cr-2 1. Einleitung2. EinleitungNeue DarstellungGrundrißDie WLKrug    
 
FRITZ MEDICUS
Die Wissenschaftslehre
in ihrer ersten Gestalt


"Der Satz  A = A  gilt nur darum, weil ein identisches  Ich  dahinter steht, das den notwendigen Zusammenhang behauptet, ein Ich, das nicht Willkür ist, sondern Notwendigkeit.  A = A:  der Satz gilt darum, weil der ursprünglichere Satz gilt: Ich = Ich. Wenn Ich = Ich nicht gölte, so würde auch der im Satz  wenn A  ist,  dann  ist  A  behauptete Zusammenhang nicht notwendig sein. Der Satz  A = A  setzt den Satz  Ich = Ich  voraus."

"Das Ich überzeugt sich dem Nicht-Ich gegenüber von sich selbst. So hat alles  Nicht-Ich  den Charakter der  Aufgabe:  das dem Ich Entgegengesetzte ist etwas, das überwunden werden soll. Und die Lösung der Aufgabe  muß  möglich sein: denn im Ich allein liegt Gehalt: das Nicht-Ich kann  keinen Gehalt  in sich haben."

"Was aller Wirklichkeit zugrunde liegt, ist die  causa finalis,  das absolute Ich, der Endzweck allen Daseins, der mit Freiheit ergriffen sein will. Man kann nicht sagen, daß dieser Endzweck eine Wirklichkeit wäre: die Realität zeigt nie mehr als das  Ringen  nach dem Wesenhaften, das unendliche Streben. Das Ziel dieses Strebens, das allen Gehalt in sich schließende absolute Ich ist mehr als Realität: es bedingt alle Realität, ohne den Endzweck gäbe es nichts Reales; denn Realität haben die Dinge nur in Abhängigkeit von einem letzten Zweck, sie sind nur dadurch da, daß sie zu einem Zweck da sind."

"Alle Individuen sind in der Einen großen Einheit des reinen Geistes eingeschlossen" (Sämtl. Werke I, Seite 416): mit diesem Wort hat FICHTE am Ende des ersten Semester seiner akademischen Tätigkeit - es war das Sommersemester 1794 - seine Vorlesung über die Wissenschaftslehre geschlossen. Er hat viel Eindruck mit diesem Kolleg gemacht. REINHOLD hatte es verstanden, philosophisches Interesse in Jena zu erwecken, und so war in dieser Beziehung gut vorgearbeitet. FICHTE durfte das Schwerste anbieten - es wurde mit freudigem Dank entgegengenommen. Aber freilich, man muß auch berücksichtigen,  wie  FICHTE lehrte, wenn man das Geheimnis seiner Lehrerfolgs verstehen will. Denn es ist etwas Geheimnisvolles, wie es möglich war, im höchsten Maße abstrakte Probleme, deren innere Verknüpfung sicherlich nur die allerwenigsten der Zuhörer verstehen konnten, jeden Wochentag früh von 6 - 7 Uhr ein ganzes Sommerhalbjahr hindurch vorzutragen und dabei ein zahlreiches Auditorium zusammenzuhalten. Der Schlüssel zu diesem Geheimnis liegt in FICHTEs  Persönlichkeit.  Auch wer von den Deduktionen gar nichts mehr verstand, der verstand doch noch immer, daß hier ein großer Mann redete, und daß es gewaltige Gedankengänge waren, die diesen Mann jetzt bewegten. Und wenn dann - was freilich nur selten eintrat, aber trotz dieser Seltenheit nicht zu teuer erkauft werden konnte - wenn dann nach mühsamem Ringen mit den widerstrebenden Gedankenmassen ein Haltepunkt kam, von dem aus weite Ausblicke und tiefe Einsichten in die großen Fragen eröffnet wurden, - dann mochten wohl aller Augen leuchtend zu FICHTE hinaufschauen. Man fühlte, daß er ein ehrlicher Forscher war, und glaubte darum gerne an die Resultate, die er zeigte, auch wenn man den Weg nicht zu überblicken vermochte, den der Philosoph gegangen war, um zu diesen Resultaten zu kommen. Kaum dreiviertel Jahre nach REINHOLDs Weggang schrieb ein scharfblickender Beobachter (FORBERG): "An FICHTE wird geglaubt, wie niemals an REINHOLD geglaubt worden ist. Man versteht jenen freilich noch ungleich weniger als diesen, aber man glaubt dafür auch desto hartnäckiger." Damit soll natürlich nicht gesagt sein, FICHTE sei allgemeinem Mißverstehen unter seinen Hörern begegnet; vielmehr hat er Schüler im besten Sinne des Wortes gehabt, er hat gewirkt wie selten ein akademischer Lehrer. Allein die Tatsache des ganz außerordentlichen Einflusses, den er auf die Jenaer Studentenschaft besaß, die Tatsache, daß jeder Studierende, der etwas auf sich hielt, bei FICHTE hörte, wird sich doch wohl nicht so sehr aus der überzeugenden Kraft seiner Philosophie als aus der bezwingenden Wucht seiner Persönlichkeit erklären. Zumal er gar nicht eigentlich schön sprach. Er war durchaus kein Kathedervirtuose: sein Lehrstuhl war ihm nicht Schaubühne, sondern moralische Anstalt.

