ra-2H. Gomperzvon KirchmannE. Lask    
 
ALF ROSS
Kritik der sogenannten
praktischen Erkenntnis

[3/3]

"Es ist nun die Frage zu untersuchen, ob das Wert bewußtsein,  das der Auffassung des Wertes als einer moralischen Kategorie zugrundeliegt, darin bestehen kann, daß ein Pseudobewußtsein erlebt wird. Oder kurz: kann Wert auf Interesse zurückgeführt werden?"

"Zu unseren frühesten und elementarsten Reflexionen gehört es, daß das Interesse seinem Wesen nach variabel ist, nicht nur im selben Individuum zu verschiedenen Zeiten, sondern auch in verschiedenen Individuen zur gleichen Zeit. Wir lernen schnell begreifen, daß das Interesse eine  subjektive  Lage im Gegensatz zu den stabilen Dingen ist. Es muß deshalb bestritten werden, daß das  natürliche Bewußtsein  geneigt ist, dem Interesseobjekt  als solchem  Wertqualität zuzuschreiben."

"Wir sind dazu imstande, das Entstehen der Objektivitätsillusion zu erklären. Indem das Individuum eine gewisse feste, von Laune und Interesse unabhängige praktische Einstellung gewissen Objekten gegenüber erlebt, eine Einstellung, die dem eigenen natürlichen Streben des Individuums fremd erscheint, legt es dieses  Gegebensein  als wahre Objektivität aus, indem der Impuls in das Objekt hineinprojiziert wird."

"Gerade der Umstand, daß man sich in der Geschichte der Ethik niemals hat einigen können, inwieweit die moralische Fundamentalkategorie  Pflicht  oder  Wert  ist, indessen doch immer der Überzeugung gewesen ist, von derselben Sache zu sprechen, ist ein sicheres Zeichen dafür, daß Pflicht und Wert gleichartige Erlebnisse decken."


Kapitel II
ALLGEMEINE ANALYSE DER IDEE DES GUTEN
UND DER DARAUF AUFGEBAUTEN ETHIK

[Fortsetzung]

3. Das Wertbewußtsein ist nur ein bloßes
subjektives oder Zustandsbewußtsein

Die subjektiven Theorien nehmen wie erwähnt an, daß das Wertbewußtsein nur ein bloßes subjektives oder Zustandsbewußtsein ist, d. h. ein Bewußtsein, in dem bestimmte Zustände (Emotionen) im Subjekt selbst und nicht anders erlebt werden; und, daß der Wert nur eine Bezeichnung für die Relation ist, in der ein Objekt zu diesem Zustand im Subjekt steht. Einem Ding Wert zuschreiben bedeutet nichts anderes als, daß ich (evtl. auf näher qualifizierte Weise)  Lust an  oder  Begierde nach  diesem Ding fühle. Der Wert ist also nur eine Spiegelung meines eigenen subjektiven Zustandes und verändert sich mit diesem. Das Wertbewußtseins ist einfach eine subjektive Assoziation einer emotionalen Lage und einer Objektsvorstellung.

Indessen scheinen dieselben Schwierigkeiten hier nur auf eine etwas andere Weise aufzutreten. Es ist augenscheinlich nicht genug, um ein Wertbewußtsein zu etablieren, das gleichzeitig im Bewußtsein ein Lust gefühl oder ein Gefühl der Begierde  und  eine Objektsvorstellung vorliegen. Lust soll Lust  an  etwas sein, die Begierde, eine Begierde  nach  dem Objekt. Aber was liegt in dieser Relation? Hier scheinen wir wieder bei dem Gedanken, daß das Objekt zugleich Objekt für die Emotion ist, angelangt zu sein. Und falls hiermit, nicht wie in den objektiven Theorien gemeint ist, daß die Emotion dadurch, daß sie an der Vorstellungsintention partizipiert, das Objekt zum angeeigneten Objekt hat, ist die Frage, welche Relation dann durch die Präpositionen "an" und "nach" ausgedrückt wird.

Man hat wahrscheinlich bisher diese Frage nicht genügend beachtet, sondern hat "die Richtung" der Emotion "gegen" ein Objekt, die durch die Präpositionen "an" und "nach" etc. ausgedrückt wird, als etwas Elementares und Unproblematisches hingenommen. Hat man aber erst die Objektintention des Gefühls verneint, so kommt man nicht darum herum, daß hier ein Problem liegt. (39) Dieses Problem veranlaßt uns zu einem


4. Behavioristisches Intermezzo

Im Falle daß man den Namen  Psychologie  (psychologisch) für die Lehre vom Psychischen in der oben unter  2  angegebenen formellen Bedeutung des unmittelbar Gegebenen als schlechthin Gegebenen oder Bewußtseinsphänomen vorbehalten will, so ist alle Psychologie introspektive Analyse und Beschreibung, deren Aufgabe es ist, durch eine Reduktion aller objektivierenden Deutung in das primitive Introspektrum einzudringen. Selbst wenn nun in diesem Introspektrum (Bewußtsein von) Raum und Zeit vorhanden sein sollte, oder jedenfalls Ausdehnung und Dauer, so ist das  Introspektrum  oder das  Bewußtsein von  diesen Dingen keinesfalls selbst räumlich oder zeitlich. Ich kann es auch folgendermaßen ausdrücken: ganz abgesehen von dem, was gefunden werden sollte (also auch, falls das Vorgefundene räumlichen oder zeitlichen Charakter haben sollte), so ist der  Fund  selber weder  im  Raum noch  in  der Zeit. Der Fund kann also nicht selber mit einem Raum- oder Zeitindex qualifiziert werden; es ist kein Fund  hier,  kein Fund  jetzt.  Man kann sich nicht denken, ihn mit anderen Funden zusammen in Raum und Zeit zu stellen. Falls man sich nämlich erst einen Fund in der Zeit  t1 (Ft1 dächte und danach einen Fund in der Zeit  t2 (Ft2),  so müßte doch  Ft1  für eine rein unmittelbare Betrachtung als ein Moment in  Ft2  auftreten, als ein Moment mit "Erinnerungs- oder Vergangenheitsqualität", könnte aber nicht, ohne eine Deutung, die das unmittelbar Gegebene überspringt, als eine in der Zeit  Ft2  nebengeordnete Wirklichkeit anerkannt werden. Dasselbe gilt in noch höherem Maße von der Raumbestimmung. Das heißt das Introspektrum ist notwendig das  einzige  und  allumfassende,  d. h. außerhalb von Zeit und Raum. Es ist nicht einmal ein adäquates Bild, wenn man sagt, daß das Introspektrum einen Zauberkreis zieht, über den hinaus man nicht kommen kann. Denn der Kreis ist Grenze, und Grenze enthält den Gedanken an etwas anderes: aber für die Introspektion existiert nichts anderes, ja "das andere" ist überhaupt undenkbar.

