ra-1 Richard Shute    
 
CARL GRUBE
Richard Shute
(1849-1886)
[ 7/8 ]

"Auf einer frühen Stufe der Zivilisation stand der nachahmende Laut neben der Vorstellung; schon damals werden sich beide assoziiert haben; allmählich wurde der Ausdruck durch Zusätze und Abschleifungen verändert, so daß sich der ursprüngliche Benennungsgrund verwischte; doch geschah dies sicherlich langsam und stets in der Assoziation mit der Vorstellung, und als schließlich das nachahmende Moment völlig aus dem Namen verschwunden und derselbe rein konventionell war, hielt doch noch die Gewohnheit die Assoziation aufrecht, welche jede neue Generation im Kindesalter lernt."

§ 27. SHUTE sucht aufs Neue die Theorie des Nominalismus, daß alles Denken sich fast nur in Wortvorstellungen vollzieht, allseitig durchzuführen.

Er findet einen direkten Beweis in der Entwicklung der Sprache, einen indirekten in der Schwäche unserer Einbildungskraft.

Die Gedanken der Wilden, sagt er (1), bestehen aus Wiedervergegenwärtigungen ihrer Erfahrungen, sie sind langsam, während die Einbildungskraft die größte Lebhaftigkeit besitzt; ihre artikulierte Sprache ist voll von Wortbildern. Die Wilden allein besitzen die Form des Gedankens in ihrer Reinheit, welche gewöhnlich als die allgemeine beschrieben wird. Aber mit der fortschreitenden Zivilisation werden die Namen konventionell; denn die größere Erfahrung zwingt, weil es unmöglich ist, alles durch Laute und Gebärden nachzuahmen, die Menschen Zusätze zu den ursprünglichen Lauten zu machen, und allmählich verwischt sich dann die eigentliche Bedeutung der Teile, aus denen der Name besteht.

Dazu bilden sich, um verschiedenerlei Beziehungen der Personen und Handlungen auszudrücken, mancherlei Verben, Pronomina und andere Redeteile; so wird auch der Satz konventionell. In diesen rein konventionellen Worten und Sätzen geht den meisten Menschen der größte Teil der Erfahrungen zu und prägt sich ihnen ein; ja sogar die Beschäftigung vieler Menschen besteht nur in einem kunstvollen Kombinieren von Worten. Denn die Aufgabe des Staatsmannes, des Advokaten, des Predigers ist doch nur ein Anordnen, Aussprechen und Anhören von Worten; wir alle füllen unsere freie Zeit mit Geselligkeit oder mit Lesen aus, wir lernen fortwährend neue Worte und Wortverbindungen kennen, aber wie selten neue Dinge!

So bilden die gehörten Worte beinahe den ganzen Inhalt der Erfahrung. Die geschriebenen Worte werden beim stillen Lesen in gehörte übersetzt lange Zeit durch lautes oder halblautes Sprechen zuerst aller, dann ungewöhnlicher Worte schließlich bloß in Gedanken; zuletzt stehen sogar die Schriftzeichen unmittelbar für die Dinge; die Vorstellung der einen vertritt die der andern.

Wenn wir modernen Menschen, deren Einbildungskraft viel langsamer ist, denen die Vorstellung wirklicher Dinge viel schwerer fällt als den Wilden, wirklich mit Vorstellungen von Dingen und Erlebnissen denken sollten, so müßte unser Denken viel langsamer und schwieriger sein als das der Wilden. Da nun offenbar das Gegenteil der Fall ist, so können nicht die Vorstellungen von Dingen, sondern nur die Vorstellungen von Wörtern die Bausteine und den Stoff unseres Denkens bilden. Dieses Wortdenken ist bei zusammengesetzten und abstrakten Vorstellungen besonders deutlich. Denn während sich die Vorstellung eines Hundes, Pferdes und dgl. einfach und schnell erzeugt, und es die Auseinandersetzung nicht sehr verzögern würde, wenn wir jedesmal im Denken einhalten wollten, um die entsprechenden Wörter in die Vorstellung der Dinge zu übertragen, so setzt dagegen die Hervorrufung von zusammengesetzten Vorstellungen, z. B. "Edelmut", in uns ein schnelles Durchlaufen einer Anzahl ähnlicher Vorstellungen, aus denen diese Vorstellung zusammengesetzt ist, voraus: man muß einen Geber und einen Empfänger, eine gewisse Tätigkeit und die Gesinnung, mit welcher dieselbe erfolgt, vorstellen, um aus diesen notwendigen Bestandteilen jene zusammengesetzte Vorstellung bilden zu können. Nun ist es offenbar, daß wir dieses vielfache Analysieren und Überdenken der einfachen Vorstellungen in der Zeit, wo wir die ersten paar Silben eines Urteils, wie "Edelmut ist eine Tugend", bilden oder sprechen, nicht vollziehen können. Wir behaupten in Wirklichkeit nur die Anwendung des letzteren Namens auf den ersteren nach der allgemeinen Annahme der Menschen, und wir gehen sofort zu einer anderen Wortverbindung über.

