cr-4ra-1CondillacCondillac    
 
CARL GRUBE
Etienne Bonnot de Condillac
(1715-1780)
[ 5/8 ]

Das Rechnen ist Denken und das Denken ist Rechnen.

§ 17. CONDILLAC hält den Ursprung der Sprache zugleich für den Ursprung des Denkens; ersterer beruht auf dem Umstande, daß die Menschen anfangs unwillkürlich Schreie der Leidenschaft ausstießen und mit Gesten begleiteten, dann allmählich Schreie und Gesten willkürlich brauchten und vermehrten. Die Gebärden mußten älter sein als die Vorstellungen, weil ohne solche Zeichen eine Analyse der Gedanken unmöglich war, dann aber konnte man willkürlich weitere Zeichen bilden nach Analogie der bestehenden und darum leicht verständlich.

Ebenso ging es mit der Lautsprache, welche anfangs nur durch die begleitenden Gebärden verständlich sich allmählich entwickelte; anfangs bestand sie nur aus Wörtern für konkrete Dinge: Wasser, Baum, u.a. und so lange man nur von konkreten Dingen sprach, war die Sprache eine exakte Methode der Verständigung. Als man aber weiter ging, ohne genau zu analysieren, um der Wißbegier und vermeintlichen Bedürfnissen nachzukommen, wurde die Sprache fehlerhaft und unexakt; jetzt bildete man Adjektive, Verben und abstrakte Substantive; doch selbst die abstraktesten Namen leitete man von den ersten Namen der einfachen Sinnesdinge ab.

Wenn man neue Gegenstände bemerkte, so suchte man, was sie mit bereits bekannten Gegenständen gemeinsam hätten, stellte sie zu ähnlichen in dieselbe Klasse und bezeichnete sie mit demselben Namen. So wurden die Zeichen allgemein. Für die Einteilung in Klassen dachte man sich nicht neue Namen aus, sondern erweiterte nach Bedürfnis die Bedeutung einiger Namen. Denn naturgemäß wird ein Wort das Zeichen einer Idee, wenn diese Idee derjenigen, welche das Wort ursprünglich bezeichnet, ähnlich ist.

So entstanden die Klassen und Gattungsnamen. Andererseits vereinigte man mehrere einfache Ideen unter einem Namen, sei es nach Vorbildern in der Außenwelt, sei es ohne dieselben. So bildete man nach Vorbildern die Substanzbegriffe, z.B. "Gold"; man gewöhnte sich mit diesem Namen die zahlreichen Eigenschaften dieses Stoffes: Ausdehnung, Härte, Glanz u.a. zu verknüpfen. Wenn man nur später an den Begriff Gold denkt, so bemerkt man nur den Laut "Gold" und erinnert sich mit ihm eine Zahl einfacher Vorstellungen verknüpft zu haben, welche man sich beliebig nacheinander hervorrufen kann.

Die Wörter nehmen so in unserm Geiste dieselbe Stelle ein, wie die Gegenstände draußen. Wie die Eigenschaften der Dinge nicht koexistieren würden ohne Subjekte, in denen sie vereinigt sind, so würden ihre Vorstellungen in unserm Geiste nicht koexistieren ohne die Zeichen, mit denen sie sich vereinigen.

Noch wichtiger sind die Zeichen bei komplexen Ideen, die ohne Vorbilder gebildet sind; wir vereinen Ideen, welche wir nirgends vereinigt finden, wie z.B. bei den Moralbegriffen welche durch willkürliche Zusammensetzung und Trennung einfacher Ideen nach dem Bilde, das sich unsere Phantasie gemacht hat, gebildet sind. Hier muß man die einfachen Ideen zusammenfassen, um überhaupt über Vorstellungen nachdenken zu können; und unsere Begriffe sind nur insoweit genau, als wir mit Absicht die Zeichen erfunden haben, die sie fixieren müssen.

Der Hauptwert der Namen beruht daher überhaupt auf ihrer Funktion als Zeichen beim einsamen Denken; sie verschaffen uns Gedächtnis, sie vertreten abstrakte Vorstellungen. Sobald der Mensch beginnt Ideen mit selbstgewählten Zeichen zu verknüpfen, so bildet er sich ein Gedächtnis; denn nur durch die Zeichen, mit welchen die Vorstellungen einzeln verknüpft sind, verbinden sich dieselben auch untereinander. Dadurch wird das Gedächtnis möglich, d.h. die Fähigkeit, die Zeichen unserer Ideen oder die begleitenden Umstände derselben zurückzurufen.

