cr-3Mauthner - O. F. Gruppe   
 
OTTO FRIEDRICH GRUPPE
(1804-1876)
Relativität der Begriffe

Antäus
Begriff 'Abstraktum'
Gefahr der Sprachen
Kein System
Wendepunkt
"Wer Begriffe gleich Zahlen für absolut und fest gelten lassen und an unverbrüchliche Definitionen fesseln will, der hat den Gedanken überhaupt ausgeschlossen und behält nur noch Worte."   Allgemeinheit
Falsche Logik
Spekulativer Irrtum
Neue Methode
Empirischer Ausweg

Wir wollen einmal die Sache recht dreist gleich bei ihrem Haupt anfassen: Was ist der eigentliche Akt des Erkennens? Daß er in irgend einer Synthesis bestehen muß, wird vielleicht ohne weiteres begriffen. Aber welches ist diese? Die gewöhnliche Logik handelt von Urteilen und Schlüssen, und zwar sieht sie die Schlüsse in Bezug auf den Fortschritt des Erkennens offenbar für das wichtigere an; und so ist denn auch dieser Teil in solcher Hinsicht von ARISTOTELES und den spätern Logikern ganz besonders ausgebildet worden, als ob davon alles Heil zu erwarten sei, als ob hierdurch die Wahrheit gesichert, der Fortschritt des Erkennens gefördert, vorzüglich aber allem Irrtum gründlichst vorgebaut werde. Ich muß in allen diesen Punkten durchaus ganz anderer Meinung sein und habe sogar meine Gründe, die bisher gegebene Ausbildung der Lehre von den Schlüssen für etwas nicht bloß Unwesentliches, sondern auch ganz Ungehöriges und Vorbeitreffendes anzusehn. Mit desto größerer Wichtigkeit wende ich mich dagegen den Urteilen zu, deren Lehre bisher vernachläßigt, ja in ganz falschem Licht, wei ich sogleich zeigen werde, dargestellt worden.

Wollen wir die Natur eines Urteils kennen lernen, so müssen wir uns an wirkliche lebendige Beispiele halten, welche in der Tat einen Akt des Erkennens einschließen; denn so lange wir innerhalb des Alten, längst Geläufigen bleiben, werden wir unsern Zweck verfehlen, nämlich die Sprachformeln überwinden zu können, sondern wir werden in denselben befangen, gar nicht bis zu dem eigentlichen Akt des Denkens durchdringen. In solchem Fall nun befand sich die bisherige Logik. Man meide ja jene trivialen Beispiele, denn weit entfernt populär und deutlich zu sein, sind sie gerade dunkel und schwer, Sprache und Denken sind hier aufs innigste verwachsen und was das Schlimmste ist, so kann man oft nur sehr uneigentlich von ihnen sagen, daß sie einen Gedanken enthalten, gewiß wenigstens keinen solchen, dessen Synthesis leicht zugänglich wäre und also das gewünschte Licht geben könnte. Man nehme vielmehr Beispiele aus den Naturwissenschaften, man suche sich hier solche Sätze aus, welche jedesmal eine neue, bisher nicht vorhandene, eben erst frisch erworbene Kenntnis enthalten: gerade der Vergleich des neuen Aufschlusses mit dem früheren Mangel desselben und die Nachweisbarkeit des Weges und der Kombination, wie man darauf gekommen, ist das Aufklärende, dahingegen alle Sätze und Beispiele, deren Inhalt kaum zu irgend einer Zeit etwas Neues war, oder deren Synthesis selbst eine dunkle und der Erklärung bedürftige ist, z.B. das immer gebrauchte: "alle Menschen sind sterblich" oder "Gott ist ewig", nicht Belehrung sondern nur Verwirrung bringen.

Es war eine große aber sehr verzeihliche Täuschung, daß man glaubte, es komme bei Untersuchung der Urteile vorzüglich auf ihre äußere Einfachheit an; für die Ansicht von der sprachlichen Satzbildung könnte dies vielleicht zugegeben werden, aber nicht für das Logische. In letzterer Rücksicht werden gerade oft Sätze, die dem grammatischen Bau nach komplizierter scheinen, doch in Bezug auf Synthesis des Gedankens und Bildung der Begriffe einfacher und aufschlußreicher sein. Nur ganz äußerlich betrachtet, kann man den Satz "Gott ist ewig" einen einfachen nennen, allein wenn gefragt wird, was in dem Urteil geschehe, was hier erkannt werde, was es mit den Begriffen "Gott" und "ewig" für eine Bewandtnis habe, und wie sie sich bei dem Urteil verhalten, welche Veränderung sie erleiden und welche Rolle überhaupt Begriffe beim Denken spielen, so wird dieser einfache Satz sich vielmehr als einer der schwierigsten zeigen, welcher durchaus unzugänglich ist, und nichts lehren, sondern nur irreleiten kann. Und dies wird von allen solchen Sätzen und Urteilen gelten, welche fertige, abgegriffene, sehr abstrakte begriffe enthalten, Begriffe, die von ihrem Ursprunge schon weit entfernt sind und denselben nicht mehr deutlich an sich verraten.