Dafür, daß uns das Denken in einer Reihe von Bildern sehr schwierig geworden ist, spricht schließlich auch der Umstand, daß die bilderreiche Poesie uns fremdartig berührt und mehr einer verhältnismäßig frühen als einer fortgeschritteneren Stufe der Zivilisation angehört.

Sonach ist der Charakter des Wortdenkens folgender: Die Wörter der Sprachen der zivilisierten Menschheit sind willkürliche Zeichen für die Vorstellungen von Wahrnehmungen, Gefühlen und Tätigkeiten, so willkürlich wie die Buchstaben der Algebra, welche jede beliebige Größe bezeichnen können. Wie wir beim Beginn der Lösung einer algebraischen Aufgabe festsetzen, was uns die einzelnen Buchstaben bedeuten sollen, dann aber nach den Gesetzen der Algebra mit diesen Buchstaben verfahren, ohne uns um die Bedeutung zu kümmern, schließlich jedoch nach gefundener Lösung uns dieser Bedeutung wieder erinnern, so übertragen wir bei einer zusammenhängenden Gedankenkette nur die Worte des Anfangs- und Schlußgliedes in die entsprechenden Vorstellungen von Wahrnehmungen, Gefühlen und Tätigkeiten. Die Wortverbindungen, welche die Zwischenglieder bilden, lassen wir unübertragen, sei es nun, daß wir sie auf unseren eigenen Erfahrungen bildeten, sei es, daß wir sie auf Treu und Glauben von anderen aufnahmen. Nur dann, wenn wir zweifel in die Richtigkeit dieser Wortverbindungen setzen, übertragen wir dieselben in die Vorstellungen von Wahrnehmungen, Gefühlen und Tätigkeiten, um uns durch Besinnung auf unsere Erfahrung von der Richtigkeit oder Unrichtigkeit der Verbindung zu überzeugen. Dieses Denken in Wortvorstellungen ist umso viel schneller als das Aussprechen der betreffenden Wörter, daß es sich neben und mit diesem Aussprechen mit Leichtigkeit vollzieht und doch geschieht dieses Aussprechen mit einer unverhältnismäßig größeren Schnelligkeit als das Übersetzen der Wortvorstellungen in die betreffenden Bildervorstellungen. Die nächste Entwicklungsstufe unseres Denkens wird sein, daß anstelle der Wortvorstellungen direkt die Vorstellungen der Schriftzeichen treten. Dadurch wird das Denken ein viel schnelleres, da ja dieses Überfliegen der Schriftzeichen, sei es in Wirklichkeit, sei es in Gedanken, viel weniger Zeit erfordert als das Sprechen oder Anhören der betreffenden Wörter oder das Hervorrufen ihrer Vorstellungen als hörbarer Klänge.

§ 28. Diese Lehre SHUTEs bringt wenig Neues zu der bereits früher von Nominalisten aufgestellten Theorie vom Wortdenken hinzu, so daß, um ihre Grundlage zu erschüttern, es genügt, auf die früher (§ 10, 13, 21, 23) gegebenen Ausführungen hinzuweisen; aber eigentümlich ist der Lehre SHUTEs die Strenge und Schroffheit, mit der sie, weit entfernt das Wortdenken als etwas bisweilen eintretendes zu betrachten, vielmehr behauptet, daß die Entwicklung unserer Zivilisation schon lange zu einem solchen Wortdenken geführt hat und überhaupt unser modernes Denken nicht möglich ist als nur in Worten.

Bevor wir SHUTEs Beweise prüfen, erinnern wir noch einmal an jene einleitenden Bemerkungen über die Methode; für SHUTE ist das Verfahren, daß er vom Verständnis oder vom Denken, welches das Lesen begleitet und demselben folgt, ausging, geradezu verhängnisvoll geworden; er scheint kaum ein selbständiges Denken zu kennen.