Ist so das Gedächtnis erworben, so ist der Mensch von der Abhängigkeit von den einwirkenden Dingen, in welcher er sich vorher befand, befreit; jetzt verfügt er selbst über seine Vorstellungskraft: mit Hilfe der Zeichen, die er jetzt nach Belieben zurückrufen kann, erweckt er wieder die damit verknüpften Vorstellungen. Wenn man sich einer Sache erinnert, so denkt man zuerst an ihren Namen, dann an ihre Eigenschaften. Man kann also die Vorstellungskraft und das Gedächtnis nicht besser üben, als durch Beschäftigung mit Gegenständen, welche eine größere Zahl von Zeichen und Vorstellungen verknüpfen.

Ferner ersetzen die Namen allgemeine Vorstellungen oder abstrakte Ideen, denn diese sind im Grunde nur Namen. Wenn man z.B. von den Fingern oder anderen Gegenständen, deren man sich beim Rechnen bedient, oder wenn man von den Namen, welche nur Zeichen beim Sprechen sind, absieht, so wird man vergebens etwas Übrigbleibendes im Geiste suchen. Wenn man zählen lernt, so werden die Zahlen durch die Finger vertreten, später durch andere Objekte; je nachdem ich sie vorstelle, gebe ich ihnen verschiedene Namen: "ein, zwei, drei u.a."; "ein" ist ein Wort, das ich mir gewählt habe, um einen Finger zu bezeichnen, "zwei" für "einen und einen Finger" usw. Also ist bei den allgemeinen Namen "ein, zwei, drei" das Wesentliche nur der Name; somit gibt es nur Namen in den abstrakten Ideen.

Alle Allgemeinnamen sind für die Menschen sehr wichtig, weil sie wegen der Beschränktheit unseres Geistes nötig sind. Wenn die Menschen von Dingen, wie sie sich unterscheiden oder gleichen, reden müssen, so können wir das nur, indem sie mit Hilfe von Zeichen viele Vorstellungen zusammennehmen und als eine einzige Vorstellung betrachten. Daher beziehen sie die Dinge auf Klassen, deren jeder sie ein Zeichen geben, und indem sie dieselben diesen Zeichen, den Allgemeinnamen unterordnen, bringen sie Ordnung in ihre Gedanken. Es wäre uns unmöglich, über Metaphysik und Moral nachzudenken ohne Zeichen, um die Vorstellungen zu fixieren, neue Sammlungen von Vorstellungen zu bilden und andere unterzuordnen.

Wenn also die allgemeinen Vorstellungen eigentlichnur Zeichen sind, so leuchtet ein, daß die metaphysischen Überlegungen mechanische Operationen wie die Rechnungen des Mathematikers sind. Ich fühle, daß, wenn ich denke, die Wörter für mich das sind, was für den rechnenden Mathematiker die Ziffern und Buchstaben, und daß ich den mechanischen Regeln des Denkens und Sprechens unterworfen bin.

Beim Rechnen operieren wir mit Zahlnamen oder Ziffern als Zeichen; am Ende der Operationen haben wir dasselbe Ergebnis, als wenn wir mit Vorstellungen operiert hätten. Ebenso ist es beim Denken mit Namen, den Zeichen der Vorstellungen; dabei ist das Gedächtnis nötig, um die Zeichen, eines nach dem anderen, in Erinnerung zu bringen. Rechnen und Überlegen ist also dasselbe. Man kann mit Ausdrücken der gewöhnlichen Sprache alle mathematischen Wahrheiten beweisen und umgekehrt auf mathematische Weise, die Wörter wie die Zahlen der Mathematik brauchend von einem identischen Satze zum andern fortschreitend durch eine Reihe von Umformungen alle Entdeckungen, die man in allen Wissenschaften gemacht hat oder machen kann auffinden.

