ra-4p-4Der GolemPeter Schlemihl    
 
E. T. A. HOFFMANN
Der Sandmann
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"Nathanael hatte rein vergessen, daß es eine Clara in der Welt gebe, die er sonst geliebt; - die Mutter - Lothar - alle waren aus seinem Gedächtnis entschwunden, er lebte nur für Olympia, bei der er täglich stundenlang saß und von seiner Liebe, von zum Leben erglühter Sympathie, von psychischer Wahlverwandtschaft phantasierte, welches alles Olympia mit großer Andacht anhörte."

Wie erstaunte NATHANAEL, als er in seine Wohnung wollte und sah, daß das ganze Haus niedergebrannt war, so daß aus dem Schutthaufen nur die nackten Feuermauern hervorragten. Unerachtet das Feuer im Laboratorium des Apothekers, der im untern Stock wohnte, ausgebrochen war, das Haus daher von unten heraus gebrannt hatte, so war es doch den kühnen, rüstigen Freunden gelungen, noch zu rechter Zeit in NATHANAELs im oberen Stock gelegenes Zimmer zu dringen und Bücher, Manuskripte, Instrumente zu retten. Alles hatten sie unversehrt in ein anderes Haus getragen und dort ein Zimmer in Beschlag genommen, welches NATHANAEL nun sogleich bezog. Nicht sonderlich achtete er darauf, daß er dem Professor SPALANZANI gegenüber wohnte und ebensowenig schien es ihm etwas Besonderes, als er bemerkte, daß er aus seinem Fenster gerade hinein in das Zimmer blickte, wo OLYMPIA oft einsam saß, so, daß er ihre Figur deutlich erkennen konnte, wiewohl die Züge des Gesichts undeutlich und verworren blieben. Wohl fiel es ihm endlich auf, daß OLYMPIA oft stundenlang in derselben Stellung, wie er sie einst durch die Glastür entdeckte, ohne irgendeine Beschäftigung an einem kleinen Tisch saß und daß sie offenbar unverwandten Blickes nach ihm herüberschaute; er mußte sich auch selbst gestehen, daß er nie einen schöneren Wuchs gesehen; indessen, CLARA im Herzen, blieb ihm die steife, starre OLYMPIA höchst gleichgültig und nur zuweilen sah er flüchtig über sein Kompendium herüber nach der schönen Bildsäle, das war alles. - Eben schrieb er an CLARA, als es leise an die Tür klopfte; sie öffnete sich auf seinen Zuruf und COPPOLAs widerwärtiges Gesicht sah hinein. NATHANAEL fühlte sich im Innersten erbeben; eingedenk dessen, was ihm SPALANZANI über den Landsmann COPPOLA gesagt und was er auch Rücksichts des Sandmanns COPPELIUS der Geliebten so heilig versprochen, schämte er sich aber selbst seiner kindischen Gespensterfurcht, nahm sich mit aller Gewalt zusammen und sprach so sanft und gelassen, als möglich: "Ich kaufe kein Wetterglas, mein lieber Freund! gehen Sie nur!" Da trat aber COPPOLA vollends in die Stube und sprach mit heiserem Ton, indem sich das weite Maul zum häßlichen Lachen verzog und die kleinen Augen unter den grauen langen Wimpern stechend hervorfunkelten: "Ei, nix Wetterglas, nix Wetterglas! - hab auch sköne Oke - sköne Oke!" - [schöne Augen - wp] Entsetzt rief NATHANAEL: "Toller Mensch, wie kannst Du Augen haben? - Augen - Augen? -" Aber in dem Augenblick hatte COPPOLA seine Wettergläser beiseite gesetzt, griff in die weiten Rocktaschen und holte Lorgnetten [Stielbrille - wp] und Brillen heraus, die er auf den Tisch legte. - "Nu - Nu - Brill' - Brill' auf der Nas' su setze, das sein meine Oke - sköne Oke!" - Und damit holte er immer mehr und mehr Brillen heraus, so, daß es auf dem ganzen Tisch seltsam zu flimmern und zu funkeln begann. Tausend Augen blickten und zuckten krampfhaft und starrten auf zum NATHANAEL; aber er konnte nicht wegschauen vom Tisch und immer mehr Brillen legte COPPOLA hin und immer wilder und wilder sprangen flammende Blicke durcheinander und schossen ihre blutroten Strahlen in NATHANAELs Brust. Übermannt von tollem Entsetzen schrie er auf: halt ein! halt ein, fürchterlicher Mensch! - Er hatte COPPOLA, der eben in die Tasche griff, um noch mehr Brillen herauszubringen, unerachtet schon der ganze Tisch überdeckt war, beim Arm festgepackt. COPPOLA machte sich mit heiserem widrigem Lachen sanft los und mit den Worten: "Ah! - nix