Gewiß, ich sagte das schon früher einmal: man versteht die  WL  falsch, wenn man in ihr wesentlich Moralphilosophie sehen will. Aber das war auch nicht der Sinn meiner letzten Worte: wenn dem Lehre die Stelle, an der er steht, heilig ist, so ist ihm das Katheder immer moralische Anstalt - gleichviel, welcher Art gerade sein spezielles Thema ist. Mit der  WL  aber hat es in dieser Hinsicht eine besondere Bewandtnis. Sie will das Wesen des Bewußtseins in seinem ganzen Umfang darstellen. Gelingt es ihr, diese Aufgabe als eine einheitliche zu bewältigen, so muß sie dadurch "Einheit und Zusammenhang in den ganzen Menschen" bringen (Sämtl. Werke 1, Seite 295), sie muß die Grundlagen aller überhaupt möglichen Überzeugung aufdecken - der sittlichen ebensosehr wie der theoretischen. Und ist Überzeugung nicht überhaupt in jedem Fall etwas Moralisches? Wo ich überzeugt bin, da bin ich frei, da stehe ich auf sicherem Grund, da habe ich etwas, das mir nicht entrissen werden kann, - vorausgesetzt nur, daß es sich wirklich um eine  Überzeugung,  nicht bloß um eine ziemlich fest eingewurzelte Meinung handelt. Meinungen sind schwankend und vergänglich, und wenn mein geistiges Dasein aus Meinungen besteht, dann sich die Aussichten auf dessen Dauerhaftigkeit gering. Eine wirkliche Überzeugung aber hebt den, der sie hat, heraus aus dem Getriebe der wechselnden Ansichten. Die Ansichten und Meinungen sind Naturprodukte, entstand wie diese alle und vorübergehend wie sie alle. Ob der Stoff aus Materie oder aus Vorstellungen besteht, ob die Gesetzmäßigkeit, die das Produkt hervorgebracht hat, eine physikalische oder eine psychologische ist, das kann hier keinen Unterschied machen. Eine Meinung, der wir irgendwo begegnen, ist naturnotwendig entstanden - sonst wäre sie nicht da -, ebenso wie die Pflanze, die irgendwo wächst, naturnotwendig gerade so wachsen muß. Meinungen sind Naturprodukte, Produkte des naturhaften Seelenlebens. Wie aber ist es mit einer Überzeugung? Kann auch eine Überzeugung naturgesetzlich entstehen? Kann auch eine Überzeugung naturgesetzlich entstehen? Kann sie mit psychologischer Notwendigkeit auftreten?

Bedenken wir's genau! Daß  Vorstellungen  mit psychologischer Naturgesetzlichkeit in mir kommen und gehen, ist verständlich. Ebenso, daß Vorstellungen, die oft zusammen aufgetreten sind, sich miteinander vergesellschaften, so daß das Auftreten der einen die Erwartung der anderen nach sich ziehen wird. Alle Dressur beruth hierauf, und jede Meinung läßt sich aus derartigen Vorgängen verstehen. Meinungen bilden sich unter dem dressierenden Einfluß der Erfahrung. Allein bei all diesen psychischen Prozessen gehe  ich  leer aus. Ich bin dann nur der Tummelplatz der Meinungen; die Elemente, aus denen sich die Meinungen zusammensetzen, gehorchen nicht etwa  mir - ich  bin bloß ihr Tummelplatz -, sondern sie gehorchen psychischen Gesetzen, Naturgesetzen.

Kein Zweifel, daß die meisten psychischen Erscheinungen hier ihre zureichende Erklärung finden. Allein wenn ich nicht bloß Vorstellungen  habe,  sondern durch meine Vorstellungen etwas  weiß,  wenn ich eine  Überzeugung  habe: dann liegt die Sache doch wesentlich anders. Dann führen die Vorstellungen nicht mehr eine bloß durch ihre Wechselbeziehungen und sonstige naturhafte Faktoren eingeschränkte Existenz, als deren Blüte die Meinungen zu gelten hätten, sondern die Vorstellungen sind nun bloße Mittel geworden, Mittel zum Zweck des Wissens. Dann mag die eine Vorstellung mit einer anderen assoziiert sein und diese hinter sich herschleppen: wenn ich bloß die erste brauche, so muß die andere, die sich ungerufen mit naturgesetzlicher Notwendigkeit eingestellt hat, wieder abziehen. Wenn es mir auf Wissen ankommt, so kann ich die Vorstellungen nicht einfach gewähren lassen. Ich muß mehr sein als bloßer Tummelplatz, ich muß die Vorstellungen  beherrschen.  - Wo die Vorstellungen ihrer psychologischen Naturnotwendigkeit folgen, da können sie allerdings auch so zusammentreffen, daß das Resultat richtig ist; aber  ich  würde das in einem solchen Fall nicht  wissen.  Meine Meinung würde zwar richtig sein, aber es wäre doch nur  Meinung, ich wüßte  nichts davon, daß diese bestimmte Verknüpfung von Vorstellungen die Gewähr unvernichtbarer Gültigkeit in sich hat. Wenn ich hingegen durch meine Vorstellungen etwas weiß, da liegt gewiß auch psychisches Geschehen, aber zugleich etwas anderes vor. Das Wissen, die Überzeugung ist kein psychologisches Naturprodukt. Die Vorstellungsverknüpfungen, die mit psychologischer Naturnotwendigkeit entstehen, können sowohl wahr wie falsch sein. In ihrer psychologischen Herkunft liegt kein Kriterium hierfür. Es ist das Wesen des Wissens, daß es ohne Rücksicht auf die speziellen Umstände, unter denen eine bestimmte Vorstellungsverknüpfung psychologisch entstanden ist, einsieht, ob die betreffende Vorstellungsverknüpfung gültig oder ungültig ist. Die Entscheidung aber darüber, ob das mit psychologischer Naturgesetzmäßigkeit Entstandene zu recht besteht oder nicht, kann nicht selbst wieder auf dem Boden der psychologischen Naturgesetzlichkeit stehen.