Es bedürfen also solche Urteile, welche kein Resultat einer wissenschaftlichen Forschung sind, vielmehr eines entgegenkommenden Verständnisses. Diese Art von Urteilen deren Wesentliches eine vorübergehende, nicht immer gleich deutliche Metapher, Übertragung, Vergleichung ist, spielen nun im Denken und sprachlichen Verständnis eine ungemein ausgedehnte Rolle und sie sind es worin sich die Natur des Denkens und der Sprache von einer anderen Seite sehr deutlich spiegelt. Wenn ich sage "der Pfeil fliegt", so denke ich mir, auch ohne daß ich hinzusetze "wie ein Vogel" die Bewegung des Pfeiles der des Vogels ähnlich, und weiß wohl daß beide nicht gleich sind, ich sage dies bloß um mich auszudrücken, nicht um irgendeine theoretische Bemerkung über beide Arten von Bewegung und ihre Gleichheit zu machen. Man nehme der Sprache diese Art des Ausdrucks durch die Metapher und es wird sich alsdann zeigen, daß man ihrnicht weniger als alles genommen hat. Wer einen solchen Ausdruck aber tadeln wollte, mit der Bemerkung, der Flug eines Vogels sei immer noch sehr verschieden von dem eines Pfeils und man müsse das Unpassende solcher Ausdrücke vermeiden, dem müssen wir antworten, daß alsdann die Sprache aufhören würde, und dann zweitens, daß der Begriff des Fliegens, vom Pfeil gesagt, auch sogleich schon anders verstanden werde, als vom Vogelfluge, kurz daß der Begriff des Fliegens sogleich ein allgemeinerer werde.

Soweit die Sprache Individuen benennt, ist sie ohne theoretisches Interesse und gewiß ohne Irrung. Auffallen muß aber sogleich, daß, Menschen und sonst nur noch ganz Einzelnes ausgenommen, die Individuen nicht benannt werden, sondern die gemeine Sprache steht darin der Wissenschaft ganz gleich, daß sie ihr Augenmerk hauptsächlich auf die Gattungen richtet. Ganz abgesehen davon, daß, wollte man alle Individuen benennen, des Benennens gar kein Ende sein würde, so leuchtet vielmehr ein, daß die Sprache mit dem Interesse und dem Bedürfnis wird gleichen Schritt halten müssen. Nun interessieren aber die Individuen nicht als solche, sondern nur sofern sie gewissen gleichen Bedürfnissen entsprechen, sofern sie andern ähnlich sind, deren gleiche Charaktere und Eigenschaften der Mensch in bestimmtem Verhältnis zu seinem Bedürfnis findet. Nur in Bezug hierauf wird er zusammenfassen oder unterscheiden, mit einem Wort: benennen.

Noch weniger aber benennt der Mensch die Dinge bloß darum, daß sie an sich nicht namenlos seien, sondern er benennt sie bloß zu seinem Interesse und also nicht eher, als er durch ein bestimmtes Verhältnis dieses Interesse ihnen abgewinnen lernt. In solchem Sinn möge man eine Bemerkung verstehen, welche LESSING zu JERUSALEMs philosophischen Aufsätzen macht:
"In allen Fällen nämlich, wo das Ähnliche sofort in die Sinne fällt, das Ungleiche aber so leicht nicht zu bemerken ist, entstehen allgemeine Begriffe, ehe wir noch den Vorsatz haben, dergleichen durch die Absonderung zu bilden. Und daß daher dieser ihre Zeichen in der Sprache ebenso früh werden gewesen sein, als die Zeichen der einzelnen Dinge, die in ihnen zusammentreffen, ist wohl ganz natürlich. Ja früher; Baum ist sicherlich wohl ältern Ursprungs als Eiche, Tanne, Linde."
Aber dies zugegeben, soll es das Gegenteil ausschließen, daß nämlich die Individuen früher sind, und daß aus ihnen die Namen der Gattungen erst hervorgehen? Gewiß nicht; vielmehr muß man sogleich auf dies doppelte Verhältnis aufmerksam werden, daß Begriffe sich sondern und feiner ausspalten, andere wieder sich zu größerer Allgemeinheit ausdehnen. Allein genauer betrachtet, kommt beides auch bald ziemlich auf dasselbe zurück, denn gesetzt, der Begriff  Baum  wäre, wie LESSING will, älter als Tanne und Linde, so war er doch früher nicht sowohl ein allgemeiner Begriff, als vielmehr nur eine unbestimmtere Bezeichnung, jenes gerade wurde er erst in dem Augenblick, als ich die Tanne, Linde usw. näher unterscheiden lernte; wie letztere auch nicht Individuen, sondern engere Gattungen bezeichnen, so verhielt es sich auch mit dem Begriff  Baum  ganz ähnlich, der nun durch diesen Gegensatz erst zu einem allgemeinen Begriff erwächst.

