cr-3Mauthner - O. F. Gruppe    
 
OTTO FRIEDRICH GRUPPE
(1804-1876)
Antäus
14. Brief

I I

Begriff 'Abstraktum'
Gefahr der Sprachen
Kein System
Wendepunkt
Relativität der Begriffe
Allgemeinheit
"Die Abstraktionen bieten uns viele Rechnungsvorteile und ersparen uns die Weitläufigkeit des Aufzählens."   Die falsche Logik
Der spekulative Irrtum
Die neue Methode
Empirischer Ausweg

Es liegt in dem Wesen der konkreten Sprachen, ein geringeres Bewußtsein von der eigentlichen Operation des Denkens zu haben: anderseits folgt es aus der Natur der abstrakten oder analytischen, daß sie sich mehr und mehr einem solchen Bewußtsein annähern, als in gewissem innern Zusammenhange, in einer Wechselwirkung mit logischer Wissenschaft stehen. Abstraktion und helles Bewußtsein der Abstraktion, das sind die beiden großen Aufgaben; das erste für die Sprache, das andere für das Denken.

Die Sprache würde ohne Abstraktion ihren wesentlichsten und eigentlichsten Zweck verfehlen: sie fällt aber in Schwindel, Taumel und Wahnsinn, wenn das Denken sich bloß innerhalb dieser Mittel bewegt und gehen läßt, ohne zugleich die getreue Verzeichnung ihres Werts und Geltens in der Hand zu haben und stets einzusehen.

Ohne Abstraktion ist kein Denken, ohne Kontrolle derselben nur Irrtum. Warum und wiefern ohne Abstraktion weder Sprache noch Denken? - Die Erörterung dieses Punktes fällt zwar seiner einen Seite nach in die Betrachtung über die Natur der Urteile; da sie jedoch von Ihnen möchte verlangt werden, so möge sie hier so weit gegeben werden, als möglich ist, um späterhin erst ihr volles Licht zu erhalten.

Ausreichend für meinen Satz wäre freilich schon der Beweis, daß eben, wie ich Ihnen dartat, alle Sprachen bis jetzt abstrakt geworden sind: eine Sprache als solche kann aber nie auf Abwege geraten, sofern sie keinen andern Zweck und Wert hat, als den immer leichterer Verständigung und sofern sie keinen andern Bildungsweg anerkennt, als den, daß sie gesprochen wird. Aber die Sache hält auch näherer Betrachtung Stand.

Einerseits lassen sich alle abstrakten Begriffe ansehen als erweiterte sprachliche Formen. Für Plural und Singular hat die Grammatik, in den älteren Sprachen auch für den Dualis, besondere Mittel: was hindert, die Gattungen für besondere Arten eines mehrfachen Genus anzunehmen: nur sind fast alle Sprachen darin sich gleich, daß sie hiefür eigne Wörter haben. Und wiederum die Merkmalsbegriffe - auch diese könnte man ganz füglich für erweiterte Verhältnisbegriffe ansehen.

Je allgemeiner nun, je weniger am speziellen haftend die Beugungen sowohl als, um mit HUMBOLDT zu reden, die grammatischen Wörter sind, um so bequemer und freier bewegt sich das Verständnis, man kann leichter und flüchtiger die Verhältnisse andeuten, sie haben keinen individuellen Beigeschmack, kein speziell bildliches Ungeschick, sie verlieren ihre metaphorische Eckigkeit und Unfügsamkeit. Flüssig und durchsichtig müssen die Ausdrücke sein; sie kommen von Bildlichkeiten her; aber  omne simili claudicat,  und eben diese Lahmheit hat die Sprache zu heilen, soll anders das Verständnis schnell und behend sein.

Die sprachlichen Ausdrücke sind in ihrer Bildlichkeit für einen einzigen Fall vielleicht sehr anschaulich und scharf bezeichnend; für alle übrigen dann entweder schief oder auch zu ausdrücklich; sie sagen mehr, und sagen es lauter als nötig ist. Ungebildete Völker und Menschen sprechen laut und mit allzuvielen und allzuderben Akzenten, gar zu eindringlich: hochgebildete Völker, Menschen und Sprachen reden leise, flüchtig, monoton - besonders tun dies auch geistreiche Leute.

