tb-1Leonhard NelsonVorrede 2. Auflage    
 
JAKOB FRIEDRICH FRIES
Neue Kritik der Vernunft
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"Denn wer das Wesen der Philosophie nur ein wenig versteht, der sieht ein: wir schaffen keine Welt und machen keine Natur mit unserer Spekulation, sondern wir wollen nur die Regeln kennen lernen, nach denen die richtige menschliche Ansicht des göttlichen und irdischen der Welt in unserem Geist erfolgt."

"Gewöhnlich betrachten wir unsere Erkenntnis nur durch ihren Gegenstand und nennen sie z. B. wahr, wenn sie mit ihrem Gegenstand übereinstimmt, dies ist aber nicht das richtige Verhältnis für eine sichere Beobachtung. Dadurch müssen wir unvermeidlich an all unserer philosophischen Überzeugung und am Ende an aller Wahrheit in unserer Erkenntnis irre werden."


2) Das Humesche Vorurteil

Das HUMEsche Vorurteil ist nur ein besonderer Fall des vorigen. Wir müssen ihm vorläufig bestimmt widersprechen, nur damit man uns nicht  ungehört  nachdenselben verdamme. HUME setzt mit WOLFF voraus: wenn man eine Erkenntnis aus bloßem Verstand brauchen wolle, z. B. die Notwendigkeit des Kausalgesetzes, so müsse man erst bewiesen haben, daß dieses Gesetz gelte und sagt dann: das läßt sich nicht beweisen, also sind wir nicht berechtigt, jenes Gesetz vorauszusetzen. Dagegen zeigt KANT de facto hinlänglich: HUMEs Endurteil ist falsch, denn in der menschlichen Erkenntnis gibt es allgemeine und notwendige Erkenntnisse; aber er leugnet HUMEs Voraussetzung:  wenn wir diese brauchen wollen, müssen wir sie erst bewiesen haben,  nicht ab, vielmehr versucht er selbst einen solchen Beweis, den er den transzendentalen nennt.

Darin wurde bald die Inkonsequenz bemerkt, daß er, um jene Grundsätze zu beweisen, ihre Wahrheit immer schon voraussetze, (was uns z. B. AENESIDEMUS und MAIMON zeigten), niemand bemerkte klar genug die Falschheit des HUMEschen Vorurteils und so kam man auf die Hypothese: es müsse in unserer Wissenschaft ein noch höheres Gebiet des unmittelbar Gewissen geben, in welchem von Kausalität und anderem ähnlichen noch nicht die Rede sei, von wo aus vielmehr die Gültigkeit solcher Gesetze erst gesichert werden könne. Dieses Raisonnement hat die Ungereimtheiten von FICHTEs Wissenschaftslehre hervorgebracht. Seine Spekulation wies ihn zu oberst an das Ich, das kam in der gewöhnlichen Erkenntnis als Ursache vor, er wollte diesem mit Gewalt hinaus leugnen und behauptete nun, das Ich sei ein Akt, eine Handeln ohne handelndes, Wirkung ohne Ursache.

Wir hingegen sagen gegen das Vorurteil selbst: der Beweis ist nicht der letzte Begründer der Wahrheit in unserer Erkenntnis. Es ist Tatsache, daß in unserer Erkenntnis sinnliche Anschauung und notwendige und allgemeine Erkenntnis vereinigt sind, mag diese Vereinigung nun taugen oder nicht, wir wollen fürs erste nur beobachten, wie sie sich wirklich macht; wir müssen diese Erkenntnis also  als ein Ganzes  voraussetzen und der Untersuchung unterstellen,  wie wir sie finden,  mit ihren Substanzen, Ursachen und Qualitäten; eine weitere Entscheidung kann dann erst Resultat unserer Untersuchung werden.