Genau wie es bei der mathematischen Analyse zwei Schritt gibt: erst denkt man über die Verbindungen des betreffenden Gegenstandes nach, dann geht man von einer Gleichung zur anderen bis zu der gesuchten Analyse; ebenso geht es bei metaphysischen Untersuchungen: erst stellt man den Zustand einer Frage, d.h. ihre Bedingungen fest, dann geht man von einem identischen Satze zum anderen fort, denn jeder wahre Satz ist ein identischer.

So sind also mathematische und metaphysische Analyse ein und dieselbe Sache; nur ist letztere darum schwerer, weil uns bei allen anderen als den Zahlbegriffen durch die Natur unserer Vorstellungen oder vielmehr unserer Sprache nur schlecht bestimmte Begriffe gegeben und darum keine sicheren Regeln für Analyse und Synthese der Vorstellungen vorhanden sind.

§ 18. Während CONDILLAC nach seinem eigenen Eingeständnis und dem Zeugnis seiner Lehre sonst sehr viel von LOCKE, den er hoch bewundert, beeinflußt ist, rühmt er sich in einem Punkte LOCKE übertroffen zu haben; derselbe habe in seinem Werke einiges unvollkommen gelassen, weil er nicht ide ersten Schritte unserer Seelenvorgänge enthüllt habe. Dies glaubt CONDILLAC getan zu haben, indem er die Notwendigkeit der Zeichen für das menschliche Denken darlegte; er meint nun, die ungeheure Bedeutung der Zeichen sei daraus abzuleiten, daß sie erstens älter seien als die Vorstellungen, zweitens, daß nur durch die Zeichen Vorstellungen sich untereinander verbänden und so das Gedächtnis entstehe, drittens, daß die allgemeinen Vorstellungen nur Namen seien, und endlich, daß alles Denken nur ein mechanisches Operieren mit Zeichen wie das Rechnen sei.

Was zunächst den Ursprung der Zeichen anbetrifft, so hat CONDILLAC sehr richtig erkannt, daß die Gebärdensprache jedenfalls anfangs neben der Lautsprache stand, und daß ferner viele zunächst unwillkürlichen Bewegungen und Laute bald willkürlich gebraucht zur Verständigung dienten. Diese Ansicht können wir getrost billigen; denn wir finden noch heute, daß nicht nur bei den Ungebildeten und bei den lebhafteren mVölkern wirklich die Gebärdensprache neben der Lautsprache sehr wesentlich zur Verständigung dient.

Auch der Übergang von unwillkürlichen Ausdrücken zu willkürlichen Zeichen müssen wir jedenfalls annehmen, weil das eben das leichteste Verständigungsmittel war, daß man unwillkürliche Ausdrücke, welche bei vielen Menschen gleich vorkamen und darum denselben bekannt waren, willkürlich verwandte zur Bezeichnung desselben geistigen Vorganges, welchem sonst der Ausdruck unwillkürlich folgte.

Doch CONDILLAC geht weiter und behauptet, diese Zeichen, d.h. Gebärden und Laute, seien älter als die Vorstellungen, weil sonst, d.h. ohne Besitz von Zeichen, eine Analyse der Gedanken nicht möglich gewesen wäre. Um diese Ansicht zu begründen, müßte CONDILLAC nachweisen, erstens, daß eine Analyse der Gedanken nur durch die Zeichen möglich sei, und zweitens, daß überhaupt schon zu Beginn des Denkens und Sprechens stets eine Analyse hätte geschehen müssen. Keins von beiden beweist CONDILLAC.

Uns scheint vielmehr das Natürliche zu sein, daß der Geist früher im stande war zu unterscheiden, bevor er Zeichen für die erst infolge der Analyse getrennten Wahrnehmungs- resp. Vorstellungsteile besitzen konnte. Dagegen ist allerding für unser modernes Denken zuzugeben, daß wie besonders dei Kinder durch die überlieferte Sprache auf manche Analyse und Abstraktion hingelenkt werden, so auch die Erwachsenen den sprachlichen Zeichen größere Klarheit und Stetigkeit der geistigen Unterscheidungen verdanken.