Wenn ich einen Gegenstand "leicht" nenne, oder "kurz" oder "breit" oder "dunkel" oder "einfach", oder "zusammengesetzt", so erhellt leicht, daß diese Begriffe an und für sich noch keine bestimmte Bedeutung haben, welche sie erst bekommen in einem bestimmten Vergleich, nun können sie aber auch nach verschiedenen Vergleichen ganz verschiedene Werte bekommen, so daß ich den Gegenstand, den ich in einem Vergleich  klein  nannte, im andern groß nennen muß, so mit  einfach  und  zusammengesetzt  und unzähligen andern. Daß ich hier, um einen Inhalt zu haben, notwendig an einen bestimmten Vergleich je zweier Dinge denken muß, dies führt mich auf die Natur der Urteile zurück und erinnert mich daran, daß diese gar nichts anderes als ein solcher bestimmter Vergleich, eine solche Zusammenhaltung je zweier Begriffe sind; was aber die Relativität betrifft, so ist dieselbe gar leicht mit jener uns schon bekannten Erweiterung der Begriffe, welche bei keinem Urteil ausbleiben kann, am wenigsten bei einer fortgesetzten Reihe derselben, in leichte Verbindung zu bringen. Die Prädikatbegriffe müssen durch die immer weitere Ausdehnung der Vergleiche durchaus relativ werden, sie müssen zuletzt nur noch ganz allgemein ein gewisses bewußtes Verhältnis, eine Rücksicht des Vergleichs bezeichnen. Sie hatten anfangs selbst jene bestimmten Werte, diese verloren sich in dem Maß als sie allgemeine Verhältnisbegriffe wurden und nur durch anderweitige Hindeutung auf einen bestimmten Vergleich können sie dieselben wiedererhalten.

Es scheint hier in der Ausdehnung solcher Relationen, in der immer fortgesetzten Erweiterung und Verallgemeinerung der Begriffe mit dem Denken nirgend eine Schranke sein zu können und eben so wie ich unter bereits vorhandene Rücksichten des Vergleichs immer neue Gegenstände, nie ohne Wirkung auf den Begriff, hineinziehen kann, so verwehrt mir auch nichts immer neue bisher noch nicht verglichene Gegenstände zusammen zu stellen und mir in dieser Zusammenstellung neuer bisher noch unbemerkter Ähnlichkeiten oder Unterschiede bewußt zu werden. Auf diesem Wege werden neue Prädikatbegriffe gebildet und gewonnen, auf jenem werden sie erweitert: beides hat nun die hergebrachte Logik verkannt, indem sie mit Kategorien gleichsam die Zahl der Qualitäten umschreiben und begrenzen wollte, dann wieder, daß sie die Relativität der Begriffe verleugnete und sie in Definitionen festzwängen wollte. Das letztere ist ebenso verderblich in seinen Folgen, als seiner Natur nach ganz unmöglich: es kann nie gehalten werden, und ist nie gehalten worden, sofern man etwas gebietet was der innersten Natur des Denkens zuwider ist. Es kann kein Denken, d.h. kein Fortschreiten mehr geben, sobald die Begriffe feststehen, sich aber nicht mehr ändern und erweitern sollen.