3) Kantisches Vorurteil

In der Kantischen Kritik der Vernunft ist der Begriff des Transzendentalen von sehr häufigem Gebrauch. Transzendentale Erkenntnis heißt ihm die Erkenntnis von der Möglichkeit und Anwendbarkeit der Erkenntnisse a priori (K. d. r. V. Seite 80); er spricht von transzendentalen Gemütsvermögen und nennt diejenigen so, aus denen Prinzipien von Erkenntnissen a priori entspringen, diese vindiziert [in Anspruch nehmen - wp] er der Philosophie und hält es z. B. für sehr wichtig, so das Lustgefühl am Erhabenen der bloßen empirischen Psychologie zu entziehen. Endlich spricht er aber auch noch von transzendentalen Prinzipien im Gegensatz gegen metaphysische, hier sind die ersteren solche, die aus reinen Erkenntnissen a priori für sich bestehen, wogegen in den metaphysischen immer ein Begriff a priori auf einen durch Erfahrung erst zu gebenden angewandt wird. Wer hier genau vergleichen will, der wird bemerken, daß KANT mit seiner transzendentalen Erkenntnis eigentlich die psychologische, oder besser anthropologische Erkenntnis meinte, wodurch wir einsehen, welche Erkenntnisse a priori unsere Vernunft besitzt und wie sie in ihr entspringt. Der Grundsatz z. B., daß jede Veränderung eine Ursache habe, ist metaphysisch, aber  die Einsicht, daß sich dieser Grundsatz in unserem Verstand findet und wie er angewendet werden muß,  ist transzendental und die Vernunftkritik unterscheidet sich eben darin von der Philosophie selbst, daß sie die transzendentale Erkenntnis enthält, dagegen letzterer die logische und metaphysische gehört.

KANT aber machte den großen Fehler, daß er die transzendentale Erkenntnis für eine Art der Erkenntnis a priori und zwar der philosophischen hielt und ihre empirische psychologische Natur verkannte. Dieser Fehler ist eine unvermeidliche Folge jenes anderen, so eben von uns gerügten, daß er die philosophische Deduktion mit einer Art des Beweises verwechselte, die er transzendentalen Beweis nannte.

Allerdings durfte er so auch nicht zugeben, daß seine transzendentale Erkenntnis empirisch sei, wenn er nicht LOCKE und HUME vollkommen recht geben wollte. Denn wenn er seine Erkenntnis a priori aus dem transzendentalen Prinzip, z. B. der Möglichkeit der Erfahrung bewies, so gründet er sie auf dieses, ließ sie aus ihm entspringen und wenn dieses also empirische war, so ruhte seine ganze Erkenntnis a priori doch wieder auf empirischem Grunde und  entsprang  aus der Wahrnehmung.

Für denjenigen, der sich diesen Mißgriff nicht verbessert, liegt im Kantischen System ein unüberwindlicher Widersinn, indem durch die Apriorität der transzendentalen Erkenntnis, die innere Wahrnehmung selbst zur Erkenntnis a priori gemacht wird und so anstatt des Kantischen transzendentalen Idealismus ein absurder empirischer Idealismus heraus käme, nach welchem das Ich nicht nur Selbstschöpfer seiner Welt, sondern sogar seiner selbst würde.

Dieser Mißgriff ist Ursache, daß KANT das Wesen der Reflexion nie begriff und Sinn und Verstand nicht in  einer  Vernunft zu vereinigen vermochte. Er gab ihm den Widerwillen gegen empirische Psychologie und innere Selbstbeobachtung, welcher bei einigen seiner Schüler, z. B. bei FICHTE, in seine wirkliche Aversion ausschlug. ERHARD SCHMIDT bemerkte sehr früh, daß der Knoten der Kritik eigentlich in der Anthropologie gelöst werden müsse, aber das allgemeine Vorurteil ließ ihn nicht zu Wort kommen. An diesem Vorurteil kränkelt jede bisherige Behandlung der Vernunftkritik und die größten Fehler wurden alle durch die natürliche Folge desselben gemacht, daß man die innere Wahrnehmung für den Quelle von Erkenntnissen a priori hielt. Daher das  unmittelbare Bewußtsein  bei REINHOLD und anderen, daher die FICHTEische  innere  und  intellektuelle Anschauung  und der völlige Rückschritt zum dogmatischen Rationalismus bei SCHELLING.

