cr-3Brief des Lord ChandosNachwort zum Chandos-BriefHofmannsthal-Mauthner    
 
GOTTHART WUNBERG
Der Chandos-Brief

"Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen."

Nach allem, was bisher über die dichterische Darstellung des Ich gesagt worden ist, erscheint nun auch der Chandosbrief unter anderen Aspekten.

Schon die Personen von Schreiber und Empfänger des Briefes müssen einigen Aufschluß über den Inhalt des Briefes geben; vor allem die Person des Lord Bacon. Wer ist FRANCIS BACON, wer ist PHILIPP Lord CHANDOS?

BACON ist der berühmte Philosoph und Staatsmann, CHANDOS ist irgend jemand; das führt bereits weiter: Wenn sich ein Autor fingierter Personen bedient, so kann das zwei Gründe haben. Er kann entweder etwas verdecken wollen, indem der den wahren, faktischen Sachverhalt ins Anonyme rückt; das geschieht in der Figur des Lord Chandos. Oder er kann etwas Besonderes gerade hervorhebenw wollen; das geschieht bei FRANCIS BACON.

Während im ersten Falle mit der fingierten Person alles etwa Öffentliche hinter die Chiffre eines unbekannten Irgendjemand rücken soll, hat im zweiten gerade die berühmte, die historische Persönlichkeit als Träger zu dienen; denn dadurch wird dem, was gesagt werden soll, erheblicher Nachdruck verliehen. - Wenden wir uns unter diesem Aspekt vorübergehend der Frage nach der Identität von fingierter und historischer Person BACONs zu; d.h. der Frage, was das (für unseren Brief) Besondere an BACON ist.

Zwar hat FRANCIS BACON einen solchen Brief niemals tatsächlich bekommen, aber er ist als Adressat verzeichnet, und es wird des öfteren in diesem Briefe auf ihn und seine Person auch in historisch relevanter Weise eingegangen. So ist sein Name an dieser Stelle wohl nicht ohne Bedeutung. Es wäre immerhin denkbar, nicht nur den Schreiber völlig frei zu erfinden, sondern auch den Empfänger. Denn Chandos ist nicht historisch, er hat niemals gelebt. FRANCIS BACON von Verulam lebte von 1561 bis 1626. Hätte HOFMANNSTHAL irgendeinen historisch nicht eruierbaren Namen an die Stelle von BACONs Namen gesetzt, so wäre eine solche Betrachtung relativ müßig.

Da aber ausdrücklich die historische Identität BACONs betont wird: "FRANCIS BACON, später Lord Verulam und Viscount St. Albans", ist es nicht falsch, auch etwas spezifisch Historisches an ihm hervorzuheben. Denn BACON als fingierte Person hat einen Sinn: In ihr bestätigt sich für den damit vertrauten Leser auch außerhalb des Briefinhaltes das Anliegen des Lord Chandos. Wie aus seinem Brief hervorgeht, kann Chandos erwarten, daß BACON ihn versteht. Die Frage ist aber: warum.

FRANCIS BACON ist der Begründer des englischen Empirismus. Sein berühmtestes Werk, die "Nova Atlantis", ist eine der großen Staatsutopien der Renaissance. Utopisches Denken ist nicht so sehr ein Denken in den leeren Raum, in ein irgendwohin, wie der Begriff fälschlich vermuten lassen könnte, sondern wie wir seit ERNST BLOCH endgültig wissen, vielmehr ein nach vorn gerichtetes, ein bewußtes Denken.

Wenn sich Philipp Chandos mit seinem Anliegen, sich  wegen des gänzlichen Verzichtes auf literarische Betätigung zu entschuldigen,  ausgerechnet an Baco von Verulam wendet, so muß er erwarten können, gerade bei diesem Manne ein besonderes Verständnis für sein Anliegen zu finden. Was BACON veranlaßt hatt, seine "Nova Atlantis" zu schreiben, ist in modifizierter Weise auch der Grund für den Brief des Chandos.