Doch nicht nur eine Analyse ohne Zeichen war anfänglich möglich, sondern überhaupt ein Denken und Sprechen ohne Analyse, d.h. ohne Zerlegung eines ganzen Vorstellungsinhaltes nach logischen Gesichtspunkten, z.B. Subjekt, Prädikat usw. Bedienenn sich doch noch jetzt ungebildete Leute häufig, selbst die gebildete Sprache bisweilen einzeln ausgestoßener Wörter, welche durch die umgebenden Umstände oder aus gewohnter Verbindung mit gewissen Assoziationen einen vollständigen Satz vertreten können. So müssen wir in viel höherem Grade für die ältesten Zeiten Mitteilungen annehmen, welch ohne Analyse entstanden, halb unbewußt von Gewohnheit und Umgebung bestimmt wurden.

Denn es ist anzunehmen, daß erst allmählich jedes Ding und jede Eigenschaft benannt wurde. Besaß man einmal für alle Einzelheiten der Vorstellungen Namen, so war allerdings eine Analyse der Gedanken vor dem Sprechen nötig. Aber die vergleichende Sprachwissenschaft lehrt, daß die ältesten Wurzeln allgemeine Bedeutung besaßen, d.h. abstrakte Qualitäten, keine Einzeldinge bezeichneten, und es scheint glaublich, daß die ersten Wörter nur ganz allgemeine Beziehungen ausdrückten und wenige Worte und Gebärden so viel besagten, wie bei uns ganze Sätze.

Also vermögen wir CONDILLACs Begründung der Priorität der Zeichen vor den Vorstellungen nicht ganz zu billigen.

Aber was heißt überhaupt der Satz: "die Zeichen sind älter als die Vorstellungen". Freilich damit man Zeichen willkürlich verwenden konnte, mußten sie als unwillkürliche Ausdrücke da sein; aber CONDILLAC tut Unrecht darum von einer Priorität der Zeichen zu reden, denn diese unwillkürlichen Laute und Gebärden waren doch erst willkürliche Zeichen, sobald man ihnen eine Bedeutung beilegte.

Weiter sagt CONDILLAC von diesen Zeichen, sie seien anfangs unwillkürlich gewesen; wir billigten das, doch tun wir gut, und das Wesen dieser unwillkürlichen Zeichen noch klarer zu machen. Gewisse Ausdrücke waren unwillkürliche, weil sie gewisse Empfindungen und Vorstellungen unmittelbar begleiteten als unbeabsichtigte, äußere Folgen der inneren Zustände. Diese Koexistenz beider, des inneren und des äußeren Vorganges, mußte von den einzelnen Menschen an sich und bald von mehreren gleichzeitig bemerkt werden; es mußte sich daher in den einzelnen Menschen sowie auch in mehreren mit der Vorstellung der Empfindung auch die Vorstellung des Ausdrucks eng verknüpfen.

Geschah nun wirklich der Schritt, welcher den wahren Ursprung der Sprache bezeichnet, brauchte man das äußere Zeichen willkürlich, um einen inneren Vorgang zu bezeichnen, so wurde man hierzu veranlaßt durch die bewußte Absicht, jene Vorstellung, die man selbst hatte, und deren Verknüpfung mit demselben Ausdruck man auch am Nebenmenschen beobachtet hatte, ebenfalls im Nebenmenschen hervorzurufen. Soweit war doch in diesem Falle die Vorstellung eher da als das Zeichen.

Ja selbst wenn man zugeben wollte, daß die Menschen, schon ehe sie sich etwas mitteilten, im eigenen Denken mit jenen Zeichen operierten, so hatten doch auch da die Zeichen ihren Wert aus der Beobachtung, daß sie stets und eng mit gewissen Empfindungen und Vorstellungen verknüpft seien, gewonnen.

§ 19. Zweitens behauptet CONDILLAC, daß die Zeichen das Mittel bilden, die Vorstellung untereinander zu verknüpfen und so das Gedächtnis schaffen, wie CONDILLAC, auch hierin HOBBES Ansichten weiterführend, glaubt. Dem gegenüber kann es jedoch als eine ausgemachte Tatsache der modernen Psychologie gelten, daß unsere Vorstellungen sich nach den verschiedenartigsten Beziehungen untereinander verknüpfen, und daß unter ähnlichen Umständen auch ähnliche Vorstellungen wiederkehren.