Man versuche nur einmal einen allgemeinen Überschlag dessen zu machen, was die Sprache kann zu sagen haben: ich glaube es wird mit diesen kurzen Worten umschrieben sein: Dinge, deren Gattungen und Merkmale, Handlungen und deren Verhältnisse. Jede Aussage aber muß die Form eines Satzes oder Urteils annehmen. Nun ist auf der einen Seite Allgemeinheit der Ausdrücke nötig, auf der andern Prägnanz, d.h. wie wir uns schon früher verstanden, daß wiederum das Allgemeine kein Schwankendes und Unbestimmtes, sondern ein fest und sicher von der Sprache Angenommenes sei.

Beides aber konnte nur durch Abstraktion geschehen. Entweder es soll ein Merkmal eines Gegenstandes oder Begriffs ausgesprochen werden: soll dies nicht immer auf den ganz engen und unbehillflichen Vergleich einer Sache mit einer andern, nicht auf ein ausdrückliches oder verschwiegenes Gleichsam hinauslaufen, so bedarf es unumgänglich der Abstrakta. Oder es soll der Zusammenhang irgend einer Erscheinung mit andern erkannt werden, dann bedarf es wieder der allgemeinen, d.h. der abstrakten Begriffe. Ist es aber das Interesse aller und jeder Wissenschaft, alles und jedes Wissen, immer tiefere, weitgreifendere, allgemeinere Zusammenhänge der Dinge zu erfassen, so bedarf es immer weiterer und weiterer Abstraktionen, deren das Leben und die Wissenschaft täglich neue ausbeutet und zu Tage fördert.

Alles Lernen, Forschen und Wissen gleicht in diesem Punkt den Naturwissenschaft. Nach dem Bernstein, dem Elektron der Alten, ward sehr natürlich jene Eigenschaft desselben leichte Körper anzuziehen  Elektrizität  genannt, wie vom Magneten der Magnetismus. Aber in demselben Grade als wir die Allgemeinheit jener Naturkraft in alle verschiedenen Verzweigungen immer weiter verfolgten, eben so hat sich auch der Begriff erweitert und erweitern müssen, und der Fußpunkt ist längst gänzlich aus den Augen verloren.

Der Galvanismus, der Voltaismus, alles dieses hat sich damit vereinigt: das Merkmal, die Eigenschaft eines einzigen Individuums, ist zu einer ganz allgemeinen Naturkraft geworden, deren Ende gar nicht abzusehen ist. Denn Magnetismus, Wärme, Licht, insonderheit aber der chemische Prozeß fließt untrennbar damit in einander und die Abgegrenztheit sowohl des an einem Individuum haftenden Begriffs, als dann auch die Präzision der ferneren Abstraktionen löst sich selbst völlig vor unseren Augen auf.

Und wie ist es sonst mit den Gattungsnamen? Ebenso: Sie erweitern sich vor dem Licht der Wissenschaft immer mehr, bis sie endlich wohl gar alle Grenzen verlieren, und in ihrer Abstraktion nur durch einen Machtspruch, durch einen neuen Akt der Abstraktion, einige Grenzbestimmtheit erhalten können. Es tritt die autonome Gewalt der Sprache ein, und sagt: dies soll  Salz,  dies soll  Säure  heißen. So bekommen die Audrücke Prägnanz, nachdem sie sich vorher in Unbestimmte müssen verloren haben: diesen Weg ist die Sprachbildung ihrerseits unbewußt gegangen; die Wissenschaft hat ihn mit Bewußtsein zu gehen.

Immer scheint dieser doppelte Gang obzuwalten: die Begriffe gehen von einzelnen Körpern aus, wie auch Salz und Säure, sie werden durch Übertragungen abstrakter und allgemeiner, bis sie endlich allen Halt verlieren; dann setzt die Sprache sie wieder fest aber nicht mehr für Individuen, sondern für Begriffe, für gedachte Zusammenhänge, denen sie dann ganz entsprechen, ohne Übertragung. Dies ist dann das eigentliche Abstraktum; die Abstrakta der Sprachen stehen auf verschiedenen Stufen dahin, immer neue wachsen nach, welche die vorrückenden ersetzen...

