tb-1G. StörringL. SsalagoffF. MünchH. RickertF. M. Goldner    
 
ARTHUR LIEBERT
Das Problem der Geltung
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"Es ist geradezu ein Hauptziel von Vaihingers Philosophie, nachzuweisen, daß der Gedanke, als könnten wir Menschen je eigentlich Wahres und Richtiges erreichen, eine  Fiktion  ist. So also zielt die ganze Absicht auf die Untersuchung der Frage hin: Wie müssen tatsächlich  unsere Vorstellungen  eingerichtet werden, um mit ihnen und aus ihnen das primär geforderte Maximum an Nutzeffekten zu ziehen, um mit ihnen die größten Erfolge zu erzielen?"

III. Historischer Teil

Einleitung

An die systematische Kennzeichnung der psychologistisch-biologistischen Geltungsreihe soll sich nun eine gedrängte Darstellung einiger typischer und markanter Vertreter dieses Geltungsstandpunktes aus der jüngsten Vergangenheit und aus der Gegenwart anschließen. Auf diese Weise soll das, was auf rein logisch-kritischem Wege unter Außerachtlassen jeder historischen Bezugnahme nur im Hinblick auf den  Begriff  der psychologischen Geltungsdignität entwickelt wurde, durch die Geschichte der Philosophie seinen historisch-empirischen Beleg erhalten. Es soll gezeigt werden, wie für eine bestimmte Gruppe von Denkern die oben herausgehobenen psychologischen Geltungsgedanken grundlegende und konstruktive Bedeutung haben, und die gemeinsame Basis und den gemeinsamen Leitgedanken für den Aufbau ihrer Systeme bilden, deren Zusammengehörigkeit nicht ohne Weiteres in die Augen tritt, ja, zwischen denen man bei äußerlicher Betrachtung kaum eine unmittelbare Beziehung vermuten sollte.

Doch erst sei eine Zwischenbemerkung geschichts-philosophischer Natur eingeschoben. Indem wir die vorausgehende prinzipielle Analyse des psychologischen Geltungsgedankens für die historische Darstellung moderner psychologistisch begründeteer und psychologistisch gerichteter Geltungstheorien fruchtbar machen, können wir ganz allein an einem besonderen Falle die grundlegende Geltung aufhellen, welche überhaupt die  systematische  Analyse eines Problems für die Auffindung und Darstellung des  historischen  Zusammenhanges besitzt, in welchem das Problem empirisch zur Aufstellung und stufenweise zur Auflösung gelangt.

Ohne zuerst die systematischen Bedingungen und den prinzipiellen Kern eines Problems in einheitlicher Methode zu entwickeln, ist es nicht möglich, das betreffende Problem in seiner historischen Gestaltung und Entwicklung überhaupt zu erkennen und zu fassen; man kann sonst in seiner inneren Bedingungen und in die Momente seiner systematischen Entfaltung garnicht eindringen, die über die zeitliche Bedingtheit ihrer Einkleidung zu ewiger, zu systematischer Gültigkeit hinausragen. Die Beschäftigung mit der Geschichte der Philosophie setzt voraus, daß ihr eine auf das Einheitlich-Systematische und Prinzipielle der Probleme und ihrer Entfaltung gerichtete Gedankeneinstellung zur Seite gehe. (1) Denn die "Geschichte" der Philosophie ist erst "möglich" unter der Voraussetzung systematischer Kategorien und unter Zugrundelegung der Idee der systematischer Kategorien und unter Zugrundelegung der Idee des systematischen Einheit; ohne diese Voraussetzung würde sich jener Inbegriff von Ereignissen, den wir Geschichte nennen, in eine völlig unverständliche Diskontinuität auflösen. Auch die Aufstellung historischer Zusammenhänge findet nicht in der chronologischen Überlegung, sondern allererst bei der Orientierung an der Idee der systematischen Einheit ihre innere Festigung und Begründung.


Der Pragmatismus

1. Allgemeines.
Die Ausbildung des  Pragmatismus  steht in Verbindung mit zwei allgemeinen, einflußreichen Bewegungen auf dem Gebiete der Wissenschaft. Die eine dieser Bewegungen bildet die negative, die andere die positive Bedingung des Pragmatismus.

Jene  negative  Instanz liegt in der Abwehr und Widerlegung, die der Pragmatismus gegen den  Kritizismus  versucht.

Im Zusammenhang und in Übereinstimmung mit der allgemeinen  empirischen  und  positivistischen  Entwickelung der Wissenschaften im 19. Jahrhundert erwuchs der Glaube, man müsse auch eine empiristische und positivistische  Grundlegung  der Wissenschaften erreichen. So entstand der Gedanke, dass in der empirischen Psychologie und ihrer Methode das Mittel für die Durchführung jener Grundlegung gegeben sei. Und an Hand dieses Verfahrens ging man nun auf den empirisch nachweisbaren, psychologisch tatsächlichen Bestand des seelischen Lebens zurück. Gegen die  kritische,  gegen die  kantische  Art der Wissenschaftsbegründung wurde eingewendet, dieselbe fuße auf dem gleichsam fatalistischen Glauben an die Existenz eines unveränderlichen Apriori, das der Seele von Anbeginn der Dinge angeboren sei, das in seiner Form immer gleich bleibe, und in mechanischer und stereotyper Manier alle die reichen und wechselnden Inhalte, die uns die Sinne liefern, verarbeite und zerarbeite. Der Kritizismus übersähe in seinem leeren Formalismus und bei seiner nivellierenden Tendenz die Vielgestaltigkeit und Veränderlichkeit der Erfahrung und ihrer Einwirkungen auf den Menschen. Besonders dadurch erweise er seine Unfruchtbarkeit, daß er in der Hauptsache an den großen Errungenschaften der positiven Wissenschaften und den an dieselben sich anschließenden, einschneidenden erkenntnistheoretischen Problemen - hier wird besonders auf das Mißverhältnis zwischen dem Gedanken der Entwickelung und dem vom Kritizismus als unveränderlich behaupteten Apriori hingewiesen - teilnahmslos vorübergegangen sei. (2) Kurz: man tadelt an der kritischen Erkenntnistheorie ihren Dogmatismus, der sie veranlasse, an einem dem Flusse enthobenen, zu einem Unbedingten und Entwickelungslosen gestempelten, abstrakt rationalistischen Schema festzuhalten.

In bestimmten Gegensatz zu dieser "idealistischen Vernunftlehre" (3) des Kritizismus, die wie ein Atavismus aus der Zeit des Rationalismus und der Aufklärung in unser Jahrhundert hineinrage, in dem der Gedanke der Entwickelung zu siegreichem Durchbruch gelangt sei, handele es sich um die strenge Berücksichtigung des Erlebbaren und seiner konkreten, gegenständlichen Inhalte. Es gelte auf die lebendige, bewegungsreiche, in immer neuen Gestaltungen hervortretende seelische Aktivität und auf die durch sie bewirkten wechselnden Formen und Zustände zurückzugehen; denn nur von ihr aus sei die Begründung der Erkenntnis zu unternehmen, nur von ihr aus könne man zu dem wahren Verständnis des Wesens der Erkenntnis vordringen.

Verankerung und Aufbau dieses empirischen Grundlegungsversuches erfolgen nun unter dem Einfluß einer Wissenschaft, die im Laufe des 19. Jahrhunderts immer stärker das wissenschaftliche Interesse erweckt hat, und die zu immer größerer Geltung gediehen ist. Die ist die  Biologie.  Ihre Berücksichtigung bildet die  andere, die positiv  wirksame Instanz, die zu einer biologischen Erkenntnistheorie geführt hat, wie sie u. a. in MACHs: "Analyse der reinen Empfindungen" (1886) und in AVENARIUS': "Kritik der reinen Erfahrung" (1888) vorliegt. Der Biologismus erblickt in der Erkenntnis eine Funktion, eine bestimmte utilitaristische Aktionsrichtung des Lebens, die demnach den biologischen Gesetzen untersteht. Da nun die Biologie nachweist, daß die primäre und grundlegende Form und Entfaltung des Lebens auf willentlichen Momenten, auf Wollungen, Begehrungen, Strebungen beruht, so bekommt die biologistische Erkenntnistheorie einen  starken voluntaristischen Einschlag und Unterbau. 

Diese biologistisch-voluntaristische, also ganz ausgesprochen psychologistische Grundlegung bezeichnet man als  Pragmatismus  oder  Psychologismus.  Sie betont in erster Linie, daß sie das Spiel und den stetigen Fluß des Lebens berücksichtige und ihn auch an Hand ihrer Methode berücksichtigen könne. Sie zeige, daß der Besitz des Geistes kein ruhender, kein fester, kein ein für alle Male abgeschlossener sei, sondern daß auch der Geist eine Anpassungsfähigkeit bekunde, die derjenigen des körperlichen Organismus keineswegs nachstehe: nicht nur Wollungen, Gefühle, nicht nur die einzelnen Erkenntnisse, sondern auch die logischen Grundbegriffe entwickeln sich und setzen sich schließlich durch, wenn sie sich als taugliche Glieder für den Bestand und die Fortführung des seelischen Lebens erweisen; sie werden unterdrückt und getilgt und verlieren jede Bedeutung, sobald sie unbrauchbar und obsolet geworden sind.

In diesem evolutionistisch-utilitaristischen Hauptgesichtspunkt des Pragmatismus und Psychologismus ist nun eine besonders beachtenswerte Nuance enthalten. Das ist die für ihn charakteristische Abbiegung aus der Theorie in die Praxis. Oder eigentlich: Er hat im Grunde den Standpunkt der reinen Theorie nicht eigentlich innegehabt, er ist nicht von diesem ausgegangen. Denn für ihn ist das Denken keineswegs das Prius, so wenig wie es das Ultimum des geistigen Lebens bedeutet. Macht er es doch abhängig von den Tendenzen und Interessen der Praxis, erkennt er doch dem Leben die Autonomie gegenüber dem Denken zu und verleiht diesem Leben eine auch in Rücksicht auf das Denken grundlegende Bedeutung. (4) So erhebt er das Leben geradezu zum Maßstab für das Denken.