Das Vernunftgemäße an der Utopie, das auch BACON grundsätzlich hervorhebt, hat seine Parallele in der Welt, die Philipp Chandos plötzlich vor sich sieht: wie der utopische Staat in der "Nova Atlantis", so stellt sich ihm seine Welt nicht mehr mythisch oder "magisch" - wie das in der Hofmannsthalliteratur gerne genannt wird - in sich zusammenhängend dar, sondern sieist nur noch rationalisiert, analysiert faßbar -  zerfallen in Teile, die Teile wieder in Teile. 

BACON war es darum zu tun, der Naturwissenschaft zum Siege zu verhelfen, dem naturwissenschaftlichen Denken besonders. Zu einer erfolgreichen Naturbetrachtung bedarf es seiner Ansicht nach vor allem der richtigen Erfahrung durch Experiment und Beobachtung. Er will alles aus dem Wege räumen, was einer solchen reinen Erfahrung hinderlich sein könnte, weil nur so eine wirkliche Erkenntnis möglich ist. Der richtigen Beobachtung stehen nach BACON aber bestimmte "Vorurteile", sogenannte "idola" hinderlich im Wege.

Vier Arten von Vorurteilen hindern die Beobachtung und daher auch die klare Erkenntnis. Er nennt sie die Beobachtung und daher auch die klare Erkenntnis. Er nennt sie die "Vorurteile des Stammes" (idola tribus), "der Höhle" (specus), "des Marktes" (fori) und "des Theaters oder der Schaubühne" (theatri). - Bei BACON ist zu lesen:
"Es gibt ... idola, welche in die Seele der Menschen aus mancherlei Lehrsätzen der Philosophie und auch aus verkehrten Regeln der Beweise eingedrungen sind, und die ich die   idola   des Theaters nenne: denn soviel wie philosophische Systeme erfunden und angenommen worden sind, so viele Fabeln sind damit vorgebracht und aufgeführt worden, welche aus der Welt eine Dichtung und eine Schaubühne gemacht haben."
Das heißt - und es ist unmittelbar auf Chandos anzuwenden -, daß die überkommene Welt aus falschen Vorstellungen besteht, die der echten Erfahrung, die zu echter Erkenntnis führen soll, im Wege sind. Chandos, der nach BACONs Aufforderung den  Sinn  für sein  Inneres schärfen  soll, steht gerade vor dieser schrecklichen Erfahrung, daß die Gegenstände und Vorstellungen, die  irdischen  und die  religiösen Auffassungen  auseinanderbröckeln. Wenn er sich in diesem Dilemma an BACON wendet, kann er hoffen, Verständnis zu finden. Denn er ist es ja, der die Ausschaltung dieser als "idola", als Vorurteile erkannten Vorstellungen geradezu fordert, um zu einer reinen Erkenntnis zu kommen, die bei Chandos "Schärfung des Innern" heißt.

BACON, so hofft Chandos, wird Verständnis dafür haben, wenn der Grund seines Schweigens die Beseitigung falscher Vorurteile ist. Wie käme Chandos sonst dazu, sich gerade bei BACON für seinen Verzicht auf literarische Betätigung zu entschuldigen, wenn er sich darauf nicht beziehen könnte.

Was aber Chandos viel wichtiger und schmerzlicher ist als die Zerstörung der alten Ordnungen, indem sie sich als "idola" enthüllen, ist die Unfähigkeit, sich darüber in herkömmlicher Weise mitzuteilen. Er steht plötzlich vor dem Phänomen das er früher nicht einmal für möglich gehalten hätte: daß ihm die Worte, mit denen er umgeht, nicht mehr gehorchen. BACON schildert einen ähnlichen Tatbestand:

"Die Menschen glauben, daß ihr Geist dem Worte gebiete; aber oft kehren die Worte ihre Kraft gegen den Geist um..."
Es war Chandos unmöglich, schreibt er, seine kleine Tochter Katharina Pompilia zurechtzuweisen, weil die ihm  im Munde zuströmenden Begriffe plötzlich eine solche schillernde Färbung annahmen und so ineinander überflossen,  daß er nur davonlaufen konnte.