Es versteht sich, daß eine wirkliche Überzeugung - eine Verknüpfung von Vorstellungen, von der ich einsehe, daß und warum sie wahr ist - niemals mit einer anderen Überzeugung in Widerspruch stehen kann. Von hier aus erfassen wir die Bedeutung des Fichtischen Satzes, den ich zu Anfang dieser Stunde zitiert habe: "Alle Individuen sind in der  einen  Großen Einheit des reinen Geistes eingeschlossen." Denn alle Individuen sind dazu da,  überzeugt  zu sein, mehr und besseres zu sein als bloße  Naturprodukte,  getrieben und getragen vom Ungefähr, - sie sind dazu da, in einer Überzeugung fest zu stehen und von da aus die aktige Auseinandersetzung mit der naturhaften Wirklichkeit aufzunehmen.

Dies, meine Herren, ist der Kern der Wissenschaftslehre, das Thema, das in allen Gestaltungen, die sie im Laufe von FICHTEs Leben erfahren hat, bleibt, und zugleich - nach meiner Überzeugung - eine philosophische Tat von unvergänglichem Wert.

Wir haben es nun hier zunächst mit der "Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre" von 1794, (Sämtl. Werke Bd. 1, Seite 83 - 328) zu tun, die im "Grundriß des Eigentümlichen der Wissenschaftslehre in Rücksicht auf das theoretische Vermögen" vom Jahr 1795 (Sämtl. Werke, Bd. 1, Seite 329 - 411) eine Erweiterung erfährt. Das erstgenannte Werk setzt in ungemein strenger Disposition damit ein, die allgemeinste Basis einer überhaupt möglichen  Überzeugung  aufzudecken. Ich bitte zu beachten, daß es sich hierbei zunächst noch gar nicht um das theoretische Wissen handelt. Ebensowenig um die sittliche Überzeugung. Das sind erst speziellere Fragen. Vorerst ist das Problem: die Überzeugung überhaupt, ganz allgemein gesprochen. - Wo immer eine Überzeugung ist, da stützt sie sich notwendig auf das schlechthin Unbedingte, auf das absolut Gewisse. Sonst würde sie nicht Überzeugung sein. Jenes absolut Gewisse kann - das hatte schon die Rezension des Aenesidemus dargelegt - keine Tatsache sein. Jede Tatsache ist von nur bedingter Gewißheit. Jede Tatsache muß erst  bewiesen  werden, ehe wir sie zur Grundlage weiterer Gewißheit machen dürfen. Was aber bewiesen werden muß, kann eben darum nichts  unbedingt  Gewisses sein; denn beweisen heißt: die  Bedingungen  aufzeigen, unter denen die Gewißheit des betreffenden Objekts steht. Das Fundament aller überhaupt möglichen Überzeugung ist  unbeweisbar  - zugleich aber  notwendig.  Keine  Tatsache,  sondern eine  Tathandlung,  die  notwendige  Handlung, die allem Bewußtsein zugrunde liegt, alles Bewußtsein erst möglich macht: die schlechthin primäre Handlung also, eine Handlung, die getan werden muß, wenn irgendeine Tatsache im Bewußtsein gesetzt werden soll.

Nehmen sie das Urteil  A = A Was wird hier behauptet? Daß  A  existiert? Keineswegs. Es wird bloß gesagt:  wenn A  ist,  dann  ist  A.  Es wird ein  notwendiger Zusammenhang  zwischen dem ersten  A  und dem zweiten  A  behauptet. Dieser notwendige Zusammenhang ist das, was an diesem Urteil gewiß ist. Der notwendige Zusammenhang aber ist die Tat eines Subjekts. Der Satz  A = A  gilt nur darum, weil ein identisches  Ich  dahinter steht, das den notwendigen Zusammenhang behauptet, ein Ich, das nicht Willkür ist, sondern Notwendigkeit. A = A:  der Satz gilt darum, weil der ursprünglichere Satz gilt: Ich = Ich. Wenn Ich = Ich nicht gölte, so würde auch der im Satz  wenn A  ist,  dann  ist  A  behauptete Zusammenhang nicht notwendig sein. Der Satz  A = A  setzt den Satz  Ich = Ich  voraus.

Nun war der Satz  A = A  lediglich eine  Form  ohne allen Gehalt; in ihm war keine Realität gesetzt. Ob  A  überhaupt  ist,  blieb unausgemacht. Es hieß nur: im Falle daß  A  ist, dann ist  A.  Wie verhält es sich aber mit dem Satz  Ich = Ich?  Ist auch hier die Bedeutung nur:  wenn  Ich bin,  dann  bin Ich? Offenbar nicht. Der Satz  Ich = Ich  gilt nicht nur der  Form,  er gilt auch seinem  Gehalt  nach. Ich = Ich, das heißt:  Ich bin. 

Und das also ist die absolut unbedingte Tathandlung, die in aller überhaupt möglichen Überzeugung enthalten ist: das Setzen des Ich durch sich selbst.

Es versteht sich daß dieses sich selbst setzende Ich nicht das Individuum sein kann. Das Ich, das die absolute Voraussetzung aller überhaupt möglichen Überzeugung ist, kann keine bestimmte Person sein. Aber es ist etwas, was jede beliebige Person in sich finden kann, es ist das Notwendige, was unserem geistigen Dasein zugrunde liegt, die notwendige Tathandlung, die in einem jedem von uns zu vollziehen ist: "Alle Individuen sind einer der  einen  großen Einheit des reinen Geistes eingeschlossen."

