, dann sie sie die furchtbare große und tragische Schlachtbank, auf welcher alles individuelle Glück und Leben geopfert werde (5), dann sei das Absolute, dieses unergründliche, unpersönliche Urwesen, das sich selbst im Laufe seines Entwicklungsprozesses erkennt, nichts Gutes, nichts Wertvolles, sondern etwas Unheimliches und Schauriges. Selbst wenn man an die Stelle der HEGELschen Idee den Begriff "Menschheit" setzt, und als höchsten, letzten Wert des Weltgeschehens die höchstmögliche Entwicklung der Menschheit betrachtet oder von einer solchen Erziehung der Menschheit redet, selbst dann verliert der Entwicklungsgedanke noch nicht das Unsympathische, Unzutreffende. Die bloße Entwicklung, der bloße Fortschritt ist in keiner Form etwas Wertvolles; denn, wenn auch die Menschen tatsächlich vorwärts kommen, so ist es doch immer bloß das fortgeschrittene Geschlecht, das sich diese Werte aneignen kann, und die vorhergehenden Geschlechter haben ohne Lohn und ohne Dank gearbeitet. Es widerstrebt unserem Gerechtigkeitsgefühl, wenn Glück und Lust so ungleich auf die verschiedenen Generationen verteilt würden, und Erziehung hat überhaupt nur dann Sinn und Wert, wenn der Erzogene ihre Früchte genießen kann (6). Kein Entwicklungsprozeß, auch nicht der der Menschheit, ist an und für sich wertvoll, wenn sich dabei kein wertempfindendes Subjekt ausfindig machen läßt. Das gilt sowohl von der Geschichte im Ganzen, als auch selbstverständlich von den einzelnen Erscheinungen des Universums. Ist es schon eine abgeschmackte Annahme, daß sich die einzelnen Erscheinungen als Ausdrücke einer logischen Idee erklären ließen, daß "Licht etwa die Identität der Materie mit sich oder die Einheit ihrer Reflexion in sich, Klang die Negation des Fürsichbestehens ihres räumlichen Auseinanderseins etc. sei ..." (7), ist bei dieser spekulativen Deutung der Naturerscheinungen im einzelnen einer Legion von Fehlern Tür und Tor geöffnet, so muß doch erst recht gefragt werden, ob dieser Ideenfülle irgendein Wert zugeeignet werden kann, wenn man sich den spekulativen Philosophen wegdenkt, der an diesen Erkenntnissen seine Freude hat. In keiner Weise ist die Anschauung aufrechtzuerhalten, daß die Tatbestände schon in sich wertvoll sind, welche einzelnen beobachtenden Philosophen irgendwelche inhaltsreiche Ideen auszudrücken scheinen.

War die Ehrfurcht vor dem objektiven Wert einer denknotwendigen Entwicklung die Spezialität einiger Philosophen, so sind wir doch alle durchaus von dem Streben beherrscht, dem Schönen, das uns freut, dem Häßlichen, das uns ärgert, einen objektiven Wert bzw. Unwert beizulegen. Während das Tier die äußeren Mittel lediglich zur Tilgung eines unlusterzeugenden Bedürfnisses oder zur Herbeiführung eienr egoistischen Empfindungslust verwendet, ohne sich beobachtend, kostend und überlegend in ihre Natur hineinzuvertiefen, bemerken wir an uns selbst, daß nur durch Vermittlung der niederen Sinne, namentlich durch das Gefühl der Haut, Wertungen zustande kommen, bei denen wir ähnlich wie die Tiere, die Erscheinungen nur als Förderungen und Hemmungen unseres Befindens abschätzen (8). Anders ist es bei den qualitativ bestimmteren Wertungen, die durch die übrigen Sinne vermittelt sind. "Schon der essende und trinkende Mensch kann es nicht lassen, die Süße als die eigene Freundlichkeit der Dinge freundlich anzunehmen, ihre Herbheit als ihre eigene charakteristische Bosheit zu fassen; er kann in Rührung geraten über die innerliche Vortrefflichkeit der Naturstoffe, zu der sein Geschmackssinn ihm nur den Zugang zeigt" (9). Das Gefallen an Wohlgerüchen läßt dieselbe Neigung zum Versenken in die objektive Lieblichkeit des Materiellen hervortreten, und die höheren Sinne, der des Gesichts und des Gehörs, dringen offenbar zu einer klaren Anerkennung einer eigenen Lieblichkeit und Bedeutung des Inhalts vor, die unabhängig davon ist, daß sie uns wohl tut (10). Wenn wir Klang und Farbe genießen, dann ist fast jede Spur eines egoistischen Interesses ausgelöscht, und wir geben uns völlig der Anschauung einer auf sich beruhenden Trefflichkeit der Dinge hin. Diese Anerkennung des eigenen Wertes der Dinge ist ein charakteristisches Kennzeichen aller menschlichen Empfindung, je feiner der Sinn, mit dem wir empfinden, desto bereitwilliger erkennen wir den eigenen Wert der Dinge an. Wir betrachten es geradezu als eine Gemütsrohheit, wenn einer das Schöne, das ihn umgibt, für einen in sich gleichgültigen Tatbestand hält, der nur darum Wert hat, weil er ihm gerade paßt und erfreut. Es gehört zu den gewissen Überzeugungen der harmlosen ästhetischen Empfindung, daß wir im Akt des Genusses nur die Werte aufnehmen, die objektiv in den Dingen selbst liegen. "Von ihrem eigenen Glanz beleuchtet liegt die Welt um uns, und Töne und Düfte durchkreuzen außerhalb unser selbst den unermeßlichen Raum, der in den eigenen Farben der Dinge spielt." (11) Schließen wir unsere Sinne gegen die verschiedenen Reize der Außenwelt ab, dann bleibt nach der festen Überzeugung des naiven Denkens doch diese schöne Welt der Werte zurück, "und es wird nichts untergegangenn sein außer der zufälligen Wahrnehmung, die vorher von ihr dem Bewußtsein zuteil wurde" (12). Das Schöne, was die Natur in tausendfachen Einzelerscheinungen ausbildet, das Schöne, was Menschenkunst hervorgebracht hat, es bleibt schön, auch wenn sich kein beobachtender Geist fände, der seine Würde anerkennen wollte.