für Sie - aber hier sköne Glas" - hatte er alle Brillen zusammengerafft, eingesteckt und aus der Seitentasche des Rocks eine Menge großer und kleiner Perspektive hervorgeholt. So wie die Brillen nur fort waren, wurde NATHANAEL ganz ruhig und an CLARA denkend sah' er wohl ein, daß der entsetzliche Spuk nur aus seinem Innern hervorgegangen ist, so wie daß COPPOLA ein höchst ehrlicher Mechanikus und Optikus, keineswegs COPPELIUS' verfluchter Doppelgänger und Revenant [Wiedergänger, Untoter - wp] sein könne. Zudem hatten alle Gläser, die COPPOLA nun auf den Tisch gelegt hatte, gar nichts besonderes, am wenigsten so etwas gespenstisches wie die Brillen und, um alles wieder gut zu machen, beschloß NATHANAEL dem COPPOLA jetzt wirklich etwas abzukaufen. Er ergriff ein kleines sehr sauber gearbeitetes Taschenperspektiv und sah, um es zu prüfen, durch das Fenster. Noch im Leben war ihm kein Glas vorgekommen, das die Gegenstände so rein, scharf und deutlich dicht vor die Augen rückte. Unwillkürlich sah er hinein in SPALANZANIs Zimmer; OLYMPIA saß, wie gewöhnlich, vor dem kleinen Tisch, die Arme darauf gelegt, die Hände gefaltet. - Nun erschaute NATHANAEL erst OLYMPIAs wunderschöne geformtes Gesicht. Nur die Augen schienen ihm gar seltsam starr und tot. Doch wie er immer schärfer und schärfer durch das Glas hinschaute, war es, als gingen OLYMPIAs Augen feuchte Mondesstrahlen auf. Es schien, als wenn nun erst die Sehkraft entzündet würde; immer lebendiger und lebendiger flammten die Blicke. NATHANAEL lag wie festgezaubert im Fenster, immer fort und fort die himmlisch-schöne OLYMPIA betrachtend. Ein Räuspern und Scharren weckte ihn, wie aus tiefem Traum. COPPOLA stand hinter ihm: Tre Zechini - drei Dukat - NATHANAEL hatte den Optikus rein vergessen, rasch zahlte er das verlangte. "Rick so? - sköne Glas - sköne Glas!" frug COPPOLA mit seiner widerwärtigen heiseren Stimme und dem hämischen Lächeln. "Ja, ja, ja!" erwiderte NATHANAEL verdrießlich; "Adieu, lieber Freund!" - COPPOLA verließ nicht ohne viele seltsame Seitenblicke auf NATHANAEL, das Zimmer. Er hörte ihn auf der Treppe laut lachen. "Nun ja, meinte NATHANAEL, er lacht mich aus, weil ich ihm das kleine Perspektiv gewiß viel zu teuer bezahlt habe - zu teuer bezahlt!" - Indem er diese Worte leise sprach, war es, als halle ein tiefer Todesseufzer grauenvoll durch das Zimmer. NATHANAELs Atem stockte vor innerer Angst. - Er hatte ja aber selbst so aufgeseufzt, das merkte er wohl. CLARA, sprach er zu sich selber, hat wohl Recht, daß sie mich für einen abgeschmackten Geisterseher hält; aber närrisch ist es doch - ach wohl mehr als närrisch, daß mich der dumme Gedanke, ich hätte das Glas dem COPPOLA zu teuer bezahlt, noch jetzt so sonderbar ängstigt; den Grund davon sehe ich gar nicht ein. - Jetzt setzte er sich hin, um den Brief an CLARA zu enden, aber ein Blick durch Fenster überzeugte ihn, daß OLYMPIA noch da säße und im Augenblick, wie von unwiderstehlicher Gewalt getrieben, sprang er auf, ergriff COPPOLAs Perspektiv und konnte nicht los von OLYMPIAs verführerischen Anblick, bis ihn Freund und Bruder SIEGMUND abrief ins Kollegium bei Professor SPALANZANI. Die Gardine vor dem verhängnisvollen Zimmer war dicht zugezogen, er konnte OLYMPIA ebensowenig hier, als die beiden folgenden Tage hindurch in ihrem Zimmer entdecken, unerachtet er kaum das Fenster verließ und fortwährend durch COPPOLAs Perspektiv hinüberschaute. Am dritten Tag wurden sogar die Fenster verhängt. Ganz verzweifelt und getrieben von Sehnsucht und glühendem Verlangen lief er hinaus vors Tor. OLYMPIAs Gestalt schwebte vor ihm her in den Lüften und trat aus dem Gebüchs und guckte ihn an mit großen strahlenden Augen, aus dem hellen Bach. CLARAs Bild war ganz aus seinem Innern gewichen, er dachte nichts als OLYMPIA und klagte ganz laut und weinerlich: Ach DU mein hoher herrlicher Liebesstern, bist Du mir denn nur aufgegangen, um gleich wieder zu verschwinden und mich zu lassen in finstrer hoffnungsloser Nacht?