Damit nun, daß die Tathandlung des sich selbst setzenden Ich als das schlechthin Unbedingte aufgewiesen ist, ist alle Realität, die nicht eine Realität für das Ich ist, für unmöglich erklärt. Das Ich ist die notwendige Grenze, über welche hinaus nichts gewußt werden kann, es ist die absolut letzte Voraussetzung. FICHTE findet darin das Wesen der kritischen Philosophie, daß sie diese Voraussetzung aller überhaupt möglichen Realität aufgedeckt, daß sie gezeigt hat, warum das "Ich bin" nicht überschritten werden darf. es kann nur  ein  Unbedingtes geben. Nun ist gezeigt, da das Sich-Setzen des Ich unbedingt ist. Mithin ist alles andere durch dieses Ich bedingt. Es handelt sich bei dieser Tathandlung ja nicht etwa um das  menschliche  Bewußtsein und dessen Organisation, sondern es handelt sich um  das  Wissen überhaupt und schlechthin, um das absolut notwendige Gesetz des Wissens. Auch ein göttliches Wissen könnte nicht anders anheben als mit der Tathandlung des sich setzenden Ich. (1) Eine Realität darum, die jenseits der Grenze des Ich = Ich bestehen sollte, eine Realität ansich ist eine vollkommene Unmöglichkeit.

Wir weden uns zum  zweiten Grundsatz.  Allgemein zugestanden ist der Satz:  Non-A  ist  nicht = A.  Der Satz bezeichnet ein Entgegensetzen. Dem  A  wird sein Gegenteil entgegengesetzt. Der  Form  nach ist der Satz so unbedingt wie der Satz  A = A.  Jedem beliebigen  A  kann sein Gegenteil entgegengesetzt werden. Eine formale Bedingung gibt es hierfür nicht; wohl aber gibt es eine  inhaltliche  Bedingung: nämlich die, daß ein  A  bereits gesetzt worden ist. Bevor entgegengesetzt werden kann, bevor von  Non-A  gesprochen werden darf, muß  A  gesetzt worden sein. Der Satz  Non-A ist nicht = A  hat die Setzung des  A  zur inhaltlichen Voraussetzung. Was  Non-A  heißen soll, kann ich nur wissen, wenn ich  A  kenne.

Nun ist ursprünglich nichts gesetzt als das Ich. Folglich ist die ursprüngliche Entgegensetzung diejenige des  Nicht-Ich.  Alles Nicht-Ich hat das Ich zur Voraussetzung. Der  Form  nach ist es unbedingt, d. h. die Entgegensetzung als solche geschieht schlechthin, sie bedarf keines Grundes; aber wo sie geschehen ist, da kann das Nicht-Ich nur dadurch erkannt werden, daß es als dem Ich entgegengesetzt, daß es als Negation des Ich erkannt wird: es ist  inhaltlich  bedingt durch das Ich. Es ist dasjenige, was das Ich nicht ist. Es gäbe kein Nicht-Ich, wenn es das Ich nicht gäbe. Alles was es ist, ist es nur in seinem Verhältnis zum Ich.

Was damit gesagt ist, wird deutlicher, wenn wir den  dritten Grundsatz  betrachten, den letzten in der Reihe der  Grund sätze. Die Grundsätze sind diejenigen Sätze, die das Unbedingte, das Unbeweisbare darstellen, das den Tatsachen des Bewußtseins zugrunde liegt. Die  WL  ist damit nicht abgeschlossen: sie geht dann weiter zu Folgesätzen, und diese Folgesätze sind beweisbar oder, was dasselbe heit: bedingt durch die Grundsätze.  Absoluter  Grundsatz war bloß der erste: das Ich setzt sich selbst. Hier waren Form und Gehalt gleichermaßen absolut. Der zweite Grundsatz war nur  teilweise unbedingt,  nämlich der Form nach:  daß  das Nicht-Ich dem Ich entgegengesetzt wurde, war eine unbedingte Handlung. Seinem Inhalt nach war dagegen der zweite Grundsatz bedingt, abhängig vom Ich. Daß er zu den  Grund sätzen gehört, verdankt er nicht seinem Gehalt, sondern seiner Form. Umgekehrt verhält es sich mit dem dritten Grundsatz:: dieser ist dem Gehalt nach unbedingt, jedoch der Form nach bedingt und zwar bedingt durch die beiden vorangegangenen Grundsätze. Durch diese beiden Grundsätze ist nämlich eine Aufgabe gestellt, zu deren Lösung es einer neuen selbständigen Handlung der Vernunft bedarf. Die Aufgabe besteht darin, die beiden ersten Grundsätze zu vereinigen. Wie kann ein Nicht-Ich gesetzt werden, wenn das Ich absolut gesetzt ist? Sofern das Nicht-Ich gesetzt ist, ist ja doch das Ich nicht gesetzt. Wie aber kann das absolut gesetzte Ich zugleich nicht gesetzt sein?

Hier greift der dritte Grundsatz ein und bietet die Lösung: die Lösung ist von nirgendwo her ableitbar, sie kann nur aus Freiheit erfolgen; zum System aber ist sie notwendig. Wenn es anders wäre, wäre der Satz kein Grundsatz. Die Lösung lautet: Ich und Nicht-Ich schränken sich gegenseitig ein. Durch das Nicht-Ich wird das Ich nicht gänzlich, sondern nur zum Teil aufgehoben. Ich sowohl als Nicht-Ich werden  teilbar  gesetzt. Nur dadurch ist die Entgegensetzung, die der zweite Grundsatz vollzog, möglich; nur dadurch können erster und zweiter Grundsatz, können Ich und Nicht-Ich zusammenbestehen: sie schränken sich gegenseitig ein, sie sind mithin teilbar oder  quantitätsfähig"  (Seite 108).