Da belehrt uns dann die Wissenschaft mit eiskalter Nüchternheit, daß dieses farbenfrohe Wogen und Treiben lediglich von unserer Subjektivität in die Außenwelt hineingeschaut ist. "Weder finster noch hell, weder laut noch still, vielmehr völlig beziehungslos zu Licht und Klang liege die Welt um uns her, ohne Duft und Geschmack der Dinge; selbst was auf das Unwiderleglichste die Wirklichkeit des Äußeren zu bezeugen schien, Härte, Weichheit, Widerstand der Dinge sind zu Formen der Empfindung geworden, in denen nur eigene Zustände unseres Innern zu Bewußtsein kommen" (13). Nur eine unendliche Anzahl schwingender Atome erfüllt das Weltall und auch diese sind uns in ihrer wahren Natur völlig unerkennbar, weil es uns niemals gelingt, von unserem eigenen, empfindenden Bewußtsein zu abstrahieren. Vergeblich hat man sich bemüht, gegen diese sicher begründete wissenschaftliche Erkenntnis die Realität der sinnlichen Erscheinung in einem landläufigen Sinn zu verteidigen. (14) Sehen wir vom genießenden Subjekt ab, dann mögen wohl physische Tatbestände zurückbleiben, aber gerade das, was wir an der Natur und an den Kunsterzeugnissen schön finden, haftet nicht den Dingen an, sondern bildet sich erst im Zusammenstoß mit einem Subjekt von bestimmter körperlicher und geistiger Organisation. Unser Gerechtigkeitsgefühl will sich jedoch durchaus nicht damit zufrieden geben, daß die Objekte unseres Genießens nur kalte, in sich wertlose Tatbestände sind. Tragen sie Licht und Klang und Schönheit nicht so in sich, wie die naive Weltbetrachtung glaubt, dann vielleicht in einem anderen Sinn. In dem Sinne nämlich, daß die Dinge oder vielmehr die Atome als beseelte Wesen mit der Fähigkeit ausgestattet sind, ihre eigene Schönheit zu genießen. Dies ist ein, aber wie es scheint, auch der einzige Weg, auf dem sich etwas wie ein objektiver Wert der schönen Erscheinung behaupten läßt. "Zu dieser Folgerung, welche über alles Seiende die Helligkeit einer lebendigen Beseelung ausbreitet, müßte unsere Sehnsucht entschlossen fortgehen; in ihr allein fände sie eine Möglichkeit, dem Sinnlichen eine Wirklichkeit außer uns zu verschaffen, indem sie ihm eine Wirklichkeit im Innern der Dinge gäbe; fruchtlos würde jeder Versuch sein, das, was nur als innerer Zustand irgendeines Empfindens denkbar ist, als eine äußere Eigenschaft an empfindungslose Dinge zu heften" (15). Sind die Dinge beseelt, dann verwandelt sich uns der starre, spröde Stoff in eine Unzahl intelligibler Wesen, das poetische Weltbild rollt sich auf, an dem das erste, naiv-philosophische Denken der Menschheit mit spielendem Griffel arbeitete, das Weltbild, in dem auch der große Schöpfer der Monadenlehre, LEIBNIZ, manches Rätsel gelöst sah. Eine ernste Erwägung zeigt, daß diese Lehre von der Totalbeseeltheit des Universums mehr ist als eine gemütvolle Hilfskonstruktion, daß sie vielmehr mit dem besten wissenschaftlichen Recht verkündet werden darf. Der Begriff einer rein sachlichen, bewußtlosen Materie ist insich so widerspruchsvoll, daß er nicht einmal zur Erklärung des sogenannten sachlichen Geschehens genügt (16). Läuft die naturwissenschaftlich-mechanistische Annahme darauf hinaus, daß die Materie als das Ausgedehnte aus der unendlichen Vielheit der Atome zusammengesetzt ist, so läßt sich gerade der wichtigste Teil dieser Annahme, die Möglichkeit körperlicher und doch unteilbarer Größen nicht überzeugend dartun. Die Atome als Bestandteile des Ausgedehnten müssen ausgedehnt sein; aber wenn sie ausgedehnt sind, dann sind sie eben auch nicht die letzten unteilbaren Einheiten, sondern immer Zusammensetzungen mannigfacher Dinge, und der Begriff der Ausdehung deutet auf Beziehungen zwischen einer Vielheit hin. "Wir müssen zugeben, daß Ausdehnung so wenig das Prädikat  eines  Wesens seine kann, als ein Strudel oder Wirbel die Bewegungsweise eines einzelnen Elementes ist; beide lassen sich nur als Formen der Beziehung zwischen vielen denken." (17) Weiter führt uns eine Untersuchung des Substanzproblems. Die Erscheinungen der umgebenden Welt zu verstehen, nehmen wir als Träger der Veränderungen einheitliche, bei allem Wechsel nach außen hin in sich selbst unveränderliche Wesenskerne, die Substanzen an. Ohne diese Annahme hätten wir zur Beurteilung des Weltgeschehens keine festen Punkte, wir müßten folgerichtig bei jedem Wechsel in den räumlichen und zeitlichen