Die Relativität der Begriffe steht in wesentlichem Zusammenhang mit dem einfachen Akt des Denkens. Und doch - wo soll diese Relativität, die Möglichkeit und Forderung einer steten Übertragung zuletzt enden? Auf der anderen Seite scheint in dem Auffinden stets neuer Vergleichungspunkte, in deren Verfolgung und in der Art ihrer Ausdehnung so wie der Art der Übertragung sogar Belieben und Willkür herrschen: wie soll nun dies mit der Wissenschaft, wie soll es mit dem geregelten Denken bestehen, wie kann es Erkenntnis ergeben und muß es nicht sogar das gewöhnliche Verständnis untergraben, wenn kein Begriff mehr feststeht? Dies sind äußerst wichtige Fragen, welche uns auf die wesentlichen Grenzpunkte führen werden, wo sich Notwendigkeit und Mißbrauch, das unerläßliche Mittel der Erkenntnis von den Irrlichtern des Irrtums, wo sich die Sprache als unverdächtiges Mittel des erkennenden Denkens von dem verdächtigen und falschen scheidet.

Je nach verschiedenen Rücksichten und Vergleichungspunkten kann nun derselbe Gegenstand ganz verschiedenen Gattungen angehören, und je mehr die fortschreitende Beobachtung solcher neuen Vergleichungspunkte herbeigeführt, um so mehr muß die Irrigkeit der Ansicht an den Tag kommen, als seien unsere Gattungen schlechthin etwas Objektives. So ist der Walfisch, sofern er im Wasser lebt, nach seiner Gestalt und Bewegung mit den Fischen in eine Klasse zu rechnen, dagegen sofern er lebendige Junge gebiert, säugt, warmes Blut hat, gehört er zu den Säugetieren, nicht sofern die Säugetiere meist Vierfüßler sind; und wieder gibt es Vierfüßler auch unter den Amphibien usw. Daß es nicht objektive Scheidungen, sondern immer nur meine Rücksichten sind, wonach ich mir die Gegenstände ordne, erhellt namentlich daraus, daß ich leicht Klassen einrichten kann, wenn ich nur ein Merkmal festhalte, sobald ich aber deren mehrere festhalten und Gattungen durch ausführliche Definitionen begrenzen will, komme ich in endlose Schwierigkeiten und allerorten scheinen sich die Gattungen nicht nur ineinander zu verlaufen, sondern auch zu durchkreuzen.

Je kleiner die Zahl der beobachteten Gegenstände, je geringer der Umfang der Gesichtspunkte, ganz besonders aber auch je weniger innerlich diese Gesichtspunkte, um so leichter lassen sich Teilungen machen und umso sicherer scheinen sie dazustehen. Allein mit dem Fortschritt der Wissenschaften füllen die Lücken, welche die verschiedenen Gattungen scheinbar auseinander hielten, sich allmählich immer vollständiger aus, man bemerkt anfangs, wie man sich ausdrückt, Übergänge, allein diese Übergänge werden bald so zahlreich und überall so allmählich, daß die Stelle der Teilung ganz und gar verschwindet und daß ich an jeder andern und ziemlich an jeder mit gleichem Recht teilen kann. Und ebenso geht aus der Mannigfaltigkeit der Gesichtspunkte bald das Beliebige hervor; unter so vielen Rücksichten sich überhaupt Dinge zusammenstellen lassen, und dies geht ins Unendliche, kann ich mir auch Gattungen anordnen, deren jede aber immer auf einer Einseitigkeit, auf einer einzelnen Rücksicht beruht; der Begriff Gattung verliert durchaus jenen objektiven Sinn, er ist eine bloße Funktion des subjektiven Auffassens, er ist Produkt und Mittel unserer Urteile. Dies was aus der Natur des Denkens einfach folgt, lehrt nun auch die Wissenschaft auf eine ausgezeichnete und überzeugende Weise.

Zuvörderst aber spreche ich noch erst von der scheinbaren  Allgemeinheit der Begriffe  und wie es damit eigentlich bewandt ist, eine Betrachtung, die am besten zu jener Untersuchung vorbereiten wird. Die Begriffe sind nicht die Dinge selbst, sondern sie sind unsere Beziehungen unter den Dingen, sie sind die von uns aufgefaßten Relationen, sie sind entsprungen durch unsere Urteile. In Folge fortgesetzter Urteile werden sie immer allgemeiner und dies hängt unmittelbar zusammen mit der Relativität, so wie sich diese Relativität wieder erklärt durch einen einfachen Akt des Urteilens, wie wir ihn zeigten. Dies braucht man nur zu wissen, um jene Allgemeinheit für nichts anderes und für nichts mehr zu nehmen als sie ist; weiß man es aber nicht, wie man es denn bisher noch immer nicht gewußt, so ist man in Gefahr die Allgemeinheit der sprachlichen Begriffe, sofern sie bloß Hilfsausdrücke und etwas Beliebiges sind, mit jener ganz anderen Allgemeinheit zu verwechseln, welche Forderung an ein Gesetz und Kennzeichen desselben ist.