Ich habe mich bei diesem etwas schwierigen Gedanken aufgehalten (er ist stark und lebendig von HERBERT IVERSEN in seinem originellen Essay über die Zeit hervorgehoben worden, dort aber ist ihm allerdings eine falsche Bedeutung für die Erkenntnistheorie aufgrund einer Verwechslung des Unmittelbar-Gegebenen mit dem Wirklichen beigelegt worden) (40) weil sich daraus die wichtige Konsequenz ergibt, daß die Introspektion niemals Kenntnis von anderem als einer  Lage,  einer  Situation  oder einem  Zustand  (einem Schnitt, einem Plan) von Qualitäten vermitteln kann, oder welchen Ausdruck man nun anwenden will, um die Zeitlosigkeit zu symbolisieren; niemals aber von einem  Strom,  einem  Kurs  oder einem  Verlauf innerhalb der Zeit  des Psychischen. Es ist deshalb apriorisch gegeben, daß man niemals durch echte Introspektion zu der allgemeinen Auffassung des Willens oder Begehrens als eines Stromes, eines Vorgangs, einer ablaufenden Aktivität gelangen kann. Ob man auf anderem Weg mit Recht zu einer Willensauffassung als etwas in der Zeit verlaufendem gelangen kann, soll hier nicht erörtert werden. Ich behaupte nur, daß  der Wille für die Introspektion notwendig eine Lage von Qualitäten, eine Situation  ist. So ist auch der Wille in letzter Zeit von EINAR TEGEN in seinem großen Werk über den Willen im Verhältnis zum Ich und zur Aktivität beschrieben worden.

Ferner folgt daraus - immer, wenn das Wort psychologisch in der erwähnten Bedeutung gefaßt wird - daß es  keine psychologische Kausalerklärung gibt.  (41) Denn Kausalerklärung impliziert Zeitfolge. Ganz besonders gilt natürlich, daß jede Erklärung von Bewegungen im Raum, also physische Vorgänge außerhalb des Gebietes der Psychologie fallen.

Jedes Geschehen  im  lebendigen Organismus und alle Veränderung  vom  lebenden Organismus im Raum (und diese beide Gruppen können selbstverständlich nicht getrennt werden) sind Bewegungen im Raum und können mit einem gemeinsamen Ausdruck passend das  Verhalten  (das Benehmen) des Organismus oder sein "behaviour" genannt werden. Die Lehre von diesen Vorgängen nenne ich  Behaviorismus;  sie umfaßt also teils das, was man gewöhnlich Physiologie nennt, teils Behaviorismus im engeren Sinn. Behaviorismus ist also Physiologie und umgekehrt. Einen prinzipiellen Unterschied zwischen diesen Disziplinen gibt es nicht. Das Verhalten des lebenden, auch des intelligenten Organismus besteht aus Vorgängen im Raum und verlangt deshalb nach einem klaren methodologischen Prinzip eine Erklärung durch dieselben (physiko-chemischen) Gesetze wie andere Vorgänge im Raum. (42) Behaviorismus (Physiologie) ist eine Wissenschaft, die als solche überhaupt nichts mit dem Psychischen zu tun hat. (43)

Wir wollen im Folgenden gewisse typische Behaviourverläufe in tierischen Organismen betrachten, nämlich solche, die "interessiert" oder "von einem  Interesse  bestimmt" sind. Wir wollen sie weiterhin in ihrer extremsten Form, nämlich als den Lernprozeß im intellgenten Tier betrachten. Man nennt ein Tier intelligent, wenn es die Fähigkeit zeigt, durch wiederholte Handlung unter gleichartigen Umständen, sein interessiertes Benehmen diesen anzupassen; oder einfacher: durch individuelle Erfahrungen zu lernen. Es ist klar, daß hierdurch nur ein Gradunterschied gegeben ist. Der Lernprozeß ist die Serie gleichartiger Serien im Benehmen, durch die sich der Organismus sukzessiv den gegebenen Umständen anpaßt.

Die behavioristischen Studienbücher wimmeln von Lernprozeßschilderungen. Ganz willkürlich führe ich ein Beispiel von TORNDIKE an.
    "Wir nehmen eine Schachtel (20x15x12 inches), ersetzen eine Seite mit Stäben im Abstand von 1 inch Abstand und machen in diese Vorderseite eine Tür, die aufgeht, wenn von der Innenseite ein hölzerner Riegel von einer vertikalen in eine horizontale Position gebracht wird. ... Ein Kätzchen, 3 - 6 Monate alt, das in die Schachtel gesetzt wird wenn es hungrig ist und ein Stück Fisch sieht, das außerhalb liegt, reagiert wie folgt: es versucht seine Tatzen durch die Stäbe zu bringen und will schließlich in die Schachtel beißen. Mit einer seiner vielen Bewegungen dreht es irgendwann einmal den hölzernen Riegel und das bringt dem Kätzchen Freiheit und Nahrung. Durch ein mehrmaliges Wiederholen dieser Erfahrung kommt es am Ende so weit, daß das Tier alle nutzlosen Versuche unterläßt und sich auf einen besonderen Impuls beschränkt, d. h. es drückt eine Seite des Riegels mit der Tatze oder mit der Nase und erreicht damit was es will. Von nun an betätigt es den Riegel ohne Verzögerung wann immer es in die Schachtel gesetzt wird." (44)
In diesem Gesamtverlauf wie in einer Menge ähnlicher Fälle kann man drei Momente hervorheben:
    1) Jede einzelne Reaktionsserie hat einen bestimmten typischen Verlauf; sie dauert an, bis sie mit bestimmten gleichartigen Handlungen abgeschlossen wird, in diesem Fall: das Verzehren des Futters. Diese abschließenden Handlungen, die (vorläufige) Ruhe herbeiführen, werden allgemein  Konsumationshandlungen  genannt.

    2) Der Organismus nimmt unter jeder Reaktionsserie eine besondere  Einstellung  ein, d. h. der Organismus zeigt sich faktisch in erhöhtem Grad gewissen Stimuli gegenüber empfänglich (in unserem Beispiel: Anblick und Geruch des Futters) und im geringeren Grad anderen gegenüber (z. B. "interessiert" Spielen weniger). Dies ergibt sich nicht aus der oben zitierten Beschreibung, dagegen aus vielen anderen Tierversuchen.

    3) Es findet im Verlauf der wiederholten Handlungsserien eine bis zu einem bestimmten Punkt allmählich fortschreitende  Anpassung  der Handlungsweise des Tieres statt, d. h. die Organbewegungen, die unter den gegebenen Verhältnissen dazu geeignet sind, zu verzehren des Futters zu führen, finden sich mit einer, bis zu einem gewissen Punkt steigenden Geschwindigkeit und Sicherheit ein.
Von diesen drei Momenten definieren die beiden ersten den Verlauf als interessiert; das dritte, die Anpassung, den Verlauf als einen Lernprozeß. Wir können also sagen, daß ein Handlungsverlauf dann interessiert ist, wenn er einen bestimmten typischen Verlauf zeigt, und zwar so, daß er, beherrscht von einer gewissen Einstellung, normal erst durch eine bestimmte Konsumationshandlung zum Abschluß in Ruhe gebracht wird. Von dieser sagt man, daß sie Lust herbeiführt, worunter in behavioristischen Termini natürlich durchaus nichts anderes verstanden werden darf, als der geschilderte objektive Abschluß in Ruhe.

Die Frage erhebt sich nun, in welchen Termini das interessierte Benehmen prinzipiell zu erklären ist.

Der Gedanke ist uralt, daß man zur Erklärung von biologischen Phänomenen und besonders von interessiertem Benehmen zu einem anderen Erklärungsprinzip als dem mechanisch-kausalen, das für die physiko-chemischen Prozesse in der unorganischen Welt gilt, greifen muß. Die Erklärung der vitalen Prozesse, so sagt man, kann nur durch die Annahme eines  Zwecks  geschehen; die Erklärung ist  teleologisch  oder  hormistisch  [triebbefriedigungsmäßig - wp].

Es ist keine ganz leichte Aufgabe zu sagen, worin der Unterschied zwischen diesen beiden Prinzipien bestehen soll. Hinter der teleologischen Betrachtungsart liegen Vorstellungen die außerordentlich primitiv und noch heute außerordentlich lebendig in der natürlichen Auffassung von uns selber als handelnden Wesen sind; dies bringt es mit sich, daß es so schwierig ist, den spekulativen Charakter dieser Betrachtungsart anzugeben. Er kommt uns so "selbstverständlich" vor, daß es schwer sein kann, das Problematische auch nur zu entdecken.