Beziehungen eines Dinges von einem neuen Ding reden. Ein einheitlicher, beharrlicher Träger der Veränderungen, der durch die Beziehung derselben auf sein eigenes Sein sie als seine Veränderungen aufnimmt, ist im Bereich des materiellen, mechanischen Geschehens nicht aufweisbar; das einzige uns bekannte Wesen, das so etwas vermag, ist die mit Selbstbewußtsein und Selbstgefühl ausgestattete Seele, und demnach können wir falls wir die Beharrlichkeit der Dinge nicht überhaupt leugnen wollen, nur bei einer Anerkennung des geistigen Charakters derselben das Substanzproblem befriedigend zu lösen versuchen (18). Zu ähnlichen Erkenntnissen führt uns die Analyse des Begriffs der Wechselwirkung. Jede naturwissenschaftliche Untersuchung arbeitet mit dem Gedanken, daß sich Kräfte von einem Atom auf das andere übertragen, eine solche Kraftübertragung läßt sich nach LOTZE nur denken, wenn die Einzeldinge und ihre letzten Bestandteile Modifikationen einer unendlichen, allumfassenden Substanz und zugleich mit der Fähigkeit ausgestattet sind, ihre wechselseitigen Veränderungen zu merken; denn die Wechselwirkung geht nicht so vonstatten, daß sich einfach von einem Ding etwas auf das andere überträgt, sondern nur durch eine Veränderung des Zustandes in beiden Dingen, dem wirkenden und dem, das die Wirkung aufnimmt (19). Aus dem Zusammentreffen leben- und seelenloser Stoffe läßt sich das Naturgeschehen nicht befriedigend erklären. Dagegen scheinen LOTZE die Schwierigkeiten im wesentlichen behoben, wenn wir die ausgedehnte Materie als ein System unausgedehnter Wesen fassen, "die sich ihre Kräfte durch ihre gegenseitige Lage im Raum vorzeichnen, und indem sie der Verschiebung untereinander wie dem Eindringen eines Fremden Widerstandleisten, jene Erscheinungen der Undurchdringlichkeit und der steten Raumerfüllung hervorbringen" (20). Diesen Gedanken von der Beseeltheit der Atome hat LOTZE schon in den Vorlesungen über Ästhetik (1856) benutzt, um die Annahme eines objektiven Wertes der schönen Gegenstände zu stützen; im Mikrokosmus ist das, was dort hauptsächlich in Bezug auf die Kunsterzeugnisse gesagt ist, auf sämtliche Erscheinungen des Universums erweitert, und es gilt der Konsequenz nach auch von dem, was uns häßlich oder wenigstens wertlos erscheint, daß es durch seine eigene innere Beschaffenheit irgendwie affiziert werden muß (21). Über die Tragweite und Geltung dieser Lehre von der Totalbeseeltheit des Universums ist man sich nicht völlig einig. SCHWEDLER hat in einer chronologischen Untersuchung der Literatur nachzuweisen versucht, daß LOTZE in seinen ältesten Schriften zwar hohen Wert auf diese Lehre gelegt hat, in den späteren jedoch den Gedanken immer entschiedener abgelehnt und sich schließlich mit ziemlicher Entschlosenheit der FICHTE'schen Form des Idealismus zugewandt hat. (22)

Daraus würde dann folgen, daß der Gedanke eines objektiven Wertes der schönen Dinge durchaus keine Berechtigung habe; denn, wenn es zweifelhaft oder unglaublich ist, daß überhaupt Dinge existieren und die buntfarbige Außenwelt sich völlig befriedigend als ein reines Erzeugnis unserer Vorstellungen erklären läßt, dann würden wir unsere Erkenntnis über das Subjektive in der Natur der Werte dahin zu erweitern haben, daß wir wirklich alle unsere Wert- und Unwertgefühle aus dem dunklen Grund unserer Subjektivität emporsteigen lassen. Zum Beleg für seine Auffassung hat SCHWEDLER hauptsächlich zwei Stellen (23) herangezogen, die allerdings besagen, daß der Gedanke der Beseeltheit der Atome zur Erklärung der Einzelerscheinungen nichts Wesentliches beiträgt. Aber das soll er auch gar nicht. Die Mittelursachen allen Geschehens lassen sich nach LOTZEs Meinung tatsächlich deutlicher erkennen, wenn man nur mit den dinglichen Größen rechnet, die uns die empirische Beobachtung aufzeigt: nur für die Forschung, die nach den letzten und tiefsten Gründen strebt, hat der Gedanke Sinn und Bedeutung (24). Allerdings läßt sich nicht leugnen: die Beseeltheit der Atome wird in der Metaphysik von 1879 so wenig entschieden vertreten, auch im Mikrokosmus, der sich doch sonst eingehend mit ihr beschäftigt, mit so zweifelhaften Worten anerkannt (25), daß sie keine große Bedeutung für das LOTZE'sche System gehabt haben kann. Fest stand dem Philosophen nur der Satz: alles Wirkliche ist Geist (26), darüber, wie er zu interpretieren