Es wurde oben dargestellt, wie mit fortschreitender, auf Erfahrung, Beobachtung und Versuch begründeter Einsicht sich  Elektrizität  und  Magnetismus  zuletzt zu einer allgemeineren Naturkraft erweitert haben, allein wenn hier jede Stufe der Erweiterung mit einer gültigen Erfahrung belegt ist, wie sehr unterscheidet sich diese Allgemeinheit von jener anderen die bloß der Beliebigkeit des sprachlichen Mittels angehört, etwa wenn ich das Wort "allgemein" selbst nehme. Was kann ich hiermit machen, was lehrt mich dieses Wort? Sehr natürlich nichts! Worte sind immer nur Worte und können nie Tatsachen werden, sie sind nur Mittel des Verständnisses, aber nicht selbst Verständnis, sie sind nur unverständlich soweit ihnen Tatsachen unterliegen. Die Sprache bedarf um sich schnell und leicht auszudrücken der allgemeinen Begriffe, allein gerade in dem Maß als die Begriffe allgemeiner werden, bedürfen sie selbst wieder der Rückbeziehung auf bestimmte Dinge, wodurch sie allein erst Bedeutung bekommen und etwas mehr sein können als ganz leere sprachliche Formeln.

Der Begriff "all" ist gewiß ein ausgedehnter und umfassender, allein er bedeutet erst etwas, wenn ich sage: alle Menschen, oder: alle guten Menschen oder: alle Tage, und doch weiß man, wie populär unbestimmt er auch hier ist. Wollte ein Philosoph, wie allerdings geschehen, sich bloß mit dem reinen Begriff des "Alls" abquälen, würder er daraus oder aus irgend einem anderen Begriff etwas ermitteln können? KANT, der sich selbst schon des Ausdrucks bediente, daß sich aus Worten nichts herausklauben lasse, ließ sich dennoch soweit von dieser Beliebigkeit und scheinbaren Allgemeinheit der Begriffe täuschen, daß er eben aus diesem Grunde das Vorhandensein apriorischer Begriffe behauptet, weil sich innerhalb der Erfahrung nichts so schlechthin Allgemeines auffinden lasse: welch eine seltsame Täuschung!

Aber schon PLATON befand sich ganz in derselben; er nahm die abstrakten Substantive für ursprüngliche Ideen und Musterbegriffe, weil sie ihm etwas allgemeineres zu sein schienen, Schönheit allgemeiner als dieser oder jener schöne Gegenstand, oder auch selbst als alle schönen Gegenstände zusammen, weil an diesem immer noch zugleich andere Rücksichten und Merkmale erscheinen, die Schönheit aber nur immer Schönheit bleibt - natürlich da sie eine bloße Abstraktion d.h. eine einzelne Rücksicht, eine einseitige Beziehung ist. So erwuchs denn die Deduktion oder gar Konstruktion aus Begriffen; man wollte aus dem Abstrakten das Konkrete, die Dinge aus den Worten konstruieren. Die Mißlichkeit dieses Unternehmens muß jetzt in mehrfacher Rücksicht klar sein: nicht, wie man es so oft genommen, sind die Begriffe in dem Sinn etwas Selbständiges, daß die Dinge und Gegenstände davon oder auch nur danach erzeugt sein könnten, sondern die Dinge sind das Gegebene und Ursprüngliche, die Begriffe aber sind erst daraus abgeleitet, sie sind nur Funktionen unseres Denkens über die Dinge, sie sind bloßes Mittel des Verständnisses und sind nur dann in ihrer Bedeutung gesichert, wenn man sie jeden Augenblick auf ihren reellen Wert, d.h. auf diese Gegenstände und deren gemeinte Beziehung zu übersetzen weiß.

Und nun allgemein: die ganze bisherige Philosophie ist unzulänglich und falsch, und das bloß, weil man diese einfache Lehre von der Relativität der Begriffe und deren Beziehung zum Urteil nach allen Seiten hin verkannt hat. Man behandelte erst die Begriffe und dann die Urteile und täuschte sich somit über die Natur beider; man glaubte die Begriffe durch Definitionen festhalten zu müssen, was ebenso unmöglich als ganz unersprießlich ist; auch mußte sich ja schon ARISTOTELES selbst, der doch so sehr auf Definitionen hält, die Unmöglichkeit davon und vielmehr die Relativität der Begriffe als deren wahres Wesen eingestehn, denn er kann sich die Einsicht nicht länger verhehlen, daß doch fast alle Begriffe verschiedene Bedeutungen haben und daß sie sich nach allen Seiten hin ganz ins Unbestimmte und Unbegrenzte verlaufen.