Man kann zu Anfang den Unterschied vielleicht so ausdrücken, daß man sich bei der mechanisch-kausalen Erklärung denkt, daß das, was geschieht, durch die vorausgehenden Glieder und die vorliegenden Umstände bestimmt ist, "erklärt" werden kann, so daß das Ergebnis des Verlaufs zu dem wird, was es eben wird, gemäß den bedingenden Umständen. In der teleologischen Erklärung denkt man sich dageen, daß das, was geschieht durch das Resultat bestimmt ist, "erklärt" werden kann, sodaß sich der Verlauf demgemäß einstellt und unter gegebenen Umständen so wird, wie es werden muß,  damit  es zu dem bestimmten Resultat, zu dem erklärenden Zweck führt. Schematisch können wir also sagen: wenn wir einen Verlauf von  a  zu  b  haben, wird man es im ersteren Fall durch oder aus  a  erklären, im letzteren durch oder aus  b.  (45)

Dies ist jedoch nicht ganz korrekt. Denn es ist nicht eigentlich das kommende  b,  das ja noch gar nicht existiert, das man sich im Verlauf wirkend denkt, sondern dagegen  b's Repräsentant in a.  Das  b,  das nicht existiert, denkt man sich trotzdem auf eine gewisse Weise "potentiell" oder als "Anlage" in  a  existierend. Diese Eigenschaft von  a  nennt man eine  Energie, Tendenz oder Kraft  in  a  zu  b.  Daß diese Begriffe sich widersprechen, weil man in ihnen sowohl annimmt, daß  b  existiert und, daß  b  nicht existiert, ist eine Sache für sich, die in einem anderen Zusammenhang ausführlicher erörtert werden wird. Hier heben wir hervor, daß die Erklärung des Verlaufs durch eine Tendenz auf ein Telos, durch eine Energie oder ähnlich von derselben Art ist, wie das berühmte Beispiel bei MOLIÈRE, wo die einschläfernde Fähigkeit des Opiums durch eine  vis dormitiva  [Einschläferungskraft - wp] erklärt wird. Man "erklärt" den Verlauf von  a  zu  b  dadurch, daß man eine Energie oder Tendenz annimmt, was nichts anderes ist, als  der Verlauf "insich selbst zusammengedrängt",  d. h. gedacht unter Abstraktion von der Zeitfolge.

Dies bedeutet, daß der ganze Unterschied zwischen kausaler und teleologischer Erklärung illusorisch ist. Er entsteht dadurch, daß man in den Ursachen- oder Erklärungsbegriff eine, aus dem subjektiven Erlebnis des mit einer gewissen Arbeit verbundenen Gefühls von Anspannung und Kraftentfaltung erschlossene Vorstellung einer Art Zwangsausübung oder Kraftanwendung, die aus einem gewissen Zentrum (dem Subjekt analog) hervorgeht, einlegt. Dadurch entsteht die Frage, ob  a  nur als  a  oder ob das in  a  liegende potentielle  b  der eigentlich  schaffende Faktor  im Verlauf ist. Aber alles dies ist reine Mythologie, das reine Hineindichten subjektiver Gefühle in die Natur. Wenn man in den Ursachbegriff nichts anderes legt, als allein die regelmäßige Zeitfolge zwischen  a  und  b  geht oder von  b  nach  a.  Die Erklärung liegt in ihrer gegenseitigen gesetzmäßigen Verbindung, in nichts anderem.

Vitalisten und Neu-Vitalisten haben behauptet, daß eine bloße Ursachenerklärung biologischer Phänomene durch physiologische (physikalische und chemische) Gesetze unmöglich ist, und daß man ein neues "Prinzip" annehmen muß, das die vitalen Prozesse auf bestimmte Zwecke leitet. Innerhalb der Psychologie hat vor kurzem McDOUGALL mit großer Energie eine teleologische, hormistische Methode, für das "purposive striving" [zweckhaftes Streben - wp] die fundamentale Kategorie ist, im Gegensatz zur gewöhnlichen mechanisch-kausalen aufgestellt. (46) Für McDOUGALL liegen die letzten Erklärungsgrundlagen für alle Aktivität im Instinkt, d. h. eine "Energie, die zweckgerichtet arbeitet und die deshalb radikal verschieden ist von den Energien welche die physikalische Wissenschaft als ständig mechanisch arbeitende denkt." (47) Der Instinkt ist eine "creative activity", eine letzte Kraft, "die einem Ziel zustrebt" (48), "eine Sprungfeder an Energie", "ein Motor" (49), "der erste Ursprung und Wurzel aller Aktivität" (50). Diese letzte  Tendenz,  die sich als eine schaffende Aktivität selbst auf ein gegebenes Ziel vorwärts wirft, wird von McDOUGALL selbst BERGSONs "élan vital" , SCHOPENHAUERs "Wille zum Leben", JUNGs "libido" und den "angeborenen Neigungen" der schottischen Schule an die Seite gestellt. (51) Aus den angeführten Ausdrücken ergibt sich deutlich, daß hinter McDOUGALLs Theorie des Instinktes, als eines teleologischen Erklärungsprinzips, genau dieselben oben dargestellten mythologischen Ideen liegen.

Zu einem prinzipiell gleichen Resultat wird man überall geführt, wo man eine gewisse psychische  Energie, Spannung oder Tendenz  als erklärende Ursache des Verlaufs einführt. So z. B. bei einem der eigentümlichsten Repräsentanten der modernen Psychologie, bei KURT LEWIN. Indem sich LEWIN gegen die Element- und Assoziationspsychologie wendet und statt einer bloßen "phänotypischen" Beschreibung eine kausal-dynamische Problemstellung und eine entsprechende konditional-genetische Begriffsbildung fordert (52), will er als  Ursache  des psychophysischen Verlaufs bestimmte seelische Energien einführen, die auf einen Willens- oder Bedürfnisdruck oder wie es LEWIN nennt: auf  gespannte  seelische Systeme zurückgehen. (53) Es wird von "arbeitsfähiger Energie", "verursachenden Energien" (54) und ähnlichem gesprochen, d. h. die Energie selber wird als Ursache eingeführt. Diese Energie wird nun deutlich in Form der erwähnten Tendenz, des Strebens, Dranges oder der Richtung gefaßt, d. h. als ein  Gegebenes, das sich selbst transzendiert und dadurch sich selbst im Kommenden hervorbringt.  (55) Die seelische Energie ist ein latentes, d. h. unbewußt Psychisches. (56)

Da nun indessen diese seelischen Energien in der Erfahrung nirgends anders als eben durch eine hypothetische Voraussetzung für den Verlauf, den die Energie "erklären" soll, gegeben sind, (57) so ist es klar, daß diese Erklärungsweise von jener oben erwähnten, tautologischen Art ist. "Energie", "Tendenz", "Kräfte", "Felder" usw. sind in der Psychologie ebensowenig Erklärungsmomente wie in der Physik, sondern nur bildliche Beschreibungsmittel, die selber eine Erklärung erfordern. (Wenn man dem Magneten eine magnetische Kraft oder Energie und ein durch Kraftlinien bestimmtes magnetisches Feld zuschreibt, so ist das keine Erklärung, sondern nur eine einfache Beschreibung der magnetischen Phänomene.) (58) Hieraus folgt, daß LEWIN und seine Schüler insofern (59) sie meinen, eine "Erklärung" psychischer Vorgänge mittels einer Reihe aus der Physik geholten Ausdrücke wie  Energie, Kraft, Spannung, Auslösung, Feld, Kraftlinie, Widerstand  (Barriere),  relativ isolierte Systeme  usw. gegeben haben, eine nur bildliche Beschreibung mit einer wirklichen Erklärung verwechseln. So ist es z. B. keine Erklärung der Gleichgültigkeit dem Essen gegenüber, die durch Sättigung eintritt, daß die in Betracht kommende "psychische Energie" "ausgelöst" ist. (60) Eine wirkliche Erklärung ist dagegen die physiologische: daß die konsumierende Stimulus-Respons-Reaktion durch physiologische Prozesse den primären inneren Stimulus (den Hunger) auslöscht.