ist, scheint er noch bis an sein Lebensende geschwankt zu haben. Eigentlich aufgegeben hat LOTZE die LEIBNIZ'sche Fassung des Idealismus auf keinen Fall, darum müssen deren Folgen für die Wertlehre in Erwägung gezogen werden. Betrachten wir nach LEIBNIZ' Vorangehen speziell die schönen Gegenstände als Gruppen von Monaden, deren jede einzelne mit einer gewissen Fähigkeit zu fühlen, d. h. zu werten ausgestattet ist, so haftet auch dann noch ein Moment des Subjektiven am Wert. Nicht als Sachen und Tatbestände sind die schönen Gegenstände in sich wertvoll, der Wert hat vielmehr auch hier seinen Ort im genießenden Bewußtsein, das Schöne hat nicht darum objektiven Wert, weil es diese oder jene formale Beschaffenheit hat, sondern weil eine Seele oder viele Seelen in ihm leben, für die sich der Tatbestand bereits in Lust und Glück umgesetzt hat. Es entsteht dann die Frage, wie sich unser Genießen etwa ein Widerschein des Glücks ist, das in den Dingen genossen wird, oder ob eine andersartige Beziehung waltet. Leider hat LOTZE sich nur beiläufig zu der Frage geäußert, doch läßt sich aus Bemerkungen über die mutmaßliche Beschaffenheit der Atomseelen dieses und jenes erschließen. Ihr Geschmack scheint insofern dem unsrigen gleichartig, als auch ihnen das gefällt, was uns schön dünkt, aber auch das, dessen Schönheit uns noch nicht zu Bewußtsein gekommen ist, mag ihnen bereits in seinem eigenartigen Wert aufgegangen sein; denn es ist nach LOTZE eine gewisse Inkonsequenz, wenn man etwa nur in den geheimnisvollen Umrissen der Blume genießende Wesen denkt und nicht etwa auch im lästigen Staub, den wir achtlos treten, und es scheint danach richtiger, wenn man sogar dem Häßlichen eine Art objektiven Wert nicht von vornherein abstreitet (27). Auf jeden Fall denkt LOTZE das Fühlen der Atomseelen und unser eigenes Werten nicht in dem Sinne gleichartig, daß die von ihm vorher so heftig bekämpfte Form des Monismus wieder zu ihrem Recht kommt, die unsere menschliche Seele lediglich als Additionsresultat der Betätigungen unzähliger, seelisch begabter Atommonade verstehen wollte und dabei die Eigenart des geistigen Wesens verkannte (28). Wenn die Seelen in den Dingen auch empfinden, werten und fühlen, so geschieht das doch längst nicht mit derselben Innigekeit, Deutlichkeit und Kraft, die unser menschliches Werten auszeichnet. Unser beschränktes Wissen erlaubt uns freilich nicht, ein abschließend vollständiges Urteil über das geheimnisvolle Seelenleben zu fällen, das die Welt durchwogt, aber nichts veranlaßt uns, die besondere Stellung des Menschen preiszugeben. Schließlich ist doch das, was das menschliche Subjekt an Wertgefühlen in sich erlebt, unendlich viel reichhaltiger und wichtiger, als das problematische, höchstwahrscheinlich dumpfe und unklare Seelenleben dessen, was wir Materie nennen (29). Immer wieder taucht bei LOTZE der Gedanke auf, daß es töricht ist, wenn wir uns zuviel mit dem dunklen Ansich der Dinge abgeben (30). Was immer die schönen und die häßlichen Dinge innerlich erleben mögen, sie sind keine in sich abgeschlossenen Werte, zu denen unser Fühlen und Werten als etwas im Grunde Überflüssiges hinzukäme. "Das Aufblühen einer Welt sinnlicher Empfindungen steht nicht als eine müßige Zugabe neben dem übrigen Zusammenhang der Dinge, als wäre der Sinn allen Seins und Geschehens vollendet auch ohne sie; sie selbst ist vielmehr eines der größten, ja das größte aller Ereignisse überhaupt, neben dessen Tiefe und Bedeutsamkeit alles Übrige verschwindet, was sich sonst zwischen den Bestandteilen der Welt ereignen könnte." (31) Keine Verehrung starrer Kerne der Realität! Keine Kraftverschwendung an die unlösbare Aufgabe, die Welt und insbesondere die schönen Gegenstände in ihrem Ansich, abgesehen vom genießenden Bewußtsein, begreifen zu wollen! Vor dem Reich der persönlichen Geister sinkt doch alles übrige Sein und Geschehen zur Mittelursache, zum Gerüst herab, und der Gedanke der Beseeltheit der Atome wird schließlich nicht ernsthaft dazu benutzt, der schönen Erscheinung einen objektiven Wert zu sichern. Unsere Freude an der Schöpfung und den Erzeugnissen der Kunst ist nicht der matte Widerschein eines verborgenen Lebens der Dinge, sondern etwas Neues, Wichtigeres im Weltgeschehen: das, wodurch der in der Erscheinung angelegte Wert zur Vollständigkeit kommt, die sein Begriff erfordert.