Der letztgenannte Ausdruck ist besser, bezeichnender als der erste. (2) Man denkt, wenn man von Ich und Nicht-Ich hört, naturgemäß an das Bewußtsein und die materielle Welt. Daß nun die materielle Welt, das "Nicht-Ich" teilbar genannt wird, leuchtet ein. Aber was soll mit der Teilbarkeit des Bewußtseins, des "Ich" gesagt sein? In der Tat hat FICHTE durch die Einführung des Ausdrucks "teilbar" das Verständnis dieser wichtigen Erörterung nur erschwert. Der Leser ist in Gefahr, sich in räumliche Bilder zu verirren oder zu vermuten, daß sich FICHTE in solche verirrt hat. Doch wäre diese Meinung völlig falsch. Was FICHTE im Auge hat, ist dies: die Sphäre, inder das Subjekt herrscht, ist nicht eine unveränderliche Größe, sondern jeder Subjektsakt, der neu vollzogen wird, bedeutet die Eroberung eines Gebietes, das vorher dem Nicht-Ich angehört hat.

Denken Sie, um es ganz konkret darzustellen, an eine naturwissenschaftliche Entdeckung, etwa an die der Röntgenstrahlen. Die Strahlen hat es auch gegeben, ehe sie bekannt wurden. Aber die waren lediglich Nicht-Ich, sie gehörten jenem Reich an, das die Sphäre des Subjekts einschränkt. Das Ich hatte seine  Schranke  da, wo jene Strahlen waren - wie alles dasjenige, wovon wir nichts wissen, Schranke unseres Ich ist. Aber diese Schranke ist nicht unverrückbar: die beiderseitgen Sphären von Ich und Nicht-Ich sind  quantitätsfähig.  Dadurch, daß RÖNTGEN die nach ihm benannten Strahlen gesehen und ihre Gesetzmäßigkeit festgestellt hat, hat er sie der Sphäre des Nicht-Ich entrissen und dem Ich zu eigen gemacht. Die Röntgenstrahlen sind - soweit sie erkannt sind - keine Schranke mehr für das Ich. Überall,  wo Wissen, wo Überzeugung  ist, da hat sich das Ich irgendwie Platz geschaffen, da hat es sich befreit vom Nicht-Ich, hat die ursprünglich entgegengesetzte Schranke zurückgedämmt.

Das Beispiel von den Röntgenstrahlen würde den Satz von der Teilbarkeit oder Quantitätsfähigkeit des Ich und des Nicht-Ich auf dem Gebiet der theoretischen  WL  erläutern. Die drei Grundsätze gelten jedoch, wie schon bemerkt, ganz allgemein. Nicht nur die Sphäre der theoretischen Erkenntnis, auch diejenige des sittlichen Bewußtseins ist quantitätsfähig. Durch unser Triebleben gehören wir zur Natur, zum Nicht-Ich. Die Triebe sind blind. Sie sind dem bewußten Ich entgegengesetzt, sie schränken es ein. Aber auch hier ist die Schranke nicht ein für allemal festgesetzt, sondern sie ist verschiebbar. So weit sich das autonome sittliche Bewußtsein das Triebleben untertan macht, so weit reicht die Sphäre, in der es sich den Trieben gegenüber als selbständiges Ich wissen darf.

In dem nunmehr, wie ich hoffe, völlig klar gelegten Sinn heißen Ich und Nicht-Ich teilbar. Sie teilen sich sozusagen in die Welt. Das Nicht-Ich ist überall da dem Ich entgegengesetzt, wo das Ich nicht durch eigenes Handeln sich selbst setzt. In sich selbst ist das Nicht-Ich gar nichts; es ist nur, sofern das Ich nicht ist. Schon der zweite Grundsatz sagte, daß es seinem Inhalt nach ganz ausschließlich dadurch bestimmt ist, daß es das Gegenteil des Ich ist. Es ist vom Ich abhängig, es ist nichts als die Negation des Ich - eine "negative Größe".

Zugleich sehen wir, daß das einschränkbare Ich, dem das Nicht-Ich entgegengesetzt wird, nicht identisch ist mit dem absoluten Ich, das nach dem ersten Grundsatz sich selbst setzt. Das absolute Ich ist nicht quantitätsfähhig, sondern es ist schlechthin absolut, und auch das Nicht-Ich ist in ihm gesetzt. Auch bevor die Röntgenstrahlen entdeckt waren, war ihr Wirken ebenso gesetzmäßig, wie es jetzt ist. Es war a priori umfaßt von der Gesetzmäßigkeit des Bewußtseins, und die Forschung kann immer nur zeigen, in welcher bestimmten Weise die Vernunftgesetzlichkeit in den Objekten liegt. Jedes unerkannte Objekt kann nur darum überhaupt  da  sein, weil es im absoluten Ich gesetzt ist. Denn das absolute Ich ist das Einzige, was unbedingt ist; alles andere  muß  von ihm abhängig sein. Es ist unmöglich, daß wir je auf ein Objekt stoßen, das  nicht  die Gesetzmäßigkeit des Bewußtseins an sich trüge. Wo das Ich vom Nicht-Ich eingeschränkt ist, da ist doch diese Schranke selbst im absoluten Ich gesetzt und darum von eingeschränkten Ich ins Unendliche hinausschiebbar.

Wir verstehen nun die Formel, in der FICHTE zusammenfaßt, was die  drei Grundsätze  sagen: "Ich setze im Ich dem teilbaren Ich ein teilbares Nicht-Ich entgegen" (Seite 110). Damit schließt der allgemeine Teil der  WL,  und des folgen die besonderen Teile "Grundlage des theoretischen Wissens" und "Grundlage der Wissenschaft des Praktischen."