Man überlasse sich nur einmal dem Strom der Erinnerungen: wie viele Bilder und Erlebnisse treten nacheinander hervor, bald durch inhaltliche Beziehungen unseres eigenen Ich zu ihnen verknüpft, so daß es oft schwer fällt die Ursache der Assoziation aufzufinden! In noch höherem Maße erleben wir dies im Traume und sehen es im höchsten Grade bei Irren, welche an einer unaufhörlich wechselnden, unaufhaltsam dahinjagenden Ideeflucht leiden.

Sicherlich werden auch im Namen bisweilen verknüpfende Beziehungen bilden; daß sie jedoch allein dazu dienten, ist weit übertrieben. Anders steht es wohl mit dne von manchen Philosophen so genannten apperzeptiven Verbindungen von Vorstellungen, d.h. Verbindungen, welche man absichtlich beim aufmerksamen Denken herstellt; hier leistet der Name große Dienste.

Freilich muß man sich auch hier bei der Rückerinnerung dem Gange der Assoziationen überlassen, aber indem man durch das Festhalten des Namens auch die flüchtige Vorstellung länger festhält und ihre Teile betrachtet, vermag man mannigfache Assoziationszüge hervorzurufen, und indem man unter diesen die gerade passenden auswählt und weiter verfolgt, den Gang des Denkens zu bestimmen. Aber in keinem Falle glauben wir den Namen als die einzige Ursache der Verbindung und des Wiederauftauchens der Vorstellungen ansehen zu müssen.

§ 20. Auch hier müssen wir ähnlich wie bei HOBBES annehmen, daß CONDILLAC durch seine Ansicht von der Natur der Allgemeinnamen zu der eben besprochenen weitergehenden Behauptung hingeführt worden ist, denn CONDILLAC bemerkt ausdrücklich, daß wie in der Außenwelt der Gegenstand in sich die von uns wahrgenommenen Eigenschaften vereine, so im Geiste das Wort viele einfache Ideen zusammenfasse; darum gelten ihm die abstrakten Ideen nur für Namen, nicht als ob wirklich nur Namen bei ihnen vorgestellt werden könnten, sondern weil der Name allein das Allgemeine sei, welches viele einfache Ideen umfasse, teils nach dem Vorbilde der Natur, teils nach Willkür der Menschen.

Wenn wirklich die Substanz Gold zu irgend einer Zeit der Benennung direkt gegeben war, so sind doch auch Begriffe wie "Tugend, moralisch" von Vorgängen, welche wir wahrnahmen und in welchen wir die betreffenden Ideenkomplexe vereint fanden, abstrahiert. So behauptet MARTY (1) mit Recht, daß es Begriffe, welche überhaupt nie in einer konkreten Vorstellung angeschaut werden könnten, nirgends gäbe. Und wenn endlich zur richtigen Bestimmung der Begriffe: "moralisch, Tugend" viele Erfahrungen nötig waren, so doch auch zur Erkenntnis des Gegenstandes "Gold" und seiner Eigenschaften viele Untersuchungen. Aber abgesehen von der Teilung der Begriffe ist es auch nicht ganz richtig, daß wir uns bei den Worten "Gold, Tugend" nur mehrerer einfacher Ideen, d.h. Eigenschaften bewußt wären und nicht vielmehr eines gewissen Ganzen.

Unter einfachen Ideen versteht nämlich CONDILLAC nicht Einzelvorstellungen von einzelnen Dingen, sondern Vorstellungen einzelner Eigenschaften, welche man durch einzelne Wörter bezeichnet. Aber die innere Wahrnehmung lehrt uns, daß die Vorstellungen solcher einzelner Eigenschaften im Bewußtsein nicht durch das Wort zusammengefaßt werden, sondern durch das vorgestellte Bild, sei es des Gegenstandes, sei es einer Handlung; erst weil man die ganze Vorstellung des Gegenstandes oder der Handlung als Ganzes benannt hat, trifft der Name die einzelnen Eigenschaften derselben ebenfalls.