Als er zurückkehren wollte in seine Wohnung, wurde er in SPALANZANIs Haus ein geräuschvolles Treiben gewahr. Die Türen standen offen, man trug allerlei Geräte hinein, die Fenster des ersten Stocks waren ausgehoben, geschäftige Mägde kehrten und stäubten mit großen Haarbesen hin und herfahrend, inwendig klopften und hämmerten Tischler und Tapezierer. NATHANAEL blieb in vollem Erstaunen auf der Straße stehen; da trat SIEGMUND lachend zu ihm und sprach: "Nun, was sagst Du zu unserem alten SPALANZANI?" NATHANAEL versichert, daß er gar nichts sagen könne, da er durchaus nichts vom Professor wisse, vielmehr mit großer Verwunderung wahrnehme, wie in dem stillen düsteren Haus ein tolles Treiben und Wirtschaften losgegangen; da erfuhr er denn von SIEGMUND, daß SPALANZANI morgen ein großes Fest geben wolle, Konzert und Ball und daß die halbe Universität eingeladen sei. Allgemein verbreite man, daß SPALANZANI seine Tochter OLYMPIA, die er so lange jedem menschlichen Auge recht ängstlich entzogen, zum erstenmal erscheinen lassen werde.

NATHANEL fand eine Einladungskarte und ging mit hochklopfendem Herzen zur bestimmten Stunde, als schon die Wagen rollten und die Lichter in den geschmückten Sälen schimmerten, zum Professor. Die Gesellschaft war zahlreich und glänzend. OLYMPIA erschien sehr reich und geschmackvoll gekleidet. Man mußte ihr schöngeformtes Gesicht, ihren Wuchs bewundern. Der etwas seltsam eingebogene Rücken, die wespenartige Dünne des Leibes schien von zu starken Einschnüren bewirkt zu sein. In Schritt und Stellung hatte sie etwas Abgemessenes und Steifes, das manchem unangenehm auffiel; man schrieb es dem Zwang zu, den ihr die Gesellschaft auflegte. Das Konzert begann. OLYMPIA spielte den Flügel mit großer Fertigkeit und trug ebenso eine Bravour-Arie mit heller, beinahe schneidender Glasglockenstimme vor. NATHANAEL war ganz entzückt; er stand in der hintersten Reihe und konnte im blendenden Kerzenlicht OLYMPIAs Züge nicht ganz erkennen. Ganz unvermerkt nahm er deshalb COPPOLAs Glas hervor und schaute hin nach der schönen OLYMPIA. Ach! - da wurde er gewahr, wie sie voll Sehnsucht nach ihm herübersah, wie jeder Ton erst deutlich aufging in dem Liebesblick, der zündend sein Inneres durchdrang. Die künstlichen Rouladen schienen dem NATHANAEL das Himmelsjauchzen des in Liebe verklärten Gemüts und als nun endlich nach der Kadenz der lange Trillo recht schmetternd durch den Saal gellte, konnte er wie von glühenden Armen plötzlich erfaßt sich nicht mehr halten, er mußte von Schmerz und Entzücken laut aufschreien: OLYMPIA! - Alles sahen sich um nach ihm, manche lachten. Der Domorganist schnitt aber noch ein finstereres Gesicht, als vorher und sagte bloß: Nun nun! - Das Konzert war zuende, der Ball fing an. "Mit ihr zu tanzen! - mit ihr!" das war nun dem NATHANAEL das Ziel aller Wünsche, allen Strebens; aber wie sich erheben zu dem Mut, Sie, die Königin des Festes, aufzufordern? Doch! - er selbst wußte nicht wie es geschah, daß er, als der Tanz schon angefangen, dicht neben OLYMPIA stand, die noch nicht aufgefordert worden, und daß er, kaum vermögend einige Worte zu stammeln, ihre Hand ergriff. Eiskalt war OLYMPIAs Hand, er fühlte sich durchbebt von grausigem Todesfrost, er starrte OLYMPIA ins Auge, das strahlte ihm voll Liebe und Sehnsucht entgegen und in dem Augenblick war es auch, als fingen in den kalten Hand Pulse an zu schlagen und des Lebensblutes Ströme zu glühen. Und auch in NATHANAELs Innerm glühte die Liebeslust höher auf, er umschlang die schöne OLYMPIA und durchflog mit ihr die Reihen. - Er glaubte sonst recht taktmäßig getanzt zu haben, aber an der ganz eigenen rhythmischen Festigkeit, womit OLYMPIA tanzte und die ihn oft ordentlich aus der Haltung brachte, merkte er bald, wie sehr ihm der Takt gemangelt. Er wollte jedoch mit keinem anderen Frauenzimmer mehr tanzen und hätte jeden, der sich OLYMPIA näherte, um sie aufzufordern, nur gleich ermorden mögen. Doch nur zweimal geschah dies, zu seinem Erstaunen blieb darauf OLYMPIA bei jedem Tanz sitzen und er ermangelte nicht, sie immer wieder aufzuziehen. Hätte NATHANAEL außer der schönen OLYMPIA nocht etwas anderes zu sehen vermocht, so wäre allerlei fataler Zank und Streit unvermeidlich gewesen; denn offenbar ging das halbleise, mühsam unterdrückte Gelächter, was sich in diesem und jenem Winkel unter den jungen Leuten erhob, auf die schöne OLYMPIA, die sie mit ganz kuriosen Blicken verfolgten, man konnte