Dieses Phänomen, alte und gewohnte Sachverhalte nicht mehr überzeugt und überzeugend benennen zu können, bedingt sich wechselseitig mit dem für BACON Gezeigten: der Tatsache, daß die alten Vorstellungen sich als falsche Vorurteile, als "idola" enthüllt haben. Weil sich die überkommenen Gesinnungen, "philosophische Systeme" (BACON), als bloße "idola" erweisen, ist es nicht mehr möglich, sich ihrer in der sprachlichen Formulierung zu bedienen. Gerade aber dafür kann er bei BACON ein besonderes Interesse voraussetzen.

BACON verstand unter dem Begriff seiner  idola fori  - der Vorurteile des Marktes - etwas sehr Ähnliches: es sind die dem Menschen von andern zur Verfügung gestellten Worte; die Namen, mit denen er alles benennt, was um ihn her vor sich geht:

"Denn die Menschen gesellen sich zueinander vermittelst der Rede; aber die Worte werden den Dingen nach Auffassung der Menge beigelegt: deshalb behindert die schlechte und törichte Beilegung der Namen den Geist in merkwürdiger Weise"
Was als Benennung der Dinge bereits feststeht und unkritisch übernommen wird, kann keinen wahren Bestand haben; es ist ein bloßes Vorurteil, ein "idolum". Es ist also nur richtig, wenn diese Vorurteile bei Chandos plötzlich ins Wanken geraten. Denn erst dadurch ist eine neue und eigene Orientierung möglich. Erst wenn diese überkommenen (und deshalb: falschen) Vorurteile abgebaut werden, kann die  Schärfung  für Chandos Inneres beginnen.

Daß die überkommenen Worte und Bezeichnungen hohl sind, Vorurteile, die den Kern der Dinge, den sie bezeichnen sollen, nicht treffen, ist genau die Erfahrung, die Chandos macht.  Hinter den Worten kommt man ins Leere,  schreibt er. Hinter ihnen ist also nichts. Sie sind hohl und bezeichnen nur scheinbar einen tatsächlich relevanten Sachverhalt. Sie haben keinen realen Bezug. Der  vereinfachende Blick der Gewohnheit  ist es gerade, den auch BACON nicht will. Denn dieser Blick übernimmt etwas, das in Wirklichkeit nicht mehr da ist, worin sich nur die "idola fori" zeigen; diejenigen Worte und Bezeichnungen, die "meist nach den Auffassungen der Menge den Dingen beigelegt" werden.

Wenn Chandos in dieser Weise den Verlust der falschen Vorurteile bei sich feststellt, so ist - von BACON her gesehen, und schließlich auch für Chandos - kein Grund zur Klage. Erst durch die so geschaffene neue Situation kann Chandos das werden, was er  mutatis mutandis  bei der Abfassung des Briefes bereits ist: ein bewußter, rational denkender Mensch. Aus dem beklagenswerten Zustand wird so unversehens die einzig richtige Ausgangsposition für ein neues Daseinsverhältnis. Es ist die Vorbedingung für eine erfolgreiche "Instauratio" (BACON) geschaffen.

Wenn man BACON richtig auswertet, ergibt sich wie von selbst eine Ursache für die Sprachunfähigkeit des Chandos. Daß die Sprache nicht mehr trägt, ist dann ein Ereignis, zu dem das reflektierende Bewußtsein gelangt ist, und damit ist die Sprachkrise gegenüber einer Bewußtseinskrise sekundär. HOFMANNSTHALs Helden sind zur Chiffre für ein Ich geworden, dessen Depersonalisationsstruktur aus der Reflexion hervorgeht oder aufs engste mit ihr verknüpft ist.