Wohin die Annahme verursachender seelischer Energien führt, kann man am besten bei FRIEDRICH GROSSART sehen, der lehrt,
    "daß die Fundierung des Gefühls weder im physiologischen Apparat, noch im reinen Bewußtseinsgeschehen liegen kann, sondern nur in einem von beiden verschiedenen Gebiet, den im erlebenden Subjekt wirksamen Tendenzen. Zu ihnen gehören die Triebe und Instinkte, aber sie erschöpfen sie nicht. Sie müssen vielmehr allgemein als letzte, vom  Bewußtsein unabhängige, real existierende,  von ihm aber erfaßbare  seelische Kräfte oder Strebungen  begriffen werden. Die Frage nach dem Wesen des Gefühls führt so notwendig zur Frage des Unbewußten, besser gesagt: den  unbewußten  seelischen Kräften." (61)
Oder sind  Lust und Unlust  vielleicht Schlüsselworte zum Verständnis allen tierischen (menschlichen) Benehmens? Erklärt ein inneres Streben nach Lust die Richtung der interessierten Handlung auf ein bestimmtes Ziel? Sucht das Tier sein Futter und den nächsten Weg dazu, weil dies die relativ größte Lust ergibt? Man hat dies oft behauptet. "Die Natur hat die Menschheit unter die Regierung von zwei souveränen Herrschern gestellt: Schmerz und Vergnügen. Es liegt ganz allein daran, wie bestimmt wird was wir tun sollen oder was wir tun werden", sagt BENTHAM, und er drückt dadurch nur einen alten Gedanken aus, der auch nach seinen Tagen zahlreiche Anhänger gezählt hat.

Indessen baut auch diese Behauptung auf Vorstellungen, die so "selbstverständlich" sind, daß es schwer ist, ihren wirklichen Sinn zu erfassen.

Zunächst kann man sich den Sinn so denken, daß aller Wille, alles Streben oder alle Begierde immer bewußt-psychologisch als Begierde nach Lust auftritt, wenn nicht unmittelbar, so doch mittelbar. Dies wiederum will sagen, daß die in die Strebenslage eigehende Vorstellung von etwas jetzt-nicht-wirklichem (Zufkünftigem), welches gerade das ist, was als Gegenstand (Ziel) unseres Strebens aufgefaßt wird, immer eine Vorstellung von Lust sein sollte. Hierzu ist zu sagen, daß die einfachste Reflexion ergibt, daß dies zwar der Fall sein kann, aber bei weitem nicht immer ist. Das natürliche und ernste Streben ist sachlich. Nur das in der Reflexion depravierte und vielleicht das nicht-ernsthafte, spielende Streben fragt nicht nach der Sache, sondern nach der Lustfolge der Sache. Dies dürfte mit der Zeit ziemlich allgemein eingesehen worden sein.

Aber man will in Wirklichkeit auch nicht die Beschreibung einer psychischen  Lage  geben, wenn man sagt, daß Lust und Unlust für alles Handeln bestimmend ist, sondern eine Erklärung eines  Vorganges.  Man denkt sich, daß Lust und Unlust die großen Triebfedern sind, die Maschinerie in Gang setzen. Aber wie genauer? Ist es eine Lust-Unlust, die vor der Handlung vorliegt? oder ist es eine zukünftige als Folge der Handlung, an die man denkt? Falles es eine bereits vorliegende Lust-Unlust ist, die man sich im gewöhnlichen mechanisch-kausalen Sinn als Ursache denkt, so ist nicht recht einzusehen, warum gerade dieses Moment als die Ursache hervorgehoben wird. Es muß doch viele andere Momente geben, sowohl gleichzeitige als auch vorzeitige, die in diesem Sinn Ursache sind. Nein, die Sache ist die, daß überall da, wo von einem einzelnen Ding als  der  Ursache, Triebfeder, Energiequelle, dem Kraftzentrum usw. gesprochen wird, liegt in Wirklichkeit eine teleologische Betrachtungsweise nach oben angegebenen Muster vor. Man denkt sich im Menschen hinter den bewußten Strebenslagen ein  unbewußtes Streben als eine Energie oder Tendenz,  "a purposive striving", "a spring of action" etc.  vorwärts zu einer - Lust  gerichtet (bei den oben benützten Symbolen von  a  zu  b). 

"Die Erklärung" allen Handelns durch das Lustprinzip ist deshalb nur eine neue Form der teleologischen Erklärung. Dazu kommt, daß sie weiterhin mit der metaphysischen Vorstellung eines unbewußten Psychischen "hinter" dem Bewußtsein operiert. Schließlich und nicht am geringsten hat das Lustdogma der praktischen Psychologie, Soziologie, Geschichte, Kulturwissenschaft etc. Sehr geschadet, dadurch, daß es den Glauben daran, daß die Handlungen der Menschen immer von einem  Zweck  diktiert sind, fundiert hat, d. h. diktiert von der reflektierten Einsich in gewisse erwartete Folgen des Handelns, während das wahre Verhältnis, das die neuere Soziologie erst jetzt die Menschen einsehen läßt, so ist, daß das Handeln oft zwecklos ist, d. h. blind und unmittelbar einem Impuls zuzuschlagen entspringt und seinen ganzen Zweck und Sinn im Auslösen einer Spannung findet. Ganz besonders hat der Glaube an die "Zwecke" - bewußte oder unbewußte - die Lehre von der Entstehung und Entwicklung der sozialen Institutionen verfälscht. Gerade hier hat die neuere Soziologie eine große Arbeit geleistet, dadurch, daß sie den traditionellen Intellektualismus  ad absurdum  geführt hat. Man beginnt jetzt zu verstehen, daß auch der Mensch ein blindes und leidenschaftliches Tier ist und vor allem gewesen ist.

Wir müssen deshalb jede Form von teleologischer Erklärung als illusorisch verlassen. Das interessierte Verhalten bietet, soweit ich sehen kann, auch keine Schwierigkeiten, die nicht  prinzipiell  in gewöhnlichen naturwissenschaftlichen Termini erklärt werden könnten, wenn es natürlich eine ganz andere Frage ist, ob die Forschung auf ihrem heutigen Standpunkt imstande ist, diese Aufgabe zu lösen.

Wie oben erwähnt wird die interessierte Handlung durch die Richtung des Verlaufs auf und den Abschluß in einem Ziel, außerdem durch die entsprechende "Einstellung" des Organismus auf alles, was damit in Verbindung steht charakterisiert. Und gerade diese Verhältnisse scheinen prinzipiell mit dem "blinden" Naturverlauf unvereinbar. Doch kaum mit Recht.