gar nicht wissen, warum? Durch den Tanz und durch den reichlich genossenen Wein erhitzt, hatte NATHANAEL alle ihm sonst eigene Scheu abgelegt. Es saß neben OLYMPIA, ihre Hand in der seinigen und sprach hoch entflammt und begeistert von seiner Liebe in Worten, die keiner verstand, weder er, noch OLYMPIA. Doch diese vielleicht; denn sie sah ihm unverrückt ins Auge und seufzte einmal übers andere: Ach - Ach - Ach! - worauf denn NATHANAEL also sprach: "O Du herrliche, himmlische Frau! - Du Strahl aus dem verheißenen Jenseits der Liebe - Du tiefes Gemüt, in dem sich mein ganzes Sein spiegelt" und noch mehr dergleichen, aber OLYMPIA seufzte bloß immer wieder: Ach, Ach! - Der Professor SPALANZANI ging einigemal bei den Glücklichen vorüber und lächelte sie ganz seltsam zufrieden an. Dem NATHANAEL schien es, unerachtet er sich in einer ganz anderen Welt befand, mit einemmal, als würd' es hienieden beim Professor SPALANZANI merklich finster; er schaute sich und wurde zu seinem nicht geringen Schreck gewahr, daß eben die zwei letzten Lichter im leeren Saal nieder brennen und ausgehen wollten. Längst hatten Musik und Tanz aufgehört. "Trennung, Trennung," schrie er ganz wild und verzweifelt, er küßte OLYMPIAs Hand, er neigte sich zu ihrem Mund, eiskalte Lippen begegneten seinen glühenden! - So wie, als er OLYMPIAs kalte Hand berührte, fühlte er sich on innerem Grausen erfaßt, die Legende von der toten Braut ging ihm plötzlich durch den Sinn; aber fest hatte ihn OLYMPIA an sich gedrückt und in diesem Kuss schienen die Lippen zum Leben zu erwarmen. - Der Professor SPALANZANI schritt langsam durch den leeren Saal, seine Schritte klangen hohl wieder und seine Figur, von flackernden Schlagschatten umspielt, hatte ein grauliches gespenstisches Ansehen. "Liebst Du mich - Liebst Du mich OLYMPIA? - Nur dieses Wort! - Liebst Du mich?" So flüsterte NATHANAEL, bist mir aufgegangen und wirst leuchten, wirst verklären mein Inneres immerdar!" "Ach, ach!" replizierte OLYMPIA fortschreitend. NATHANAEL folgte ihr, sie standen vor dem Professor. "Sie haben sich außerordentlich lebhaft mit meiner Tochter unterhalten." sprach dieser lächelnd: "Nun, nun, lieber Herr NATHANAEL, finden Sie Geschmack daran, mit dem blöden Mädchen zu konversieren, so sollen mir Ihre Besuche willkommen sein." - Einen ganzen hellen strahlenden Himmel in der Brust schied NATHANAEL von dannen; SPALANZANIs Fest war der Gegenstand des Gesprächs in den folgenden Tagen. Unerachtet der Professor alles getan hatte, recht splendid zu erscheinen, so wußten doch die lustigen Köpfe von allerlei Unschicklichem und Sonderbarem zu erzählen, das sich begeben und vorzüglich fiel man über die totstarre, stumme OLYMPIA her, der man, ihres schönen Äußern unerachtet, totalen Stumpfsinn andichten und darin die Ursache finden wollte, warum SPALANZANI sie so lange verborgen gehalten. NATHANAEL vernahm das nicht ohne inneren Grimm, indessen schwieg er; denn, dachte er, würde es wohl verlohnen, diesen Burschen zu beweisen, daß es eben ihr eigener Stumpfsinn ist, der sie OLYMPIAs tiefes herrliches Gemüt zu erkennen hindert? "Tu' mir den Gefallen Bruder, sprach eines Tages SIEGMUND, tu mir den Gefallen und sage, wie es Dir gescheutem Kerl möglich war, Dich in das Wachsgesicht, in die Holzpuppe da drüben zu vergaffen?" NATHANAEL wollte zornig auffahren, doch schnell besann er sich und erwiderte: "Sage Du mir SIEGMUND, wie Deinem, sonst alles Schöne klar auffassenden Blick, Deinem regen Sinn, OLYMPIAs himmlischer Liebreiz entgehen konnte? Doch eben deshalb habe ich, Dank sei es dem Geschick, Dich nicht zum Nebenbuhler; denn sonst müßte einer von uns blutend fallen." SIEGMUND merkte wohl, wie es mit dem Freunde stand, lenkte geschickt ein und fügte, nachdem er geäußert, daß in der Liebe niemals über den Gegenstand zu rechten sei, hinzu: "Wunderlich ist es doch, daß viele von uns über OLYMPIA ziemlich gleich urteilen. Sie ist uns - nimm es nicht übel, Bruder! - auf seltsame Weise starr und seelenlos erschienen. Ihr Wuchs ist regelmäßig, so wie ihr Gesicht, das ist wahr! - Sie könnte für schön gelten, wenn ihr Blick nicht so ganz ohne Lebensstrahl, ich möchte sagen, ohne Sehkraft wäre. Ihr Schritt ist sonderbar abgemessen, jede Bewegung scheint durch den Gang eines aufgezogenen Räderwerks bedingt. Ihr Spiel, ihr Singen hat den unangenehm richtigen geistlosen Takt der singenden Maschine und eben so ist ihr Tanz. Uns ist diese OLYMPIA ganz unheimlich