Die wahre Geltung und den eigentlichen Wert der abstrakten Begriffe wird man um so leichter und handgreiflicher gewahr werden, wenn man sich den spekulativen Mißbrauch der Sprache vergegenwärtigt und dessen Verfahren Stück für Stück mit dem Sinn der Sprache zusammen hält, wie er sich aus ihrem Entstehen einfach ergibt.

Also nochmals, wie nimmt die Spekulation das Denken und die Sprache? Das Denken als einen ursprünglichen Akt einer wiederum noch ursprünglicheren Substanz, welche sie Seele nennt: die Sprache nicht für eine vertraute, ältere oder gleichalte Freundin, sondern für eine Magd, für ein bloßes Werkzeug des Denkens, für ein sinnliches Mittel, die in jenem gegebenen und selbständig erzeugten Bestimmungen festzuhalten. Verdiente nicht dies schon ein Kopfschütteln? Und das vor Augen Liegende zu erklären flüchtet man zu einem Unbekannten, und von diesem aus zu einem noch Unbekannteren.

Aber ungestört weiter! Die spekulative Seite hält dafür: Es gibt Qualitäten im Denken selbst, es gibt Kategorien, die wir nicht  von  den Dingen bekommen, noch  an  ihnen erworben haben, sondern dem Geist eingepflanzte Kategorien; es gibt nicht nur Begriffe  a priori,  vor aller Erfahrung, sondern es gibt auch synthetische Urteile  a priori.  Nicht etwa nur KANT hat dies gelehrt, sondern alle Spekulation, welche dem Denken selbständige Erkenntnis zuschreibt, hat, wenngleich unausgesprochen, derlei Ansichten zu Grunde haben müssen.

In dem Schlußverfahren soll das Denken einen Weg des intellektuellen Fortschreitens besitzen: es gibt eine Erkenntnis, welche unabhängig ist von aller Erfahrung, nicht wie diese unzulänglich, teilweise, sondern notwendig, allgemein, absolut. Die Begriffe, deren sich das Denken bedient, und die es aus sich selbst schöpft, sollen eben darin von den Begriffen der Erfahrung verschieden sein, daß sie in ihrer Geltung nicht relativ, sondern absolut sind.

Von alledem führt nun unsere bisherige Betrachtungsweise auf das direkte Gegenteil, und es ist Zeit, die einzelnen streitenden Ansichten und auch das Ganze mit dem Ganzen zum Entscheidungskampf zu führen.

Sie aber glauben vielleicht noch an die Möglichkeit einer friedlichen Zukunft. Die Sprache, welche wir bisher kennen gelernt haben, sei die gemeine, für den gewöhnlichen praktischen Gebrauch, das philosophische Denken fordere eine ganz andere, so wie ja auch schon hier eine besondere Terminologie gelte und anerkannt werde. So leicht lasse ich mich nicht abfinden: dies vielmehr ist ja nur der streitige Punkt. Ich werde Ihnen nun im Folgenden beweisen, daß ein solcher Unterschied nicht möglich sei, daß man zwar einzelne Terminologien einführen könne, wie es genehm ist, daß man aber die gesamte Sprache und deren Weise nicht umkehren und zu dem gebrauchen könne, was sie ist, wenn wir sie recht befragen werden, auf das ausdrücklichste verbietet.

Sie werden sehen, daß man, so wie man ihre wahre Bahn verläßt, sogleich in ratlosen handgreiflichen Unsinn, in kreisend wirbelnde Dunstgebilde sich gestürzt sieht und allen Boden unter sich verloren hat, kurz, daß man alsdann, wie auch oft genug geschehen, an dem Denken selbst irre werden muß. Gezeigt soll werden, daß die Begriffe und Verfahrungsarten, worauf das Denken als auf sein ihm angestammtes Recht pocht, vielmehr nur ein gestohlenes und geholtes Gut sind.