Aus dem Chandosbrief wird deutlich, daß die Sprachkrise sich weder genetisch noch systematisch von der des Ich und des Bewußtseins trennen läßt. Das ist unabhängig von HOFMANNSTHAL auch prinzipiell (vom zeitgenössischen Denken her) zu zeigen. Es ist mit Recht immer wieder auf die Sprachuntersuchungen FRITZ MAUTHNERs hingewiesen worden, wenn von HOFMANNSTHALs Chandosbrief die Rede war. Das hat aber seine Berechtigung nur in der Annahme, daß es sich ausschließlich um das Dokument einer Sprachkrise handelt: man konnte die Problematik auf diese Weise für die Jahrhundertwende überhaupt erhärten und zugleich die HOFMANNSTHALsche Problematik in einen größeren Rahmen stellen.

Ähnliches gilt aber auch für die Bewußtseinsproblematik. Um sie innerhalb der zeitgenössischen Philosophie zu demonstrieren, muß man zwischen möglichen unmittelbaren Einflüssen wie MACH und BRENTANO einerseits und allgemeinen Konstellationen andererseits unterscheiden.

Daß man bei der Interpretation des Chandosbriefes bislang zu einseitig von der Sprachproblematik ausgegangen ist, hat den Blick auf die eigentliche Problematik etwas verstellt. Schon die Tatsache, daß dem Schreiber die bisherige Wirklichkeit nichts mehr sagt, daß er keinen Gefallen mehr an konventionellen Gegebenheiten und Formulierungen findet, dafür aber gerade ganz unscheinbare und unwichtige Dinge entdeckt, die ihm zum Erlebnis werden, zeigt, daß erst das Objekt verlorengeht und dann - als Folge davon - die Sprache, eie es hätte erfassen sollen, weil sie funktionslos geworden ist.

Objektverlust ist in erster Linie ein erkenntnistheoretisches Problem, wenngleich das eng miteinander zusammenhängt. Es bleibt aber im Chandosbrief keineswegs bei diesem Defizienzerlebnis. Die Schilderung der Ratten im Keller und des Schwimmkäfers in der Gießkanne, der von der einen Seite zur andern rudert und nicht herauskommen kann, wird in dem sehr entscheidenden Satz zusammengefaßt:

"Es erscheint mir alles, alles, was es gibt, alles, dessen ich mich entsinne, alles was meine verworrensten Gedanken berühren, etwas zu sein."
Schon durch die so stark hervortretenden Reihungen wird der Satz sprachlich deutlich aus dem Kontext herausgehoben. Auffallend ist aber vor allem die Affinität zur Philosophie ERNST MACHs, wo sich Dinge und Ich auch nur - wie gezeigt wurde - aus einander gleichberechtigten "Elementen" zusammensetzen (und nur deshalb der oben besprochenen Wertnivellierung anheimfallen können!), so daß, wie hier, alles etwas "ist".

Liest man den Chandosbrief einmal unter diesem mehr erkenntnistheoretischen Aspekt durch, dann stellt man fest, daß Begriffe wie  Geist, Denken, Gedanke, Begriff, Urteil, abstrakt, Allegorie, Hirn  und andere etwa zwanzigmal an entscheidender Stelle vorkommen. Das beginnt bereits im zweiten Abschnitt, als Chandos von seiner  geistigen Starrnis  spricht, was sich zur  Krankheit meines Geistes  und schließlich am Ende zur  Starre meines Innern  kristallisiert.

Den gleichen Gedanken nimmt er später wieder auf, als er davon spricht, daß sein  Geist aus einer so aufgeschwollenen Anmaßung in dieses Äußerste von Kleinmut und Kraftlosigkeit zusammensinken mußte.  Was ihn schließlich daran hindert, sich an  religiösen Auffassungen  zu orientieren, sind seine  Gedanken,  die wie durch  Spinnenetze  durch sie  hindurchschießen.  Die Geheimnisse des Glaubens sind ihm zur Allegorie geworden, was nur auf Grund intensiver Reflexion möglich ist; denn jede Allegorie, jede Personifizierung eines Abstraktum beruht letztlich auf Rationalisierung; wie unter anderem die Bevorzugung der Allegorie in der Aufklärung zeigt.