geworden, wir mochten nichts mit ihr zu schaffen haben, es war uns als tue sie nur so wie ein lebendiges Wesen und doch habe es mit ihr eine eigene Bewandtnis." - NATHANAEL gab sich dem bitteren Gefühl, das ihn bei diesen Worten SIEGMUNDs ergreifen wollte, durchaus nicht hin, er wurde Herr seines Unmuts und sagte bloß sehr ernst: "Wohl mag Euch, ihr kalten prosaischen Menschen, OLYMPIA unheimlich sein. Nur dem poetischen Gemüt entfaltet sich das gleich organisierte! - Nur mir ging ihr Liebesblick auf und durchstrahlte Sinn und Gedanken, nur in OLYMPIAs Liebe finde ich mein Selbst wieder. Auch mag es nicht recht sein, daß sie nicht in platter Konversation faselt, wie die anderen flachen Gemüter. Sie spricht wenig Worte, das ist wahr; aber diese wenigen Worte erscheinen als echte Hieroglyphe der inneren Welt voll Liebe und hoher Erkenntnis des geistigen Lebens in der Anschauung des ewigen Jenseits. Doch für alles das habt ihr keinen Sinn und alles sind verlorene Worte." "Behüte Dich Gott, Herr Bruder, " sagte SIEGMUND sehr sanft, beinahe wehmütig, "aber mir scheint es, Du seist auf bösem Wege. Auf micht kannst Du rechnen, wenn alles - Nein ich mag nichts weiter sagen! - " Dem NATHANAEL war es plötzlich, als meine der kalte prosaische SIEGMUND es sehr treu mit ihm, er schüttelte daher die ihm dargebotene Hand recht herzlich. -

NATHANAEL hatte rein vergessen, daß es eine CLARA in der Welt gebe, die er sonst geliebt; - die Mutter - LOTHAR - alle waren aus seinem Gedächtnis entschwunden, er lebte nur für OLYMPIA, bei der er täglich stundenlang saß und von seiner Liebe, von zum Leben erglühter Sympathie, von psychischer Wahlverwandtschaft phantasierte, welches alles OLYMPIA mit großer Andacht anhörte. Aus dem tiefsten Grund des Schreibpults holte NATHANAEL alles hervor, was er jemals geschrieben. Gedichte, Phantasien, Visionen, Romane, Erzählungen, das wurde täglich vermehrt mit allerlei ins Blaue fliegenden Sonnetten, Stanzen, Canzonen und das alles las er der OLYMPIA stundenlang hinter einander vor, ohne zu ermüden. Aber auch noch nie hatte er eine solche herrliche Zuhörerin gehabt. Sie stickte und strickte nicht, sie sah' nicht durch's Fenster, sie fütterte keinen Vogel, sie spielte mit keinem Schoßhündchen, mit keiner Lieblingskatze, sie drehte keine Papierschnitzchen oder sonst etwas in der Hand, sie durfte kein Gähnen durch einen leisen erzwungenen Husten bezwingen - Kurz! - Stundenlang sah sie mit starrem Blick unverwandt dem Geliebten ins Auge, ohne sich zu rücken und zu bewegen und immer glühender, immer lebendiger wurde dieser Blick. Nur wenn NATHANAEL endlich aufstand und ihr die Hand, auch wohl den Mund küßte, sagte sie: "Ach, Ach!" - dann aber: "Gute Nacht, mein Lieber!" - "O du herrliches, du tiefes Gemüt, rief NATHANAEL auf seiner Stube: nur von Dir, von Dir allein werd' ich ganz verstanden." Er erbebte vor innerem Entzücken, wenn er bedachte, welch' wunderbarer Zusammenklang sich in seinem und OLYMPIAs Gemüt täglich mehr offenbare; denn es schien ihm, als habe OLYMPIA über seine Werke, über seine Dichtergaabe überhaupt recht tief aus seinem Inneren gesprochen, ja als habe die Stimme aus seinem Innern selbst herausgetönt. Das mußte denn wohl auch sein; denn mehr Worte als vorhin erwähnt, sprach OLYMPIA niemals. Erinnerte sich aber auch NATHANAEL in hellen nüchternen Augenblicken, z. B. Morgens gleich nach dem Erwachen, wirklich an OLYMPIAs gänzliche Passivität und Wortkargheit, so sprach er doch: "Was sind Worte - Worte! - Der Blick ihres himmlischen Auges sagt mehr als jede Sprache auf Erden. Vermag denn überhaupt ein Kind des Himmels sich einzuschichten in den engen Kreis, den ein klägliches irdisches Bedürfnis gezogen?" - Professor SPALANZANI schien hoch erfreut über das Verhältnis seiner Tochter mit NATHANAEL; er gab diesem allerlei unzweideutige Zeichen seines Wohlwollens und als es NATHANAEL endlich wagte von fern auf eine Verbindung mit OLYMPIA anzuspielen, lächelte dieser mit dem ganzen Gesicht und meinte: Er werde seiner Tochter völlig freie Wahl lassen. - Ermutigt durch diese Worte, brennendes Verlangen im Herzen, beschloß NATHANAEL, gleich am folgenden Tag OLYMPIA anzuflehen, daß sie das unumwunden in deutlichen Worten ausspreche, was längst ihr holder Liebesblick ihm gesagt, daß sei sein eigen immerdar sein wolle. Er suchte nach dem Ring, den ihm beim Abschied die Mutter geschenkt, um ihn OLYMPIA als Symbol seiner Hingebung, seines mir ihr