Und von dieser Grundposition aus wird dann auch der  pragmatistische  oder  psychologistische Wahrheitsbegriff  bestimmt. Als wahr gilt, was sich als nützlich, als förderlich für die Tendenzen des Lebens erwiesen hat. So sagt SCHILLER, wahr sei das, was erfolgreich "wirke" (5) und JAMES formuliert: The truth of an idea is constituted by its workings. (6)

Die leitenden und grundsätzlichen Gesichtspunkte des Pragmatismus sind allbekanntes Erbgut einer bestimmten Richtung der Philosophie. PROTAGORAS ist der Ahnherr dieser Richtung, und der Pragmatismus ist nichts anderes als die in das Moderne übersetzte und durch biologische Einsichten etwas bereicherte Sophistik. (7) Er hat nicht allein in Amerika und England, die man gewöhnlich allein als Heimat des Pragmatismus ansieht, seine Wiedergeburt erlebt, wir haben auch auf dem Kontinent zahlreiche Denker, die, bisweilen ohne dessen gewahr zu werden, prinzipiell auf dem Boden des Pragmatismus und Psychologismus stehen. Auf einige der bedeutendsten kontinentalen Vertreter dieses Standpunktes sei im Folgenden eingegangen, nicht nur darum, weil der Pragmatismus Amerikas und Englands häufiger als der festländische dargestellt und kritisch beleuchtet wurde, sondern besonders deshalb, weil bei ihnen der wertpsychologische Gesichtspunkt in ungleich mannigfacherer und umfassenderer Weise zum Ausdruck gelangt als bei den amerikanischen Vertretern.

Gemeinsam ist ihnen allen die Begründung des Denkens und der Wissenschaft auf die Psychologie; gemeinsam ist ihnen ferner die mit jenem Begründungsgedanken in Zusammenhang stehende Überzeugung, daß das Denken nicht den Charakter der Autonomie habe, daß es seine Kriterien und Bürgschaften nicht allein aus sich selber zu schöpfen vermöge, daß es sich nicht restlos aus sich selber begründen könne, sondern von Etwas außerhalb seiner abhängig sei, daß es sich auf ein "Wirkliches" beziehe, daß es in einem unmittelbaren, durch Utilitätsrücksichten bestimmten Erleben, das allem Denken gleichsam vorgelagert sei, sein Fundament besitze.


Vaihingers Philosophie des Als Ob.

a) Darstellung.
Wohl die umfassendste und vielseitigste, zugleich auch die hervorstechendste Anwendung des psychologistisch-biologistischen Gesichtspunktes in der Philosophie der Gegenwart liegt in dem Werke von HANS VAIHINGER: "Die Philosophie des Als Ob" vor. (8) Wenn hier nun, gleichsam im Sinne progmmatischer Einführung mitgeteilt wird, die Untersuchung gehe von dem Gewahrwerden der eigentümlichen Funktion aus, die die Partikelverbindung "als-ob" in dem Haushalt der Erkenntnis einnehme, so mag das als empirischer und historischer Ansatz zutreffen. Ihrem Prinzip und ihrer Struktur nach aber ist diese Philosophie in jeder Linie, in jeder Begriffsbestimmung, in jeder Argumentation durchaus abhängig von der Biologie und ihrer Methode. Deutlich genug betont VAIHINGER selber den schlechthin allmächtigen und grundlegenden Einfluß, den die biologische Wissenschaft und Betrachtungsart auf ihn ausgeübt habe. Durch die Anerkennung der Biologie als Grunddisziplin, durch die Befolgung der biologischen Methode ist VAIHINGERs Stellung prinzipiell festgelegt; zugleich ist damit das Recht gegeben, ihn in methodischer Beziehung als Psychologisten und Pragmatisten zu bezeichnen. (9) Nur von hier aus erfaßt man den Mittelpunkt seiner Überzeugung und die treibenden Energien für die Entwicklung und Begründung seiner Gedanken.

Der höchste fundamentale Geltungswert, durch den alle einzelnen Geltungsordnungen gesichert und letztlich gebunden sind, ist das  Leben.  Das heißt: Leben nicht als Beschaulichkeit, nicht als Passivität oder Kontemplation, sondern als Handeln, Leisten, Schaffen, Erringen, Siegen. Der Mensch ist Drängen zur Tat, er ist Wille zur Macht. Hier, in diesem Kernpunkt seiner Theorie, tritt ganz deutlich VAIHINGERs Abhängigkeit von SCHOPENHAUER und besonders von NIETZSCHE hervor. Der Mensch ist ihm seiner Natur, seiner eigentlichen und tiefsten Wesensrichtung nach wollendes Wesen.

Dieser praktische, positivistische und voluntaristische Gesichtspunkt leitet den Aufbau und Ausbau der Philosophie des Als Ob. So steht eigentlich gar nicht das wissenschaftliche, das theoretische Problem der Wahrheit im Vordergrunde, sondern das durchaus praktische Problem des zweckmäßigen, möglichst erfolgreichen Handelns. Und deshalb ist weder die Grundfrage des ganzen Werkes noch die Art ihrer Lösung zutreffend mit der Formulierung bezeichnet, die an den Eingang der ganzen Untersuchung gestellt ist: "Wie kommt es, daß wir mit bewußtfalschen Vorstellungen doch Richtiges erreichen" (10) Denn "Richtiges" im strengen, theoretischen Sinne dieses Begriffes soll nach VAIHINGER gar nicht, ja, kann nach ihm garnicht erreicht werden. Ist es doch geradezu ein Hauptziel seiner Philosophie, nachzuweisen, daß der Gedanke, als könnten wir Menschen je eigentlich Wahres und Richtiges erreichen, eine "Fiktion" ist. So also zielt die ganze Absicht auf die Untersuchung der Frage hin: Wie müssen tatsächlich "unsere Vorstellungen" eingerichtet werden, um mit ihnen und aus ihnen das primär geforderte Maximum an Nutzeffekten zu ziehen, um mit ihnen die größten Erfolge zu erzielen? Das aber bedeutet die Frage nach der Möglichkeit der Herrschaft des Menschen über die Natur. Sie ist von grundlegender und heuristischer Bedeutung für die ganze Untersuchung. Der Mensch will, davon geht VAIHINGER aus, handeln und herrschen, er will gelten, er will etwas erreichen, ja: nicht nur etwas: sondern möglichst viel, möglichst alles. Wie aber kann er das? Durch welche Mittel vermag er seinen Herrscherwillen durchzusetzen und sich zum Herrn der Schöpfung zu machen? Um dieses Zieles willen verfährt er bei der Wahl und Fügung seiner Mittel nicht wählerisch, nicht ängstlich, nicht pedantisch: Wenn sie überhaupt nur helfen, wenn sie nur in ausgiebigem Maße zur Erreichung des Zieles dienen, dann sind sie in ihrem Rechte begründet, dann sind sie "wahr".

Nun kann der Mensch die Wirklichkeit nicht so leichter Mühe, nicht leichten Kaufes bewältigen; sie gibt sich ihm nicht so ohne Weiteres hin.  Ein  Umstand hindert in erster Linie an einem leichten und unmittelbaren Erfolge; das ist die überwältigende Fülle und Vielgestaltigkeit der Wirklichkeit, es ist dies die an sich garnicht zu übersehende Mannigfaltigkeit und Heterogenität von Eindrücken, Gestaltungen, Manifestationen irgend welcher Art, auf die der Mensch allerorten stößt, die von allen Richtungen her auf ihn einstürmen, denen er zunächst ratlos gegenübersteht, und die ihm die Durchsetzung seines Willens immerfort zu durchkreuzen drohen. Deshalb ist es zunächst für ihn geboten, die Mannigfaltigkeit der Phänomene zu vereinfachen und zu gliedern, er muß dem Chaotischen Maaß und Ordnung aufprägen, denn nur auf diese Weise vermag er das Wirkliche zu bemeistern und mit ihm fertig zu werden. (11)

Dieses Ziel jedoch ist nicht unmittelbar zu erreichen. Es muß vielmehr ein Umweg eingeschlagen werden. Das Denken muß Hilfsmittel erfinden, Handhaben, Kriegslisten ersinnen, es muß sich verschlungener Hilfsvorstellungen, ingeniöser Angriffswaffen als Verfahrungsweisen bedienen, um das angedeutete Ziel zu erreichen.

Diese Hilfsmittel haben den Charakter theoretischer Fälschungen, intellektueller Veränderungen des Wirklichkeitsbestandes. Der Geist formt das Wirkliche so um, daß er am bequemsten mit ihm fertig zu werden und sich mit ihm in erfolgreicher Weise auseinanderzusetzen vermag. Wie sich dieser Bestand an sich verhalte, davon sieht das Denken, so weit als es ihm zweckmäßig und ratsam erscheint, ganz ab. Es denkt ihn so um, wie es am besten, d. h. am nützlichsten ist. Es konstruiert mit immanenter Zielstrebigkeit solche Formen, es stellt in einem verblüffenden Prozeß von pragmatischer Kombination solche Vorstellungsgebilde auf, die nicht der Natur des zu erfassenden und auch wieder nicht zu erfassenden Wirklichen, sondern der Absicht des Denkens am meisten entsprechen, mit denen es am zweckmäßigsten vorzugehen vermag.

Um welchen Wirklichkeitsbestand aber handelt es sich? Wie ist dessen Natur und wie sind dessen Grenzen zu bestimmen? Das Ansich der Dinge vermögen wir nicht zu erfassen. Gegen die Möglichkeit einer wie immer gearteten Metaphysik richtet VAIHINGER zahlreiche und energisch durchgeführte Einwände. Jede Metaphysik ist ihm nur der Ausdruck kritikloser Spekulation, ist dogmatische Verdinglichung der subjektiven Denkformen, ist die Verwechslung von an sich berechtigter dichterisch-romantischer Schwärmerei und Phantastik mit positiver Erkenntnis. Das Wirkliche, mit dem allein wir Menschen es zu tun haben, ist die Totalität der von äußeren Gegenständen ausgehenden, auf uns, auf unseren Willen, auf unsere Sinnlichkeit einwirkenden Einflüsse derselben, und die auf Grund dieser Einwirkungen entstehenden Empfindungen. Somit umfaßt die für uns in Betracht kommende, die uns interessierende Wirklichkeit den positiven Bestand der physischen und der psychischen Natur, wie diese sich dem sie apperzipierenden Menschen darbietet; sie bedeutet den ganzen Bestand der bloß körperlichen, dann aber auch der geistigen Dinge, wie diese in den verschiedenen Kultursystemen der Religion, des Rechtes, des Staates, der Wirtschaft usw. zu objektiver Erscheinung und zu objektiver Bedeutung für den Menschen gelangen. Auf alles das, was den Menschen freundlich oder feindlich berührt, auf alles, was Gegenstand seiner willentlichen, gefühlsmäßigen und wissenschaftlichen Absicht sein kann, auf alles, was Gegenstand von Operationen, Aktionen, Interessen zu sein vermag, bezieht sich das Denken, an allem diesem versucht es sich, um es dem Machtbereich des menschlichen Willens ein- und unterzuordnen, auf alles, was mit dem Menschen in geistige und physische Beziehung tritt und treten kann, ist das Bemühen des Menschen gerichtet, alles das ist für ihn das Wirkliche.