Ein Verlauf wie der oben geschilderte (die Katze im Käfig) kann wahrscheinlich durch  Reflex-termini (Stimulus-Respons), der Fundamentalkategorie des Behaviorismus, erschöpfend und vollständig erklärt werden. Das Verhältnis scheint so zu sein: der Hunger bedeutet einen im Organismus selber unter gewissen Bedingungen entstehenden Stimulus (Die Entleerung des Magensacks, dadurch hervorgerufene krampfartige Zusammenziehungen mit begleitenden Schmerzen, evtl. Hormonausscheidung oder ähnliches), der den stauding1fahru.htmlmotorischen Apparat zu einer Reihe unruhiger, zufälliger Bewegungen stimuliert, die (aufgrund früherer Erfahrungen) durch die Nähe des Futters noch weiter stimuliert werden (Anblick, Geruch). (62) Nachdem das Tier mit der Nahrung in Kontakt gekommen ist, tritt eine neue Reaktionsreihe ein (das Verschlingen der Nahrung), das  durch innerorganischen Funktionszusammenhang  (die Ausdehnung des Magensacks, eventuell eine Veränderung in der Zusammensetzung des Blutes usw.)  die Wirkung zeitigt, daß der ursprüngliche Stimulus (der Hunger) ausgelöscht wird.  Wenn wir einen solchen  zirkulären Zusammenhang  annehmen, zwischen einer inneren, konstitutionell begründeten ("autonomen") Stimulus-Respons-Reaktion, die eine Reihe von Bewegungen veranlaßt, und den (ursprünglich zufällig, später adäquat) hierdurch hervorgerufenen äußeren Reaktionen, die wiederum den konstituionellen Stimulus auslöschen, so haben wir ein Schema, das in großen Linien die  Mechanik  der Interessehandlung ergibt und seinen Abschluß in einem bestimmten Ziel erklärt (63). Das zweite Charakteristikum der Interessehandlung, die Einstellung des Organismus, muß wahrscheinlich auch zu einem funktionellen Zusammenhang zwischen Energieauslösungen reduziert werden können. Die "Einstellung" gegenüber gewissen bestimmten Stimuli und die daraus sich ergebende "Selektivität", die den interessierten Organismus bestimmt, ist prinzipiell nicht rätselhafter als die Einstellung und Selektivität eines Radioapparats: sie bedeutet eine in einem sensitiven und motorischen System von einem konstitutionellen Stimulus ("die herrschende Einstellung") verursachte  Anordnung,  so daß gewisse Energien durch bestimmte Stimuli ausgelöst werden und nicht durch andere.

Man muß annehmen, daß der Reflex selber als Ausdruck für physiologische Dispositionen prinzipiell auf rein physiologische (physiko-chemische) Termini reduzibel ist (64). Es bleibt also nur die im Vorausgehenden vorausgesetzte Umkoppelung oder Assoziation der Reflexe auf andere Stimuli als die ursprünglich auslösenden, die notwendig ist, um die steigende Anpassung in der Handlungsweise zu erklären, die den ursprünglichen "Zufall" überflüssig macht. Man ist wohl kaum imstande, auf zufriedenstellende Weise dieses Grundgesetz des Behaviourismus physiologisch zu erklären, aber es scheint durchaus keine prinzipielle Unmöglichkeit dazu vorzuliegen.

Wenn wir eine von der Natur des Organismus bedingten, angeborene Reihe solcher zirkulären Impulsapparate (die Triebe, die Instinkte in physiologischer Interpretation) annehmen und außerdem das von den ursprünglichen Reflexen aufgebaute, außerordentlich reichhaltige System von bedingten Reflexen, welches durch alle adäquat angelernte Handlungen gebildet wird, so haben wir hiermit wohl alles Material zur Erklärung aller Interessehandlungen.

Nicht in einem einzelnen universellen Streben nach Lust liegt der Schlüssel zum Verständnis der interessierten Handlung; und überhaupt nicht in irgendeinem bewußten oder unbewußten psychischen Streben, Trieb (65), Tendenz oder sonst einer anderen teleologischen Pseudo-Erklärungsgrundlage; sondern in einem System  ursprünglicher (konstitutioneller)  Reflexe und Reflexsysteme (Instinkte, "Anlagen") und der hieraus entwickelten  bedingten  (konditionellen) Reflexe (Gewohnheiten) und Reflexsysteme ("Komplexe", Temperamente", "Charakter" etc.), was alles zusammen in letzter Analyse prinzipiell auf einen  Ausdruck physiologischer Dispositionen  reduziert werden kann. Hier haben wir die im Organismus selbst repräsentierten Faktoren. Aber die Handlung ist ein Produkt des Zusammenstoßens zwischen Organismus und Umwelt (Milieu), und die Erklärung der Handlung muß versuchen, sie als ein Produkt der subjektiv-organischen Faktoren und des Milieus zu verstehen.


5. Vorläufige, negative Konklusion

Wenn wir auf die vorausgehenden Nummern zurückblicken, sehen wir, daß wir erst (Nr. 2) den Gedanken des Wertbewußtseins als eine echten objektiven Bewußtseins gewisser spezifischer Qualitäten (Werte) in Analogie zu einem Vorstellungsbewußtsein verwerfen mußten; und daß wir darauf (Nr. 3) gezwungen wurden einzuräumen, daß dieselben prinzipiellen Schwierigkeiten, die die objektiven Theorien unmöglich machen, in den subjektiven wieder auftauchen, nämlich in den Ausdrücken streben  nach  (Lust  zu)  etwas und Lust  an  etwas. Wir befanden uns auf diese Weise scheinbar in einer prekären Situation, was uns dazu veranlaßte (Nr. 4) die introspektive Betrachtungsweise zu verlassen, um stattdessen die behaviouristische anzuwenden, indem wir die Hoffnung voraussetzen, daß dadurch neues Licht auf unser Problem fallen würde. Hier will ich nun zu zeigen versuchen, daß es sich tatsächlich so verhält.

Die Hauptbedeutung unseres behaviouristischen Intermezzos liegt nicht in dem notwendig äußerst groben und oberflächlichen Versuch, den Verlauf einer Erklärung des interessierten Handlungsvorgangs in naturwissenschaftlichen Termini zu skizzieren, sondern darin, daß aufgezeigt wird, daß jeder Versuch einer teleologischen Erklärung des Verlaufs durch eine entsprechende Kraft, Energie, ein  Streben  oder eine  Tendenz  illusorisch ist, da diese Begriffe in Wirklichkeit nichts anderes enthalten, als den Verlauf selber, seiner zeitlichen Dimension entkleidet.

Das Ergebnis, das hier zum Vorteil des wertungspsychologischen Problems erreicht werden kann, besteht darin, daß diese Einsicht eine Hypothese veranlaßt, die ich hier wahrscheinlich zu machen versuchen werde, nämlich, daß das "Streben nach etwas" oder "die Lust an etwas", die nach den subjektiven Theorien die wertende Bewußtseinslage charakterisieren soll, in Wirklichkeit gar keine Bewußtseinslage ist, gar kein  echtes  Introspektrum, sondern dagegen eine in das Introspektrum hineingedachte teleologische Ursache eines Handlungsverlaufs, also - infolge Nr. 4 - eine Vorstellung des objektiven Verlaufes selber, der seiner zeitlichen Dimension beraubt ist.