aufkeimenden, blühenden Lebens darzureichen. CLARAs, LOTHARs Briefe fielen ihm dabei in die Hände; gleichgültig warf er sie beiseite, fand den Ring, steckte ihn ein und rannte herüber zu OLYMPIA. Schon auf der Treppe, auf dem Flur, vernahm er ein wunderliches Getöse; es schien aus SPALANZANIs Studierzimmer heraus zu schallen. - Ein Stampfen - ein Klirren - ein Stoßen - Schlagen gegen die Tür, dazwischen Flüche und Verwünschungen. "Laß los - laß los - Infamer - Verruchter! - Darum Leibe und Leben daran gesetzt? - ha ha ha ha! - so haben wir nicht gewettet - ich, ich hab' die Augen gemacht - ich das Räderwerk - dummer Teufel mit deinem Räderwerk - verfluchter Hund von einfältigem Uhrmacher - fort mit dir - Satan - halt - Peipendreher - teuflische Bestie! - halt - fort - laß los!" - Es waren SPALANZANIs und des gräßlichen COPPELIUS Stimmen, die so durch einander schwirrten und tobten. Hinein stürzte NATHANAEL von namenloser Angst ergriffen. Der Professor hatte eine weibliche Figur bei den Schultern gepackt, der Italiener COPPOLA bei den Füßen, die zerrten und zogen sie hin und her, streitend in voller Wut um den Besitz. Voll tiefen Entsetzens prallte NATHANAEL zurück, als er die Figur für OLYMPIA erkannte; aufflammend in wildem Zorn wollte er den Wütenden die Geliebte entreißen, aber in dem Augenblick wand COPPOLA sich mit Riesenkraft drehend die Figur dem Professor aus den Händen und versetzte ihm mit der Figur selbst einen fürchterlichen Schlag, daß er rücklings über den Tisch, auf dem Phiolen, Retorten, Flaschen, gläserne Zylinder standen, taumelte und hinstürzte; alles Gerät klirrte in tausend Scherben zusammen. Nun warf COPPOLA die Figur über die Schulter und rannte mit fürchterlich gellendem Gelächter rasch fort die Treppe herab, so daß die häßlich herunterhängenden Füße der Figur auf den Stufen hölzern klapperten und dröhnten. - Erstarrt stand NATHANAEL - nur zu deutlich hatte er gesehen, OLYMPIAs toterbleichtes Wachsgesicht hatte keine Augen, statt ihrer schwarze Höhlen; sie war eine leblose Puppe. SPALANZANI wälzte sich auf der Erde, Glasscherben hatten ihm Kopf, Brust und Arm zerschnitten, wie aus Springquellen strömte das Blut empor. Aber er raffte seine Kräfte zusammen. - "Ihm nach - ihm nach, was zauderst Du? - COPPELIUS - COPPELIUS, mein bestes Automat hat er mir geraubt - Zwandzig Jahre daran gearbeitet - Leib und Leben daran gesetzt - das Räderwerk - Sprach - Gang mein - die Augen - die Augen Dir gestohlen. - Verdammter - Verfluchter - ihm nach - hol mir OLYMPIA - da hast Du die Augen! - " Nun sah NATHANAEL, wie ein Paar blutige Augen auf dem Boden liegend ihn anstarrten, die ergriff SPALANZANI mit der unverletzten Hand und warf sie nach ihm, daß sie seine Brust trafen. - Da packte ihn der Wahnsinn mit glühenden Krallen und fuhr in sein Inneres hinein Sinn und Gedanken zerreißend. "Hui - hui - hui! -  Feuerkreis - Feuerkreis!  dreh Dich  Feuerkreis  - lustig - lustig! - Holzpüppchen hui, schön' Holzpüppchen dreh Dich -" damit warf er sich auf den Professor und drückte ihm die Kehle zu. Er hätte ihn erwürgt, aber das Getöse hatte viele Menschen herbeigelockt, die drangen ein, rissen den wütenden NATHANAEL auf und retteten so den Professor, der gleich verbunden wurde. SIEGMUND, so stark er war, vermochte nicht den Rasenden zu bändigen; der schrie mit fürchterlicher Stimme immer fort: "Holzpüppchen dreh' Dich" und schlug um sich mit geballten Fäusten. Endlich gelang es der vereinten Kraft mehrerer, ihn zu überwältigen, indem sie ihn zu Boden warfen und banden. Seine Worte gingen unter in entsetzlichem tierischen Gebrüll. So in gräßlicher Raserei tobend wurde er nach dem Tollhaus gebracht. -

Ehe ich, günstiger Leser! Dir zu erzählen fortfahre, was sich weiter mit dem unglücklichen NATHANAEL zugetragen, kann ich Dir, solltest Du einigen Anteil an dem geschickten Mechanikus und Automat-Fabrikanten SPALANZANI nehmen, versichern, daß er von seinen Wunden völlig geheilt wurde. Er mußte indessen die Universität verlassen, weil NATHANAELs Geschichte Aufsehen erregt hatte und es allgemein für gänzlich unerlaubten Betrug gehalten wurde, vernünftigen Teezirkeln (OLYMPIA hatte sie mit Glück besucht) statt der lebendigen Person eine Holzpuppe einzuschwärzen. Juristen nannten es sogar einen seinen und umso härter zu bestrafenden Betrug, als er gegen das Publikum gerichtet und so schlau angelegt worden, daß kein Mensch (ganz kluge Studenten ausgenommen) es gemerkt