Diese durchaus materielle Interessen-Beziehung zwischen dem "Wirklichen" und dem dieses Wirkliche aufnehmenden und verarbeitenden Menschen darf nie beeinträchtigt oder gestört werden. Denn alles Wissen von diesem Wirklichen und alles Eingehen auf dasselbe ist abhängig von dieser Beziehung. Wenn und wo der Mensch keine realen Beziehungsfäden herzustellen vermag, da ist auch von diesem Wirklichen in keiner Weise die Rede. Die Absichten und Interessen des menschlichen Geistes und im Zusammenhang damit auch der menschliche Leib und seine Bedürfnisse sind die Voraussetzungen und Grundlagen für alles Wissen von dem Wirklichen und für alle Beziehung auf dasselbe.

Dieser  anthropologische,  ja,  anthropozentrische  und subjektivistisch-egoistische Gedankengang wird durch die Erwägung verstärkt, was denn dem Menschen von dem transsubjektiven Wirklichen unmittelbar gegeben sei, was er in sich, in seiner Psyche als unmittelbares, der Selbstbeobachtung ohne Weiteres sich darbietendes Wissensmoment in Bezug auf das Wirkliche vorfinde. Die Antwort ist: Das sind "einzig und allein die Empfindungen, welche da sind, welche gegeben sind, aus denen die ganze subjektive Welt aufgebaut ist in ihrer Scheidung in eine Welt physischer und psychischer Komplexe". (12) Die Empfindungen sind die Urtatsachen, die unaufhebbaren psychischen Grundrealitäten, die metalogischen, die prologischen Gegebenheiten, auf die sich alle Beziehungen zur Welt stützen und begründen. Die begrifflichen Bestimmungen dagegen sind lediglich Gestaltungen, Bearbeitungen dieses autochthonen [althergebrachten - wp] Empfindungsbestandes, in dem sich dem Menschen das Wirkliche unmittelbar manifestiert.

Aber wie die Empfindungen den Ausgangspunkt aller theoretischen und praktischen Stellungnahme des Menschen bilden, so stellen sie auch den Endpunkt und das Ziel aller Arbeit dar. "Ich will ja schließlich immer wieder Empfindungen haben und berechnen, nicht jene Begriffe und Kategorien; nicht  "Zucker"  will das Kind, sondern die  Empfindung des Süßen  - der  Begriff  des Zuckers fällt weg. Wenn die  Gleichheitsmittelpunkte  ihren Dienst getan haben, fallen sie hinweg,  logisch,  nicht psychisch; oft auch historisch". (13)

Bringt man diese utilitaristisch-eudämonistischen Bemühungen des Denkens auf eine Formel, so kann man sagen: das Denken  fingiert  einen solchen Bestand, es  fingiert  eine solche Ordnung und Sachlage der Dinge, es bildet sich eine solche Auffassung über den Verlauf und Zusammenhang der Geschehnisse, daß es ihm auf Grund einer solchen  Fiktion  möglich wird, die Dinge zu meistern, in erfolgreicher Weise zu ihnen Stellung zu nehmen. Es probiert so lange und mit so großer Geschicklichkeit und Kunstfertigkeit an ihnen herum, bis ihm die Bildung einer solchen zweckmäßigen Fiktion gelingt. Und es strebt, immer zweckmäßigere, der praktischen Absicht der Psyche immer gemäßere herzustellen; es such tdie tauglichsten zu behalten, sie zu vervollkommnen, minder taugliche, wie unbrauchbar gewordene Geräte und unhandlich, durch die technische Entwicklung überholte Werkzeuge bei Seite zu tun. Mit einem Worte: Es tut so,  als ob  die Dinge sich so verhielten, wie es für die praktische Lebensabsicht des Menschen am zuträglichsten ist.

Das als Fiktion bezeichnete psychische Gebilde enthält also zwei konstitutive Merkmale;  erstens:  in logischer Hinsicht ist es eine bewußte, eine absichtliche Erdichtung, Verfälschung, Umformung der Wirklichkeit, es ist eine bewußte, absichtliche Abrückung von ihr,  zweitens:  es ist aber eine Erdichtung, Verfälschung, die zu den fruchtbarsten Folgen in der Praxis führt und lediglich um dieser Folgen willen erzeugt wird. "Alle Fiktionen sind Betätigungen der organischen Zweckmäßigkeit der logischen Funktion." (14) Zusammenfassend werden das Wesen der Fiktion, die Beweggründe ihrer Entstehung und die Tendenz ihrer Funktion folgendermaßen formuliert: "Unter der fiktiven Tätigkeit innerhalb des logischen Denkens ist die Produktion und Benützung solcher logischen Methoden zu verstehen, welche mit Hilfe von  Hilfsbegriffen  - denen die Unmöglichkeit eines ihnen irgendwie entsprechenden objektiven Gegenstandes mehr oder weniger an die Stirn geschrieben ist - die Denkzwecke zu erreichen sucht; anstatt sich mit dem gegebenen Material zu begnügen. schiebt die logische Funktion diese zwitterhaften und zweideutigen Denkgebilde ein, um mit ihrer Hilfe ihre Ziele indirekt zu erreichen, wenn die Sprödigkeit des entgegenstehenden Materials ein direktes Vorgehen nicht gestattet. Mit einer instinktiven, fast möchte ich sagen, verschmitzten Klugheit weiß die logische Funktion diese Schwierigkeiten durch diese Hilfsgebilde zu umgehen". (15)

Um nun VAIHINGERs Gedanken thesenmäßig darzustellen, so scheinen mir  vier Punkte  für sie charakteristisch zu sein.

1. Die Erfassung der Erkenntnisprozesse als Lebensfunktionen und damit  die Unterstellung der Denkprozesse unter die Gesetze der Lebensvorgänge.  Mit diesem Gedanken ist die  Heteronomie des Denkens  und die  Autonomie des Lebens,  die Herrschaft des praktischen Handelns und Willens über das Denken ausgesprochen. Alle "Richtigkeit" der logischen Formen und das, was sonst in theoretischem Sinne als wahr bezeichnet wird, ist in die Hand der Praxis gelegt; (16) nur die praktische Erprobung bietet die entscheidende und grundlegende Bürgschaft für die logische Arbeit. (17) An sich hat die begriffliche Erkenntnis gar keinen Wert, auch keinen wissenschaftlichen. "Der eigentliche Zweck des Denkens ist nicht das Denken und seine Produkte selbst, sondern das Handeln und in erster Linie das ethische Handeln." (18) Und diese ihm vorgeschriebene Aufgabe kann das Denken nur dadurch erfüllen, daß es Fiktionen, künstliche Hilfskonstruktionen erzeugt, wie solche auf allen Gebieten der Praxis und in allen Wissenschaften auftreten.

2. So äußert sich der  zweite  charakteristische Punkt darin, daß auf  alle n Gebieten der Kultur, in  allen  Richtungen, in denen Menschengeist tätig ist, dieser Arbeitsweise gehuldigt, daß überall dasselbe experimentelle und utilitaristische Verfahren angewendet wird. Im rechtlichen und staatlichen Leben, im religiösen und sittlichen Handeln, kurz: in jeglicher Lebensbetätigung und Lebensäußerung operiert der Mensch mit Fiktionen; der Eid, der Begriff der Omnipotenz des Staates, der Glaube an Gott, der Begriff der Freiheit: alle diese, die einzelnen Kulturgebiete begründenden Voraussetzungen sind fiktiver Natur. Überall zeigt sich die Notwendigkeit, mit Voraussetzungen und Gesichtspunkten zu arbeiten, Konstruktionen ins Spiel zu bringen, die ihrer ganzen Struktur nach nicht rationaler Art sind, sondern denen der Stempel der Irrationalität, der begrifflichen Widersinnigkeit, der wissenschaftlichen Unvollziehbarkeit deutlich aufgeprägt ist. Aber ohne solche irrationalen Gebilde, ohne solchen "edelen Täuschungen" (19) sind weder Wissenschaft noch Leben in höchster Form möglich. Ein Beispiel dafür, wie tief die Fiktion in das praktische Leben hineingreift, ist der  Eid.  "Bei der gegenwärtigen Eidformel macht jeder, der auf sie schwört, ohne an Gott zu glauben, eine  erlaubte Fiktion.  Die Wendung: Ich schwöre bei Gott dem Allmächtigen - heißt dann: Ich schwöre,  als ob  es ein Gott hörte. Solche Fiktionen sind nicht blos erlaubt, sondern  geboten  in gewissen Fällen, und ein Sträuben dagegen ist lächerlich". (20) Und eine andere, noch berühmtere und ungemein folgenreiche Fiktion ist die  Freiheit.  Dieser "Begriff widerspricht nicht nur der beobachteten Wirklichkeit, in der Alles nach unabänderlichen Gesetzen folgt, sondern auch sich selbst: denn eine absolut freie, zufällige Handlung, die also aus Nichts erfolgt, ist sittlich gerade so wertlos wie eine absolut notwendige. Aller dieser Widersprüche ungeachtet, wenden wir diesen Begriff nicht nur im täglichen Leben bei der Beurteilung der moralischen Handlungen an, sondern er bildet auch die Grundlage des ganzen Kriminalrechtes: ohne jene Annahme wäre eine Strafe für etwas Getanes undenkbar vom sittlichen Standpunkt aus; dann ist eben Strafe nur eine Vorsichtsmaßregel, um die Anderen vor dem Verbrechen zu schützen. Aber auch die Beurteilung unserer Nebenmenschen hängt so vollkommen von diesem Begriffsgebilde ab, daß wir es nicht mehr entbehren können: die Menschheit hat dieses wichtige Begriffsgebilde im Laufe der Entwicklung mit immanenter psychologischer Notwendigkeit gebildet, weil nur auf seiner Grundlage höhere Kultur und Sittlichkeit möglich ist: allein das hindert nicht, einzusehen, daß dieses Begriffsgebilde selbst eine logische Monstrosität ist, daß es ein Widerspruch ist, kurz, daß es nur eine Fiktion, keine Hypothese ist." (21)