Wir werden diesem Fehler dadurch zu begegnen suchen, daß wir das subjektive, empirische, anthropologische Wesen der transzendentalen Erkenntnis ganz deutlich machen und den Unterschied der Deduktion und des Beweises genauer angeben.

So viel über und gegen die Vorurteile, welche wir im jetzigen Geist der Spekulation zu befürchten haben. Wir fragen weiter, welche Aufgabe wird uns nun eigentlich, um der Sache der Spekulation weiter zu helfen? Die Antwort liegt in der gegebenen geschichtlichen Darstellung. Die Geschichte der Philosophie treibt uns zu der Frage: Wie ist die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft beschaffen, auf welcher unsere philosophische Überzeugung beruth? und in welchem Verhältnis steht diese zur Reflexion? Ich halte deswegen meine neue Entwicklung des Vermögens der Selbsterkenntnis, wie es sich vom inneren Sinn bis zur vollständigen Reflexion fortbildet, für den wichtigsten und entscheidenden Punkt meiner Darstellung, wodurch wir denn zugleich eine neue Darstellung der Gründe der Gültigkeit aller Erkenntnis erhalten.

Fragen wir also: was ist unserer Zeit das Bedürfnis der Spekulation? so ist die Antwort noch immer die nämliche wie ehedem: Selbsterkenntnis in Rücksicht des Erkennens, Untersuchung des Erkenntnisvermögens, Untersuchung der Vernunft. LOCKE, LEIBNIZ und HUME nannten es die Untersuchung des menschlichen Verstandes, den neueren Eklektikern war es die Aufgabe der empirischen Psychologie. KANTen die der Vernunftkritik, wir wollen es  philosophische Anthropologie  nennen. Sehen wir, welche bleibende Fortschritte in der Geschichte der Philosophie durch die Bemühungen eines einzelnen Mannes gemacht worden sind, so liegen diese immer auf dem Gebiet der Untersuchung unseres Erkenntnisvermögens, dagegen alles übrige, wie eine bloße Modesache, sich bald vorwärts bald rückwärts bewegt. Diese Untersuchung ist die wahre  philosophia prima  des BACO und DESCARTES; das System jedes Philosophen geht dunkler oder klarer gedacht von einer gewissen Grundhypothese über den Ursprung der Erkenntnis in der Vernunft aus und ist selbst nur Folge der individuellen Ansicht dieses ersten.

Das Bedürfnis aller Spekulation läßt sich also aussprechen: Wir kennen die Natur unseres Geistes noch nicht genau genug, um den Ursprung aller unserer Überzeugungen in ihm aufzuweisen. So viel aber ist gewiß, daß, wenn wir das Wesen der Vernunft tief genug kennen lernten, wir daraus alle Gesetze der Spekulation und alle Philosophie müßten beurteilen können, denn unsere Erkenntnis der Welt ist als Erkenntnis immer nur eine Tätigkeit meiner Vernunft und kann als solche untersucht werden. Denn wer das Wesen der Philosophie nur ein wenig versteht, der sieht ein: wir schaffen keine Welt und machen keine Natur mit unserer Spekulation, sondern wir wollen nur die Regeln kennen lernen, nach denen die richtige menschliche Ansicht des göttlichen und irdischen der Welt in unserem Geist erfolgt. Es kommt also alles darauf an, das Wesen unseres Geistes so weit zu erforschen, als nötig ist, um den Quelle des Wissens in ihm zu finden und dadurch einzusehen, ob wir Philosophie besitzen und welche sich notwendigerweise in uns findet.