Doch können wir uns unmöglich auf alle die einzelnen Ausreden und Beschwichtigungen einlassen; wir gehen unsern Weg: mag nachher jeder selbst zusehen, wo er den Schaden erlitten hat.

Daß die Gattungsbegriffe nichts weniger als auf festen, geschweige denn absoluten Teilungen beruhn, ward in meinem frühern Briefe unabweisbar klar: nicht einmal für die Wissenschaft war es irgend ausreichen, wieviel minder denn für die Philosophie und deren absolute Konstruktionen. Aber jene bemerkte Unzulänglichkeit des sprachlichen Ausdrucks fiel weder dem Ungeschick des Sprechenden, nach einer besondern Sprache, noch auch dem unvollkommenen Zustande der Wissenschaft zur Last: sonder es zeigte sich dort schon, daß dies in der Natur und dem Wesen alles sprachlichen Ausdrucks überhaupt liege, der sogar hinter der Wissenschaft zurückbleiben müsse, doch ohne sonderlichen Schaden der letzteren.

Die Sprache geht einerseits wesentlich von Bildlichkeiten aus, und haftet an einzelnen Vergleichungen und Relationen, läßt sie sich auf das Allgemeine ein, so steht sie gleich in Gefahr verkannt oder gar entwurzelt zu werden, und dann Gesundheit, Bewußtsein, wonicht Leben, einzubüßen. Dort war nur von den Gattungsnamen und von der Chemie hauptsächliche die Rede: es ist aber, mehr und minder, überall so.

Wir wissen alle recht wohl, daß der Ausdruck: "die Sonne geht auf" bei der allernächsten Erscheinung stehen bleibt, der Sonne eine Bewegung zuschreibt, sogar die des Gehens, also eigentlich eine tierische: allein mit der streng astronomischen Vorstellung sind wir sogleich im All verloren, und haben keinen festen Punkt.

Oder auch, wie mir soeben einfällt: denken Sie doch gefälligst nur an den gestirnten Himmel: wir benennen ganz willkürlich die Sternbilder nach diesen oder jenen tierischen, oder menschlichen Gestalten, und täten wir es nicht, so gibt es hier wahrhaftig keinen innern Teilungsgrund. Nur durch jenen eigenwilligen Akt erst können wir uns im Himmel orientieren. Gerade so hat schon ARATUS geurteilt. Die Sprache kann hier nicht einmal mit, obwohl die Wissenschaft an Erscheinungen und Faktis fortgegangen ist; das Denken aber und die Vorstellung wird selbst erst an den Bildlichkeiten der Sprache fortgeleitet.

Allein die Sprachen streben ja auch zum Abstrakten, und dies war dem Bildlichen gerade entgegengesetzt. Sie schwanken zwischen Bildlicheit und Abstraktion unaufhörlich in der Mitte, vertauschen immer fort die eine mit der andern, das Übel und die Ungenauigkeit der Einen hin und zurück mit der des Andern. Das Bild ist zu eng und hat immer spezielle Nebenbedeutungen, es ist zu beschwerlich, zu umständlich; endlich bleibt nur die Hauptsache, woran man zu denken hat, geläufig, das übrige fällt außer Acht: also nur noch das eigentliche  tertium comparationis,  der Exponent der Vergleichung, bleibt.

Allein dem abstrakten Ausdruck, der so erwächst, fehlt wieder Bestimmtheit, Anschaulichkeit, Sicherheit, und so muß die Sprache, wo es darauf ankommt, immer wieder zu den neuen Bildlichkeiten zurückzukehren, die nichts weniger als nur ein äußerlicher Schmuck der Rede sind.

Mit den Bildlichkeiten der Sprache kann die Spekulation nichts anfangen; sie nahm die Abstraktionen, wie sie sie vorfand, unbekannt mit ihrem Wesen, in sich auf: ein süßes Gift, das sie in eine kurze überschwengliche Berauschung versetzte, aber Geisteszerrüttung nach sich zog.