3. Wie die Arbeit mit Fiktionen notwendigerweise über das ganze Gebiet der Kultur ausgebreitet ist, so ist nun auch innerhalb der Theorie selber, innerhalb der Erkenntnis, innerhalb der begrifflichen Arbeit die Unabweisbarkeit der Fiktion eine leicht nachweisbare Tatsache. In der Mathematik und Physik, in der Volkswirtschaftslehre, in der Botanik und Zoologie, in der Sprachgeschichte, n der Rechtstheorie, in der Religionsphilosophie, in der Ethik und Ästhetik, ja in der Logik und in der allgemeinen Erkenntniswissenschaft selber, kurz, sowohl in der Erkenntnis als positiver Forschung als auch in der Theorie der Erkenntnis, überall treten uns Fiktionen nicht nur nebenbei und nicht nur als gelegentliche Zusatzbestimmungen für die Behandlung von Spezialfragen, sondern sie treten uns in den Grundlagen dieser Wissenschaften entgegen. Auf die ungeheure Fülle des aus allen Zonen des Globus intellectualis zum Erweis beigebrachten Materials können wir hier nicht im Einzelnen eingehen. Für den Zusammenhang unserer Untersuchung ist nur der Gedanke von Wichtigkeit, daß auch die logischen Grundbestimmungen selber, daß auch die apriorischen Gerüststücke der Erkenntnis fiktiver Natur sein sollen.

Besonders an diesem Punkte zeigt sich VAIHINGERs entschiedener Geltungsirrationalismus, wenn sogar die Kategorien als "imaginative Vehikel des Denkens" (22) bezeichnet werden, die unter theoretischem Gesichtspunkt ebenso wertlos als unter praktischem unentbehrlich seien. Ihre reale Basis, ihren lebendigen Quell sollen die Kategorien allein in den menschlichen Empfindungen und in den Sinneseindrücken besitzen. "Die Empfindungsverhältnisse legen es der logischen Funktion nahe, verschiedene Analogiebeziehungen zu denken; - - - ursprünglich waren es sicher viel mehr solcher Analogieverhältnisse; allein durch die natürliche Tendenz, möglichst wenige zu haben, werden die nicht recht passenden eliminiert und die passenden immer feiner und  abstrakter.  Man muß sich aber nur nicht durch die  abstrakte  Höhe dieser Kategorien täuschen lassen: frägt man sich selbst und Andere nach der eigentlichen Bedeutung derselben, so schlüpft doch schließlich irgendeine  sinnliche  Analogie heraus." (23) So hat z. B. die Kategorie Kausalität ihre Wurzel in den Erfahrungen des  Willens  und Gefühls, kurz in "Sensationen" und den ihnen folgenden Wirkungen. Was sich von diesem Boden abgelöst hat, was nicht aus ihm heraus sich zu begründen und zu rechtfertigen vermag, sondern mit begrifflicher Eigenexistenz sich brüstet, das hat nur den Wert einer Täuschung. Reine, in sich gegründete Begriffssysteme sind willkürliche, dem unausbleiblichen Untergang verfallene Artefakta. "Es ist eine durch die Erkenntnistheorie allmählich immermehr zur Geltung und Anerkennung gebrachte Wahrheit, daß unsere ganze Weltvorstellung einzig und allein aus transformierten Sensationen besteht. Ist dies der Fall, so folgt daraus unmittelbar die Richtigkeit der Theorie des Relativismus; denn da die Sensationen nichts sind, als unsere eigenen Veränderungen, so hat alle unsere Erfahrung  nur in Beziehung auf uns  Gültigkeit und Wert." (24) Um die Energie zu zeigen, mit der dieser anthropomorphistische, psychologistische, sensualistisch-relativistische Standpunkt entwickelt wird, sei eine umfangreiche Stelle im Zusammenhang mitgeteilt. "Die Kategorien sind für die Menschheit schließlich doch nur rein psychologische und mnemonische Hilfsmittel, wie sie beim Kinde in Anwendung kommen zur Erleichterung der Erziehung. Daß das Resultat des Denkens der Wirklichkeit entspricht, beruht darauf, daß die eigentlich wertvollen Elemente des Wirklichen, nämlich die unabänderliche Sukzession und Koexistenz, mit in das Denken aufgenommen sind unter den Bildern der Kausalität, der Substantialität usw. Das eigentlich Wertvolle an den logischen Formen und Gesetzen ist aber immer nur das empirisch Beobachtete, nämlich das Vorhandensein unabänderlicher Sukzessionen und Koexistenzen, nicht aber die spezielle Form, in welche diese Beobachtung gekleidet ist, nämlich die kategorialen Analogien. Diese sind nur Vehikel zur Einleitung und Führung des Prozesses der Vorstellungsbewegung." (25)

4. Aus diesen und noch mehreren anderen Stellen geht deutlich hervor, daß VAIHINGER selber seine ganze Theorie der Fiktion als eine psychologistische und psychogenetische erkennt. Ja, er verlangt ausdrücklich eine "solche historisch-genetische, psycho-historische und psycho-genetische Ableitung der höheren Vorstellungswelt, der höheren Begriffsorganismen," (26) und er bemerkt, eine solche Ableitung "verhält sich zu der Kantischen Leistung etwa ähnlich wie der moderne Darwinismus zu Goethes Ideen." (27) "Die Untersuchung der (subjektiven) denkmechanischen Vorgänge ist doch schließlich das Ziel der logischen Wissenschaft, und nur die Psychologie kann darüber Aufschluß geben." (28)


b) Zur Kritik

Mit dem zweiten Satz in dieser Formulierung berichtigt VAIHINGER selber den ersten, berichtigt er auch andere Kennzeichnungen seiner Theorie, nach denen er eine  logische,  eine  erkenntnistheoretische  Theorie der Fiktionen und im Zusammenhang damit überhaupt aller Kategorien zu geben meint. Denn tatsächlich ist seine Untersuchung keine  logische,  keine wissenschaftstheoretische. Sie kann es nicht sein, da dem Logos, der Ratio jegliche grundlegende Geltun abgesprochen wird, da irrationalen alogischen Momenten und Tendenzen die Rolle begründender Prinzipien zuerteilt wird. (29)

Jene alogischen irrationalen Gründe werden in dem schimmernden Problemkomplex, dem man den Namen "Leben" gibt, zusammengefaßt; auf das Irrationale par excellence wird das Rationale, wird die Theorie, wird die Erkenntnis, wird das System der Erkenntnis gegründet. Das Ungreifbare, ewig Unbestimmte, das Unbegreifbare, ewig Unbestimmbare, wie es uns als Leben, als Empfindung und in den mehr oder minder lockeren Zusammenhängen der ewig flüssigen Empfindungen entgegentritt, soll die Grundlage für das Begreifen, für das Bestimmen - denn alles Begreifen ist Bestimmen - abgeben. Von dem Lebenswillen ausgehende Tendenzen sollen die Voraussetzungen und die Quellgründe für den Gedanken, für den Begriff, für die Erkenntnis bilden. Aber muß nicht allererst das Leben selber zur Höhe der Erkenntnis erhoben und im Begriff festgelegt sein, damit von ihm überhaupt die Rede sein kann, damit es überhaupt möglich ist, es als angeblichen Quellgrund der Theorie gedanklich anzusetzen?

Im Zusammenhang damit seien noch zwei andere prinzipielle Schwierigkeiten, die der Philosophie des Als Ob eigen sind, angemerkt. Als Fiktion wird ein solches Gebilde bezeichnet, das unter theoretischem Gesichtspunkt zwar falsch, irrig, dem betreffenden Tatbestande nicht gemäß, von der Wirklichkeit abweichend ist, das aber in praktischer Beziehung seine Rechtfertigung in dem Nutzen besitzt, den seine Anwendung für die Erkenntnis hat. Wie aber läßt sich eine gedankliche Umgestaltung der "Wirklichkeit" im Sinne der Fiktion behaupten, ohne daß eine auch nur ungefähre Erkenntnis der "Wirklichkeit" dieser Behauptung zu Grunde liegt? Der Ton dieses Einwandes liegt sowohl auf dem Begriff der Erkenntnis als auf dem der "Wirklichkeit". Denn ohne die Geltung der Erkenntnis bereits vorauszusetzen, ist eine Bestimmung und Aussage darüber, daß eine Vorstellung fiktiv sei, nicht möglich. Und ohne die Voraussetzung einer bestimmten Ansicht über das Wesen des "Wirklichen" ist die Behauptung nicht möglich, daß eine Vorstellung von der "Wirklichkeit" abweiche. In jener Hinsicht setzt also VAIHINGER, wie es nicht anders möglich ist, die logische Geltung der Erkenntnis voraus, die er als eine nur fiktive entlarven will; in der zweiten Beziehung stützt sich seine Theorie zweifellos auf eine Metaphysik, da er doch genau wissen muß, wie das "Wirkliche" an sich ist, wenn er behauptet, ein Begriff oder eine Vorstellung stimme mit diesem Wirklichen nicht überein. Garnicht aufrecht zu erhalten scheint mir endlich noch der Begriff der Fiktion als eines von der "Wirklichkeit" abweichenden Vorstellungsgebildes in Bezug auf das Gebiet der Mathematik. Von welcher "Wirklichkeit" sollen denn hier die mathematischen Fiktionen (z. B. eine Linie, ein Kreis) abweichen? Diese mathematischen "Fiktionen" sind ja die "Wirklichkeit" der Mathematik. Sie begründen, konstruieren und bilden diese "Wirklichkeit" in völlig erschöpfender Weise, sodaß schon hier jener Dualismus, auf dem VAIHINGERs Philosophie beruht, in sich zerfällt. Anmerkungsweise aber sei auch noch auf die unaufhebbare Schwierigkeit hingewiesen, die in dem Gedanken liegt, den Begriff des Nutzens zu einem Kriterium zu machen. Ist der "Nutzen" eine feste, eindeutig bestimmte Größe?