Zuerst betrachte ich die Konstruktion "Streben nach etwas" (Lust zu etwas). Das mit einer gewissen Intelligenz ausgerüstete Individuum weiß sich selber, d. h. als Körper, in gewissen typischen Behaviour-Serien mit einem regelmäßigen Abschluß in einem Konsumakt handelnd. Dieses "Wissen" bedeutet nach meinen Gesichtspunkten natürlich kein unmittelbares Bewußtsein oder Erleben, sondern ein ganz gewöhnliches objektives Erfahrungswissen gewisser objektiver Vorgänge in Zeit und Raum. Aber wegen des engen Zusammenhangs zwischen "dem eigenen Körper" und dem "Ich" (vgl. oben Nr. 2) und wegen der Emotionen, die regelmäßig den Vorgang begleiten, entsteht die Vorstellung, daß  sich das Ich im Handlungsverlauf entwickelt,  oder daß dieser eine fortwährende Entwicklung und Neuschöpfung des Ichs sei. Statt sich den Vorgang in einen unendlichen, objektiven Ursachenzusammenhang hineinzudenken, denkt man die Ursachenkette in das Ich hinein und läßt sie da schließen. Das heißt als Ursache des äußeren Verlaufes (Behaviour) denkt man sich einen gewissen  inneren Verlauf  und als Ursache dafür eine entsprechende  Tendenz.  Dies kann auch wie folgt ausgedrückt werden: daß der innere Verlauf (der Wille, das Streben) ständig eine Entfaltung einer in diesem selber liegenden Tendenz oder Richtung ist, sodaß der Verlauf in jedem einzelnen Stadium Ursache seiner selbst im nächsten, oder seine eigene Ursache ist. Dies ist der Gedanke von der Aktivität im Verlauf.

Auf diese Weise entsteht der doppelte Bedeutungsinhalt, der in der gewöhnlichen Auffassung des Willens liegt (vgl. oben Kapitel II. 1.) Dieser ist zunächst ein aktiver oder schaffender  Verlauf,  ein "Strom" oder ähnlich. Aber da man sich nicht denken kann, daß im momentanen Introspektrum (eigentlich und besser: dem zeitlosen) ein Verlauf unmittelbar gefunden werden kann, wird der Wille als  Lage  oder Situation zu einer entsprechenden  "Tendenz"  auf oder  "Streben nach",  was, wie mehrfach erwähnt, nur der Verlauf selber mit fortgedachter Zeitdimension ist. Die angebliche introspektrale Figur "Streben nach etwas" ist deshalb in Wirklichkeit eine  Injektion  eines äußeren, objektiven Willensinhaltes in das Psychische, ein  Falsum,  das dadurch entstanden ist, daß der Mensch, der zunächst dem Äußeren zugewandt ist und zunächst in objektiven zeit-räumlichen Kategorien denkt, dieselben unwillkürlich mitnimmt, wenn er später, in der Reflexion anfängt, sich auf sich selber oder auf das Subjektive zu besinnen.

"Streben nach  etwas"  wird das Streben dadurch, daß der Gedanke an den Abschluß des Verlaufs (des Konsumaktes) oder das hierfür bedingende äußere Objekt (Zustand, Verhältnis) hervorgehoben wird. "Streben nach etwas" ist keine ursprüngliche Bewußtseinslage, wo die Präposition "nach" eine gewisse eigentümliche "Intention" oder ähnliches zwischen der subjektiven Gefühlsqualität ("Streben", d. h. gewisse Spannungsgefühle) und dem objektiven Gegenstand ("etwas") bezeichnet. Wir erleben niemals unmittelbar, daß wir nach etwas streben. Die Verbindung zwischen einem gewissen subjektiven Zustand von Unruhe und Spannung und einem gewissen äußeren Gegenstand, die man dadurch ausdrückt, daß man von einem Streben nach etwas spricht, ist eine äußere behaviouristische Verbindung, die auf der  Rolle  beruth,  die  der Gegenstand als Bedingung des Konsumaktes spielt, der die Unruhe zum Aufhören bringt. Das Wissen um diese Rolle beruth in allen Fällen notwendig auf der äußeren Erfahrung. Bis das Individuum diese gemacht hat, ist sein Streben "blind". Aber wenn diese Erfahrung erst gemacht ist, und wenn danach der äußere Verlauf - zu einer entsprechenden "Tendenz" auf den Konsumakt (oder das denselben bedingende Objekt) "zusammendrängt" - in das Psychische als die spontane Ursache des äußeren Verlaufs injiziert wird, entsteht der Gedanke eines eigentümlichen, schaffenden Psychischen, das "Streben nach" etwas ist (nämlich nach dem Konsumakt oder dem denselben bedingenden Objekt).

Was  im  Introspektrum vorliegt, ist deshalb nur ein Gefühl eines Strebens  und  eine Vorstellung, also ein zusammengesetztes Bewußtsein, dagegen kein unzusammengesetztes Bewußtsein von etwas Angestrebtem. Ein solches liegt auch selbst dann nicht vor, wenn das Gefühl des Strebens und der Vorstellung auch noch so stark assoziiert sind. Die Assoziation wird nicht selber im Bewußtsein erlebt, und es liegen doch immer noch nur zwei getrennte Bewußtsein vor, nicht das einfache Bewußtsein des "Strebens nach etwas". Wenn man davon spricht, daß das Gefühl und die Vorstellung "zusammenschmelzen", daß die Vorstellungsobjektivität auf das Gefühl abfärbt - das Gefühl ansteckt - oder ähnlich, so sind dies unzureichende Bilder, die nicht erklären, wie das zusammengesetzte Bewußtsein als unzusammengesetzt auftritt.

Was hier vom "Streben nach etwas" gesagt worden ist, gilt ganz analog für die "Lust  an  etwas". Es sieht allerdings so aus, als ob dabei nicht an einen Verlauf des Verhaltens, sondern an einen Zustand gedacht wird. Indessen ist dieser Unterschied völlig bedeutungslos. Denn Lust an etwas entspricht einem Verhalten, das darauf ausgeht, einen gewissen Zustand aufrechtzuerhalten, eine gewisse Situation zu verlängern, was ebenso gut einen gewissen typischen behaviouristischen Verlauf bildet, wie das Verhalten, das darauf ausgeht, eine gewisse Situation zu etablieren. Man kann von Bewahrungs- bzw. von Erreichungsinteresse sprechen. Daß man in dem einen Fall von "Lust  an",  im anderen von "Lust  zu"  oder "Streben  nach"  spricht, drückt eben diesen Unterschied zwischen Bewahren und Erreichen, zwischen Bleiben und Entstehen gut aus. Dem entspricht, daß während "Streben nach" als eine im Psychischen liegende potentielle Bewegung aufgefaßt wird, das "Lust an" als eine "Haltung gegenüber" (dem Objekt) vorgestellt wird, was wieder ein ebenso im Psychischen liegendes potentielles "Sich-Verhalten" in einem gewissen Status zum Objekt bedeutet.

Die vorläufige und negative Konklusion unserer kritischen Betrachtung der existierenden Werttheorien ist also folgende: Sowohl die objektiven wie die subjektiven Theorien gehen davon aus, daß das Wertbewußtsein von einer gewissen psychischen Lage gebildet wird, die entweder als ein "Streben nach" oder eine "Lust an" etwas bezeichnet wird, trotzdem man die Objektreferenz des Emotionalen (durch die Präpositionen "nach" und "an" ausgedrückt) auf abweichende Weise ausgelegt hat, nämlich als spezifische Objektsintention bzw. als eine eigentümliche subjektive Verknüpfung. Unsere Untersuchungen berechtigen uns zu behaupten, daß beides falsch ist. Es gibt keine emotionale Objektsintention und kein unmittelbares Erleben der Verknüpfung der Emotion mit einem Objekt. Die Vorstellung einer solchen Verknüpfung ist in Wirklichkeit ein objektives zeit-räumliches Erfahrungswissen von  behaviour,  das fälschlich in das Introspektrum injiziert wird.