Selbsterkenntnis ist also die Forderung, Untersuchung der Vernunft, Kenntnis der inneren Natur des Geistes, Anthropologie! Vor dieser hat die Philosophie bisher oft eine gewisse Scheu bezeugt, einige, z. B. KANT, hielten sie für unmöglich, andere für gefährlich, noch andere wagen es wenigstens nicht, sie für sich als eigene Wissenschaft zu behandeln, sondern vermengten sie immer mi Physiologie des menschlichen Körpers und die sie am besten behandelten, brachten es darin nur zur Erzählung oder Klassifikation der Gemütsvermögen, aber nie zu einer wahren  Theorie des inneren Lebens. 

Es wird daher nötig sein, das Wesen unserer philosophischen Anthropologie und ihr Verhältnis zur Philosophie noch deutlicher auseinander zu setzen.

Unter Anthropologie versteht man entweder  pragmatisch  Menschenkenntnis als Weltkenntnis, als Kunst, die Menschen in ihren Handlungen zu beurteilen oder  physiologisch  eine Naturlehre vom Menschen als systematische Wissenschaft. Diese physiologische Anthropologie bekommt aber wieder eine dreifache Bedeutung. Der Mensch findet sich gleichsam in zwei verschiedenen Welten. Einmal erkennt er sich selbst an der Spitze der organisierten Bildungen in der Natur als einen organisierten belebten Körper, dann aber eröffnet sich ihm auch eine eigene Welt im inneren Selbstbewußtsein. Dieses bestimmt uns den Gegenstand von drei verschiedenen Wissenschaften. Die erste betrachtet das Äußere des Menschen, seinen Körper, dessen natürliche Funktionen und wird  medizinische Anthropologie  oder Physiologie genannt. Die zweite beschäftigt sich mit dem Inneren des Menschen, so wie er sich Gegenstand der inneren Selbsterkenntnis wird, nach gewöhnlicher Behandlung heißt sie empirische Psychologie, wir wollen sie  philosophische Anthropologie  nennen. Endlich die dritte Wissenschaft soll das Äußere und Innere des Menschen vergleichen und die Verbindung zwischen beiden darstellen, sie wird gewöhnlich philosophische Antrhopologie genannt, uns soll sie aber  vergleichende Anthropologie  heißen.

Das Gebiet der philosophischen Anthropologie ist also nur die innere Erfahrung, ihr Gegenstand der Mensch, so wie wir uns innerlich kennen. Diese innere Erfahrung hängt zwar mit den äußeren Erscheinungen unseres Körpers sehr genau zusammen, die Bewegungen des Körpers und die Affektionen des Gemüts sind durchaus in einer wechselseitigen Abhängigkeit voneinander, aber dessen ungeachtet vermischen sich die Gebiete der äußeren und inneren Erfahrung gar nicht, sondern es beruth jede auf ihrem eigenen geschlossenen Kreis von Wahrnehmungen, wenngleich äußere Wahrnehmungen oft der inneren Beobachtung zu Hilfe kommen. Denn den Gegenstand der ersteren macht die Materie, den der anderen machen innere Tätigkeiten des Gemütes aus. So interessant daher auch eine allgemeine Untersuchung ist, welche die Beschaffenheiten und Zustände des Gemütes, so wie sie innerlich erkannt werden, mit den ihr korrespondierenden Organen und Bewegungen des Körpers vergleicht: so ist die Untersuchung der Natur unseres Gemüts doch nicht in einer solchen Abhängigkeit von der Erforschung der Natur des durch dasselbe belebten Körpers, daß nicht die eine ohne die andere auch sollte statt finden können.