Mit noch größerem Eifer als für den Selbstwert der schönen Erscheinung hat man sich für den objektiven Wert der guten Gesinnung, des guten Willens, der guten Handlung ausgesprochen. Man sagt, das Gute sei so rein und hoch und heilig, daß es eine Geringschätzung der guten Handlung sei, wenn man bei ihr die Frage  cui bono  [Wem nützt es? - wp] erhebe. Das Gute bleibt gut, auch wenn sich niemand findet, der ihm die verdiente Anerkennung zollt. Einen klassischen Ausdruck hat diese Ansicht vom objektiven Wert des Guten in der praktischen Philosophie KANTs gefunden, der, nach Abzug aller sogenannten empirischen und eudämonistischen Bestandteile, als Maxime allen moralischen Handelns den rein formalen Grundsatz aufgestellt hat: du sollst so handeln, daß die Maxime deines Handelns sich zur allgemeinen Gesetzgebung eignet (32). Sobald man im allgemeinen oder auch im einzelnen Fall auf den Erfolg des Guten Rücksicht nimmt, sobald würden auch dem unbedingt verpflichtenden Gebot empirische und eudämonistische Bestandteile beigemischt, die seine allgemeine Gültigkeit in Frage stellen. Das Gute empfängt nach KANT seinen Wert nicht dadurch, daß es jemandem nützt, oder etwa dadurch, daß es den Täter der guten Handlung mit Lust und Glück erfüllt, es trägt unerkannt und ungenossen seinen eigenen Wert in sich. Gut ist geradezu das, was gegen die eigene Neigung, ohne Rücksicht auf fremde Lust, lediglich im Gehorsam gegen das verpflichtende Gebot geschieht. KANT ist in seinem redlichen Eifer für die Hoheit des Guten weit über das Ziel hinausgeschossen. Er bleibt uns die Antwort auf die Frage schuldig, warum nun gerade diesem rein formalen Gesetz die verpflichtende Würde eignet, warum die Maxieme unseres Handelns zu einer allgemeinen Gesetzgebung dienen muß, und es scheint fast eine notwendige Ergänzung gerade seiner Ausführungen zu sein, daß man den genannten Grundsatz in einem recht eudämonistischen Sinn interpretiert (33). Denn, wenn wir nicht KANT die geradezu unmögliche Annahme zutrauen, daß es völlig gleichgültig ist, was bei der Befolgung des Sittengesetzes herauskommt, so kann nur die Rücksicht auf Wohl und Glück der Gesamtheit, also ein Utilitätsgrund allerersten Grades die strenge Moralmaxime empfehlen. So wenig wie KANT ist es den übrigen, mit philosophischen und religiösen Waffen kämpfenden Denkern möglich gewesen, dem Guten in diesem Sinne eine objektive Würde zu sichern. Was hilft es, wenn uns gesagt wird, das so bestimmte Gute sei gut, wenn wir's auch nicht anerkennen, weil es das Ziel des göttlichen Willen ist? (34) Wer sagt uns, daß die Gottheit diese Nachahmung will, und was haben wir überhaupt unter einem göttlichen Willen zu verstehen? Ist die Gottheit als ein persönliches Wesen gedacht, dann schleicht sich doch wieder irgendwie das Moment des Subjektiven ein, und dazu kommt noch die andere Schwierigkeit, daß eine Gottheit, die für sich und, ohne uns etwas davon mitzuteilen, in abgeschlossener Ruhe Werte genießt, gewiß kein Objekt unserer Ehrfurcht, kein Wesen ist, dessen Maximen den tiefen Eindruck auf uns machen könnten, den das Gut faktisch auf uns macht. Faßt man dagegen die Gottheit so unpersönlich und abstrakt, wie es die philosophischen Denker vielfach getan haben, dann gilt vom Guten schließlich dasselbe, was von der denknotwendigen Entwicklung samt ihren Begriffen gegolten hat: es ist ein Tatbestand formeller Art und als solcher niemals ein Wert (35). Man kann niemanden davon überzeugen, daß es gewisse Verhältnisse verschiedener Willen gibt, auf denen eine unbedingte Billigung ruht, und ebensowenig läßt sich ein Mensch denken, der ohne allen Gemütsanteil nur in maschinenmäßiger Pflichttreue gute Handlungen verrichtet. Abgesehen davon, daß es kein sittliches Gesetz gibt, in dem nicht die geflohene Rücksicht auf die verschmähte Lust verborgen läge, hätten unsere guten Entschlüsse und Handlungen faktisch keinen Sinn, wenn sie nicht uns selbst oder den andern, dem sie zugute kommen, mit Lust und Glück erfüllen (36). Es ist überhaupt nicht ratsam, von  einem  Fundamentalsatz, sei es philosophischer oder religiöser Art, den eigentümlichen Wert der guten Handlung herzuleiten, denn die konstruktive Methode birgt zuviele Fehlerquellen in sich. Viel zuverlässiger ist nach LOTZE die andere, induktive Methode, die sich zunächst an die einzelnen Aussprüche des Gewissens hält und erst nach einer Untersuchung derselben die Aufstellung eines allgemeinen Moralprinzips unternimmt (37). Freilich hat auch diese Methode ihre besonderen Schwierigkeiten; denn das Gewissen, dessen Urteil wir einholen wollen, reagiert keineswegs in allen Menschen so gleichartig, wie man es von bestimmten religiösen Grundvoraussetzungen aus angenommen hat. Es ist oben bereits gezeigt worden, daß die Menschen auf den verschiedenen, sittlich-religiösen Kulturstufen ihre Handlungen ganz verschieden werten, von einem einheitlichen Bestand der Gewissensurteile also nicht die Rede sein kann. Zweierlei steht LOTZE jedoch fest:
    1. das allgemeine Vorhandensein und
    2. die gleiche Tendenz des Gewissens.
