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OTTO FRIEDRICH GRUPPE
(1804-1876)
Gegenwart und Zukunft
der Philosophie in Deutschland


Antäus
Begriff 'Abstraktum'
Gefahr der Sprachen
Wendepunkt
Relativität der Begriffe
"In der Tat, die Zeit der Systeme ist abgelaufen..."   Allgemeinheit
Falsche Logik
Spekulativer Irrtum
Die neue Methode
Empirischer Ausweg

Kein System
"Ein System kann nur wieder durch ein System gestürzt werden" - das ist eine Äußerung von GANS, mit welcher dieser die Gegner HEGELs in Schach halten zu können glaubte, eine Äußerung, welche auch SCHELLING zu seinen Gunsten zu deuten suchte. Es könnte nun diese Behauptung selbst von unserer Betrachtung aus noch Kraft gewinnen, sofern sich nämlich gezeigt hat, daß HEGEL und SCHELLING eben selbst die äußersten, die letzten möglichen Systeme bringen. Wir müssen ihnen zugeben, daß es über ihre spekulativen Systeme hinaus kein neues mehr geben könne - aber muß es denn auch Eines geben?

Es ist wahr, daß die bisherige Philosophie gerade im System etwas Wesentliches und Unterscheidendes gefunden hat, aber muß denn diese Ansicht für alle Zeit aushalten, kann sie im Fortschritt menschlichen Denkens nicht vielleicht aufgegeben werden? Allerdings, sie kann es, sie muß es, dieser Punkt ist da.

Das System ist nur das Mittel, die Wahrheit ist das Ziel; kann nun die Wahrheit nicht damit bestehen, zeigt sich, daß das System etwas Voreiliges, Nicht-philosophisches ist, so muß es gleichwohl aufgegeben werden, eben damit die Philosophie bestehe. In der Tat, die Zeit der Systeme ist abgelaufen, die Philosophie aber, welche niemals ablaufen kann, soll nun erst wahrhaft beginnen.

Zunächst: Es kann kein spekulatives System mehr geben und in keiner Art haben wir das zu bedauern. Man glaubte in der Spekulation, dem Erkennen aus reinen Begriffen, eine höhere Instanz zu besitzen, welche in zwei wesentlichen Punkten die Erfahrungswissenschaft überbiete, in Allgemeinheit und Notwendigkeit: dies aber hat sich erwiesen als bloße Täuschung. Die Anklagen, welche besonders stark und laut in alter, aber auch in neuerer Zeit von CARTESIUS und MALEBRANCHE, gegen die Zuverlässigkeit der Sinne erhoben worden, sind falsch, sind bloße Verleumdung; nicht der Sinn hat getäuscht, sondern vielmehr die an seine Aussage geknüpfte Überlegung; der Sinn täuscht und trügt an sich nicht, die verschiedenen Sinne durchdringen und unterstützen sich und es gibt schlechterdings keine Sicherheit welche sie irgend überträfe.

Es gibt aber auch außerhalb ihrer nirgend einen festen Punkt, von dem aus man sie angreifen könnte; wenn man einen solchen in dem Denken gefunden zu haben glaubte, so erweist sich, daß dies keineswegs von der Sinnenerkenntnis unabhängig ist, daß es vielmehr in derselben wurzelt, und auf jedem Schritt derselben bedarf um von hier aus Bestimmtheit und Sicherheit zu empfangen, so wie anderseits auch das Denken den Sinn unterstützt und bestätigt und keineswegs mit ihm streitet. Der Widerspruch ist nur scheinbar.

Die Hoffnungen also, welche XENOPHANES und PARMENIDES auf einen besonderen Weg des spekulativen Erkennens gründeten, Hoffnungen, welche von PLATON und sogar großenteils noch von ARISTOTELES geteilt wurden, diese müssen nunmehr gründlich und für immer aufgegeben werden. Es gibt keine selbständige Methode spekulativen Erkennens und es gibt auch keinen Baugrund, auf welchem ein spekulatives System aufgeführt werden könnte. Nur selten hat eines seinen Urheber überlebt, das absolute und absoluteste ist erschöpft und seine Existenz war auch nur eine ephemere (einen Tag dauernd). Wir sprechen jetzt mit guter Zuversicht aus: Die Vergeblichkeit dieses Bemühens überhaupt liegt zu Tage. Es kann hinfort kein spekulatives System mehr geben, weil es keine spekulative Philosophie mehr gibt.