Die theoretischen Schwierigkeiten, die ganz allgemein jeder pragmatischen und psychologistischen Geltungstheorie unabstreifbar anhaften, werden uns noch genauer zu beschäftigen haben. Hier bleiben wir vorerst noch bei der Philosophie des Als Ob. Als Pragmatist, als Biologist, als Voluntarist in der Erkenntnistheorie ist VAIHINGER Geltungsirrationalist: in außer-logischen Momenten und Kautelen soll die Philosophie begründet, in pseudologischn Momenten das System der Erkenntnis verwurzelt werden! Wie aber ist ein solcher Versuch wissenschaftlich durchführbar, wie ist er überhaupt denkbar, wenn alle Begriffe doch nur "Täuschungen" und "Fälschungen" sind?

Wenn jedwede Erkenntnis, jedwede Theorie durchaus nur von Fiktionen getragen wird und auf diese Weise nur fiktiven Charakters ist, welchen Wahrheitswert, welche wissenschaftliche Bedeutung hat dann die Theorie des Als Ob selber, die doch eine Theorie sein will? Über diesen Punkt später ausführlich. Hier sei nur der Einwand als solcher vermerkt.

Und ferner: Gemäß der Zurückführung der Erkenntnis auf die unbeständigen Willens- und Empfindungsmomente wird zu zeigen versucht, daß alle Begriffe, mit denen die Wissenschaften arbeiten, auf dem Wege allmählich sich vervollkommender Anpassung an den zu behandelnden Tatbestand entstanden sind. Man verfolge einmal die Analyse des Begriffes des reinen, absoluten Raumes. "Der Begriff des reinen Raumes entsteht, indem das Verhältnis der Dinge festgehalten wird, während die Dinge selbst weggedacht werden; während wir die Materie und ihre Intensität allmählich bis zu 0 abnehmen lassen, behalten wir das Verhältnis der materiellen Dinge zurück. Während der Raum strenggenommen in demselben Moment mit verschwinden sollte, in welchem die Materie zu 0 abgenommen hat und verschwindet, behalten wir das Verhältnis zurück, während die bezogenen Dinge verschwunden sind. Betrachtet man ein kontinuierlich ausgedehntes Ding, und läßt in Gedanken die Materie zu 0 abnehmen, sich immer mehr verdünnen, so ist der reine Raum die Grenze, wo die Materie im Verschwinden begriffen ist, - diesen Moment halten wir fest, im nächsten Moment träte schon das Nichts, die Null an Stelle der Materie ein, die in dem letzten Momente ihres Verfliegens und Verfließens erhascht wird." (30) Dann aber wird ja nicht die Analyse des  Begriffes  des Raumes ins Auge gefaßt, es wird vielmehr der Weg beschrieben, den der psychologische Prozeß der Abstraktion - und die Abstraktion ist kein logisches, sondern ein psychologisches Verfahren - einschlägt, um die Grenzvorstellung des Raumes zu erreichen. Wir begegnen hier dem für allen Psychologismus und Pragmatismus charakteristischen  Verfahren einer entwickelungsgeschichtlichen Betrachtungsweise.  Nicht sowohl die prinzipielle Geltung, nicht sowohl die logische Dignität des Begriffes als vielmehr seine Geschichte, seine Entstehung bildet das Rückgrat und den Gegenstand der Untersuchung.

Aber unterliegt nicht jenes Verfahren der Abstraktion, durch das die genetische Bildung irgend eines Begriffes aufgedeckt wird, als Methode logischen Direktiven? Vollzieht sich jene Abstraktion in logischer Hinsicht bestimmungslos und richtungslos, nur geleitet von dem Nützlichkeitsstreben der Psyche? Wenn aber dies nicht der Fall sein kann, wer übt dann die Leitung und Bestimmung? Woher kommt es, daß am Schluß und als Ergebnis jenes psychologischen Prozesses gerade die  Raumvorstellung herausspringt? Sollte nicht die  Idee  des Raumes als logisches Prinzip die immanente Leitung innehalten? Liegt nicht in jenem Verfahren die Raumidee logisch zu Grunde? Beschreibt es nicht die Geschichte eines logischen Gebildes, dessen theoretische Bedeutung, dessen logische Geltung bereits feststehen, bereits im Zusammenhang der Erkenntnis gegründet sein muß, bevor die Arbeit jener geschichtlichen Beschreibung überhaupt einsetzen kann?


Diltheys Philosophie des Erlebens

a) Darstellung (31)
Die Begründung der Philosophie auf über- oder unterlogische, jedenfalls auf nicht eigentlich logische Geltungswerte, das Zurückgehen auf ein irrationales Apriori, wie "das Leben" ein solches darstellt, ist auch für die nicht zu einem System zusammengeschmolzenen Studien charakteristisch, die in mannigfacher Form und Fassung WILHELM DILTHEY der Grundlegung der Geisteswissenschaften gewidmet hat. Denn wenn er auch vermieden hat, seinen irrationalistischen Grundgesichtspunkt durch  alle  Gebiete der Philosophie zu verfolgen, wenn auch, wie gesagt, sein Interesse im Besonderen auf die Grundlegung "der geschichtlichen Welt", auf die Fundierung des "historischen Bewußtseins" gerichtet ist, so vertritt doch auch er prinzipiell den Gedanken der psychologistisch-irrationalistischen Grundlegung, und es fehlen keineswegs Hinweise darauf, daß jene Grundlegung eine das ganze Gebiet der Philosophie umfassende systematische Geltung besitze.

Mit dem ihn auszeichnenden Feinsinn hat DILTHEY in ungemein reizvollen und anregenden Untersuchungen immer wieder den Gedanken betont und entwickelt, daß alles Verstehen, sowohl das des eigenen als auch des fremden Lebens und schließlich überhaupt alles Erfassen der Wirklichkeit, auf das Erleben und auf das Nacherleben sich gründen müsse und sich tatsächlich auch gründe. Im Erleben liege ein primäres und elementares Verstehen, eine allererste, autochthone und autonome Stellungnahme des Menschen zur Wirklichkeit vor, während das begriffliche, das diskursive Erkennen erst eine spätere Stufe unseres geistigen Verhaltens zu ihr ist. Zugleich entspinnt sich im Erleben eine primäre Wertsetzung, eine primäre Werterteilung; in ihm und von ihm  überhaupt  jeder Wert geschaffen, durch ihn wird das Stumme, das Fremde, das Gleichgültige, das, was in naturwissenschaftlichem Sinne als lediglich seiend betrachtet wird, zu einem Werthaften erhoben, indem es in das wertverleihende Erleben eingetaucht wird. (32) "Wir lesen in der Geschichte von wirtschaftlicher Arbeit, Ansiedlungen, Kriegen, Staatengründungen. Sie erfüllen unsere Seele mit großen Bildern, sie belehren uns über die historische Welt, die uns umgibt; aber vornehmlich bewegt uns doch in diesen Berichten das den Sinnen Unzugängliche, nur Erlebbare, aus dem die äußeren Vorgänge entstanden, das ihnen immanent ist, und auf das sie zurückwirken; und diese Tendenz beruht nicht auf einer von außen an das Leben herantretenden Betrachtungsweise: sie ist in ihm selber begründet. Denn in diesem  Erlebbaren ist jeder Wert des Lebens enthalten,  um dieses dreht sich der ganze äußere Lärm der Geschichte. Hier treten Zwecke auf, von denen die Natur nichts weiß. Der Wille erarbeitet Entwicklung, Gestaltung. Und in dieser schaffend, verantwortlich, souverän in uns sich bewegenden geistigen Welt und nur in ihr hat das Leben seinen Wert, seinen Zweck und seine Bedeutung." (33)

Achtet man auf das primär leitende Motiv in der ganzen Fragestellung DILTHEYs, so bemerkt man unschwer, daß der rein logische Gesichtspunkt nicht der herrschende ist. Eine solche Problemstellung und Problembehandlung wird als unzulässige Intellektualistische Vereinseitigung und Verengung, als rationalistische Vergewaltigung des vollen und reichen, unendlich komplizierten Tatbestandes, den das geschichtliche Leben darstellt, ausdrücklich abgelehnt. Die Totalität dieses Lebens ist in angemessener Weise nur durch die Totalität des Nacherlebens, nur durch die uneingeschränkte Entwickelung unserer Fähigkeit zu allseitiger Teilnahme an jenem Leben zu erfassen. In der Geschichte treten uns Bezüge, Zusammenhänge, Kultursysteme, wie Religion, Philosophie, Geschichte usw. entgegen, die der restlosen Auflösung durch das Denken in hohem Grade trotzen, und deren Charakter man von Grund aus verkennen würde, wollte man versuchen, sie auf rationalistisch-analytischem Wege zu bewältigen und zu durchdringen. Wie die Geschichte selber eine unmittelbare Beziehung zum Leben hat, wie sie auf das Leben gegründet ist und in ihren Erscheinungen bestimmte Formen und Fügungen dieses Lebens zum Ausdruck bringt, so müssen auch die geistesgeschichtlichen Wissenschaften, die das Verstehen jener Welt der Geschichte zur Aufgabe haben, dieses unmittelbare Verhältnis zum Leben aufrechterhalten, in ihm müssen sie den Ausgangspunkt, die Richtschnur und Maxime für ihre Forschung erblicken. (34)