Freilich empfindet man nur Eigenschaften und stellt auch nur solche vor; darin hat CONDILLAC ja unbedingt recht, aber das Wesentliche beim Begriffe ist nicht, daß viele einzelne Eigenschaften vorgestellt werden, sondern daß sie als gleichzeitig in demselben Gegenstande oder derselben Handlung vorhanden vorgestellt werden. Es erfolgt daher die Verknüpfung jener einfachen Ideen nicht vermittels eines äußerlichen Zusammenfassens durch ein Wort, sondern durch die ein Bild vorstellende Tätigkeit unseres Geistes.

Ohne Zweifel fördern aber die Namen diese vorstellende Tätigkeit sehr; denn da die Namen meistens gebraucht werden bei einem gleichzeitigen Vorhandensein wesentlicher Merkmale, so assoziieren sie sich in der Vorstellung auf das Engste mit denselben und erleichtern dadurch die Aufgabe der vorstellenden Tätigkeit, in der bei einem Allgemeinnamen auftauchenden Einzelvorstellung die wesentlichen Merkmale fast allein zu beachten. Dadurch wird die Festigkeit unserer Begriffe sehr gefördert. Die Benennung einiger wesentlicher Züge ganzer Vorstellungskomplexe, welche man nach einem Gesichtspunkte vereint hat, gestattet später eine Aussage über diese Komplexe, wenn man sich bei Nennung des Namens nur an einer Vorstellung die wesentlichen Züge hervortreten läßt.

Aber überall war erste eine vergleichende, verallgemeinernde Tätigkeit des Geistes nötig, ehe der Name die wesentlichen Züge wirklich bezeichnen konnte, und noch jedesmal muß in uns die vorstellende Tätigkeit ein Bild hervorbringen, ehe der Name die charakteristischen Züge desselben stärken kann.

§ 21. Die Gleichstellung des Denkens mit dem Rechnen, welche wir schon bei HOBBES und BERKELEY antrafen, hat CONDILLAC mit einer Konsequenz entwickelt, welche ihn noch über seine Vorgänger hinausführte. "Das Rechnen ist Denken und das Denken ist Rechnen", das ist die Devise CONDILLACs.

Daß das Rechnen eine gewisse Art des Denkens sei, und daß sich alle Rechenoperationen auch mit der gewöhnlichen Sprache vollziehen ließen, weist CONDILLAC ausführlich und mit vollem Rechte nach; aber die Frage ist vielmehr, ob wirklich das Denken mit den Wörtern, ebenso wie die Mathematik mit ihren Zeichen, mechanisch nach festen Regeln operieren kann und muß.

Auch darin hat CONDILLAC sicher noch recht, daß die Vorüberlegung beim metaphysischen Denken ähnlich sei wie beim Rechnen; stets stellt man vor weiteren Denkoperationen den Sinn einer Frage und ihre Bedingungen fest oder sollte es wenigstens tun, ebenso wie bei einer Rechnung; besser gesagt ist dieses Vorausüberdenken beide Male genau dasselbe.

Aber weiter! Damit man in der Arithmetik rechnen kann, ist nötig, daß die ganze Frage in ein System genau bestimmter Zeilen gebracht werde, und daß sodann in Gleichungen nach fester Methode verfahren und durch beständige Umformungen bis zur einfachsten Gestalt die Gleichung gelöst werden könne. Bei solchem Operieren verfahren wir mit den Zeichen, ohne uns jedesmal ihre volle Bedeutung vorzustellen. Dies ist darum möglich, weil die mathematischen Zeichen nur von Quantitätsverhältnissen gelten; und weil eben die algebraischen Wahrheiten vor allen Dingen wahr sind, brauchen die Zeichen im Geiste keine Ideen von besonderen Dingen anzuregen, wenn wir mit ihnen operieren.

Doch bleiben wir uns des Wertes der Zeichen im Allgemeinen bewußt und verfahren mit ihnen nach Regeln, welche von den Eigenschaften aller Größen abstrahiert sind. So beruht der Satz: "Gleiches zu Gleichem gibt Gleiches" doch gewiß nicht auf einer Eigenschaft der Zeichen als solcher, sondern auf einer Eigenschaft von Größen.

Aber wie weit ist das Denken entfernt in so exakten Zeichensystemen und schematischen Operationen vor sich zu gehen! Freilich haben auch die Wörter ihre Bedeutung wie die Zeichen beim Rechnen heute willkürlich; je es ist den Wörtern eine gleichmäßigere Verwendung gesichert, weil wir ein für allemal ihre Bedeutung gelernt haben, während man zu Beginn der Rechnung dem Zeichen jedesmal seinen Wert beilegt.