Wir können allerdings kein abschließendes Urteil darüber fällen, ob das Gewissen eine angeborene oder eine erst durch die Erfahrung unseres Lebens erworbene Ausstattung ist, aber die überwiegende Wahrscheinlichkeit spricht doch dafür, beide Anschauungen in der Weise miteinander zu verbinden, daß "die entwickelnde Kraft der Erfahrung einerseits, aber ebensosehr das ursprüngliche Vorhandensein des Keims" (38), auf den sie wirkt, betont wird. Nach allem, was wir wissen, ist es doch ein wesentlicher Zug der menschlichen Natur, daß sie überhaupt den Gedanken einer Pflicht und eines Sollens, den Begriff von  gut und böse  bildet; wenn sie auch in der Bestimmung dessen, was "gut und böse" ist, vielfach schwankt, so spricht das doch nicht dagegen, daß sie wenigstens den Keim einer sittlichen Beurteilung in sich trägt. "Man wird nie Erfolg haben, wenn man in eine leere Seele hinein das Bewußtsein des Sollens nur mittels der Eindrücke der Erfahrung bringen will." (39) Sozusagen ohne Beweis, lediglich als ein Stück unserer persönlichen Überzeugung müssen wir allerdings das andere hinnehmen und verwerten, daß die Urteile unseres gereiften kultivierten Gewissens auch die Urteile sind, die andere tiefer stehende Völker einmal bilden werden, wenn sie unsere Höhe erreicht haben. Hie und da lassen sich wohl gewisse Gleichheiten in der sittlichen Beurteilung aufweisen (40), aber es stehen dem so gewichtige empirische Unterschiede gegenüber, daß letztlich nur die Überzeugung von einem gleichen Entwicklungsziel der Menschheit uns berechtigt, die eigenen Gewissensurteile in diesem Sinne für vollkommen zu halten. Befragen wir nun unser Gewissen darüber, warum es die eine Handlung für positiv, die andere für negativ wertvoll hält, so wird es uns zur Antwort geben: Darum, weil durch die Handlung, die ich gut nenne, ein fühlendes Wesen beglückt wird, durch ihr Gegenteil ein fühlendes Wesen geschädigt wird. Wir handeln gut und sittlich, um andere Menschen zu beglücken und um dabei in uns selbst den Frieden des Gewissens zu behaupten. Man ist darum nicht berechtigt, dem Gewissen etwa eudämonistische Motive zu unterschieben. Der grobe Eudämonismus würde etwa sagen: der Wert des Guten liegt in der Förderung deiner eigenen Lust, das normale Gewissen hält dagegen das Streben nach eigener Lust zwar für natürlich und ansich nicht für tadelhaft, dagegen aber auch für allen moralischen Wertes bar, für gut und sittlich nur das, was ebensosehr zur Erzeugung fremder Lust dient. "Andern wohlzutun und die Summe der Lust zu vermehren, deren sich die Welt erfreut, ist die einzige Aufgabe, in deren Erfüllung alle seine sittlichen Pflichten zusammenlaufen." (41)

So ergibt dann auch die Untersuchung der Willensentschlüsse und Handlungen, die wir mit dem Prädikat "gut" auszeichnen, daß nicht irgendetwas als bloßer Tatbestand schon gut ist, daß gerade hier das subjektive Element sogar von zwei Seiten hereinspielt. Es gehört einmal schon zum Begriff der guten Handlung, daß das handelnde Subjekt sie für gut hält, und zum andern auch, daß jenes Objekt, auf das sie sich bezieht, sie als Wert aufnimmt. Das könnte freilich so verstanden werden, als ob nur die gute Handlung vollen Wert hätte, die gerade einem dafür empfänglichen Wesen gezeigt wird, und nicht auch diejenige, die vermöge mangelnder Einsicht beim empfangenden Subjekt nicht nur keine Lust, sondern sogar Verdruß erregt: in diesem Fall darf wohl darauf gehofft werden, daß der Wert der guten Handlung dem empfangenden Wesen noch in voller Klarheit aufgehen wird und daß jenes der Absicht entsprechende Maß von Lust sich noch einstellt (42). Aber selbst wenn das nicht geschieht, behält doch das Gute die erwähnte Verbindung mit der Lust bei, insofern als in seinem Begriff die Beziehung auf das genießende Bewußtsein des handelnden Subjekts immer mitgedacht werden muß. Es sind nicht einzelne vorübergehende Gefühle, die durch ein solches Handeln angenehm erregt werden, sondern das Gewissen, das eine Gesetzgebung überb alle Lust in sich birgt. Die Erzeugung von Gütern, unter denen wir mit Glück und Lust genossene Werte verstehen, darf dabei freilich nicht außer Acht bleiben, und wir müssen deutlich betonen, daß wir keinen Grund haben, über die Seligkeit zu spotten, welche z. B. das Christentum ganz ausdrücklich als das Ziel der Sittlichkeit ausspricht. So edel und löblich die Beweggründe der Denker sind, die für einen objektiven Wert der guten Handlung eintreten, so wenig läßt sich das Gute ohne die besagte Beziehung zu einem Geist denken, der daran Freude hat (43).