Es sind weiterhin  geistige Qualen,  die er nicht schildern kann. Und es sollte nicht übersehen werden, daß ihm zugleich mit der Sprache auch das Denken abhanden kommt:

"Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen."
Was ihm primär verlorengeht, ist nicht das  ohne weiteres dahin gesprochene Wort,  sondern die  abstrakten Worte  und die ihm und jedem normalen Menschen beim Sprechen  im Munde zuströmenden Begriffe. 

Typisch ist in diesem Zusammenhang ebenfalls, daß ihm auch im familiären und, wie er schreibt, hausbackenen Gespräch die  Urteile  nicht zu Gebote stehen. Was Chandos an seiner Umgebung auszusetzen hat: daß sie so  unbeweisbar, so lügenhaft, so löcherig wie nur möglich  ist, sind die Argumente des reflektierenden Intellekts, der nicht bereit ist, irgendwelche Konventionen, und seien es auch nur festgefügte Sprachschablonen, ohne weiteres zu übernehmen; was seinerseits mit dem Wertverlust zusammenhängt.

Was Chandos dazu zwingt, die Dinge plötzlich  in einer unheimlichen Nähe zu sehen,  so daß sie sich ihm wie unter einem Mikroskop in lauter kleine Bestandteile auflösen, ist sein  Geist.  Als Chandos seinem Gönner schließlich sein Dasein beschreibt, wie es sich nun täglich abspielt, verwendet er bezeichnenderweise zwei Begriffe, die das Rationale betonen:  geistlos, gedankenlos. 

Nach der oben zitierten Äußerung, daß ihm alles, aber auch alles etwas zu sein scheine, steht der bezeichnende Satz:

"Ich fühle eine entzückendes, schlechthin unendliches Widerspiel in mir";
was die dichterische Umschreibung für sein ständiges Reflektieren ist, das er bis dahin nicht gekannt hat, wodurch ihm aber auch ein eben unreflektierter Gebrauch der Sprache garantiert war. Schließlich erreicht die Argumentation des Chandos, daß er zwar die Sprache verloren, aber das Denken gewonnen habe, seinen Höhepunkt am Schluß. Er erzählt die Geschichte des CRASSUS und spricht davon, daß es ihm sei, als geriete er von Zeit zu Zeit in Gärung, als fände er sich in einer Art  fieberischem Denken.  Er beschreibt es als  Denken in einem Material, das unmittelbarer, flüssiger, glühender ist als Worte. 

Und es scheint sehr bezeichnend, daß er sich hier das einzige Mal im ganzen Brief ausdrücklich auf eine vorher gemachte Bemerkung zurückbezieht. Er fährt fort:

"Es sind gleichfalls Wirbel, aber solche, die nicht wie die Wirbel der Sprache ins Bodenlose zu führen scheinen, sondern irgendwie in mich selber und in den tiefsten Schoß des Friedens."
Damit knüpft er an die vorher gemachte Bemerkung an, daß die Wirbel der Sprache ins Leere führen. Die völlig neue, und von ihm noch nicht einmal richtig zu benennende Fähigkeit, die er gewonnen hat, nämlich das Denken, führt aber nicht ins Leere, sondern auf ihn selbst zurück. Reflexion führt letztlich immer nur in das Ich selbst hinein, hat dort Ausgang aber auch Endpunkt, weshalb HOFMANNSTHAL sogar vom  tiefsten  Schoß des Friedens sprechen kann.

Noch etwas weiter gegen Schluß kommt Chandos ein letztes Mal auf die Sprache zurück. Er sagt dort, er werde keinesfalls mehr in einer der gängigen Sprachen, sei es lateinisch, italienisch, spanisch oder englisch oder irgendeine andere Sprache, schreiben; sondern vielmehr in einer Sprache

"von deren Worten mir auch nicht eines bekannt ist, eine Sprache, in welcher die stummen Dinge zu mir sprechen, und in welcher ich vielleicht einst im Grabe vor einem unbekannten Richter mich verantworten werde".
Die Sprache, in der die stummen Dinge (ausdrücklich steht dor  stummen Dinge)  zu ihm reden, ist also nicht eine Sprache, die sie selbst sprechen könnten, auch keine, die er selbst zu sprechen vermöchte, sondern - der neuen Bewußtseinslage des Chandos nach - allein das Denken. Erst von hierher wird letztlich verständlich, warum Chandos schließlich Lord BACON als den  größten Wohltäter meines Geistes  bezeichnen kann.