Wir wollen hier einen Augenblick innehalten und uns daran erinnern, daß das Hauptproblem der  WL  die  Überzeugung  ist. Ich fürchte nicht, irre zu gehen, wenn ich die Tatsache, daß unseren philosophierenden Zeitgenossen das Verständnis eines so einfachen Lehrstückes wie des eben besprochenen außerordentlich schwer fällt, mit der anderen Tatsache zusammenordne, daß man nicht daran denkt, es auf das Problem der Überzeugung zu beziehen: dieser Umstand allerdings ist nur die sehr verständliche Folge davon, daß in der gegenwärtig herrschenden Erkenntnistheorie dieses Problem überhaupt nicht vorkommt. Den Spuren KANTs folgend begnügt man sich regelmäßig mit der Frage nach jener Erkenntnis, "wie sie in gedruckten Büchern vorliegt", mit der Frage nach der toten Wahrheit. Die heutige Erkenntnistheorie charakterisiert sich dadurch, daß für sie die Alternative besteht: Erforschung der Bedingungen der toten Wahrheit, die in Büchern aufgespeichert werden kann, oder - Psychologismus. Das Problem der Überzeugung, wie es für FICHTE das selbstverständliche Zentralproblem der Philosophie ist, existiert für sie nicht. Überzeugung ist Wahrheit, die da weiß, daß sie wahr ist. Es liegt auf der Hand, daß eine solche Überzeugung nicht in gedruckten Büchern zu finden ist. Überzeugung gibt es nur als lebendige Tat. Andererseits aber ist klar, daß der systematische Weg von der Überzeugung zur Psychologie des Erkennens ein sehr komplizierter ist (3), während aus der Überzeugung sofort eine tote Wahrheit wird, wenn sie ihres ursprünglichen Lebens beraubt und formuliert wird. Wenn ich aus Überzeugung zu Ihnen spreche, so kann doch das Ausgesprochene nicht mehr die Überzeugung selbst sein sondern bestenfalls tote Wahrheit. Es ist nicht mehr  Ich,  sondern  Nicht-Ich,  ein  bloßes Objekt,  das Sie nach belieben oder unbeachtet lassen können, nicht mehr  Subjekt-Objekt Sowie man also vom Standpunkt der lebendigen Überzeugung aus eine Stufe abwärts (von der Bedingung zum Bedingten) steigt, kommt man auf den Boden der toten Wahrheit, die man drucken lassen kann, und das ist der Boden, den die Kantische Erkenntnislehre untersucht.

Betrachten wir nun die drei Grundsätze der  WL:  sie stehen zueinander im Verhältnis von Thesis, Antithesis, Synthesis. Es ist Ihnen sofort klar, daß dies das notwendige Schema einer jeden Überzeugung, der theoretischen wie der praktischen ist. Die tote Wahrheit tritt in Form der These auf, als Satz, der eben da steht. Wenn der Satz in eine lebendige Überzeugung eingehen soll, so muß ihn der Verstand geprüft haben, und der Verstand setzt damit ein, daß er sich gegen die Annahme des Satzes wehrt, daß er ihm sein "Nein" entgegensetzt. Es gibt keine Überzeugung, der nicht ein "Nein" vorangegangen wäre, - ebenso wie es kein "Nein", keine Antithese ohne vorangehende These gibt. Wenn jemand einen Satz - auch wenn dieser Satz wahr ist - ohne weiters annimmt, ohne daß ihm der Verstand sein formal unbedingtes, kritisches "Nein" entgegengesetzt hätte, so ist das Resultat keine Überzeugung sondern eine Meinung. Überzeugung geht notwendig über die  Antithese  hinweg. Aber Überzeugung ist nicht selbst Antithese, sondern  geht  über sie  hinweg.  Sie ist nichts Negatives, sondern sie hat die Negation überwunden und damit die Form und den Gehalt der These zurückerobert. Aber sie ist nicht mehr einfache These wie die tote Wahrheit, die im gedruckten Buch steht, sondern  Synthese.(4)

Was die Lehre von den drei Grundsätzen am Anfang der  WL  will, ist klar: sie will  das Prinzip der Überzeugung  aufstellen. Ich möchte jedoch nicht unterlassen, darauf hinzuweisen, daß - so wichtig auch die hier behandelten Fragen sind - FICHTE doch weit davon entfernt war, dieser Darstellung ein besonderes Gewicht beizumessen. Den Lehrinhalt hat er festgehalten bis an sein Ende: aber in keiner einzigen der späteren Bearbeitungen der  WL  kommt er auf die Formeln von 1794 zurück oder leitet er die Untersuchung in einer entsprechenden Weise ein. Er ist sich dessen bewußt, daß sich seine Gedanken "auf unendlich verschiedene Weise ausdrücken lassenn", und er betrachtet es als selbstverständlich, "daß die zuerst gewählt Darstellungsart nicht die vollkommenste ist" (Leben und Briefwechsel II, Seite 213). Insbesondere spielt der Gegensatz von Ich und Nicht-Ich nach 1795 keine Rolle mehr. Im Jahr 1797 schreibt FICHTE: "Wer die Ausdrücke Ich und Absolutes und dgl. sich nicht gefallen lassen will, den kann man ohne Bedenken derselben entheben. Unser System streitet nicht um Worte und läßt es sehr gern zu, daß man seinen Geist ergreift, ohne sich darum in seine bisherige Uniform zu kleiden" (in der in die Ausgaben der "Werke" nicht aufgenommenenn Abhandlung "Nacherinnerung zu dem vorstehenden und Vorerinnerung zu dem folgenden Aufsatz" [FORBERGs]", Philosophisches Journal VII, Seite 276 - Daß FICHTE indessen keineswegs gemeint war, auch den Lehrinhalt preiszugeben, den er in jenen Formulierungen vertreten hatte, beweist sein Brief an REINHOLD vom 15. September 1800: "Ich habe nicht wenig gestutzt, als Sie einst bei mir anfragten, ob nicht der Schematismus mit dem Ich und Nicht-Ich aus dem Idealismus wegfallen könnte" (Leben und Briefwechsel II, Seite 294).