Wie reimt sich das? In der gewöhnlichen Sprechweise sind doch die Abstrakta nicht nur ohne Irrung und Gefahr, sondern auch heilsam und gerade schnell zum Ziel führend, ja, wie vornhin gelehrt wurde, machen sie sogar die Sprache im Innersten aus und sind von ihr untrennbar. Ganz recht, und sehr natürlich: in der Philosophie wird es nur darum nicht ebenso sein können, weil diese sie für etwas weit anderes nimmt, als wofür die Sprache sie geben kann. Die Spekulation über die einzelnen Begriffe reißt diese aus dem Zusammenhange, in welchem die Sprache sie eingeführt hat: dann ist alles aus.

Der Sprache sind sie in ihrem ganzen Umfange nichts als geschickte Abbreviaturen, die sie eben in ihrer vieltausendjährigen Praxis, je nachdem sie sich bewährt fanden, erworben und behalten hat. Die Abstrakta sind entsprungen aus sprachlicher Praxis, leidern nur praktische Anwendung: aus ihnen selbst aber ist nichts Theoretisches abzuleiten; man kann nichts aus ihnen herausklauben; sie sind nur  Mittel,  nicht  Inhalt:   Abbreviaturen  und  Hilfsausdrücke,  darauf kommt es an.

Erfahrung und Scharfsinn bietet die Sprache auf, um sich deren zu erwerben, alles nutzt sie dahin. Hierin aber stehen die abstrakten Ausdrücke mit den sprachlichen Formen, wie vielleicht schon im Vorbeieilen berührt wurde, in völlig gleichem Niveau. Kontraktionen der Formen und Abstraktionen, Abschleifungen von Form und Begriff halten Schritt. Jede neu erworbene Form der Sprache ist ein Weg, unmittelbarer und schneller das zu sagen, was früher nur auf Umwegen gesagt werden konnte, jede spätere Form und Ausdrucksweise bezeichnet größere, weitere Verhältnisse und bezeichnet sie kompendiöser, bequemer, dienstwilliger: sie ist eine stärkere Abstraktion.

Dasselbe geschieht unter den Abstraktionen selbst, sie alle aber und alle Formen der Sprachen sind eben soviele  Rechnungsvorteile,  überheben uns großer Weitläufigkeit des Aufzählens. Einen anderen Vorteil und eine andere Natur haben sie nicht, dies aber ist höchst wesentlich für die Sprache; sie kann nichts Angelegentlicheres haben. Was tun die Gattungen? Sie überheben uns zu sagen: dieser Löwe, den ich gesehen habe, und dessen ich, und Du, und Du, uns erinnern, ihn gesehen und so genannt zu haben, und alle ähnlichen Tiere von denen wir gehört, daß sie nach der gegebene Beschreibung auch Löwen sein müssen, und endlich alle, die von dieser Art etwa noch vorkommen möchten usw.

Sie sind ein Hilfsausdruck, ein eingeführter Abkürzungs-Buchstab  M  für ein vielgliedriges vielleicht noch gar nicht einmal geschlossenes Polynom: nur dies und nichts anderes. Und die Merkmale, was sind diese? Ebenso nur ein kürzerer Hilfsausdruck, einführt für irgend eine zusammengesetzte Proportion, die uns lästig wird bei jeder Wiederholung noch einmal auszuschreiben oder in ihrer ganzen Weitläufigkeit herzuplappern.

Ohne solche Vorteile könnten wir nichts größeres rechnen, noch uns über etwas einigermaßen Zusammengesetztes verständigen. Die Abstrakta sind allzumal nur eine erweiterte Art von Pronomen, das man natürlich nur dann verstehen kann, wenn man weiß, was es vertritt; sie sind, um mit dem Rhetoriker zu reden, nur eine Ellipsis: um sie zu verstehn, muß man wissen was ausgelassen ist; sie sind nur eine  Synesis,  eine  constructio ad sensum,  die man im Zusammenhange und nicht außer demselben nehmen, die man verstehen wollen muß. Eben dies fanden wir vorhin bei der Sprachbildung selbst, die meistens zu inadäquaten Mitteln ihre Zuflucht nehmen und das Verständnis großenteils voraussetzen muß.