6. Fortsetzung der Kritik der subjektiven Theorien

Nachdem wir zunächst (in Nr. 2) die objektiven Theorien kritisiert haben, konstatieren wir (in Nr. 3), daß die subjektiven Theorien von genau denselben Einwendungen betroffen werden, wie die objektiven, da sie die Ausdrücke "Streben nach", "Lust an" als Bezeichnung für eine unmittelbare Bewußtseinslage anwenden. Eine bei dieser Gelegenheit angestellte tiefergehende Untersuchung (Nr. 4 und 5) ergab das Resultat, daß die betreffenden Ausdrücke gar nicht Bezeichnungen für eine unmittelbare Bewußtseinslage sind, für eine eigentümliche "Intention" im Gefühl gegen ein Objekt, sondern nur für ein  Pseudobewußtsein,  d. h. für eine, durch Injektion äußerer Aspekte entstellte Auffassung einer Bewußtseinslage.

Hiermit waren wir uns darüber klar geworden, was "Streben nach" bedeutet, oder richtiger, was es nicht bedeutet. Aber selbst wenn die subjektiven Theorien in dieser revidierten Form nun nicht mehr von den Einwänden, die die objektiven Theorien zu Fall brachten, betroffen werden, so liegt hierin natürlich keine Anerkennung ihrer Richtigkeit. Es ist nun die Frage zu untersuchen, ob das Wert"bewußtsein", das der Auffassung des Wertes als einer moralischen Kategorie zugrundeliegt, darin bestehen kann, daß ein Pseudobewußtsein von der erwähnten Art erlebt wird. Oder kurz: kann Wert auf Interesse zurückgeführt werden?

Das Kriterium für die Haltbarkeit der subjektiven Theorien liegt darin, ob sie imstande sind, die  Objektivitätsillusion  zu erklären, die unzweifelhaft gewisse Erlebnisse begleitet, und die ja die Quelle für den Glauben an objektive Werte ist. Wir wollen untersuchen, ob es möglich ist, auf der vorausgesetzten Grundlage eine solche Erklärung zu geben.

In die praktischen Erlebnisse, die wir "Streben nach", "Interesse an" nennen, geht teils ein Erlebnis eines subjektiven Status, ein Gefühl von "Spannung" oder "Impuls" ein, teils eine, durch eine Reihe von früheren Behaviour- Verläufen  fest  assoziierte Vorstellung eines Objektes. Diese feste Assoziation wird dadurch ermöglicht, daß unser Streben nicht ewig neu und wechselnd ist, sondern wegen seiner physiologischen Fundierung innerhalb einer Reihe von bestimmten Typen verläuft. Dieses zusammengesetzte Erlebnis findet seinen Ausdruck in dem Satz: "dies ist gut (schön usw.)", der trotz seiner sprachlich  prädikativen  Form in Wirklichkeit gar nicht die Funktion hat, eine Eigenschaft ("gut") um ein Objekt zu prädizieren, sondern, - gleichsam durch einen Gefühlsausbruch - den subjektiven Status mit der "Intention" auf das Objekt auszudrücken, und ihn eventuell bei anderen hervorzurufen. Das ist damit, daß er eine Veranlassung zur Debatte in Form der intellektuellen Argumentation geben kann, durchaus vereinbar.  B  erklärt, daß er in der "Behauptung", daß "dies gut sei" mit  A  "einig" ist, falls die Aussage bei ihm ein auf analoge Weise zusammengesetztes Erlebnis trifft oder imstande ist, ein solches hervorzurufen. Sonst antwortet er, daß die Behauptung von  A  falsch ist und wird vielleicht versuchen, durch "Argumente" seine eigene "Behauptung" zu "begründen"; dies bedeutet, daß er versucht die Einstellung von  A  zur Übereinstimmung mit seiner eigenen zu ändern, dadurch, daß er verschiedene Verhältnisse in  A  zum Bewußtsein bringt. Durch diese feste Assoziation in Verbindung mit der prädikativen Form entsteht die Objektsillusion. Nachdem das Gefühl erst durch eine  Injektion  äußerer Wissensinhalte in das Introspektrum "Intention" auf das Objekt zugelegt bekommen hat, wird diese "Intention" nun durch eine  Projektion  des Erlebnisses selber in die Umwelt zu einem (scheinbaren) Wissen um eine besondere Qualität. Die Objektsillusion beruth also kurz gefaßt darauf, daß ich mein eigenes "Begehren nach dem Ding" auf das Ding selber projiziere. Das Begehren färbt auf das Ding ab, gibt ihm ein besonderes Valeur, d. h. Wert.

Indessen kann man diesen Erklärungsversuch nicht als gelungen anerkennen, wie oft liegt nicht eine feste subjektive Assoziation vor, ohne daß sie deshalb als objektive Einheit angenommen wird, und die prädikative Form ist wohl eher eine Folge der Objektsillusion als ein Ursache derselben. Dazu kommt die Hauptsache: Einfache Beobachtung scheint zu zeigen, daß das Interesseobjekt in Wahrheit gar nicht mit objektiver Wertqualität ausgestattet wird. Vielleicht sage ich, daß das, was ich begehrte Wert  für mich  hat, komme aber doch, wie ja auch die sprachliche Form verrät, kaum auf die Idee, dem Interesse objekt als solchem objektive Wertqualität beizulegen, d. h. ich denke kaum daran, daß es ansich, also abgesehen davon, ob es von mir begehrt wird oder nicht, "Wert" besitzt, als eine Eigenschaft, die es dazu  qualifiziert,  Gegenstand meines Strebens zu sein, trotzdem es dies tatsächlich gar nicht ist. In MEINONGs "Werttheorie" tritt ein Musiker auf, dessen Verhältnis zu einem hochgeschätzten, seltenen, alten Streichinstrument das Paradigma für ein Werterlebnis bilden soll. (66) Doch was finden wir, wenn wir uns an seine Stelle denken? Zunächst eine Reihe von Vorstellungen von den ausgezeichneten, aber wirklichen Eigenschaften des Instruments. Dann ein Gefühl der Freude, des Glücks "beim" Gedanken an die Existenz des Instruments. Schließlich eine mehr oder weniger bewußt reflektierte Einstellung im Verhalten gegenüber dem Instrument: der Musiker ist (weiß sich) bereit, die Stradivari-Geige behutsam zu behandeln, sie bei Gefahr zu retten, sie selbst für einen hohen Preis nicht zu verkaufen usw. Aber in all dem finde ich nichts, das man Bewußtsein einer Wertqualität, die an die Existenz des Instruments gebunden ist, nennen könnte.

Ganz allgemein ausgedrückt, können wir sagen, daß es zu unseren frühesten und elementarsten Reflexionen gehört, daß das Interesse seinem Wesen nach variabel ist, nicht nur im selben Individuum zu verschiedenen Zeiten, sondern auch in verschiedenen Individuen zur gleichen Zeit. Wir lernen schnell begreifen, daß das Interesse eine  subjektive  Lage im Gegensatz zu den stabilen Dingen ist. Es muß deshalb bestritten werden, daß das natürliche Bewußtsein geneigt ist, dem Interesseobjekt  als solchem  Wertqualität zuzuschreiben. Solange das Interesse lebt und sich auf das Objekt "richtet", tritt dieses in der besonderen Beleuchtung dieser Interessenrichtung auf. Aber darin liegt keine Tendenz, sich das Objekt  jenseits des Interesses  mit "Wert" ausgestattet zu denken, als einer objektiven Qualifikation. Interesseobjekt zu sein, trotzdem dies faktisch nicht der Fall ist.