Aber auch überhaupt kein System mehr in der Philosophie - diese muß eine ganz andere Bahn betreten, eine Bahn, in welcher sie stetig und sicher fortschreiten kann.

Auf einen begrenzten Raum hat BACON von VERULAM den Systemen schon vollständig ein Ende gemacht und dies war der Anfang wahrer Naturforschung, die in weniger Jahrhunderten, als die Philosophie Jahrtausend gehabt hat, zu den imposantesten Resultaten gelangt, während jene, noch bei dem System verbleibend, zugleich auch eine Bettlerin geblieben ist, die nur von den Brosamen jener Reichen sich noch dürftig hat fristen können.

Die induktive (Schluß vom einzelnen aufs allgemeine) Forschung verzichtet auf die Ergründung der letzten Ursachen, noch weniger glaubt sie damit anheben zu müssen, eben diesem Grundsatz dankt sie alle ihre Erfolge. Sie ist nach obenhin offen, das System ist geschlossen, eben darum borniert. Die Wissenschaft ist beständiger Rektifikation (Berichtigung) fähig, läßt tausend und aber tausend Arbeiter nebeneinander zu; das System ist ausschließend, von einem bestimmten Zentrum ausgehend, der Berichtigung unfähig, ein jedes von vorn anfangend, nur groß in seinen Hoffnungen und Verheißungen, gering in der Leistung.

Das System ist unser Zusammenhang, nicht der Zusammenhang der Natur, es ist ein gemachter, erzwungener Zusammenhang, nicht ein erlernter - es ist etwas ganz Subjektives, oft sogar willkürlich, launenhaft, wo nicht unredlich. Es schwebt im Reich der Jllusionen. Sind wir Männer oder Kinder? wird die Menschheit nicht älter und reifer mit den Jahrhunderten, daß sie sich über ein Gärtlein von Blumen freuen könnte, die abgepflückt und nur mit den Stengeln in die Erde gesteckt sind!

Wenn demnach eben das System vom Übel ist, wenn hierin das Hindernis des wahren soliden Fortschrittes der Philosophie liegt, wie könnten wir uns um einen Verlust grämen, wie sollten wir ihn nicht vielmehr für einen Gewinn halten? In der Tat, für die Philosophie wird nur dann Gutes zu hoffen sein, wenn auch sie auf den baconischen Weg geführt werden kann, jenen Weg den auch ARISTOTELES ahnte und selbst beschritt und welcher auch KANT und noch manchem andern Philosophen in den labyrinthischen Irrwegen des Systems zweilen aufdämmerte.

In solchem Sinn bedarf es noch einer neuen Grundlegung für die Philosophie; die Linien sind hier gezogen, das Fernere gehört einem anderen Orte an, das Ganze kann nur nach und nach und immer nur annäherungsweise erreicht werden, und - die Menschheit ist noch jung. Die Philosophie soll sich in Zukunft bescheiden, sie soll nicht mehr geben wollen, als sie geben kann, als sie mit den jedesmaligen Mitteln vermag; alsdann wird ihr viel Rückgang, viel Reue erspart werden. Was ihr an Extensität abgeht, kann sie einbringen an Intensität, vor allem an Sicherheit: sie wird forschen statt zu phantasieren, der Besitz von Resultaten wird sie am gründlichsten trösten können über den Verlust von Jllusionen.

Das System ist die Kindheit der Philosophie, die Mannheit der Philosophie ist die Forschung.

Die Philosophie ist gesichert und gerettet vor den beiden Hauptgefahren, welche sie immerfort bedroht haben: Skeptizismus und Autoritätsglauben. Die Überhebung des Wissens mußte umschlagen in Verzweiflung an allem Wissen, den spekulativen Ausschweifungen ist ein philosophischer Unglaube stets auf dem Fuß gefolgt: das Altertum und die neue Zeit hat im Wechsel mit den Versuchen absoluter Konstruktion die Lehre gebracht, daß der Mensch das Maß aller Dinge sei, und alles Wissen Trug und Schein.

Aber der bessere Kern, den der Skeptizismus der Alten allerdings einschließt, dieser ist nunmehr gerettet und geläutert. Der Skeptizismus im besten Sinn will suchen, forschen, anstatt zu versichern, zu behaupten, zu bestimmen; er will sich nicht voreilig entscheiden, er will zurückhalten mit der Entscheidung - alles dies ist enthalten in den Prinzipien der induktiven Methode, aber es tritt hier erst klar und sicher hervor.