Diese Grundlegung der Geisteswissenschaften wird verschärft durch den charakteristischen Gedanken, daß es das  Individuum  ist von dem aus das Verständnis des geschichtlichen Lebens seinen Ausgang zu nehmen habe u. z. darum, weil dieses Leben selber auf der Wirksamkeit typischer Individualitäten beruhe. Es ist das geschichtliche Individuum, es ist eine zu einer bestimmten Zeit, unter bestimmten Umständen und Lagen lebende und mit Ansichten und Verhaltensweisen, wie sie aus jenen individuellen Bestimmtheiten her sich notwendig ergeben, ausgestattete Einzelpersönlichkeit, die den Träger des geschichtlichen Verständnisses und damit den der Geisteswissenschaften bildet. Alle Begriffsarbeit der Geisteswissenschaften ist eingehüllt in diese Atmosphäre von Individualität und geschichtlicher Relativität; (35) bis in die feinsten Verzweigungen ihres Baues ist jene individualistische Tendenz wirksam; sie ermangelt jener begrifflichen Allgemeingültigkeit, wie sie der Mathematik und den mathematischen Naturwissenschaften eigen ist. Darum widersteht sie auch der Zergliederung nach der transzendentalen Methode; (36) sie geht "im Gegensatze zu der idealistischen Vernunftlehre nicht auf ein Apriori des theoretischen Verstandes oder der praktischen Vernunft, das in einem reinen Ich begründet wäre, sondern auf die im psychischen Zusammenhang enthaltenen Strukturbeziehungen zurück, die aufzeigbar sind." (37) "Wie diese Wissenschaften (sc. die Geisteswissenschaften) im Erleben und Verstehen begründet sind, so muß von hier aus ihr Aufbau - - aufgefaßt werden, und damit eröffnet sich der Einblick in die gänzliche Verschiedenheit dieses Aufbaus von dem dargelegten Aufbau der Naturwissenschaften." (38)

Aber wie im Leben und Erleben alles Verständnis des eigenen und fremden Lebens gegründet ist, so ruht auch der Sinn des Lebens, so liegen seine Größe und sein Reiz, schließlich auch das Schicksal des Lebens wieder nur im Leben und Erleben. Und es ist unverkennbar, daß die Neigung besteht, einem solchen Verstehen eine höhere wissenschaftliche Sicherheit und eine geschlossenere methodische Bedeutung als der naturwissenschaftlichen Forschungsweise zuzuweisen. Muß diese doch stets mit hypothetischen Annahmen arbeiten, während der Aufbau in den Geisteswissenschaften in völliger Hingabe an den Gegenstand von Realität zu Realität geht: "er ist ein Sich immer tiefer Einbohren in die geschichtliche Wirklichkeit, ein Immer mehr aus ihr Herausholen, Immer weiter sich über sie Verbreiten." (39) Während "die Naturwissenschaften die Phaenomene durch Hinzugedachtes" ergänzen, während der Zusammenhang der Natur nur ein abstrakter ist, ist der seelische und geschichtliche lebendig, lebensgesättigt; (40) "die Begriffe, die allgemeinen Urteile, die generellen Theorien (der Geisteswissenschaften) sind nicht Hypothesen über etwas, auf das wir äußere Eindrücke beziehen, sondern Abkömmlinge von Erleben und Verstehen. Und wie in diesem die Totalität unseres Lebens immer gegenwärtig ist, so klingt die Fülle des Lebens auch in den abstraktesten Sätzen dieser Wissenschaft nach." (41)

Wie also überhaupt unser gesamtes Verhältnis zur Welt, zu jeder Art von Realität auf emotionalen, auf vitalen Momenten beruth, wie wir ursprünglich überhaupt von einer Außenwelt nur durch die elementaren Erfahrungen von Impuls und Widerstand etwas wissen, (42) und wie auf jenen Momenten alle Geisteswissenschaften ruhen, so muß auch die philosophische Theorie derselben jene Momente herausarbeiten und zu distinkten Bewußtsein bringen. Deshalb darf auch diese Theorie, also die des historischen Wissens, des Wissens von der Kultur, nicht von den formalen Bedingungen als den Voraussetzungen jenes Wissens ausgehen, auch nicht von einer "Einheit", die durch einen Grundgedanken ausdrückbar wäre," es gilt vielmehr das geschichtliche Wissen zu begründen von dem "Gegebenen der geschichtlichen Lebensäußerungen" aus, von jenem geschichtlichem "Wirkungszusammenhang" aus, der die Grundlage, zugleich auch den Gegenstand der Geisteswissenschaften abgibt.

Dieser Wirkungszusammenhang wird nun nicht als methodisches Forschungsprinzip angesehen, er gilt vielmehr als Realzusammenhang, der wie eine Kette die Wirklichkeit der geistigen Welt durchzieht und in den Schöpfungen der geistigen Welt "enthalten ist." Er "unterscheidet sich von dem Kausalzusammenhang der Natur dadurch, daß er nach der Struktur des Seelenlebens Werte erzeugt und Zwecke realisiert. - Ich nenne dies den immanent-teleologischen Charakter der geistigen Wirkungszusammenhänge. Unter diesem verstehe ich einen  Zusammenhang  von  Leistungen,  der in der  Struktur  eines Wirkungszusammenhanges gegründet ist. Das geschichtliche Leben schafft. Es ist beständig tätig in der Erzeugung von Gütern und Werten, und  alle  Begriffe von solchen sind nur Reflexe dieser seine Tätigkeit." (43)

Damit vollzieht auch DILTHEY, wenngleich wohl unbewußt, die Metaphysizierung des Erlebnisses. Denn das, was im Grunde nur ein psychologischer Vorgang ist, d. h. das im individuellen Seelenleben sich abspielende Erleben und Nacherleben geschichtlicher Erscheinungen, wird zu einem realen Zweckzusammenhang zu einem teleologisch verlaufenden Energieprozeß hypostasiert [einem Gedanken gegenständliche Realität unterschieben - wp].

Aber abgesehen von  dieser  Abbiegung in die Metaphysik, so tritt durch die Einführung des Erlebens in die Grundlage des geisteswissenschaftlichen Verstehens eine Auflockerung des ganzen theoretischen Fundamentes derselben ein. Der logische Gesetzeszusammenhang rückt in eine untergeordnete Rolle, er gilt als minderer Grad der emotionalen Lebensbetätigung.

So wird dem Erleben eine doppelte Leistung zugeschrieben: es sichert erstens überhaupt die Beziehung des Menschen zur Außenwelt, es setzt ihn in wurzelhafte und ursprüngliche Verbindung mit den von dem eigenen Ich unabhängigen Dingen und Vorgängen; zweitens aber bildet es auch die Grundlage für alle Erkenntnis der geistigen Welt; nicht der Logos, sondern das Erleben ist von schöpferischer Bedeutung auch für die Wissenschaft von dieser. Darum muß auch die Theorie der Geisteswissenschaften dem Erleben die ihm gebührende Beachtung erweisen. Nur im Erleben ist die Realität ungeschmälert erfaßbar nur Erleben ist schließlich überhaupt Realität.

Der tiefste Grund aber für die entscheidende Einbeziehung des Erlebens in das Fundament der Geisteswissenschaften liegt in dem eigentümlichen Charakter, den die Objekte der Geisteswissenschaften aufweisen. Während sich die naturwissenschaftlichen Erscheinungen aus  allgemeinen  Bestimmungen konstituieren und durch Begriffs Generalisation  erkenntnismäßig festlegbar sind, zeigen diejenigen der Geisteswissenschaften durchgängig das Merkmal der  Besonderheit,  der Einmaligkeit, der Einzigartigkeit, der Singularität. Die Naturwissenschaft berücksichtigt nicht die besondere Art und Gestaltung eines Zustandes oder eines Vorganges; sie fragt nur nach dessen allgemeinen, unindividuellen Eigenschaften und versucht diese in allgemeinen Gesetzesformulierungen zu bestimmen. Das Interesse der Geisteswissenschaften ist dagegen auf die Herausstellung des Eigentümlichen und Besonderen gerichtet, wie sie denn überhaupt ihre Objekte unter dem Gesichtspunkte, was sie charakteristisch Individuelles haben, ausgewählt und bestimmt. Ja, nicht erst von sich aus unter diesem Gesichtspunkt auswählt und bestimmt, sondern als charakteristische Individuen und Individualitäten schon vorfindet. Jede philologische und historische Untersuchung hat zum Gegenstand einen individuellen Tatbestand, eine charakteristische Persönlichkeit oder einen eigentümlichen Zusammenhang von geschichtlichen Momenten, der sich von anderen Zusammenhängen deutlich abheben läßt, und dessen Besonderheit eben herauszuarbeiten ist.

So beziehen sich die Geisteswissenschaftler auf ein Objektgebiet, das mit den Mitteln des begrifflichen Denkens, mit den allgemeinen, logischen Gesetzesbestimmungen nicht bewältigt, nicht ungeschmälert erkannt werden kann. Zwar handeln auch die Geisteswissenschaften von Zusammenhängen, von Struktureinheiten innerhalb des Gesamtkomplexes der Geschichte, zwar suchen auch sie Gesetze für das Verständnis jener Struktureinheiten aufzustellen. Immer aber muß das Bewußtsein dafür lebendig bleiben, daß jene Zusammenhänge und Einheiten einen charakteristischen und individuellen Lebensbezug darstellen, daß in jeder derselben sich das geschichtliche Leben in neuer, eigentümlicher Form offenbart.

Und einem solchen individuellen Lebenszusammenhang kann man nur mit demjenigen Mittel näherkommen, das seinem Charakter gerecht wird, das fein und zart genug ist, um sich ihm an- und einzufügen und ihn in sich aufzunehmen. Dieses Mittel ist das Erleben, das Mit- und Nacherleben. Dieses Organ ist ungleich schmiegsamer, ungleich differenzierter als der harte, schematisch verfahrende, auf die Aufstellung von Formeln gerichtete Verstand. Da die Geisteswissenschaften ganz allgemein einen unmittelbaren Bezug auf das Leben und in jeder ihrer Disziplinen eine besondere Gruppe individueller Lebensgestaltungen behandeln, so muß auch die philosophische Theorie der Geisteswissenschaften dieser ihrer Eigenart Rechnung tragen, und sie muß, statt den Nachdruck auf die generellen, rationalen und intellektualistischen Momente im Bau der Geisteswissenschaften zu legen, gerade die emotionalen, der begrifflichen Bestimmung vorhergehenden und vorausliegenden individuellen Momente hervorheben. Die Eigenart der geisteswissenschaftlichen Objekte fordert die Wahl des für ihre Erfassung tauglichen Organs.


b) Kritik.