Vielmehr enthält jede Teile, in welchen sie von der anderen ganz unabhängig ist und an dasjenige, was nur Gegenstand der inneren Erfahrung ist, hat die philosophische Anthropologie ausschließliches Eigentumsrecht. So wie nämlich der Physiologe in seinen Untersuchungen der Natur des organisierten Körpers für seine Theorie auf ein ihn belebendes Gemüt gar keine Rücksicht nehmen darf, so kann man auch in der philosophischen Anthropologie das Gemüt bloß aus der inneren Erfahrung erforschen, ohne noch diese mit der Beschaffenheit des organisierten Körpers in Verbindung zu bringen, denn es ist immer vorteilhaft für die Berichtigung und Erweiterung unserer Kenntnisse, getrenntes getrennt zu halten und solche Untersuchungen, welche unabhängig voneinander statt finden, auch getrennt darzustellen. Ja, es war für die Wissenschaft, von der wir sprechen, der wesentliche Nachteil, daß man ihre feineren Untersuchungen so viel mit Hypothesen in Rücksicht des Körpers bemengte; Gedächtnis, Einbildungskraft und so manches materiell erklären wollte und dadurch die Idee einer inneren Gesetzmäßigkeit des Gemüts, einer Theorie der Vernunft ganz aus den Augen verlor. Aber nur von dieser abgesonderten Experimentalphysik des Inneren läßt sich der große Gewinn für Philosophie versprechen. Versuche der vergleichenden Anthropologie könnten erst dann gelingen, wenn die physiologische Theorie des menschlichen Körpers und die anthropologische des menschlichen Gemüts zu einer hinlänglichen Vollkommenheit gediehen wären, um die Vergleichungen bestimmt genug machen zu können, dagegen bis jetzt diese Wissenschaft großenteils nur aus leeren Formeln besteht die, wenn das Glück gut ist, vielleicht in Zukunft einmal ausgefüllt werden können.

Wir haben es also hier nur mit der physiologischen Anthropologie zu tun, so wie diese sich einzig mit dem menschlichen Gemüt als Gegenstand der inneren Erfahrung beschäftigt, wir gehen hier von einer inneren Experimentalphysik aus, deren Versuche und Beobachtungen jeder nur in sich selbst macht und suchen dadurch zu einer inneren Naturlehre als einer Theorie der Vernunft zu gelangen. Das wäre also die Wissenschaft, welche man gewöhnlich Psychologie nannte, wir weichen aber aus mehreren Gründen von diesem Sprachgebrauch ab. Das Wort Psyche, Seele ist in der Philosophie für das metaphysische, beharrliche, einfache und unsterbliche Wesen des Geistes in Anspruch genommen und verwickelt sich also mit Voraussetzungen, auf die wir vorläufig nicht Rücksicht nehmen dürfen. Es ist uns nur um eine Naturlehre des menschlichen Gemütes zu tun, so wie sich diese durch innere Erfahrung erhalten läßt. Wir wollen so wenig Seelenlehre als Geisterlehre behandeln, denn wir kennen keine anderen Geist, als das Denkende und kein anderes denkendes Wesen, als den Menschen, wir haben es also nur mit innerer Anthropologie zu tun. In dieser Beschränkung auf das menschliche Gemüt hätten wir also das Thema der Erfahrungsseelenlehre oder empirischen Psychologie. Aber auch von dieser Wissenschaft unterscheidet sich noch unsere jetzige Aufgabe. Erfahrungsseelenlehre ist eine innere Experimentalphysik, die für sich immer fragmentarisch bleibt, mit dieser wollen wir uns nicht begnügen, sondern wir wollen uns zu einer Theorie des inneren Lebens, zu innerer Naturlehre erheben, unsere Idee ist ein Analogon dessen, für die innere geistige Natur, was wir jetzt für die äußere Physik Naturphilosophie nennen. Diesen Teil der psychischen Anthropologie wollen wir  philosophische Anthropologie  nennen. Unsere philosophische Anthropologie ist dann keine Geschichte der Vernunft, wie sie sich im Kind zum Erwachsenen, zum Greis entwickelt, wie sie mit Wachen und Schlafen erscheint, wie sie nach Mann und Weib, nach Konstitution, Volk und Rasse sich nuanciert oder wie sie in körperlichen und Geisteskrankheiten verletzt und zerstört wird. Dieses sind Aufgaben für die psychische Anthropologie, wir suchen hingegen eine Beschreibung der Vernunft, um zu einer Theorie derselben zu gelangen, wie sie in gesunden Exemplaren überhaupt der inneren Beobachtung eines jeden vor Augen liegt.