Die "Grundlage der gesamten WL"  stellt, wie wir gesehen haben, an ihren Anfang die Erörterung des Prinzips der Überzeugung. Was ist nun das Verhältnis dieses Lehrstücks zu ihrem weiteren Inhalt? Wir schließen uns das Verständnis für die Dispositioin, indem wir auf das wesentliche Resultat der drei Grundsätze reflektieren. Man kann es dahin aussprechen: Überzeugen kann sich das Ich nur von sich selbst. Überzeugung gibt es nur, sofern sich das Ich selbst setzt; vom Nicht-Ich ist keine Überzeugung möglich. (5) Der absolute Gehalt, aller Gehalt, alle Überzeugung liegt im  Ich = Ich.  Die besonderen Gestalten, in denen Überzeugung möglich ist, drücken nichts aus als die Selbstgewißheit des Ich, die sich nur je nach der Art der entgegengesetzt gewesenen Negation in anders bestimmter Synthese darstellen muß. Auf jede bestimmte Antithese gibt eine bestimmte Synthese die Antwort, deren Thema es ist, das Ich auch diesem Gegensatz gegenüber seiner selbst zu versichern: das Ich überzeugt sich dem Nicht-Ich gegenüber von sich selbst. So hat alles  Nicht-Ich  den Charakter der  Aufgabe:  das dem Ich Entgegengesetzte ist etwas, das überwunden werden soll. Und die Lösung der Aufgabe  muß  möglich sein: denn im Ich allein liegt Gehalt: das Nicht-Ich kann  keinen Gehalt  in sich haben - nur der  Form  nach ist der zweite Grundsatz unbedingt. Die Lösung der Aufgabe besteht darin, daß dem entgegenstehenden Nicht-Ich, dieser bloß formalen, negativen Größe ihr adäquater Gehalt gegeben wird: damit aber hört das Nicht-Ich auf, Nicht-Ich und entgegengesetzt zu sein: es ist aufgehoben in der Synthesis, es ist einbezogen in die Sphäre der Ichheit.

In ihrem zweiten und dritten Teil entwickelt die "Grundlage der gesamten  WL"  in systematischem Gang, welcher Art die möglichen Antithesen und die durch sie geforderten Synthesen sind. Da eine jede Synthese nichts anderes ist als eine besondere Gestalt, unter der sich das Ich von der Notwendigkeit des eigenen Wesens überzeugt, und da das Wesen es Ich ein Tun ist, läßt sich das fernere Thema der  WL  auch als die Besinnung auf die notwendigen Funktionsweisen des Ich oder, wie FICHTE selbst sagt, als die "pragmatische Geschichte des menschlichen Geistes" (Seite 222; vgl. Seite 77). Daß nur eine Geschichte vom Zeitlosen gemeint sein kann, brauche ich wohl nicht hinzuzusetzen.

Auf diesem Weg aber wollen wir FICHTE nicht mehr begleiten. Der Weg ist mit Gegensätzen gepflastert, und über diese hinwegzukommen ist keineswegs überall bequem. Wer von den Auseinandersetzungen etwas haben will, muß die lange Reihe der einzelnen Schritte sorgsam nachprüfen. An dieser Stelle muß es mit ein paar Andeutungen genug sein.

Der dritte Grundsatz hat die im Ich gesetzte gegenseitige Beschränkbarkeit von Ich und Nicht-Ich festgestellt. Diese wechselseitige Bestimmung läßt sich nach zwei Seiten hin auffassen. Einerseits ist in dem Satz gesagt:  das Ich setzt sich als bestimmt durch das Nicht-Ich,  andererseits aber auch:  das  Ich setzt sich als bestimmend das Nicht-Ich, oder:  das  Ich setzt das Nicht-Ich als beschränkt durch das Ich. Jener Satz, wonach das Ich sich als beschränkt durch das Nicht-Ich setzt, begründet den  theoretischen  Teil der  WL  - dieser, wonach umgekehrt das Nicht-Ich als vom Ich bestimmt gesetzt wird, liegt dem  praktischen  Teil zugrunde.

Aus diesen Sätzen entwickelt FICHTE die notwendigen Handlungen des theoretischen und des sittlichen Bewußtseins: die Kategorien, die hier nicht, wie bei KANT, einfach nebeneinander stehen, sondern ein inneres Verhältnis zueinander haben, und die produktive Einbildungskraft, dasjenige Vermögen, das im eigentlichen Sinn die gegenständliche Welt als solche schafft, produziert. Dann folgt in der praktischen  WL  die Deduktion des Weltzwecks und des unendlichen Strebes, das in der Wirklichkeit des sittlichen Lebens zu gesetzmäßiger Äußerung kommt. Das Ende der Reihe tut sich dadurch kund, daß es mit dem Anfang zusammenfällt. Die Vernunfthandlungen bilden in ihrer Abfolge einen Kreis: ihr letztes Glied ist das Ich, das sich setzt  als sich setzend  (218). Was im ersten Grundsatz schlechthin unbegründet und unbegründbar erschien: das Sich-Setzen des Ich, kehrt wieder als begründet durch die ganze Reihe der dazwischen liegenden Vernunfthandlungen - die "Möglichkeit des ganzen Systems ist eingesehen.