So sehr man auch die Freiheit und weite des Blicks, die DILTHEY für den Reichtum des geschichtlichen Lebens besitzt, anerkennen muß, so hoch man auch den ästhetischen Reiz seiner Studien werten mag, so wenig entspricht doch ihre Durchführung der ausdrücklich bekundeten Absicht, in ihnen auch den Geisteswissenschaften eine "erkenntnistheoretische", eine "kritische" Grundlegung zu bieten. Die Grenzverwischung zwischen der psychologisch-genetischen und der kritisch-logischen Untersuchung tritt offensichtlich hervor, ja, sowohl schon DILTHEYs Fragestellung als auch seine Methode sind nicht an erkenntnistheoretischen, nicht an "transzendentalen", sondern zunächst an psychologischen und historischen Gesichtspunkten orientiert. Denn Entwurf und Bearbeitung des Problems sind immer bestimmt durch das Zurückgehen auf die Innerlichkeit des Individuums, auf die Art seiner seelischen Struktur und auf die geschichtlichen Einflüsse und Verhältnisse, die für die Bildung dieser Struktur maßgebend sind bzw. waren. Gewiß, DILTHEY hat Zeit seines Lebens sich um die Überwindung des Historismus gemüht und mit seltener Stärke den Widerstreit gefühlt, der sich aus der Spannung zwischen dem menschlichen Verlangen nach der Geltung überpersönlicher Werte und der Einsicht unseres Verstricktseins in die geschichtliche Relativität ergibt: (44) doch ist es ihm von seiner Grundstellung aus nicht möglich gewesen, dieses Problem aufzulösen, es einer logisch-kritischen Entscheidung näherzuführen. Ich glaube vielmehr, die Überwindung des Historismus, die Lösung jener Spannung ist auf Grund der von ihm befolgten Methode unmöglich. Das läßt sich aus dem oben Entwickelten schon erkennen; das zeigen aber seine Arbeiten selber, die, wie sie immer mehr in den Wissenschaftsrelativismus hineinführen, so auch ihre Bedeutung nicht in der Kraft zu systematischen und prinzipiellen Entscheidungen, sondern in der Zartheit und Feinheit ihrer psychologischen und historischen Analyse und in der Weite ihrer Perspektiven besitzen.

Das Erleben ist ein psychologisches Datum und ein psychologisches Problem; die Logik kennt es nicht, kann es nicht kennen, weil sie es mit logischen, mit rationalen, d. h. mit eindeutig bestimmbaren, in der logischen Analyse verifizierbaren Größen zu tun hat und, wenn sie die Reinheit ihres Begriffes und die Bestimmtheit ihres Mannes bewahren will, zu tun haben darf. Aber gerade das sind Momente, die das Erlebnis nicht aufweist und seiner ganzen Struktur nach nie aufweisen kann. Wird es jedoch in die Grundlegung irgend eines Wissenschaftsgebietes einbezogen, - und dieses sei, welches es wolle, so ist es doch ein  Wissenschaftsgebiet, - und bedeutet Grundlegung, die  logische  Klarstellung der Wissenschaftsbedingungen des betreffenden Gebietes, so ist deutlich, daß das Erleben jene logische Klarstellung durchbricht und gefährdet, daß mit ihm in die Wissenschaftstheorie  ein nicht theoretisches Bestimmungsstück eingeführt wird. Mag sich ein Wissenschaftsgebiet auf noch so viel Erleben beziehen und noch so viel Erleben und Leben umschließen, so kann dieses Leben selber nicht in die Gruppe der Bestimmungen aufgenommen, nicht selber als Kategorie verwendet werden. (45) Erstens ist es das zu Bestimmende, das erst durch den Vollzug des logischen Bestimmungsgeschäftes Festzulegende, logisch Auszudeutende, falls überhaupt Auszudeutende. Wie vermag es ferner die  objektive  Geltung der Urteile eines Wissenschaftsgebietes zu verbürgen? Wie vermag es dessen logische Realität zu gewährleisten? Untilgbar haftet ihm der Charakter der Subjektivität und Individualität an. Bei seiner Berücksichtigung gelangt man, streng genommen, niemals aus dem Bannkreis des Subjektivismus heraus. Statt mittels seiner der Realität habhaft zu werden, erfaßt man immer wieder Irrealitäten, Irrationalitäten, Subjektivitäten.

Im Grunde ist DILTHEYs Arbeit an der Grundlegung der Geisteswissenschaften nicht sowohl Arbeit an deren Theorie, als vielmehr Arbeit an der Geschichte der Geisteswissenschaften, Geschichte hier in jenem weiten Sinne genommen, daß unter ihm sowohl die Entstehung und Ausbildung dieser Wissenschaften innerhalb der allgemeinen Zusammenhänge und Strömungen der Kultur als auch ihre Fortbildung durch bestimmte Persönlichkeiten verstanden wird. Als Geschichtsschreiber der großen Kulturzusammenhänge und der Wissenschaften von diesen hat DILTHEY Epochemachendes geleistet. (46) Er hat, begabt mit einem wunderbar feinen Blick für das geschichtliche Leben, ausgestattet mit einer erstaunlichen Gabe zur Einfühlung in dasselbe und zu dessen voller Vergegenwärtigung, die allgemeinen Züge und Bedingungen aufzudecken verstanden, unter dessen dieser oder jener Zweig des geistigen Lebens und der Geisteswissenschaften entstand. Er wies, ausgerüstet mit einem fast unbegrenzten Spürsinn und einem beinahe hellseherischen Ahnungsvermögen, bis dahin noch nicht wahrgenommene geistige Zusammenhänge nach, die den einheitlichen Grund für das Leben und Leisten ganzer Kulturperioden bilden, und die hinter den ins offene Licht der Geschichte tretenden Erscheinungen wirksam sind. Er hat in meisterhaften, oft ergreifenden Schilderungen die psychologische Struktur zahlreicher großer historischer Persönlichkeiten aus dem Gebiete der Geisteswissenschaften gezeichnet - erinnert sei etwa an die Darstellung MELANCHTHONs, FRANCKs, SCHLEIERMACHERs, W. v. HUMBOLDTs, RANKEs, TOCQUEVILLEs, CARLYLEs usw.; er hat gezeigt, wie mit Notwendigkeit aus einer solchen und solchen eigentümlichen seelischen Verfassung eine solche und solche eigentümliche Behandlung der Geisteswissenschaften hervorgehen mußte. Als Historiker gehört er selber zu den großen Erscheinungen der Geisteswissenschaften; es ist nicht zu viel gesagt, wenn man ihn ein Genie der Geschichtsschreibung nennt. Doch die Logik und Erkenntnistheorie der Geisteswissenschaften haben durch ihn keine prinzipielle Förderung erfahren; die wiederholt von ihm angekündigte Methodologie der Geisteswissenschaften ist er schuldig geblieben, sie mußte er schuldig bleiben. Nur  das  Verdienst, muß ihm zugewiesen werden, daß er einer der Ersten war, der überhaupt die Forderung nach einer Grundlegung der Geisteswissenschaften aussprach, allerdings zugleich dabei betonend, daß eine solche Grundlegung prinzipiell sowohl in ihrer allgemeinen methodologischen Fassung als auch in der besonderen Weise ihrer Begründung auf besondere geisteswissenschaftliche Kategorien von derjenigen der Naturwissenschaften abweiche. (47)

Deshalb erkannte er die kritische Logik KANTs nur als bündig und gültig für die mathematischen Naturwissenschaften an, wenngleich er auch, allerdings nur gelegentlich, darauf hinwies, daß sie selbst für diese Wissenschaften nur in gewissem Sinne eine begründende Gültigkeit besitze. Was ihn zu einem Gegner der Transzendentalphilosophie machte, zwar zu einem äußerlich gelinden und zurückhaltenden, aber prinzipiell entschiedenen, das war sein Kampf gegen den Begriff des Apriori, wie er diesen verstand. In diesem Begriff erblickte er eine starre, ein Mal für alle Mal unveränderlich festgelegte Form der Erkenntnis. Deshalb galt ihm dieser Begriff als Ausdruck eines Standpunktes, der durch die Entwicklungsgeschichtliche Betrachtung und durch die "Kritik der historischen Vernunft" abgelöst, ja überwunden sei. Eine solche Kritik als Ergänzung oder Ersatz für die Kritik der reinen Vernunft zu geben, war sein Ziel. Ihr galten alle seine Forschungen. Was er jedoch tatsächlich leistete, war keine Kritik, keine transzendentallogische Grundlegung der historischen Vernunft, sondern es war ein genialer Ansatz zu einer Psychologie der Geisteswissenschaften und bestimmter hervorragender Vertreter derselben und ferner eine weitgefaßte Skizze des historischen Ganges und Aufbaues dieser Wissenschaften.