Aber die Bedeutung der Wörter ist nicht gleichartig, wie diejenige der mathematischen Zeichen, welche alle nur Quantitätsverhältnisse bezeichnen; daher läßt sich nicht mit allen Wörtern beliebig nach Regeln der Quantitätsverhältnisse verfahren. Es ist vielmehr nur da ein mathematisches Denken möglich, wo - wie LAMBERT sagt - "die Natur der Gedankeninhalte es gestattet, die Theorie der Sachen auf die Theorie der Zeichen zurückzuführen.

Das war aber nur in der Mathematik möglich, welche jedoch zugleich zeigt, ein wie wohl ausgebildetes System von Zeichen und festen Regeln nötig ist, wenn ohne Schaden für die Richtigkeit des Urteils und Gedankenfortschrittes auf die adäquaten Vorstellungen verzichtet werden sollte.

Ferner vermag die Bedeutung der Wörter sich an Exaktheit keineswegs mit derjenigen, welche ein Zeichen jedesmal in der Rechnung hat, zu messen; die Bedeutung ist an und für sich schon schwankend und wird stets durch die umgebenden Wörter sowie durch den Zusammenhang des Satzes und des ganzen Satzgefüges beeinflußt. Haben doch manchen Wörter je nach dem Zusammenhange mehrere verschiedene Bedeutungen, eine Eigenschaft, auf welcher ja viele Witze beruhen; viele Wörter stehen bald in ursprünglicher, bald in übertragener Bedeutung und nur die augenblickliche Lage, der Satzzusammenhang und die Betonung lassen den beabsichtigten Sinn erkennen.

Freilich denkt CONDILLAC bei seinen hierher gehörigen Ausführungen wohl meistens an ein ideelle Sprache; aber von dieser gilt nicht minder wie von jeder vorhandenen Sprache, daß eine Verwendung der Wörter beim Denken ohne besondere Vorstellung ihrer Bedeutung oder vielleicht nur mit dem Bewußtsein, daß sie irgend etwas bedeuten oder gar nur mit der Lautvorstellung leicht zu großen Irrtümern führen muß, und in vielen Fällen, wo aus Bequemlichkeit oder aus Unkenntnis der genauen Bedeutung eine solches Denken stattfindet, - auch wirklich führt; daß aber eine solche Verwendung der Wörter bei allem strengeren und schwierigen Denken ganz unmöglich ist.

Daher betont MILL mit Recht gegenüber solchen Nominalisten, welche eine exakte Zeichensprache und mathematisches Operieren mit derselben für das Mittel zu den wichtigsten Entdeckungen erklärten, - daß man vielmehr beim Ersinnen einer neuen Sprache möglichst viele und starke Bedeutung in jedes Wort legen müsse.

Ferner weist MILL darauf hin, daß ein solches Schließen mit Zeichen, deren Bedeutung man nicht zugleich vorstelle, nur bei einem Teile unserer deduktiven Operationen nützlich sein könne, soweit eben diese sich auch bestimmte technische Regeln zurückführen ließen, daß wir dagegen bei unseren direkten Induktionen nicht für einen Augenblick ein klares, geistiges Bild der Phänomene entbehren könnten, weil sich die ganze Induktion um eine Wahrnehmung derjenigen Teile drehee, in welchen die betreffenden Phänomene übereinstimmten oder sich unterschieden.

So verlangt also das Denken ein ganz anderes Material als das Rechnen; es arbeitet aber auch in viel mannigfaltigeren Formen als die an schematische Operationen gebundene Mathematik; es geht immer neue Wege, für welche sich keine so festen Regeln wie für die Mathematik zeigen.

Freilich haben außer CONDILLAC auch neuere englische Philosophen eine schematische Regelmäßigkeit des Denkens zu erkennen geglaubt. HAMILTON stellt in seiner Lehre von der Quantifikation des Prädikats ganz ähnlich wie CONDILLAC jedes Urteil als einen Identitätssatz dar; denn nach HAMILTON wird das Prädikat stets mit einer bestimmten derjenigen des Subjekts gleichen Quantität gedacht, wenn auch die Sprache diese mitgedachte Quantität nicht angebe.