Das allervortrefflichste und anschaulichste Beispiel haben wir hier ganz in der Nähe, in der Tat ein Beispiel, nicht etwa nur ein Bild. Die Abstraktion des Rechnens und Zählens hat selbst diesen Weg gemacht; nicht sogleich verfiel man auf den wahren Vorteil der Abstraktion. Die griechischen Zahlen, bekanntlich die Buchstaben mit einigen eingeschobenen Zeichen, sind ein inadäquates Mittel, zwar kurz, aber durchaus steril für die Zusammensetzung. Ganz bildlich sind die römischen, naiv unmittelbar; sie sind weitläufig und lassen gar kein Rechnen zu, nicht besser, als ein Abzählen an den Fingern, woher sie überhaupt unzweifelhaft entlehnt sind.

Die arabischen Zahlen erst, oder mit richtigerm Namen die indischen, traten als geistreiche Abstraktion auf. Erstlich, sofern besondere Chiffern und dann hauptsächlich, sofern eine Bezeichnungsweise, die mit dem Decimalsystem gleichen Schritt hält; jetzt gab es erst, um so zu reden, eine arithmetische Sprache, mit einem ausgebildeten Flexionssystem: die römische Numerationskunst war nun eine Gebärdensprache, nur ein Zeigen und Zählen an den Fingern. Weitere eben so bequem als geistreich erdachte Flexionen sind dann die Spezies, und ganz besonders die Anwendung der Logarithmen: allein alles dies ist nur arithmetische Sprachlehre und Grammatik, und weder Wissenschaft noch Philosophie, wofür einige wenig aufgeklärte Köpfe es allerdings genommen. Davon aber besonders und nachher.

Wie mich dünkt soll Ihnen hieraus von neuem einige Beleuchtung auf die Abstrakta nicht nur, sondern auch auf die Sprache und auf das Denken zurückfallen. Überhaupt gesagt: es gibt für diese Dreiheit nur eine gemeinsame und gegenseitige Aufklärung. Gehen wir nun auf den Grund, und fragen, was die Abstrakta denn eigentlich sind, so antworte ich: Es sind Hypothekenverschreibungen, wie sonst auf Grundstücke und deren Rechte, so hier auf wirkliche Dinge und deren Verhältnisse; es sind auf Individuen und Konkreta ausgestellte Wechselbriefe, akzeptiert von dem Volk, das die Sprache redet.

Wird nun die hypothekarische Sicherheit und Basis, wodurch sie lediglich bestehen, aus de Augen gelassen, kümmert man sich nicht um die Person und deren Kredit, durch welche allein der Realwert verbürgt ist, so hat man nur ein beschriebenes Papier, und es hilft nicht, die Tinte zu analysieren: so kommt man nimmermehr zu dem Seinigen.

Daß so aber und nicht anders das Verfahren der Philosophen ist, werden Sie kennen lernen. LOCKE soll, wie in CHAUFPIÉs Fortsetzung von  Bayles dictionaire critique et philosophique  erzählt wird, einmal gesagt haben: es bliebe bei Definitionen von Begriffen nichts übrig, als sie zuletzt auf einen sinnlichen Wert zurückzuführen, sonst gelänge ihre Sicherstellung nimmermehr, sondern man würde nur endlos im Kreise herumgeführt. Wie treffend und wahr ist diese Bemerkung; nur hat LOCKE selbst sie nicht beobachtet, wenigstens niemals da, wo er ganz vornehmlich gesollt hätte.

Sei es nun daß gewisse Abstraktionen von Handlungen ausgehen und dann substantivisch- selbständig gefaßt werden, oder daß sinnliche Verhältnisse und Beziehungen sich zu geistigen steigern, einzelne und beschränkte sich zu allgemeinern erweitern: früher oder später hat man ein Wort, dem man einen  Begriff  zuschreibt, mit dem Hinterhalt, es sei ein auf dem Boden des Denkens, nicht der gegenständlichen, Welt gewurzelter. Man erinnere sich, woher sie kommen, dann wird man wissen was sie bedeuten, man behalte dies bei ihrem Gebrauch, sobald man sich aus dem Angesicht der Erfahrung entfernt, im Gedächtnis und lasse es sich immer von neuem zurufen; der Philosoph schreibe es vor seinem Pult, er schreibe es sich über jeder leeren Papierseite auf, die er mit spekulativen Betrachtungen anfüllen will.