Und doch leuchtet ein, daß man während des Lesens oder auch wenn man Gelesenes wieder überdenkt, ganz bedeutend mehr unter dem Eindruck der Wortvorstellungen steht als beim Denken, welches wir still in uns vor oder während des Sprechens vollziehen. Da nun letzteres Denken sicher das ursprünglichere und wichtigere ist, so ist es ein Fehler, wenn SHUTE überall fast nur aus der Betrachtung des erstgenannten Denkens Schlüsse zieht über die Natur des Denkens überhaupt.

SHUTEs direkter Beweis geht vom Denken und Sprechen des Wilden aus; folgen wir SHUTE in seiner Ableitung, so können wir eigentlich die Tatsachen, welche er angibt, getrost alle eingestehen. Zugegeben, daß der Wilde in Bildern denkt und in nachahmenden Lauten spricht, zugegeben, daß bei wachsender Erfahrung Worte und Sätze konventionell werden, zugegeben, daß uns Zivilisierten heute der größte Teil aller Erfahrungen in Worten zugeht und in denselben im Gedächtnis bewahrt wird, so vermögen wir doch durchaus nicht einzusehen, warum aus all diesen Tatsachen für uns ein Wortdenken als das allein wahre sich ergeben soll. Denn daraus, daß Worte und Redeteile rein konventionell wurden - das betont SHUTE hauptsächlich - folgt doch nur, daß beim Hören derselben nicht der gleiche Zwang vorlag, sich ihre Bedeutung vorzustellen, wie zu einer Zeit, in welcher alle Ausdrücke vielleicht nur gewisse Nachahmungen von Wahrnehmungen oder Teilen derselben waren. Aber warum soll, sobald die Bedeutung der Namen rein konventionell wird, eine solche Lockerung des Verhältnisses von Namen und Vorstellung eintreten, daß fortan meistenteils nur der Name erscheint?

Suchen wir uns die ganze Entwicklung möglichst klar auszumalen! Zuerst stand also der nachahmende Laut neben der Vorstellung; schon damals werden sich beide assoziiert haben; allmählich wurde der Ausdruck durch Zusätze und Abschleifungen verändert, so daß sich der ursprüngliche Benennungsgrund verwischte; doch geschah dies sicherlich langsam und stets in der Assoziation mit der Vorstellung, und als schließlich das nachahmende Moment völlig aus dem Namen verschwunden und derselbe rein konventionell war, hielt doch noch die Gewohnheit die Assoziation aufrecht, welche jede neue Generation im Kindesalter lernt. Für die Festigkeit der Assoziation gibt es bekanntlich keine Grenzen, also kann auch der rein konventionelle Name genauso eng mit der Vorstellung assoziiert werden und bleiben, wie der nachahmende Ausdruck es war.

Man könnte gerade das Gegenteil der SHUTEschen Ansicht mit größerem Recht behaupten: Jene Wilden, deren Ausdrücke in Nachahmungen oder deren Teilen bestanden, konnten in gewissem Sinne wirklich in Worten denken, weil diese Worte selbst entweder ganz oder teilweise mit den konkreten Vorstellungen zusammenfielen; aber nachdem die Wort nur noch konventionelle Bedeutung besitzen, ist eine Vernachlässigung derselben eben darum unmöglich, denn wie wir, selbst nachdem uns die meisten Erfahrungen nur in Worten überliefert sind, nun über die Erfahrungen unsererseits sollen denken und sprechen können ohne in ein Nachplappern gelesener oder gehörter Wörter, in ein unsinniges Zusammenstellen von stereotypen Wortverbindungen zu verfallen, ist nicht einzusehen. Allerdings such SHUTE einem ähnlichen Einwand des gesunden Menschenverstandes (common sense) zu begegnen, welcher das Denken nach SHUTEs Theorie für bloße Worte und sinnloses Gerede bezeichnen könnte, und er bemüht sich, die Auffassung des gesunden Menschenverstandes zu rechtfertigen und mit seiner eigenen Erklärung in Übereinstimmung zu bringen. Dabei legte SHUTE aber erstens jenen Ausdruck "bloße Worte" doch zu sehr nach seinem Gefallen aus, wenn er meint, man nenne so Wortverbindungen, denen keine Vorstellungen entsprechen könnten; vielmehr bezeichnet man mit diesen Worten weit häufiger ein Gerde, dem im Sprechenden keine Vorstellungen entsprechen, aber doch entsprechen könnten und sollten. Daher verdient ein Denken in der Art, wie SHUTE es annimmt, doch den Namen des Denkens in "bloßen Worten". Und wenn zweitens SHUTE sich in voller Übereinstimmung mit dem gesunden Menschenverstand zu befinden wähnt, weil auch er die Notwendigkeit des bildlichen Vorstellens am Schluß einer Denkreihe betont, so bemerkt er doch andererseits wieder ausdrücklich, daß der eigentliche psychische Akt des Schließens nur ein nach gewissen Regeln vor sich gehendes Aneinanderreihen von Worten und zwar von "bloßen Worten" ist, eine Ansicht, welche wir schon öfter (§§ 10, 13, 21) zurückgewiesen haben.