hat, unerachtet jetzt alle weise tun und sich auf allerlei Tatsachen berufen wollten, die ihnen verdächtig vorgekommen. Diese letzteren brachten aber eigentlich nichts Gescheites zutage. Denn konnte z. B. wohl irgendjemandem verdächtig vorgekommen sein, daß nach der Aussage eines eleganten Theisten OLYMPIA gegen alle Sitte öfter genießt, als gegähnt hatte? Ersteres, meinte der Elegant, sei das Selbstaufziehen des verborgenen Triebwerks gewesen, merklich habe es dabei geknarrt usw. Der Professor der Poesie und Beredtsamkeit nahm eine Prise, klappte die Dose zu, räusperte sich uns sprach feierlich: "Hochzuverehrende Herren und Daumen! merken Sie denn nicht, wo der Hase im Pfeffer liegt? Das Ganze ist eine Allegorie - eine fortgeführte Metapher! - Sie verstehen mich! - Sapienti sat! [Dem Klugen reicht es jetzt! - wp]" Aber viele hochzuverehrende Herren beruhigten sich nicht dabei; die Geschichte mit dem Automat hatte tief in ihrer Seele Wurzel gefaßt und es schlich sich in der Tat abscheuliches Mißtrauen gegen menschliche Figuren ein. Um nun ganz überzeugt zu werden, daß man keine Holzpuppe liebe, wurde von mehreren Liebhabern verlangt, daß die Geliebte etwas taktlos singe und tanze, daß sie beim Vorlesen sticke, stricke, mit dem Möpschen spiele usw., vor allen Dingen aber, daß sie nicht bloß höre, sondern auch manchmal in  der  Art spreche, daß dieses Sprechen wirklich ein Denken und Empfinden voraussetze. Das Liebesbündnis vieler wurde fester und dabei anmutiger, andere dagegen gingen leise auseinander. "Man kann wahrhaftig nicht dafür stehen," sagte dieser und jener. In den Tees wurde unglaublich gegähnt und niemals genießt, um jedem Verdacht zu begegnen. - SPALANZANI mußt, wie gesagt, fort, um der Kriminaluntersuchung wegen der menschlichen Gesellschaft betrüglicherweise eingeschobenen Automats zu entgehen. COPPOLA war auch verschwunden. -

NATHANAEL erwachte wie aus schwerem, fürchterlichen Traum, er schlug die Augen auf und fühlte wie ein unbeschreibliches Wonnegefühl mit sanfter himmlischer Wärme ihn durchströmte. Er lag in seinem Zimmer in des Vaters Haus auf dem Bett, CLARA hatte sich über ihn hingebeugt und unfern standen die Mutter und LOTHAR. "Endlich, endlich o mein herzlieber NATHANAEL - nun bist Du genesen von schwerer Krankheit - nun bist Du wieder mein!! - So sprach CLARA recht aus tiefer Seele und faßte den NATHANAEL in ihre Arme. Aber dem quollen vor lauter Wehmut und Entzücken die hellen glühenden Tränen aus den Augen und er stöhnte tief auf: "Meine - meine CLARA!" - SIEGMUND, der getreulich ausgeharrt bei dem Freunde in großer Not, trat herein. NATHANAEL reichte ihm die Hand: "Du treuer Bruder hast mich doch nicht verlassen." - Jede Spur des Wahnsinns war verschwunden, bald erkräftigte sich NATHANAEL in der sorglichen Pflege der Mutter, der Geliebten, der Freunde. Das Glück war unterdessen in das Haus eingekehrt; denn ein alter karger Oheim, von dem niemand etwas gehofft, war gestorben und hatte der Mutter nebst einem nicht unbedeutenden Vermögen ein Gütchen in einer angenehmen Gegend unfern der Stadt hinterlassen. Dort wollten sie hinziehen, die Mutter, NATHANAEL mit seiner CLARA, die er nun zu heiraten gedachte, und LOTHAR. NATHANAEL war milder, kindlicher geworden, als er je gewesen und erkannte nun erst recht CLARAs himmlisch reines, herrliches Gemüt. Niemand erinnerte ihn auch nur durch den leisesten Anklang an die Vergangenheit. Nur, als SIEGMUND von ihm schied, sprach NATHANAEL: "bei Gott Bruder! ich war auf schlimmem Weg, aber zu rechter Zeit leitete mich ein Engel auf den lichten Pfad! - Ach es war ja CLARA! -" SIEGMUND ließ ihn nicht weiter reden, aus Besorgnis, tief verletzende Erinnerungen möchten ihm zu hell und flammend aufgehen. - Es war an der Zeit, daß die vier glücklichen Menschen nach dem Gütchen ziehen wollten. Zur Mittagsstunde gingen sie durch die Straßen der Stadt. Sie hatten manches eingekauft, der hohe Ratsturm warf seinen Riesenschatten über den Markt. "Ei! sagte CLARA: steigen wir doch noch einmal herauch und schauen in das ferne Gebirge hinein!" Gesagt, getan! Beide, NATHANAEL und CLARA stiegen herauf, die Mutter ging mit der Dienstmagd nach Hause und LOTHAR, nicht geneigt, die vielen Stufen zu erklettern, wollte unten warten. Da standen die beiden Liebenden Arm in Arm auf der höchsten Gallerie des Turms und schauten hinein in die duftigen Waldungen, hinter denen das blaue Gebirge, wie eine Riesenstadt, sich erhob.