Nach all dem sind die Versuche, gewissen logischen, ästhetischen oder ethischen Tatbeständen auch objektive Werte zu sichern, als mißglückt zu betrachten, und so ergreift LOTZE dann immer wieder die Gelegenheit, darauf hinzuweisen, daß es keinen Wert oder Unwert gibt, der bereits fertig in irgendeinem Ding liegen könnte, "daß beide nur in Gestalt von Lust und Unlust existieren, die ein gefühlsfähiger Geist erfährt." (44) Oder Lotze sagt: "Der Gedanke eines irgendwie unbedingt Wertvollen, das seinen Wert nicht durch seine Fähigkeit zur Erzeugung von Lust bewiese, überfliegt sich selbst und das, was er wollte" (45), oder "was ein Gut oder Wert sein soll, hat den einzigen, notwendigen Ort seines Daseins im lebendigen Gefühl irgendeines geistigen Wesens; alles, was außer, zwischen, vor und hinter den Geistern liegt, alles, was Tatbestand, Ding, Eigenschaft, Verhältnis oder Ereignis ist, gehört ins Reich der Sachlichkeit, das zwar Güter vorbereitet, aber ohne je selbst ein Gut zu sein" (46). Nicht bloß die Vergötterung logischer Tatbestände muß entschieden bekämpft werden, sondern die Vergötterung von Tatbeständen überhaupt. Was diese ansich und in sich sind, läßt sich gar nicht mit Sicherheit ausmachen, jedenfalls sind sie erst dann Werte, sobald sie in ein genießendes Bewußtsein eingegangen sind. Man könnte nach dieser radikalen Beseitigung objektiver Werte annehmen, daß die bekämpfte Anschauung völlig verkehrt, ohne ein Körnchen Wahrheit ist. Dem ist aber nicht so; denn die Untersuchung hat es immerhin als nahezu sicher erwiesen, daß die Wertgefühle niemals von unserer subjektiven Willkür geschaffen sind, sondern immer in einer gesetzmäßigen Wechselwirkung mit irgendwelchen Tatbeständen entstehen. Selbst wenn der FICHTE'sche Idealismus das Rechte träfe, so würde doch an der Erkenntnis nicht zu rütteln sein, daß die Wertgefühle in bestimmten, abgesehen von unserer Willkür geregelten Beziehungen wechseln, weil dann das Absolute als Erreger der Wertgefühle anzunehmen ist und seine Tätigkeit sich nur als eine gesetzmäßig geordnete begreifen läßt. Wie sich bei dieser Annahme die quantitative und qualitative Verschiedenheit der Lustempfindungen weiter erklären ließe, hat LOTZE nicht gesagt; dagegen geben uns die im Glauben an die Existenz der Einzeldinge konzipierten Gedanken eher über eine Art von objektiver Grundlage unserer Lustempfindung Aufschluß.

Es ist nach dem Gesagten unwiderlegbar klar, daß dem Subjekt bei der Wertbildung die allerhöchste Bedeutung zukommt; aber, wenn wir die Beobachtung machen, daß dasselbe Subjekt die verschiedenartigsten Wertgefühle erlebt, ohne sein Zutun quantitative und qualitative Veränderungen seiner Lustempfindung erleidet, wenn wir sehen, wie alle menschen von normaler geistiger und körperlicher Organisation gleichartig auf diese oder jene Anregung reagieren, so führt uns das immerhin zur Anerkennung quantitativer und qualitativer Unterschiede in den gewerteten Objekten. Diese charakteristischen Eigentümlichkeiten in den gewerteten Objekten können verschiedener Art sein. Es kann etwas sein, was mit unserer leiblichen Organisation übereinstimmt, sodaß etwa die Eindrücke gefalle, die im Einklang mit den natürlichen Funktionsbedingungen unserer Nerven stehen, oder es kann etwas sein, was dem Ablauf unserer inneren Zustände, der Vorstellungen, Gefühle, Strebungen entspricht: es sind Eigentümlichkeiten in den Dingen, die diesen abgesehen von unserem Wünschen und Wollen einen bestimmten Wertcharakter verschaffen.

Sind die Dinge darum auch ansich noch nicht Werte, so liegt doch zumindest in ihnen eine Fähigkeit, die sich im Zusammenstoß mit geeigneten Subjekten notwendig zum vollen und charakteristisch bestimmten Wert entwickelt. Vielleicht erlangt die Anlage niemals den Wertcharakter, vielleicht erobert sie sich ihn nur sehr unvollständig, aber sobald sie auf das genießende Bewußtsein eines entsprechend organisierten Wesens einwirkt, erobert sie ihn auch notwendig. Unabhängig von unserer Willkür erfolgt hier diese, dort jene Reaktion unseres Wertgefühls. "Daß einer in einem Moll-Akkord eine andere Art der Schönheit findet als in einem Dur-Akkord, das ist nicht sein Werk; vielmehr, obgleich derartige Werte nur in seinem Gefühl Wirklichkeit haben, so stehen ihm doch seine eigenen Gefühle als ein System mannigfacher Glieder gegenüber, deren jedes seinem besonderen Charakter und seinen besonderen Wert hat, ohne daß der Geist imstande wäre, diese Verteilung zu ändern." (47) Weil so Erscheinungen aller Art bei ihrer Einwirkung auf uns notwendig einen bestimmten Wertcharakter erlangen, ein unmittelbares, nicht abzuänderndes Urteil des Wohlgefallens oder der Mißbilligung herausfordern, darum läßt sich der genießende Geist gleichsam "als das  Mittel  auffassen, durch dessen  Mitwirkung  der in den Dingen  vorbereitete Wert  zu einer  wirklichen Existenz  kommt, die er freilich nicht anders als im Augenblick des  wirklichen Genossenwerdens besitzt."  (48)