Wo er bei dieser psychologisch-geschichtlichen Analyse auf das Leben stieß als auf ein Letztes und Ursprüngliches, das sich der weiteren Zergliederung und Bestimmung entzog, da glaube er auch, auf ein prinzipiell Letztes, auf ein wissenschaftstheoretisches Grundelement, auf einen kategorial gültigen Grundwert der Erkenntnis zu stoßen. Der kritischen Philosophie im Sinne KANTs hingegen ist das Leben weder ein Letztes, noch ein Erstes; für dieselbe ist es überhaupt nicht, jedenfalls nicht anders, denn als ein Problem. Indem es aber unter den Gesichtspunkt des Problems gerückt wird, wird es unter den begrifflichen, den logischen Gesichtspunkt gerückt, es büßt seine psychologische Ursprünglichkeit ein; es wird aus einer angeblichen Grundtatsache ein der logischen Bestimmung bedürftiges und so das System der Logik bereits voraussetzendes X.
LITERATUR, Arthur Liebert, Das Problem der Geltung, Berlin 1914
    Anmerkungen
  1. Ein lehrreiches und nachahmenswertes Beispiel dieser Art, Philosophiegeschichte zu treiben, bietet BRUNO BAUCH, Das Substanzproblem in der griechischen Philosophie bis zur Blütezeit, 1910. Vgl. auch den trefflichen Aufsatz von NIKOLAI HARTMANN, Zur Methode der Philosophiegeschichte, Kantstudien XV, 1910, Heft 4, S. 459 ff. bes. S. 470, 477; ferner WILHELM LOEW, Das Grundproblem der Ethik Schleiermachers in seiner Beziehung zu Kants Ethik. Kantstudien Bd. XIX, Ergänzungsheft 31 Seite 1 ff. u. ö.
  2. Vgl z. B. JULIUS SCHULTZ, Das Verhältnis des "reinen" Kritizismus zum Phänomenalismus, Vierteljahresschrift f. wissenschaftl. Philosophie und Soziologie XXXV, Heft 4 Seite 484 ff., ferner DERSELBE, Über die Bedeutung von Vaihingers "Philosophie des Als Ob" für die Erkenntnistheorie der Gegenwart. Kantstudien XVII, 1912 Heft 1 - 2 S. 85 ff.
  3. DILTHEY, Studien zur Grundlegung der Geisteswissenschaften, Sitzungsber. der Kgl. Preuß. Akad. d. W. 1905 XIV, Seite 12
  4. Zur Literatur über den Pragmatismus vgl. außer den Werken von JAMES, DEWEY und SCHILLER noch GÜNTHER JACOBI: Der Pragmatismus, 1909; TH. LORENZ, das Verhältnis des Pragmatismus zu Kant, Kantstudien XIV, 1909, Heft 1; W. SWITALSKI, Der Wahrheitsbegriff des Pragmatismus nach William James, 1910, gibt neben trefflicher Kritik auch sorgfältig Literatur an; M. FRISCHEISEN-KÖHLER, Wissenschaft und Wirklichkeit, Seite 346 ff., EMILE BOUTROUX, William James, autoris. deutsche Ausgabe von BRUNO JORDAN, 1912; PAUL CARUS, Truth on Trial, 1911. Eine umsichtige Darstellung und Kritik bietet auch WERNER BLOCH, Der Pragmatismus von James und Schiller, 1913, der auch weitere Literatur anführt.
  5. Vgl. LORENZ, Kantstudien Seite 24
  6. Vgl. BOUTROUX-JORDAN, Seite 88f
  7. Vgl. FRISCHEISEN-KÖHLER, Wissenschaft und Wirklichkeit, 1912, Seite 346, und BAUCH, Die Diskussion eines modernen Problems in der antiken Philosophie, Logos Bd. V, 1914. So kann man auch vom Pragmatismus nicht behaupten, er sei Ausdruck und Anwendung eines spezifisch-modernen Gesichtspunktes, wie VAIHINGER angibt, Seite 191 u. a. a. O. Ihn haben nicht nur die Sophisten Griechenlands, sondern die Sensualisten und Empiristen aller Zeiten vertreten. FRANCIS BACON und die Wortführer der englischen und französischen Aufklärung sind deutliche Beispiele dafür.
  8. HANS VAIHINGER, Die Philosophie des Als Ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus, Berlin 1911, 2. Aufl. 1913.
  9. Daß sich VAIHINGER gelegentlich gegen die amerikanische Form des Pragmatismus wendet und seine Abweichung von diesem Standpunkt betont, können wir hier außer Betracht lassen. Denn in prinzipieller Hinsicht stimmt er doch mit jener amerikanischen Form durchaus überein.
  10. VAIHINGER, Vorwort Seite VII u. ö.
  11. VAIHINGER, Seite 469 u. a. a. O.
  12. VAIHINGER, a. a. O. Seite 115
  13. VAIHINGER, a. a. O. Seite 185
  14. VAIHINGER, a. a. O. Seite 65
  15. VAIHINGER, a. a. O. Seite 19
  16. VAIHINGER, a. a. O. Seite 7
  17. VAIHINGER, a. a. O. Seite 5
  18. VAIHINGER, a. a. O. Seite 93
  19. VAIHINGER, a. a. O. Seite 142
  20. VAIHINGER, a. a. O. Seite 142
  21. VAIHINGER, a. a. O. Seite 59 f
  22. VAIHINGER, a. a. O. Seite 325
  23. VAIHINGER, a. a. O. Seite 314
  24. VAIHINGER, a. a. O. Seite 379 f
  25. VAIHINGER, a. a. O. Seite 327
  26. VAIHINGER, a. a. O. Seite 183
  27. VAIHINGER, a. a. O. Seite 183
  28. VAIHINGER, a. a. O. Seite 183
  29. VAIHINGER nennt selber einmal diejenigen Momente und Richtungen, die für die Grundlegung und Durchführung seiner Gedanken maßgebend gewesen seien. Er nennt den  Voluntarismus,  den  Biologismus,  die Philosophie NIETZSCHES und den  Pragmatismus,  zu denen seine Philosophie tief innerlichste Beziehungen habe. Methodisch gesehen liegen diese vier Standpunkte auf ein und derselben Linie, sind sie alle demselben Motiv und Gesichtspunkt der Untersuchung entsprungen, der biologistisch-psychologistischen Betrachtungsweise. - Die biologistisch-psychologistische Einstellung NIETZSCHES, wohl des geistvollsten aller Pragmatisten, ist zugleich mit kritischen Zusätzen herausgearbeitet in dem schönen Buche von RAOUL RICHTER, Friedrich Nietzsche, Sein Leben und sein Werk, 1903, Seite 160 ff., 275 ff. u. ö. In den "Vorbemerkungen zur Einführung" in die vor kurzem erschienene zweite Auflage der Philosophie des Als Ob formuliert VAIHINGER auf S. X: "Das Wertvollste des kritischen Pragmatismus, das besonders von SCHILLER-OXFORD weitergebildet ist, liegt in dem Kampf gegen einen einseitigen Intellektualismus und Rationalismus, der das logische Denken von seinem Mutterboden loslöst und diesem isolierten Denken allein Wert und Wahrheit zuschreibt." - Gerade im Hinblick auf VAIHINGERS Versuch einer biologistischen Begründung der Erkenntnis möchte ich u. a. auf die Kritik hinweisen, die BAUCH, Studien S. 240 ff. an dem Unternehmen ERNST MACHS übt, die Biologie zur philosophischen Grunddisziplin zu machen und alle Kategorien, wie Kausalität, Substanzialität usw., als Resultate biologisch-denkökonomischer Funktionen aufzufassen. Dieser Hinweis dürfte auch darum hier am Platze sein, weil VAIHINGER selber den Positivismus MACHS zu denjenigen Standpunkten zählt, auf die er sich bei seiner Philosophie des Als Ob stützt, und die er zu ihrer Begründung heranzieht. In gleicher Weise wie BAUCH erheben durchschlagende kritische Einwände gegen MACHS positivistischen Grundlgegungsversuch und damit gegen allen Positivismus, Biologismus und Pragmatismus u. a. R. HÖNIGSWALD, Zur Kritik der MACH'schen Philosophie. Eine erkenntnistheoretische Studie, 1903 und HERBERT BUZELLO, Kritische Untersuchung von Ernst Mach's Erkenntnistheorie, Kantstudien 1911, Ergänzungsheft 23
  30. VAIHINGER, a. a. O. Seite 501 f
  31. Eine erste umfassendere monographische Studie über Dilthey jetzt von ARTHUR STEIN, Der Begriff des Geistes bei Dilthey, Bern 1913
  32. Der Grundstellung DILTHEYs steht nahe MAX FRISCHEISEN-KOEHLER, Wissenschaft und Wirklichkeit, 1912. Hier werden die von DILTHEY fast nur in fragmentarischer Gestalt entwickelten Ideen in eindrucksvoller Weise zu einem Ganzen abgerundet, auch wird die von DILTHEY vermiedene kritische Auseinandersetzung mit dem reinen, logischen Idealismus, wie ihn die Marburger Schule vertritt, geboten (vgl. ebenda Seite 60 ff.). Der leitende Gedanke des Werkes von FRISCHEISEN-KOEHLER ist, "die Bedeutung der Erlebnisse für die philosophischen Grundlagen der Natur- und Geisteswissenschaften darzutun und den Zusammenhang von Wissenschaft und Leben, den keine Abstraktion aufzuheben vermag, aufzuweisen" (Vorwort III). "Und aus dieser lebendigen Erfahrung, die vor allem Denken Bestimmtheit besitzt, wenn auch das Denken sie erst wissenschaftlich fruchtbar machen kann, sind die Gesichtspunkte abzuleiten, welche in der wissenschaftlichen Natur- und Lebensbetrachtung fortwirken, indem sie ihnen Richtung und Gehalt verleihen" (Vorwort Seite V). Eine Zusammenfassung der ausführlichen Darlegungen seines Werkes gibt der Verfasser in: "Das Problem der Realität", Philosophische Vorträge, Philosophische Vorträge, veröffentlicht von der Kantgesellschaft, Vortrag 1 - 2, 1912
  33. DILTHEY, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften; 1910, S. 67. Der betreffende Satz von mir gesperrt; vgl. auch RUDOLF EISLER, Der Zweck, 1914, Seite 148 f
  34. Vgl. M. FRISCHEISEN-KOEHLER, Wilhelm Dilthey als Philosoph, Logos Bd. III, 1912, Heft 1, Seite 29 ff.; derselbe, Wilhelm Dilthey, Kantstudien XVII, 1912, Heft 1 - 2, Seite 161 ff
  35. Vgl. FRISCHEISEN-KOEHLER, Logos, Seite 51
  36. DILTHEY, Der Aufbau usw. S. 44, Seite 94 u. ö.
  37. DILTHEY, Studien zur Grundlegung der Geisteswissenschaften, 1905, Seite 12, Anmerkung
  38. DILTHEY, Der Aufbau usw., Seite 46
  39. ebenda, Seite 46
  40. ebenda, Seite 46
  41. ebenda, Seite 47 f
  42. DILTHEY, Beiträge zur Lösung der Frage vom Ursprung unseres Glaubens an die Realität der Außenwelt und seinem Recht. Sitzungsberichte der Kgl. Preuß. Akademie der Wissenschaften XXXIX, 1890, Seite 977 ff
  43. DILTHEY, Der Aufbau usw., Seite 85. Die betreffenden Worte von mir gesperrt.
  44. So FRISCHEISEN-KOEHLER, Kantstudien XVII, 1912, Heft 1/2, Seite 167
  45. Vgl. auch die mit dieser Kritik übereinstimmenden Einwände  gegen  DILTHEY von F. MÜNCH, Das Problem der Geschichtsphilosophie, Kantstudien XVII, 1912, Seite 376 f
  46. Vgl. den soeben erschienenen 2. Band seiner "Gesammelten Schriften", Teubner, Leipzig, 1914
  47. DILTHEY, Einleitung in die Geisteswissenschaften, I. Band, 1883