Zufolge dieser Eigenschaft sind nun die Begriffe zu spekulativen Konstruktionen ganz untauglich, weil ich die Grenze fehlt, und eben so schief und irrig das Bemühen des ARISTOTELES ist aus dem Warmen und Kalten, dem Trocknen und Feuchten alle Dinge zu erklären und zu konstruieren, da dies doch nicht verschiedene Qualitäten sondern nur Gradunterschiede und nur unsere Beziehungen sind, so mißlich ist auch jede andere Art von Konstruktion aus Begriffen, denn auch die Gattungen sind keine Grenzen der Natur, sondern liegen bloß in unserer Auffassung und Vergleichung; aber aus abstrakten Begriffen zu konstruieren hat ja auch an sich gar keinen Sinn.

Die Sprache spricht nicht immer Neues aus, sie bildet nicht immer neue Begriffe, mit anderen Worten, sie denkt nicht immer, wenigstens nicht in jedem Satz, sondern sie wiederholt auch oft alte, schon abgeschliffene Gedanken und bedient sich dabei ebenso alter und abgeschliffener Worte, die aber im Angesicht der Dinge, von denen die Rede ist, gar keinem Mißverständnis unterliegen. Dies gilt so lange es sich vom Praktischen handelt, allein die Sache ändert sich ganz, so wie man mit denselben Begriffen ins Theoretische und Spekulative übergeht und aus der Art wie Begriffe im Satz zusammengefügt werden, sich über den Erkenntnisakt und über die Natur und die Gesetze des Denkens selbst unterrichten will. Hier ist nicht mehr jeder sprachliche Satz ohne Unterschied gleich tauglich, vielmehr sind nur ganz besondere lehrreich und zurechtweisend, bei weiten die meisten aber trügerisch und irreführend. Es müssen erstlich Sätze sein, von denen man versichert ist, daß sie wirklich einen Gedankengehalt, und zwar einen klaren haben, dann zweitens muß nicht bloß die Art, wie der Gedanke erworben worden, zugänglich und nachweislich sein, sondern eben dies muß auch von der sprachlichen Form selbst gelten.

Vergleich und Metapher, das war die Quelle aller Wortbildung, die ist der ursprüngliche Inhalt aller Sätze, er allein bedingt die Form des Satzes und bringt die Redeteile hervor, gleichviel ob mir der wirklich angestellte Vergleich eine neue Erkenntnis ergeben hat, oder ob ich nur vorübergehend zum bloßen Behuf eines augenblicklichen Verständnisses mich des Vergleichs und der Metapher bediene. Um hier noch kurz zusammenzufassen, daß die sprachliche Form des Satzes eine solche Natur und solchen Inhalt selbst deutlich anzeigt, wähle ich das Beispiel: "der Aar ist königlich", worin nicht nur der Vergleich des Aars mit einem Könige am Tage liegt, sondern auch die Adjektivform  königlich  selbst ihre Entstehung als ursprüngliche Zusammensetzung von  König  und  gleich,  noch deutlich ankündigt. Ganz ähnlich der Satz: "die Sonne ist golden." Wenn sich aber die Dinge so verhalten, so zeigt sich auch, daß Sätze und Ausdrucksweisen, als "die Sonne lacht" oder "mein Glück blüht" nicht ein bloßer ungewöhnlicher Schmuck der Rede sind, wofür man sie gewöhnlich hält, sondern vielmehr die ganz gerechte Satz- und Gedankenform, welche vor vielen anderen Sätzen und Urteilen nur eben die Deutlichkeit der Entstehung und des ausgesprochenen Gedankens voraus hat.

Wende ich mich dagegen an scheinbar noch so einfache Sätze, in denen entweder der Vergleich nur verschwiegen ist, z.B. "der Tisch ist kurz", oder auch an solche, welche ganz relative und abgeschliffene Begriffe enthalten, Begriffe, die von ihrer Wurzel getrennt sind und also ihren wahren Gehalt und die ihnen zu Grund liegende Gedankeoperation nicht klar aussprechen, so ist ganz unvermeidlich, daß ich mir von der Natur des Urteils und des einfachen Gedankenaktes ganz falsche Vorstellungen machen muß. In der Regel werde ich gar nicht bis zum Gedanken durchdringen, sondern nur in der sprachlichen Form verbleiben, wenn ich aber diese für jenen nehme, so befinde ich mich in arger Täuschung. Weiß ich nicht was das Adjektiv bedeutet, so sagt mir selbst die unmittelbare Form des Satzes "der Aar ist königlich" nichts von einem Vergleich, und ich finde darin nichts mehr als die Zusammenfügung je zweier Begriffe, eines Subjekts und Prädikats. So hat es denn auch noch alle Logik bisher angesehen, und dies bezeugen schon die Ausdrücke  Subjekt  und  Prädikat,  die nur der sprachlichen Satzform entnommen sind, die Gedankenoperation aber selbst gar nicht angehen, am wenigsten sie ergründen.