"Sieh' doch den sonderbaren kleinen grauen Busch, der ordentlich auf uns los zu schreiten scheint," sprach CLARA. - NATHANAEL faßte mechanisch nach der Seitentasche; er fand COPPOLAs Perspektiv, er schaute seitwärts - CLARA stand vor dem Glas! - Da zuckte es krampfhaft in seinen Pulsen und Adern - totenbleich starrte er CLARA an, aber bald glühten und sprühten Feuerströme durch die rollenden Augen, gräßlich brüllte er auf, wie ein gehetztes Tier; dann sprang er hoch in die Lüfte und grausig dazwischen lachend schrie er in schneidendem Ton: "Holzpüppchen dreh' Dich - Holzpüppchen dreh' Dich" - und mit gewaltiger Kraft faßte er CLARA und wollte sie herabschleudern, aber CLARA krallte sich in verzweifelnder Todesangst fest an das Geländer. LOTHAR hörte den Rasenden toben, er hörte CLARAs Angstgeschrei, gräßliche Ahnung durchflog ihn, er rannte herauf, die Türe der zweiten Treppe war verschlossen - stärker hallte CLARAs Jammergeschrei. Unsinnig vor Wut und Angst stieß er gegen die Tür, die endlich aufsprang - Matter und matter wurden nun CLARAs Laute: "Hilfe - rettet - rettet -" so erstarb die Stimme in den Lüften. Sie ist hin - ermordet von dem Rasenden, so schrie LOTHAR. Auch die Tür zur Gallerie war zugeschlagen. - Die Verzweiflung gab ihm Riesenkraft, er sprengte die Tür aus den Angeln. Gott im Himmel - CLARA schwebte vom rasenden NATHANAEL erfaßt über die Gallerie in den Lüften - nur mit einer Hand hatte sich noch die Eisenstäbe umklammert. Rasch wie der Blitz erfaßte LOTHAR die Schwester, zog sie hinein und schlug in demselben Augenblick mit geballter Faust dem Wütenden ins Gesicht, daß er zurückprallte und die Todesbeute fahren ließ.

LOTHAR rannte herab, die ohnmächtige Schwester in den Armen. - Sie war gerettet. - Nun raste NATHANAEL herum auf der Gallerie und sprang hoch in die Lüfte und schrie:  "Feuerkreis  dreh' dich -  Feuerkreis  dreh' dich" - Die Menschen liefen auf das wilde Geschrei zusammen; unter ihnen ragte riesengroß der Advokat COPPELIUS hervor, der eben in die Stadt gekommen und geraden Weges nach dem Markt geschritten war. Man wollte herauf, um sich des Rasenden zu bemächtigen, da lachte COPPELIUS sprechend: "ha - ha - wartet nur, der kommt schon herunter von selbst," und schaute wie die übrigen hinauf. NATHANAEL blieb plötzlich wie erstarrt stehen, er bückte sich herab, wurde den COPPELIUS gewahr und mit dem gellenden Schrei: "Ha! Sköne Oke - Sköne Oke," sprang er über das Geländer. -

Als NATHANAEL mit zerschmettertem Kopf auf dem Steinpflaster lag, war COPPELIUS im Gewühl verschwunden. -

Nach mehreren Jahren will man in einer entfernten Gegend CLARA gesehen haben, wie sie mit einem freundlichen Mann, Hand in Hand vor der Tür eines schönen Landhauses saß uns vor ihr zwei muntere Knaben spielten. Es wäre daraus zu schließen, daß CLARA das ruhige häusliche Glück noch fand, das ihrem heitern lebenslustigen Sinn zusagte und das ihr der im Innern zerrissene NATHANAEL niemals hätte gewähren können.
LITERATUR - E. T. A. Hoffmann, Der Sandmann, Gesammelte Schriften, Bd. 5, Nachtstücke, Berlin 1872