Aber das Urteil besteht keineswegs in einer Vergleichung des Umfanges zweier Begriffe. Wenn man sagt: "Der Mensch ist sterblich", so liegt diesem Urteile nicht ein Vergleich der Vorstellung "Mensch" mit der Vorstellung "sterbliches Wesen" in hinsicht der darunter fallenden Individuen zu grunde, sondern in der Vorstellung "Mensch" wird das abstrakte Merkmal "sterblich" als ihr zugehörig anerkannt; ich habe also nur die Vorstellung "Mensch" in mir, in welcher die Eigenschaft der Sterblichkeit besonders hervortritt.

Daher ist die Gleichstellung eines Urteils mit einer mathematischen Gleichung unzulässig. Und wenn auch BOOLE eine mathematische Analyse der Logik versucht und wirklich lange Denkoperationen mathematisch dargestellt hat, so hat schon STANLEY JEVONS mit Recht darauf hingewiesen, daß BOOLEs Logik nicht die Logik des gewöhnlichen Denkens sei, weil seine Symbole von den Beziehungen und Symbolen der Sprache durchaus verschieden seien.

Nicht durch vielfaches mechanisches Umformen desselben Satzes wird der wahre Fortschritt des Denkens erzielt, sondern durch den Lauf der mannigfaltigen Assoziationen, welche, ohne an feste Regeln gebunden zu sein, manches Neue zum Vorstellungsinhalt hinzubringen. Denn an die klare Vergegenwärtigung einer zu untersuchenden Frage, welche in der Mathematik ebenso wie in jeder andern Wissenschaft die Vorbedingung des gedanklichen Fortschrittes ist, schließt sich im Geiste ein Zuströmen von Assoziationen, als welchen wir die passenden auswählen und weiter verfolgen.

Hierbei treten früher gebildete, allgemeine Urteile oft sehr verkürzend auf und werden häufig, ohne wieder geprüft zu sein, zu weiteren Fortschritten benutzt. Der Lauf der Assoziationen ist ja nach dem vorstellenden Subjekte seinen Erfahrungen, Stimmungen und augenblicklichen Umgebungen sehr verschiedentlich bestimmt.

Daher ist das Resultat einer Gedankenreihe bisweilen nicht der Enderfolg einer langen, regelrechten Schlußkette, sondern oft durch irgendwelche Assoziationen schon weit früher und unvermittelt herbeigeführt und muss erst durch langsames, sicheres Nachdenken, welches bisweilen sogar vom Endpunkte nach dem Ausgangspunkte hin vorgeht, durch logisch bindende Zwischenglieder gefestigt und bestätigt werden.

Daher würde ein Versuch, wie manche Nominalisten ihn vorschlugen, die Sprache zu einem exakten Zeichensystem zu machen und mit demselben mathematisch zu operieren, nicht den Flug des Denkens fördern, sondern demselben völlig die Flügel lähmen.

LITERATUR - Carl Grube, Über den Nominalismus in der neueren englischen und französischen Philosophie, Halle 1889
    Anmerkungen
    1) MARTY polemisiert gegen WUNDT, welcher in seiner Logik in einen ganz ähnlichen Irrtum wie CONDILLAC verfallen ist; er erklärt nämlich, es gäbe Begriffe, denen überhaupt in keinem Sinne ein konkrete Vorstellung entsprechen könne, z.B. Sein, Nichtsein, Quantität, Ursache, Zweck, weil diesen nicht mehr einzelne Objekte, Eigenschaften und Handlungen, sondern nur allgemeine Beziehungen entsprächen, die wir zu den Gegenständen unseres Vorstellens hinzudenken. Aber die angeführten Begriffe besagen keineswegs nur Relationen, z.B. sind Sein und Quantität doch von realen Bestimmungen abstrahiert und in denselben so gut angeschaut wie Farbe, Ton, Quadrat, und zweitens beruhen die wirklichen Relationsbegriffe auf der Reflexion auf unsere eigene psychische Tätigkeit und werden in dieser vergleichenden und urteilenden Tätigkeit ebenfalls angeschaut.