§ 29. Der indirekte Beweis, welcher auf eine Verminderung der Einbildungskraft bei steigender Zivilisation hinweist, spricht uns mehr an. Sicherlich ist unsere Einbildungskraft weit schwächer als diejenige früherer Menschengeschlechter, sicherlich fällt uns das Denken in vielen vollkommenen Bildern sehr schwer. Jeden überrascht die Verwendung der zahlreichen Bilder in der alten Poesie, in den Sprachen wilder Völker, ja im Ausdruck des ungebildeten Volkes; überall treten die konkreten Vorstellungen stärker hervor. Dagegen verwendet das moderne Sprechen die ererbten, bildlichen Ausdrücke nur, um einige wenige Eigenschaften der betreffenden Vorstellungen hervorzuheben und bewegt sich sonst meist in abstrakten Worten; unzweifelhaft ist schließlich, daß das moderne Denken schneller ist als dasjenige der Wilden und Ungebildeten.

Aber es ist wiederum voreilig, hieraus zu schließen, daß das moderne Denken überhaupt gewöhnlich nicht in konkreten Sachvorstellungen, sondern nur in Wortvorstellungen vor sich gehen kann, vielmehr ist zunächst zu untersuchen, ob man sich nicht eine Stufe des Denkens in konkreten Bildern denken kann, welche zugleich die Schnelligkeit und andere Eigenschaften des modernen Denkens erklärt.

Nun ist allerdings die oben erwähnte Tatsache, jener auffallende Reichtum an bildlichen Ausdrücken in den älteren Sprachen zum Teil wirklich einem deutlicheren Bilderdenken zuzuschreiben, doch kommt noch ein anderer Umstand in Betracht. In jenen früheren Zeiten gab es noch keine prosaische Sprache neben der poetischen, beide waren eins, und der bildliche Ausdruck war häufig nicht die Folge eines besonderen poetischen Vorstellens, sondern einer Notlage des Denkens und Sprechens, denn man war noch nicht geübt, beim Denken die einzelnen abstrakten Merkmale, derentwegen man schließlich das Bild anführte, abzutrennen, sondern man bemerkte in dem, was man vorstellte, eine Ähnlichkeit mit einer anderen Vorstellung und führte dann den Namen dieser ganzen Vorstellung an, indem man sie sich zugleich ganz vorstellte. So bedient sich noch heute das gewöhnliche Volk sehr vieler Bilder nicht aus einem poetischen Sinn, sondern aus Mangel an logischer Schärfe und Ausdrucksweise. Man nimmt eine gewisse Gemeinsamkeit zwischen der gerade vorherrschenden Vorstellung und einer anderen wahr und sofort nennt man auch jene zweite Vorstellung; oft auch bezeichnet man das gemeinsame Merkmal und führt doch noch die zweite Vorstellung mit an; des letzteren Hilfsmittels bedienen auch wir uns noch, um dadurch in der Hauptvorstellung, auf die es uns ankommt, jene abstrakten Merkmale noch mehr hervortreten zu lassen. So sagt man: "laufen wie ein Besenbinder, hungrig wie ein Scheunendrescher" und dgl. mehr.

Aus demselben Grund entspringt auch die schon früher erwähnte Tatsache, daß unzivilisierte Völker und auch das gewöhnliche Volk bei uns eine große Zahl von Synonymen besitzen besonders für häufig auftretende Vorstellungen. Das erklärt sich so, daß dasselbe Dinge je nach den verschiedenen Umständen und Stimmungen, unter denen es aufgefaßt wird, oft verschieden benannt wurde; dagegen ist die Sprache unserer Zeit mehr bemüht, dasselbe Ding auch stets gleich zu benennen und zufällige Veränderungen in der Vorstellung durch hinzukommende, besondere Wörter zu bezeichnen. Aber auch unsere moderne Sprache ist noch voll von bildlichen Ausdrücken, welche nicht nur als ererbt behalten werden, sondern zum Teil selbst in der Wissenschaft, wie z. B. in der Psychologie, durchaus nötig sind; dabei ist aber zweifellos, daß wir keine einzelnen, deutlichen Bilder vorstellen. Es scheint daher klar, daß sich unser Denken und Vorstellen in einer ganz bestimmten Richtung entwickelt hat während die ungebildeten Menschen mit ihrer intensiveren Phantasie sich jede Vorstellung deutlich mit dem ganzen Inhalt vergegenwärtigen, fassen wir Modernen, logisch Geschulteren von der bildlichen Vorstellung sofort die wesentlichen Merkmale ins Auge, ohne uns weitere Einzelheiten genau vorzustellen. Dieselbe Fähigkeit, der wir den Besitz von Einzelvorstellungen, welche wegen ihrer besonderen Beschaffenheit Gattungsbegriffe im Denken vertreten können, zu verdanken haben, diese Fähigkeit befreit unser Denken von dem unnützen Apparat vieler einzelner deutlich vorgestellter Vorstellungen und beschleunigt es dadurch bedeutend.