 Es bewegt sich  ein Gegenstand, und er bewegt sich  schnell, geschwinde:  das sind Fakta, Erscheinungen, bei denen jeder weiß, was er zu denken hat. Es bewegt sich etwas geschwinder, als ein anderes, ein drittes aber am geschwindesten als andere zwei, oder auch alle übrigen Dinge gleicher Art, oder alle gekannten überhaupt. Nun ist es dem Ausdruck bequem, überhaupt das Verhältnis, daß sich etwas geschwinde bewegt, es sei nun mehr oder weniger, an und für sich zu fassen, abgesehen von dem Gegenstande der sich bewegt, und der Art der Bewegung: die Sprache, nach Maßgabe ihrer formellen Bildungsmittel, gibt dafür das Wort  Geschwindigkeit  her, welches nun diese genannte Relation, und sie allein, für sich gefaßt, bezeichnet: ein wesentlicher Fortschritt der sprachlichen Ausdrucksweise, ohne daß dadurch eine neue oder besondere Tätigkeit des Denkens hinzuträte, anders als jene ganz einfachen, leicht überschaulichen Handlungen, welche den früheren Kombinationen und Abbreviaturen zum Grunde liegen.

Hier ist noch alles leicht, und Sie, andersdenkender Freund, stellen sich wohl kaum vor, daß hier Irrtum und Mißbrauch möglich und nahe sei. Aber gehen wir geruhig unseres Weges weiter! Was nenne ich den  Strom  des Wassers, was nenne ich den  Wind?  der Strom des Wassers ist sicherlich nichts anderes, als das Wasser, sofern es sich bewegt, diese Relation seiner Bewegung. Ebenso ist der Wind die bewegte Luft, die Luft, sofern sie sich bewegt, hierfür ein kürzerer Ausdruck. Allein sind wir uns dessen nicht genau bewußt, so sagen wir wohl nicht nur: der Strom treibt Schiffe, sondern auch der Strom treibt das Wasser, der Wind treibt die Luft.

Sicherlich ist dies falsch; und ich will nicht gerade behaupten, daß dieser Mißbrauch häufig wäre, aber es nimmt sich's niemand übel zu sagen: der Wind treibt die Wolken. Diese Vorstellung ist schon nicht mehr so unschuldig, der Fehler ist hier verkappt, und darum schlimm. Die Wolken bewegen sich mit und in der Luft, in der sie schweben, und wenn der Wind die bewegte Luft ist, so muß er auch die bewegten Wolken sein, und man kann weder sagen, daß die Luft, noch daß der Wind die Wolken treibe: hier ist schon durch den besonderen Sprachausdruck ein ganz allgemeines Mißverständnis veranlaßt, das die Wissenschaft ausdrücklich beseitigen muß...

Wollten sich nun aber die Philosophen vor schwankendem und relativem Gebrauch der Wörter hüten, und eine absolute und feste Geltung derselben einführen, wie namentlich Sie, mein Freund, daran zu glauben scheinen, so muß geantwortet werden, dies ist nicht möglich: Ohne Relativität der Abstrakta gibt es keine Sprache, keine mögliche Ausdrucksweise, gibt es kein Denken.

Dies findet künftig noch nähere Beleuchtung. Was nun aber die neuern Philosophen betrifft, so ist sonnenklar, daß nicht etwa durch genauern Gebrauch der Sprache ihren Philosophemen mehr Festigkeit und Licht zufließen werde, sondern, daß sie sich dann vielmehr in Nichts auflösen müßten. HEGELs Philosopheme bestehen nur in der dunklen Verworrenheit der Relationen: werden wir uns dieser und des wahren Gebrauchs der Sprache bewußt, so ists vorbei...
LITERATUR - O. F. Gruppe, Philosophische Werke, I. Antäus, München 1914; Hermann Josef Cloeren (Hrsg), Philosophie als Sprachkritik im 19. Jahrhundert, Stuttgart-Bad Cannstadt 1971