Dieser Teil der Wissenschaft ist bisher noch sehr mangelhaft geblieben; das Wichtige, was hier zu beobachten ist, wird vielmehr oft für unmöglich gehalten und doch ist es eben diese innere Naturlehre, welche vom wichtigsten Einfluß auf alle Philosophie sein muß. Sie ist die wahre Grunduntersuchung aller Philosophie; ihr Standpunkt ist der einzige  Standpunkt der Evidenz  für spekulative Dinge.

Dieses ihr Verhältnis zur Philosophie wird durch folgendes deutlich werden.

Jede einzelne Tatsache, daß ich dieses oder jenes weiß, daß ich diesen oder jenen einzelnen Gegenstand erkenne, ist ein Gegenstand der inneren Erfahrung. Es gibt also für jede Erkenntnis einen zweifachen Standpunkt der Betrachtung, einmal kommt jeder Erkenntnis ein Gegenstand zu, welcher in ihr erkannt werden soll und dann muß ich mir der Erkenntnis selbst erst wieder bewußt werden, wenn ich über sie soll urteilen können; ich kann jede Erkenntnis einmal subjektiv, sofern sie meine Tätigkeit ist und dann objektiv, in Rücksicht ihres Gegenstandes betrachten. Zum Beispiel ich erblicke einen Baum, ich kann ihn an seinem Wuchs von vielen anderen Baumarten unterscheiden, seine weniger rauhe Rinde, seine runderen, glatteren Blätter unterscheiden ihn von der Ulme, ich erkenne ihn am Duft seiner Blüten als eine Linde und kann nun meine Kenntnis von demselben bis zur ganzen Naturgeschichte dieser Baumart erweitern. Auf der anderen Seite aber kann ich fragen: wie gelange ich zu diesen Kenntnissen? und ich sehe sogleich: zugrunde liegen Wahrnehmungen, welche die Anschauung des Baumes enthalten, die durch Betastung, Gesicht und Geruch an mich gelangen. Ich finde, daß ein Einfluß des Baumes auf mein Auge, die Geruchs- oder Gefühlsnerven statt findet, daß mit diesem in gewisser Korrespondenz mein Geist durch eine Empfänglichkeit, der Sinn genannt, Empfindungen erhält, welche aber noch lange nicht die ganze Erkenntnis vom Baum, nicht einmal die vollständige Aunschauung desselben ausmachen, sondern nur, z. B. beim Gesicht ein mannigfaltiges von Farben enthalten, ohne eine Bestimmung des mathematischen in meiner Vorstellung des Baumes, ohne eine Bestimmung der Entfernung von mir, der Teile untereinander usw. Ich sehe, daß diese mathematischen Bestimmungen erst durch zum Teil willkürliche, meist durch Gewohnheit geleitete Tätigkeiten meiner Einbildungskraft zur Vorstellung hinzukommen. Über diese brauche ich dann weiter noch Begriffe und Urteile des Verstandes, um die Erkenntnis vollständig zu machen usf.

Hier ist nun augenscheinlich die innere Geschichte des Erkennens selbst, nach der zweiten Betrachtungsweise, ein Gegenstand der inneren Anthropologie, die Erkenntnis mag auch sein, von welcher Art sie wolle. Auch unser philosophisches Wissen wird also, wiefern wir uns desselben wieder bewußt werden wollen von einem anthropologischen Gesichtspunkt aus betrachtet werden können. Ja diese anthropologische Ansicht der philosophischen Erkenntnis ist eben für Philosophie von entscheidender Wichtigkeit.