SHUTE freilich beachtet diese Fähigkeit nicht und meint darum, daß das Denken in Bildern überhaupt viel langsamer sein muß, als tatsächlich unser modernes Denken ist; dies führt er besonders von den zusammengesetzten Vorstellungen aus, z. B. kann man den Inhalt des Satzes: "Edelmut ist Tugend" sich nicht so schnell vorstellen, wie man den Satz ausspricht; allein schon die Vorstellung "Edelmut" setzt ein Durchlaufen ähnlicher Vorstellungen und vielerlei Beziehungen voraus, deren Vorstellen viel Zeit verlangt.

Hiergegen ist, um beim Beispiel zu bleiben, zunächst zu bemerken, daß, wer in vernünftiger Rede jenen Satz ausspricht, eine solche Äußerung nicht ganz unvermittelt tut, sondern durch den Gang seiner Gedanken auf dieselbe hingeführt ist, so daß schon, bevor das Wort "Edelmut" ausgesprochen wird, gewisse Teile der Bedeutungsvorstellung vorhanden sind; die Bedeutungsvorstellung gewinnt noch mehr an Klarheit durch das Wort, welches die abstrakten Merkmale stärker hervortreten läßt - darum spricht man ja zur Stärkung des Denkens oft allein für sich - und durch das Billigungsgefühl, welches sofort erwacht.

All das wirkt meistens zusammen, plötzlich die Vorstellung eines konkreten Falles, in dem man Edelmut wahrnahm oder das denselben begleitende Billigungsgefühl empfand, hervorzurufen - wenn man nicht überhaupt zu einem solchen abstrakten Satz gerade von einem konkreten Fall ausgehend gelangt ist. In dieser Vorstellung treten nun die wesentlichen Merkmale besonders hervor, von denselben werden dann aus irgendeinem Grund diejenigen besonders beachtet, welche zugleich der Tugend zukommen, daran knüpft sich das Wort "Tugend" und so fälle ich das Urteil "Edelmut ist Tugend", ich erkenne in der konkreten Vorstellung, in der Edelmut versinnbildlicht ist, zugleich die der Tugend wesentlichen Merkmale. Bedenkt man außerdem, daß bei unserem modernen Denken durch strengere Aufmerksamkeit eine größere Einheitlichkeit des ganzen Denkprozesses herbeigeführt wird, zieht man schließlich in Betracht, daß unsere moderne Erfahrung, nicht nur diejenige, welche wir selbst machten, sondern auch die, welche uns in der erlernten Sprache und Anschauungsweise überliefert ist, uns zu einem viel feinerem Empfinden von Vorstellungsunterschieden und zu einem viel schnelleren Urteilen befähigt, so können wir getrost annehmen, daß in der Zeit, welche die Aussprache eines Wortes erfordert, wir auch das ihm entsprechende Bild vorstellen können, zumindest im Satzzusammenhang.

Daher brauchen wir nicht mit SHUTE ein Wortdenken als Regel anzunehmen, sondern halten daran fest, daß alles abstrakte Denken, sofern es nicht nur mit Symbolen operiert, sich an konkrete Bilder hält und nur darum abstrakt ist, weil man bei diesen Bildern fast nur auf die wesentlichen Merkmale achtet.

Und alle weitere Entwicklung des Denkens geht nicht zum reinen Operieren mit Buchstabenzeichen hin, wie SHUTE glaubt, sondern in der Richtung fort, daß man sich in den Vorstellungsbildern stets nur die wesentlichen Merkmale besonders stark vorstellt.

LITERATUR - Carl Grube, Über den Nominalismus in der neueren englischen und französischen Philosophie, Halle 1889
    Anmerkungen
    1) RICHARD SHUTE, A discours on truth, London 1877