Daß die Philosophie auf der Bahn, welche wir ihr anweisen, vor dem Autoritätsglauben geschützt sei, bedarf wohl keiner Ausführung. Neben der Forschung nimmt sich das Orakelspenden von pythischem Dreifuß und die Berufung auf höhere außerordentlich Begabung schlechterdings nicht aus; hier gilt keine intellektuale Anschauung, welche jeder Kontrolle und Beweisführung überhoben zu sein beansprucht.

ARISTOTELES sagte wahr und tief: die Philosophie ist Sache der Freiheit, aber der menschlichen Natur ist etwas Knechtisches eigen. Gewiß liegt hier eins der ernstesten Hindernisse für das Gedeihen der Philosophie: die Menschen sind nur zu geneigt der Autorität sich zu beugen, auf Selbstforschen zu verzichten, aber Philosophen sollten dies nicht befördern, sollten niemals eine solche Unterwerfung in Anspruch nehmen!

Wer nun gar der Arbeit des Selbstdenkens überheben und dabei doch zugleich den wohltuenden Schein einer Art von Selbsttätigkeit den Trägen überlassen kann, der wird ein Philosoph für die Menge sein - freilich kein Philosoph. Man bringe nur einen fertigen Formalismus, und man wird hier der willkommenste sein; die HEGELsche Philosophie und auch schon die KANTische, ist oft so viel gescholten worden wegen ihrer abstrusen und weitläufigen Terminologie - allein wer die Sache ruhiger betrachtet, wird sich vielleicht sagen müssen, daß sie gerade darum ihr Glück gemacht hat in gewissen Regionen.

Wie schwierig auch eine Terminologie sei, wie weitläufig ein Formenwesen - die Dreiheitsformel der absoluten Philosophie ist aber höchst simpel - immer wird es noch leichter und bequemer sein, als Forschen und Denken. Mit solchem und anderem Abrakadabra das die knechtischen Seelen gewinnt, wird nunmehr die Philosophie verschont bleiben, sie wird ein Panier aufpflanzen, um das freie Geister sich sammeln können.

Dagegegen hat die Philosophie wirklich einen sicheren Boden unter ihren Füßen gewonnen, einen fußfesten, handgreiflichen Ausgangspunkt: dieser liegt in der Erkenntnis von der Unerschütterlichkeit der Grundtatsache dessen, was die natürliche Anschauung uns bietet: es gibt keine andere Wirklichkeit als die uns vorliegende. CARTESIUS suchte die Wahrheit unserer Sinneswahrnehmung auf dem idealistischen Umwege zu gewinnen, daß er lehrt, Gott errege die Vorstellungen in uns und Gott könne kein "deceptor" (Irrführer)) sein. Eines solchen Umweges bedarf es nicht. Das Ich und das Denken ist untrennbar von dieser uns umgebenden Welt, die verschiedenen Sinne unterstützen sich in ihrer Aussage, die vielen Ich erkennen diese Eine Welt in allem Wesentlichen auf gleiche Weise, daher die Möglichkeit der Wissenschaft, der Kunst, und ins künftige auch der Philosophie.

Wir wurzeln mit allem Sein und Denken in dieser Welt, unsere Begriffe stehen auf dieser Basis, gelten nur innerhalb dieser Bedingung. Wir können mit unserem Denken nicht aus jener Grundbedingung heraus, nicht darüber hinaus. Ein Jenseits gibt es für die Religion, aber nicht für die Philosophie, für den Glauben, nicht für das Wissen; keine Sage von dort geltender höherer Erkenntnis darf uns in unserem ruhigen Fortgange stören, darf uns bewegen das Ungewisse dem Gewissen, das Unbekannte dem Bekannten vorzuziehen.

Ich gab dem Werk meiner Jugend den Namen ANTÄUS, um damit zu sagen, daß die wahre Philosophie diesem Sohn der Erde gleich sei, der nur Kräfte hatte, so lange er mit seinen Füßen den mütterlichen Boden berührte. Die spekulative Philosophie hat seitdem alle Ähnlichkeit mit einem HERKULES verloren, so daß sie vermöchte die Philosophie vom Boden zu heben und ihn in der Luft zu besiegen: die spekulative Philosophie kann nicht länger ein Feind der Philosophie sein.

Alles Erkennen hört auf, sobald die große Grundbedingung und Grundtatsache unsere Existenz und zugleich die Existenz der Welt nicht als das Schlechthin -Gebenene, Schlechthin -Gewisse gelten lassen. Dies ist ein Letztes, Unübersteigliches für die Philosophie, aber es gibt zugleich die festeste Grundlage, die durch nichts an Sicherheit überboten werden kann - wogegen alles jene Unbedingte, Absolute, Absoluteste nur Dunst und Nebel ist.