Wir sehen, daß sich die These vom subjektiven Charakter der Werturteile mit Recht gewisse Abschwächungen und Einschränkungen gefallen lassen muß; aber wenn nicht vom freien Willen, so scheint es doch von der subjektiven Anlage des einzelnen Beobachter oder den Anlagen mehrerer Beobachter abhängig zu sein, ob irgendetwas Wertgegenstand wird oder nicht. Aus dem Begriff des Wertes wird dadurch zwar das Willkürliche, aber nicht das Subjektive entfernt. Durch all das wird man dem Wert der schönen Erscheinungen und guten Handlungen nicht vollkommen gerecht. Während wir sonst bei allen Dingen, die mir vielleicht gefallen und einem anderen nicht, uns schließlich damit zufrieden geben, daß wir nun einmal so grundverschiedene Naturen sind, glauben wir an die  Allgemeinverbindlichkeit  unserer Werturteile über Schönes und Gutes. Wie sehr faktisch die Urteile darüber auseinandergehen, wir beruigen uns nicht bei diesem Tatbestand, wir rechnen es dem andern geradezu als Vorwurf an, wenn er behauptet, vom Reiz der schönen Erscheinung, dem Wert der guten Tat nichts zu empfinden, oder durch sein Benehmen zeigt, daß er für diese Wert faktisch unempfänglich ist. Ja, wir machen sogar bei der Beobachtung eines Kunstwerks die seltsame Erfahrung, daß wir mit dem eigenen Fühlen und Werten nicht zufrieden sind, und messen uns eine Schuld dafür zu, daß die schöne Erscheinung so wenig Eindrück auf uns macht. (49) Ähnlich ist es mit den Urteilen des Gewissens. In engster Beziehung zum Urteil, das wir eben über eigene oder fremde Entschlüsse und Taten gefällt haben, macht sich oft ein anderes geltend, das unser erstes Urteil wieder kritisiert und so die psychologische Erscheinung der Reue, des Schuldgefühls in uns hervorruft. Der Wert der guten Handlung scheint daher nicht nach unserem Lustgefühl, sondern nach einem anderen Maßstab bemessen werden zu müssen. Zunächst kommt das Gewissen, die Gesetzgebung über alle Lust, inbetracht, dann die Rücksicht auf fremde Seligkeit; all das deutet auf Phänomene im Wertgebiet hin, die noch einer Erklärung bedürfen. Beim Schönen und Guten spüren wir: so sollen wir empfinden; wenn wir anders empfinden, dann ist nicht eine gleichgültige Eigentümlichkeit, sondern ein Charakterfehler in uns schuld. Es ist etwas in dem Tatbestand, das uns zur Kritik des eigenen Wesens, zur Fortbildung desselben antreibt. das einheitliche Urteil unserer Mitmenschen kann es nicht sein, denn dieses geht ja gerade beim Schönen und Guten oft recht weit auseinander, es muß etwas in der Erscheinung uns selbst Angedeutetes sein, "was stimmt mit den Formen, welche unser Leben dann annehmen wird, wenn es selbst vollständig seinem Ideal entspricht," (50) etwas, was uns die Erscheinung einer unmittelbar wertvollen Wahrheit gewährt, die wir anerkennen müssen, ob wir wollen oder nicht. Dieser verpflichtende Eindruck kann nach den vorhergehenden Ausführungen nicht daher rühren, daß der sachliche Bestand eines Kunstwerks oder einer guten Handlung etwas Ansich-Wertvolles ist - das widerspräche dem Begriff des Wertes - sondern daher, daß eine höhere Macht durch eine Vermittlung dieser Erscheinungen bestimmte Gefühle und Wertungen in uns erwecken will.
LITERATUR - Franz Chelius, Lotzes Wertlehre, Erlangen 1904
    Anmerkungen
    1) Vorlesungen zur Ästhetik, Seite 8
    2) Vorlesungen zur Ästhetik, Seite 8
    3) Vorlesungen zur Psychologie, Seite 76
    4) Mikrokosmus II, Seite 70, 181; III, Seite 38f; Vorlesungen zur Religionsphilosophie, Seite 73f.
    5) Mikrokosmus III, Seite 33
    6) Mikrokosmus III, Seite 23
    7) Mikrokosmus II, Seite 179
    8) Mikrokosmus II, 185f
    9) Mikrokosmus II, Seite 186 und 187
    10) Mikrokosmus II, Seite 187 unten
    11) Mikrokosmus I, Seite 387
    12) Mikrokosmus I, Seite 388
    13) Mikrokosmus I, Seite 390
    14) Mikrokosmus I, Seite 391
    15) Mikrokosmus I, Seite 398
    16) Mikrokosmus I, Seite 400
    17) Mikrokosmus I, Seite 403
    18) Mikrokosmus III, Seite 537f; Metaphysik, Seite 185
    19) Mikrokosmus III, Seite 488f
    20) Mikrokosmus I, Seite 403
    21) Vorlesungen Ästhetik, Seite 9f; Mikrokosmus I, Seite 406f
    22) ELSE SCHWEDLER, Die Lehre von der Beseeltheit der Atome, Zeitschrift für philosophische Kritik, Bd. 120, 1902, Seite 120
    23) Metaphysik, Seite 186; Vorlesungen Psychologie, Seite 87
    24) Mikrokosmus I, Seite 407
    25) Metaphysik, Seite 186; Mikrokosmus I, Seite 406.
    26) Mikrokosmus I, Seite 408f
    27) Mikrokosmus I, Seite 406f
    28) Mikrokosmus I, Seite 407, 411
    29) Mikrokosmus I, Seite 393f
    30) Mikrokosmus I, Seite 393f und öfter
    31) Mikrokosmus I, Seite 395
    32) Vorlesungen zur praktischen Philosophie, Seite 6
    33) Mikrokosmus II, Seite 316f; Vorlesungen prakt. Philosophie, Seite 6
    34) Mikrokosmus II, Seite 317
    35) Mikrokosmus II, Seite 317
    36) Mikrokosmus II, Seite 318
    37) Logik und Enzyklopädie der Philosophie, 1883, Seite 115
    38) Mikrokosmus II, Seite 313
    39) Mikrokosmus II, Seite 313
    40) Mikrokosmus II, Seite 398
    41) Mikrokosmus II, Seite 319
    42) Mikrokosmus II, Seite 319
    43) Vorlesungen zur prakt. Philosophie, Seite 16
    44) Vorlesungen prakt. Philosophie, Seite 7
    45) Mikrokosmus II, Seite 316
    46) Mikrokosmus III, Seite 437
    47) Vorlesungen prakt. Philosophie, Seite 8
    48) Vorlesungen prakt. Philosophie, Seite 8
    49) Vorlesungen zur Ästhetik, Seite 6; Enzyklopädie Seite 114.
    50) Enzyklopädie, Seite 114