Wer von einer sorgfältigen Erwägung der Urteile zu den Begriffen übergeht, der wird leicht inne werden, daß und warum alle Begriffe relativ sein müssen, schwerlich aber wer umgekehrt zu Werke geht; und leider geschah bisher immer nur das letztere. Ohne das deutliche Bewußtsein dieser notwendigen Relativität der Begriffe ist das Denken von vornherein in die größte Gefahr gebracht, zumal mußte es durch Anwendung der geometrischen Methode auf eine Bahn geführt werden, auf der es sich selbst und seinen wahren Gesetzen gar nicht mehr gehört, wo es dem Richtigen nur noch zufällig und dem Irrtum und dem Unsinn ordnungsgemäß begegnet.

Wer Begriffe gleich Zahlen für absolut und fest gelten lassen und an unverbrüchliche Definitionen fesseln will, der hat den Gedanken überhaupt ausgeschlossen und behält nur noch Worte. Der Beweis davon muß vor aller Augen liegen, er ist einfach und klar. Alles Denken und Auffassen kommt letztlich zurück auf Vergleich: dieser Akt des Denkens wird sprachlich durch die Übertragung ausgedrückt, des einen Begriffs auf den andern, worauf denn folgte, daß die Begriffe, so lange als gedacht wird, und zwar in jedem Satz von Gedankengehalt, unfehlbar geändert werden müssen. Wer also auf genaue Unverbrüchlichkeit der ein für allemal festzusetzenden Definition hält, hindert dies und nimmt somit dem Denken das Organ, wodurch es nicht bloß sich mitteilen, sondern wodurch es überhaupt nur Denken sein kann. Dies Verfahren nun ist das, welches die metaphysische Spekulation recht eigentlich zu ihrem Organon erhoben hat, und hiermit steht denn das Resultat, daß sie in so vielen Jahrhunderten ihrer lebendien Ausübung zu erreichen vermocht hat, in völligem Einklange: Leerheit und Inhaltslosigkeit.

Das Folgern aus Definitionen kann durchaus zu gar nichts führen, und man kommt zuletzt immer nur darauf zurück, der eine Begriff sei nicht der andere, wie sich dies so seltsam an LOCKE hervorhob. Aus den Definitionen der Begriffe gibt es nun un nimmer Aufschlüsse über den Zusammenhang der Begriffe untereinander, oder höchstens nur einen solchen, welcher uns auf unsere eigene Hypothese zurückführt, welche wir bei Einführung dieses oder jenes Hilfsausdrucks zum Grunde legten. Sobald man einmal weiß, daß die Begriffe Hilfsausdrücke und nichts mehr sind, so wird allerdings die Verwunderung aufhören, woher sich nichts durch sie über die Natur der Dinge ausmachen läßt, wie sehr auch jener früher besprochene Mißverstand ihnen den Anschein der Allgemeinheit und Notwendigkeit verleihen und somit gerade die Hoffnung erwecken mochte, als müsse durch sie Erkenntnis einer viel höheren und sichereren Art zu erlangen sein, als jemals durch die ausgedehnteste, überdies immer umständliche Erforschung der Natur selbst möglich sei.

Die Begriffe sind einseitige Hilfsausdrücke, ein jeder nach der jedesmaligen Bequemlichkeit geprägt: man hat sich also nicht zu wundern, daß, wenn man ihren Definitionen etwas abfragt, ihre Aussagen miteinander nicht im Einklange sind. Man geht von Einseitigkeiten aus, man folgert aus ihnen: man wird also, wenn es nicht ein glücklicher Zufall anders fügt, eben so viel widersprechende Resultate erhalten, als von wie vielen Begriffen man ausgegangen ist. Dies würde sich in den Philosophemen noch viel deutlicher zeigen als es bereits der Fall ist, wenn die Philosophen nicht, von gesundem Instinkt geleitet, manches vermieden und anderes künstlich vertuscht hätten. Aber man vergleiche verschiedene Philosophen: woher kommt im Wesentlichsten ihre Verschiedenheit? Zum größten Teil davon, daß sie bald von diesem bald von jenem abstrakten Hilfsbegriff ausgingen: natürlich mußten sie je nach der Zufälligkeit ihres Ausgangspunktes auf ganz Abweichendes und Entgegengesetztes kommen.