Das führt zu einem weiteren - letzten - Aspekt. Denn was in dem oben zitierten Satz gesagt wird, ist nicht nur die formulierte Erfahrung des atomistisch Zersetzten, des prinzipiell Separaten, sondern auch die Möglichkeit zu einem neuen Ansatz; es ist Katastrophe und - mit ZIOLKOWSKI zu sprechen - Epiphanie (Offenbarung.) zugleich. THEODORE ZIOLKOWSKI hat schon 1961 - ausgehend von JOYCEs  epiphanie -Begriff - vorgeschlagen, diesen Terminus für die Literaturwissenschaft fruchtbar zu machen, und auch zu HOFMANNSTHAL bereits entscheidendes gesagt.

Für unseren Zusammenhang ist daran zweierlei wichtig: erstens der Begriff selbst, der in der Tat sehr viel weiter führt; und zweitens die Feststellung, daß im zweiten Teil des Chandosbriefes eine "Überwindung der Krise ... durch Erkenntnisvermittlung, die wir jetzt ruhig Epiphanie nennen wollen" angedeutet ist.

In der Epiphanie erfahre der Mensch die "Selbständigkeit des Objektes"; das umschreibt in der Tat aufs genaueste die Situation des Lord Chandos. Dieses Erlebnis der Epiphanie, das HOFMANNSTHAL auch  Offenbarung  nennt, ist zweierlei zugleich: es bezeichnet den Endpunkt der konventionellen Objektbewältigung durch die Sprache, weil das konventionelle Objekt sich der Aussage entzieht; es markiert zugleich die Möglichkeit eines neuen Objektes. Das neue ist aber so anders als das bisherige, daß ihm auch die bisherige Sprache nicht mehr beikommt.

Zugleich mit dem Erlebnis der Epiphanie, die durch die neuen Objekte (die unscheinbaren Gegenstände der Umwelt) ermöglicht wird, stellt sich auch eine neue Möglichkeit für ihre Erfassung ein. Sie lassen sich nicht mehr durch die Sprache, sondern nur noch durch das Denken bewältigen. Deshalb heißt es am Ende des Chandosbriefes, Chandos verfüge nun über  eine Art fiebrisches Denken, aber Denken in einem anderen Material, das unmittelbarer, flüssiger, glühender ist als Worte. 

Daß das Phänomen der Epiphanie nicht auf den Chandosbrief, nicht einmal auf HOFMANNSTHAL beschränkt ist, hat ZIOLKOWSKI selbst mit Nachdruck betont und an MUSILs "Törless" und RILKEs "Malte" gezeigt. Daß es auch außerhalb von HOFMANNSTHAL aufs engste mit erkenntnistheoretischen Relativismus und folglich einer deutlichen Wertnivellierung verknüpft ist, läßt sich auch schon beim jungen RILKE, nicht einmal erst im "Malte" zeigen. In den "Geschichten vom lieben Gott", die schon 1900 erschienen sind, heißt es sehr bezeichnend: "Ein jedes Ding kann der liebe Gott sein, man muß es ihm nur sagen".

Der "liebe Gott" ist hier so wenig eine theologische (gar christliche) Formulierung wie "epiphany" bei JOYCE oder  Offenbarung  bei HOFMANNSTHAL. Es heißt nicht mehr und nicht weniger, als daß jedes Ding zum Erlebnis, daß prinzipiell  jedes  Objekt zum Gegenstand der Epiphanie werden kann, weil jedes Objekt prinzipiell den gleichen "Elementen"-Wert besitzt - um ein letztes Mal ERNST MACH zu Worte kommen zu lassen.

LITERATUR - Gotthart Wunberg, Der frühe Hofmannsthal - Schizophrenie als dichterische Struktur, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1965