Es ist nun ferner der Friede mit der Wissenschaft hergestellt. Philosophie und Wissenschaft sind nicht mehr zwei streitende Instanzen, sie können nicht mehr miteinander in Konflikt kommen, eine hilft der anderen, arbeitet der anderen in die Hände, die von PARMENIDES her datierende Scheidung ist jetzt endlich und zwar gründlichst aufgehoben. Ebenso können nun auch die Philosophen untereinander eine freundliche Stellung haben, ein großes gemeinsames Werk fördern, woran bisher bekanntlich sehr viel gefehlt hat, da der Nachfolger fast ohne Ausnahme einriß was der Vorgänger gebaut hatte, oder wenigstens seine Bestrebungen in ganz anderem Sinne fortsetzte. Die Philosophie hat aufgehört ein babylonischer Turmbau zu sein, der den Himmel stürmen sollte, und mit Sprachverwirrung endete.

Vor allem ist hier zum Schluß nochmals das Verhältnis zum Religiösen ins Auge zu fassen: dies ist nunmehr ein ganz klares, ein ganz friedliches; aller Konflikt, alle Kollision hört auf, beides ist fortan unmöglich, denn - die Gebiete berühren sich nicht mehr. So lange man fälschlicherweise die Philosophie innerhalb der Grenzmarken der Theologie sich bewegen ließ, konnte der Streit, der mehr als ein Rangstreit ist, kein Ende finden, allein jetzt stehen die Sachen ganz anders.

Die Philosophie ist keine Metaphysik mehr, von den Aristotelikern auch Theologie genannt, sie hat auch keine natürliche Theologie im Sinne CHRISTIAN WOLFFs mehr, sie erhebt sich überhaupt nicht mehr bis in diese Region; die induktive Forschung, unten auf der Erde fußend, läßt nach oben hin den Schluß offen, sie ist eben kein System, sie hat sichs zum Grundsatz gemacht über die letzten Ursachen, über die letzten Enden alles Daseins nicht abzusprechen, nicht zu grübeln, weil ihr dazu durchaus die Mittel fehlen - hier nun findet die Religion, welche dazu allerdings die Mittel besitzt, freien Raum, sie stößt hier nirgend mit der Philosophie zusammen und an ihr eben ist es auf andere Weise die Lücke auszufüllen, welche die induktiv gewordene Philosophie läßt. So ist beiden geholfen, so treten beide in den ungestörten Besitz ihrer vollen Rechte ein.

Ein großer Gewinn ist an und für sich nun schon der, daß hinfort nicht mehr so viele edle Kräfte in unwegsamen Bahnen und in unfruchtbaren Bemühungen sich abnutzen werden. Es ist gewiß, daß unter uns Deutschen, von den letzten Generationen insbesondere, gar viele beinahe ihr Leben in Spekulationen verloren haben, die zuletzt nur mit allgemeinem Bankrott enden konnten, es ist auch wahr, daß die neuesten Philosophien viel Dünkel und Überhebung gebracht haben, daß sie den Wissenschaften und mehr noch der Kunst ein Hemmschuh gewesen sind: aber dennoch haben wir bis jetzt nicht viel zu beklagen. Mögen immerhin solche Bestrebungen uns im Auslande den Namen der Ideologen, der Phantasten zugezogen haben - wir wissen doch, daß sie mit einem Aufwand edler Kraft begonnen worden und daß sie eine innere Berechtigung hatten.

Auch der Irrtum mußte gründlich und bis an sein Ende durchlaufen werden. Daß wir in Deutschland es getan, das gibt uns eine festere Überzeugung und soll uns wesentlich helfen, wenn wir nunmehr auch in ähnlicher Richtung die Bahn der Philosophie betreten, als unsere westlichen Nachbarn sie schon vor uns zu betreten versucht haben. Wir kommen hier zuletzt, aber was uns aufhielt, war kein Nebenwerk. Vielleicht hat die deutsche Philosophie noch einen Beruf wo nicht vollendend, so doch wesentlich fördernd, einzugreifen in das, was andere vor uns begonnen haben.
LITERATUR - O.F. Gruppe, "Antäus. Ein Briefwechsel über spekulative Philosophie in ihrem Conflict mit Wissenschaft und Sprache", Hrsg. Fritz Mauthner, München 1914