Beinahe gleich alt als die Metaphysik und Begriffsspekulation ist auch das Bestreben, sich gegen ihre Ausschweifungen zu sichern. Ja es bietet sich das merkwürdige und höchst charakteristische Verhältnis dar, daß alle größten spekulativen Philosophen z.B. ARISTOTELES, KANT, HEGEL, gewissermaßen Gegner der Spekulation gewesen, wenigstens daß sie den Idealismus mit dem Realismus, die Spekulation mit der Erfahrung ausgleichen wollten; andererseits daß alle entschiedenen Gegner der Spekulation doch sich ihr nicht entziehen konnten, sondern oft Förderer derselben wurden; hierher gehört besonders LOCKE, aber ARISTOTELES und KANT dürfen mit dem gleichen Recht hierher gezählt werden, wie sich denn überhaupt bei diesem Stand der Dinge der Unterschied zwischen Metaphysikern und Nicht-Metaphysikern nur noch kaum halten läßt. Ja wir haben gesehen, daß eben das Streben, den Irrtümern zu entfliehen, welche durch die Begriffspekulation entstanden waren, ganz hauptsächlich als das Element gelten müsse, dem die spekulative Philosophie ihre Fortbildung dankt. Auf Seiten der Gegner nun erklärte sich die Sache dadurch sehr leicht, daß sie nur immer ganz teilweise eine Opposition gegen die Spekulation aus Begriffen erhoben, daß sie nicht den wahren Grund des Übels kannten und also auch nicht im Stande waren, sich überall selbst dagegen sicher zu stellen. Ihre Bemühungen mußten vergeblich sein und das entgegengesetzte Resultat zur Folge haben, denn während sie nur Einzelnes bekämpften, erkannten sie Grundsätze an, auf denen die Falschheit der spekulativen Methode viel wesentlicher und hauptsächlicher beruht.

ARISTOTELES vermeinte die Spekulation durch eine sichere Methode regeln zu können, er glaubte, alle Irrtümer und Fehlschlüsse kämen lediglich daher, daß man Bejahung und Verneinung und die Grade derselben im Urteil nicht genau berücksichtige, er gab also aus diesem Gesichtspunkt seine Logik, welche, weit entfernt dem Irrtum zu wehren, vielmehr erst recht zu falschen Begriffsspekulationen einladet. Ebenso glaubte auch CARTESIUS die Übelstände durch Einführung einer neuen Scheidung beseitigen zu können, als er zwei ganz verschiedene Erkenntnisvermögen festsetzte, as eine für sinnliche, das andere für intellektuelle Anschauung. Ganz ähnlich KANT, denn bei dem Anerkenntnis von der Unzulänglichkeit der aristotelischen Logik glaubte er das große Übel dadurch erklären und heben zu können daß man die verschiedenen Seelenvermögen, bei deren Teilung er im Wesentlichen dem ARISTOTELES und dem Herkommen folgte, nur nicht genugsam beachtet und ihre verschiedenen Ansprüche Kräfte und Grenzen nicht gehörig gewürdigt habe.

Aus solchem Gesichtspunkt sah sich nun KANT zur Aufstellung seines ausgeführten Systems veranlaßt, welches das aristotelische wesentlich ergänzen und mit ihm zusammen erst eine sichere Bahn für das Denken werden sollte. Der Erfolg aber vereitelte diese schönen Hoffnungen sogleich, und der Grund davon hätte nicht fern gelegen. KANT durchschaut nämlich das Wesen der abstrakten Begriffe und die Natur des Denkens ebenso wenig als LOCKE, er kannte die Ursache der spekulativen Irrtümer in ihrer Allgemeinheit um nichts besser, er geriet hier ganz seitab; ja die Trennung verschiedener sich ausschließender Erkenntnisvermögen war selbst nur ein arges Mißverständnis, überdies etwas bloß Hypothetisches, ein bloß überliefertes Vorurteil, im Grund nichts weiter als eine vieldeutige Ausflucht.
LITERATUR - O. F. Gruppe, "Antäus. Ein Briefwechsel über spekulative Philosophie in ihrem Conflict mit Wissenschaft und Sprache", Hrsg. Fritz Mauthner, München 1914