Erfahrung bedarf subjektiv, um in unser Gemüt zu kommen, erst einer fremden Anregung durch den Sinn, philosophische Erkenntnis aber soll reines Eigentum der Vernunft sein, nur aus ihr selbst entspringen, nur von ihrer Selbsttätigkeit abhängen. Wenn wir uns also in Besitz einer anthropologischen Theorie der Vernunft versetzen können, so wären wir durch diese genau imstande, zu bestimmen, welche philosophischen Erkenntnisse wir überhaupt besitzen, allein besitzen können und wie sie sich richtig anwenden lassen. Die vollständige Aufgabe, welche LOCKE der Spekulation geben wollte, indem er sagt: sie solle zuerst den menschlichen Verstand untersuchen, um seine Kräfte kennen zu lernen oder die Aufgabe, welche KANT nachher eine Kritik der Vernunft nannte, ist nichts anderes, als unsere philosophische Anthropologie.

Wir müssen anfangs die gewöhnliche nur objektive Ansicht, die Erkenntnisse zu betrachten, verlassen und uns auf die subjektive, anthropologische beschränken, die andere wird uns nachher von selbst zufallen. Gewöhnlich betrachten wir unsere Erkenntnis nur durch ihren Gegenstand und nennen sie z. B. wahr, wenn sie mit ihrem Gegenstand übereinstimmt, dies ist aber nicht das richtige Verhältnis für eine sichere Beobachtung. Dadurch müssen wir unvermeidlich an all unserer philosophischen Überzeugung und am Ende an aller Wahrheit in unserer Erkenntnis irre werden. Denn bei den ewigen Wahrheiten, den allgemeinen und notwendigen Gesetzen, den Erkenntnissen a priori oder wie wir sonst die philosophische Erkenntnis nennen wollen, fällt es gleich ins Auge, daß wir sie nicht durch ihren Gegenstand wahr machen können, indem wir den Gegenstand nur mittelbar durch sie denken und nicht mit ihr vergleichen können. Wir weden diese rätselhafte Notwendigkeit auf einen anderen ganz anthropologischen Ausdruck bringen, indem wir sie als diejenige Erkenntnistätigkeit unserer Vernunft charakterisieren, die ihr beharrlich in jedem Zustand ihrer Tätigkeit zukommt, woraus dann ihre Verhältnisse weit leichter beurteilt werden können. Denn wenn ich meine Erkenntnisse sicher kennen lernen will, so muß ich nur subjektiv erst die Erkenntnis selbst beobachten, diese ist meine Tätigkeit und kommt mir zu, welchen Gegenstand sie auch habe. Der Gegenstand mag außer mir oder in mir sein, die Erkenntnis ist immer in mir und so muß ich erst sie beobachten, ihre Gesetze und die Gesetze der Vermögen kennen lernen, aus denen sie entspringt, ehe ich mit Erfolg darüber urteilen kann, wie es mit dem Gegenstand steht, der ihr entspricht. Also darin besteht unser Vorschlag für die Philosophie, daß wir alle unsere Erkenntnisse erst einer solchen anthropologischen Beobachtung unterwerfen wollen, ehe wir über ihre Wahrheit und Tauglichkeit zu urteilen wagen. Sind wir auf diese Weise zu einer Theorie der Vernunft gelangt, so werden wir dann auch über Gültigkeit und Wahrheit mit Sicherheit sprechen können.