Mit diesen Darlegungen ist der  absolute Idealismus  proklamiert, insofern das Nicht-Ich nur möglich ist als Produkt des sich selbst bestimmenden Ich, nicht aber als etwas Absolute und außer dem Ich Gesetztes. Das sich selbst setzende Ich würde nicht bewußtes Subjekt sein können, würde sich nicht seiner selbst als Ich bewußt werden können, wenn es sich nicht durch ein Nicht-Ich bestimmte. Es schafft das Nicht-Ich, um sich als Ich seiner selbst bewußt zu sein.

Allein wozu dies eigentlich? Warum braucht das absolute Ich sich seiner selbst bewußt zu werden? Die theoretische  WL  hat hierauf keine Antwort. Ein theoretischer Grund liegt nicht vor. Das theoretische Ich bedarf also sozusagen eines "Anstoßes" von außerhalb her, der ihm die Veranlassung zur Produktion bietet. Diesen Anstoß erklärt das praktische Ich. Der sittliche Zweck des Ich fordert das Dasein einer objektiven Welt, eines Nicht-Ich als einer durch Freiheit ins Unendliche hinauszuschiebenden und nie ganz aufzuhebenden Schranke. Das praktische Ich ist unendliches Streben, Streben nach dem Unendlichen. Dieses Streben kann nie voll befriedigt werden: sowie es befriedigt wäre, würde das praktische Ich, dessen notwendige Realität unmittelbar aus den Grundsätzen folgte, aufhören, Ich zu sein. So fordert das praktische Ich als Gegenstand seiner unendlichen Tätigkeit die objektive Welt, und daher sein Anstoß auf das theoretische.

Ich bemerke, daß der Ausdruck "Anstoß" zu den zahlreichen Termini gehört, die in den späteren Darstellungen der  WL  nicht mehr auftreten. FICHTE hat ihn mit Recht getilgt, denn das Wort verleitet zu sehr, an einen irgendwie zeitlichen Vorgang zu denken. Selbstverständlich trifft man den Sinn FICHTEs nur, wenn man den Anstoß auffat als von Ewigkeit her in Permanenz erklärt. Es handelt sich ganz einfach um das Prinzip der teleologischen Weltanschauung: was da ist, hat seinen Gehalt in dem, was es sein soll. Was aller Wirklichkeit zugrunde liegt, ist die  causa finalis,  das absolute Ich, der Endzweck allen Daseins, der mit Freiheit ergriffen sein will. Man kann nicht sagen, daß dieser Endzweck eine Wirklichkeit wäre: die Realität zeigt nie mehr als das  Ringen  nach dem Wesenhaften, das unendliche Streben. Das Ziel dieses Strebens, das allen Gehalt in sich schließende absolute Ich ist mehr als Realität: es bedingt alle Realität, ohne den Endzweck gäbe es nichts Reales; denn Realität haben die Dinge nur in Abhängigkeit von einem letzten Zweck, sie sind nur dadurch da, daß sie zu einem Zweck da sind. Und was das selbstbewußte  Einzelne  angeht, so gilt: unser wahres Wesen ist unser Zweck, unser freies Eintreten in den Arbeitsprozeß des unendlichen Strebens. Unser Dasein hat den letzten Grund seiner Möglichkeit in jenem Ich, das um des sittlichen Zwecks willen das Nicht-Ich von Ewigkeit her geschaffen hat und jeden Augenblick neu schafft. So weist die Wurzel unseres daseins hinab in die Tiefen des Absoluten Ich: aber nur die freie Tat einer das Leben tragenden Überzeugung macht es, daß jene Wurzel sich in die ihr bestimmte Ewigkeit hineinsenkt. Daß dies aber wirklich geschieht, ist die einzige Angelegenheit, die im strengsten Sinn  uns selbst  angeht.
LITERATUR - Fritz Medicus, J. G. Fichte - Dreizehn Vorlesungen, Berlin 1905
    Anmerkungen
    1) Die weiteren Bestimmungen der  WL  würden allerdings für das göttliche Wissen - da dieses nicht als diskursives Bewußtsein gedacht werden darf - bedeutungslos sein; "aber formale Richtigkeit würde unsere  WL  auch für Gott haben, weil die Form derselben die Form der reinen Vernunft selbst" (Seite 253).
    2) Schon in der Darstellung der  WL von 1801 ist dann auch der Ausdruck "Teilbarkeit" durchgehend durch "Quantitabilität" ersetzt.
    3) Man vergleiche hierüber HUGO MÜNSTERBERGs hochbedeutsames Werk "Grundzüge der Psychologie", Bd. 1, Leipzig 1900.
    4) Man hat die  Kantische  Lehre treffen durch die Betrachtung interpretiert, die Natur lasse, vollkommen gleichgültig gegen alle Werte, mit ein und derselben Notwendigkeit wahre wie falsche Urteile, gute wie böse Handlungen, schöne wie häßliche Gestaltungen entstehen: es sei die Aufgabe der philosophischen Besinnung, die immanenten Bedingungen zu erkennen, unter denen einem Teil dieser Naturprodukte der Wertcharakter des Wahren, Guten, Schönen zukommt. Offenbar ist die Fragestellung FICHTEs eine andere: denn das, was FICHTE eine "Synthese" nennt, kann überhaupt nicht von der Natur hervorgebracht werden.
    5) Eine ganz populäre Fassung dieses Gedanken enthält FICHTEs Schlußvorlesung über die Bestimmung des Gelehrten von 1794 (abgedruckt in KARL HASEs Jenaischem Fichte-Büchlein, Leipzig 1856; vgl. Seite 61f.