Das heißt, unsere Aufgabe wird philosopische Anthropologie als theoretische innere Naturlehre. Unsere Untersuchung beginnt auf dem vorsichtig zu wählenden Standpunkg der empirischen Psychologie oder der inneren Selbstbeobachtung, wo wir uns hüten müssen, mit idealen metaphysischen Voraussetzungen die reine Tatsache gleich anfangs zu trüben, wo wir aber doch nicht beim nur beschreibenden der Erfahrungslehre für diese und jene Klasse von Geistesvermögen und ihren vorkommenden Varietäten stehen bleiben, sondern wo wir diese reine Tatsache nur als Grund brauchen, von welchem eine vernünftige Induktion nach gut gewählten heuristischen [vorläufige Annahmen - wp] Maximen ausgeht, um sich zu den allgemeinen Gesetzen unseres inneren Lebens und somit zu einer physikalischen Theorie dieses Lebens rein nach seinen geistigen Verhältnissen zu erheben.

Für diesen unseren Zweck finden wir die gehaltreichsten Vorarbeiten in den Kantischen Kritiken der Vernunft, diesen ersten Philosophischen Meisterwerken. Ja, es ließe sich wohl behaupten, daß KANT der erste war, welcher ohne Gespenster zu sehen und doch auch ohne sich mit dem Materiellen zu bemengen, die Idee unserer Wissenschaft, in Rücksicht einer Übersicht des Ganzen fand, er war wohl der erste, der sich so über bloß beschreibende Psychologie erhob, wenngleich ihm auch diese Idee nur dunkel vorschwebte. In vielen Teilen ist seine Untersuchung bis zur Vollendung gediehen, in anderen müssen wir ihn verbessern und ihm in vielem die fehlende Vollendung geben. Was uns aber nötigt, seine Arbeit einer gänzlichen Umarbeitung zu unterwerfen, ist zuletzt einzig seine Verkennung des inneren Sinnes und des Wesens der Reflexion, deren Folgen sich bis ins Einzelnste über das Ganze verbreiten.

Der Gang unserer Untersuchung würde einfach, leicht und deutlich sein, (indem wir nur Beobachtungen zusammenstellen und allgemeine Gesetze aus ihnen ableiten), wenn uns nicht so oft die falschen Ansprüche psychologischer Schwärmer und Enthusiasten in den Weg träten. Psychologische Schwärmerei nämlich vermengt eigenes willkürliches Raisonnement mit innerer Wahrnehmung und verwechselt Einbildung mit innerer Erfahrung; falscher psychologischer Enthusiasmus für das Geistige und die Freiheit des Genialen will hingegen seine Zuhörer nur mit schönem Klang unterhalten und meint seine Göttlichkeit und Heiligkeit schon entweiht zu sehen, wenn jemand das Dichten, Philosophieren und den Charakter einer Erklärung unterstellen will. An diesen beiden hat die innere Selbstbeobachtung zwei große Feinde. Den Enthusiasmus können und müssen wir meist seinem Schicksal überlassen, streiten läßt sich nicht leicht mit ihm, denn er entsteht entweder aus Mangel an eigentlich wissenschaftlichem Sinn, zu dem also trockene theoretische Wahrheit keinen Zugang findet oder nur aus Mangel an einem gebildeten Urteil über die Gesetze des inneren Lebens, dann wird er ohne Streit den Kredit von selbst verlieren, wenn festere Urteile über diese Gegenstände allgemeiner werden. Die Verwechslung des Raisonnements mit der Beobachtung hingegen dürfen wir nie außer Acht lassen, wir müssen selbst vor ihr auf der Hut sein, denn sie verleitet in innerer Beobachtung oft den geübtesten Denker zu den offenbarsten Absurditäten. In dieser inneren Beobachtung ist der Geist durchaus nur sich selbst überlasse, da wird es ihm oft schwer, die verschiedensten Arten seiner Tätigkeit zu unterscheiden, leicht wird er also Schlüsse als fälschlich vorausgesetzten Unmöglichkeiten für reine Beobachtung von Tatsachen nehmen und sich so auf eine Weise täuschen, bei der es äußerst schwer fällt, den Irrtum wieder aufzufinden, nachdem er einmal begangen ist.
LITERATUR - Jakob Friedrich Fries, Neue oder anthropologische Kritik der Vernunft I, Heidelberg 1807