Wir werden deshalb gezwungen, endlich den Stab über die subjektiven Theorien, die das Wertbewußtsein als eine Interessenlage bestimmen wollen, zu brechen. Denn von dieser Annahme aus läßg sich die natürliche Objektivitätsprätention des Wertbewußtseins nicht erklären.

Ehe wir selbst versuchen, einen Beitrag zur Lösung des vorligenden Problems zu geben, schicken wir eine Analyse der Vorstellung selber, besser der Pseudovorstellung von der Objektivität der Werte, voraus. Je besser man den Charakter der Jllusion kennt, je größer ist die Wahrscheinlichkeit dafür, daß wir die Verhältnisse auffinden können, die ihr entstehen erklären.


7. Analyse vom Begriff des Wertes
oder des Guten.

Zunächst bemerke ich, daß auch die Frage danach, was mit dem Begriff  Wert  gemeint ist, mit derselben Einschränkung, die oben unter Nr. 1 angegeben wurde, behandelt wird, d. h. nur insofern der Begriff Wert als praktischer Begriff oder als Begriff des Guten aufgefaßt wird. (67)

Ferner bemerke ich, daß wir infolge des oben Gesagten natürlich nicht erwarten können, im "Begriff"  Wert  eine wirkliche, definierbare oder undefinierbare Objektsvorstellung zu finden, sondern nur den Schein von etwas intellektuell Faßbarem.

Wir scheinen hier vor der Alternative zu stehen, daß das Gute entweder eine Relation oder eine Qualität bezeichnet.

a) Man könnte sich denken, daß der Sinn, der darin liegt, wenn man etwas  gut  nennt, darin besteht, daß der Gegenstand, der auf diese Weise qualifiziert wird, in einer gewissen  Relation  zu einem Subjekt steht, nämlich als begehrt, erstrebt, erwünscht, gern gehabt von diesem Subjekt. "Gut" sein bedeutet dann einfach dasselbe wie begehrt sein usw. Der Begriff des Guten ist deshalb auch in der Geschichte der Philosophie oft auf diese Weise definiert worden. Zu dem was es genauer bedeutet, Gegenstand des Strebens oder Lustgefühls zu sein, vergleiche man das eben Entwickelte.

Indessen ist es nicht dieser Sinn, und kann es nicht dieser Sinn sein, den man tatsächlich beim Begriff des Guten als praktischem Grundbegriff denkt, selbst nicht bei den Philosophen, die ihn ausdrücklich auf diese Weise definieren. Wenn wir sagen, daß etwas gut ist, wollen wir nicht nur ausdrücken, daß wir es faktisch begehren, sondern meinen, daß dieses Objekt, ohne Rücksicht darauf, ob wir es wirklich begehren oder nicht, auf irgendeine Weise dazu  qualifiziert  ist, Gegenstand unseres Begehrens zu sein. Falls "etwas gut nennen" wirklich nur bedeuten sollte, es sei tatsächlich begehrt, würde sich jede Aussage über das Gutsein eines Gegenstandes auf die Aussage reduzieren, daß dieser faktisch begehrt wird, d. h. auf einen konstatierenden, psychologisch beschreibenden Rapport. Wo würde in diesem Fall die Ethik (d. h. die Wissenschaft vom Guten) als  praktische  Wissenschaft bleiben? Als praktische Wissenschaft will sich die Ethik nicht damit begnügen, uns hinterher zu erzählen, wonach wir faktisch streben, sondern will selber auf irgendeine Weise einen Bestimmungsgrund für die Aktivität enthalten (vgl. oben Kapitel 1, Nr. 2). Das Gute ist nicht das Erstrebte, sondern das Erstrebens würdige.  Der Ausdruck "das Erstrebenswürdige" enthält natürlich keine Definition des Begriffs des Guten, da die Endung "würdig" ja nur tautologisch auf den Wertbegriff zurückführt; aber er ist dazu geeignet, den Unterschied vom bloß faktisch Erstrebten zum Ausdruck zu bringen.

Soll man sich auf dieser Grundlage eine Ethik denken, so kann sie praktisch nur in dem Sinn genannt werden, in dem alle Technologie und Kunstlehre praktisch ist (vgl. oben Kapitel 1, Nr. 2). Die Ethik wird dann wie alle andere Technologie eine Lehre der Ursachenzusammenhänge, die begründen, daß gewisse Gefahren geeignet sind, gewisse Wirkungen hervorzubringen. Soll die Ethik prinzipiell z. B. von der Straßenbaukuns unterschieden werden, kann es nur dadurch geschehen, daß man annimmt, alle menschlichen Zweck seien hierarchisch eingeordnet, welchselseitig bedingend und bedingt unter einem höchsten unbedingten, alles andere bedingenden Zweck, dem Zweck des Lebens selber oder der Bestimmung des Menschen. Die Ethik ist dann zwar immer noch eine Technologie, aber die höchste von allen, die alle anderen potentiell in sich enthält. Sie ist die Lehre davon, wie das Leben nach seinem eigenen immanenten Ziel dem Ziel aller Ziele vollkommen gebildet wird.

So findet man den wissenschaftlichen Charakter der Ethik auch oft angegeben, z. B. bei PAULSEN und JODL (68).

Aber es ist deutlich, daß wir hiermit in Wirklichkeit die Bestimmung des Guten, als dem faktisch Erstrebten und der Ethik als einer Technologie, gesprengt haben. Denn die Annahme eines unbedingten, alles andere bedingenden Zwecks allen menschlichen Strebens entbehrt augenscheinlich jeder Berechtigung, wenn damit das faktische, in der psychologischen Erfahrung vorkommende Streben gemeint sein soll. Der Gedanke ist deutlich der, daß es ohne Rücksicht darauf, ob unser Streben tatsächlich ein hierarchisches Ganzes unter einem höchsten Zweck darstellt, ein solches gibt, das gewissermaßen dazu  qualifiziert  ist, diese Stellung einzunehmen, ein Ziel, das deshalb eine  Aufforderung  an das praktische Streben enthält und das zu  setzen,  nicht bloß als tatsächlich voraussetzen, die Aufgabe der Ethik ist (69). Will man trotzdem versuchen, den Gedanken, daß das oberste, höchste Ziel, das Gute, das wirklich Erstrebte ist, aufrechtzuerhalten, so gibt es keine andere Möglichkeit, als ein entsprechendes  unbewußtes  Streben zu konstruieren und zu erklären, daß dies das "wahre" Streben, das Streben "im eigentlichen Sinn" oder ähnlich ist, wodurch man das für einen Philosophen, der ein System aufgehen lassen will, angenehme Privilegium erreicht, das Entgegengesetzte von dem, was als wirklich beobachtet werden kann, als das Wirkliche erklären zu dürfen. (70)

b) Soll Ethik etwas anderes sein, als nur Beschreibung unseres praktischen Strebens und mehr, als bloße Technologie, scheint es also keinen anderen Ausweg zu geben, als die andere Alternative zu wählen und das Gute als eine spezifische  Qualität  anzusehen (71). Wenn man etwas gut nennt, so bedeutet das dann, daß man ihm diese Qualität als Eigenschaft zulegt. Die "Güte" ist also ein wirkliches Kennzeichen des Dings, das gut ist, und drückt nicht nur eine Relation zu einem Subjekt aus. Soll Ethik prinzipiell von der Wissenschaft der Natur verschieden sein, und ist das Gute die Grundkategorie der Ethik, so muß diese Qualität ferner  undefinierbar  sein, sowohl in natürlichen, als auch in anderen ethischen Termini. Dieser Gedankengang wird auf glänzende Weise von MOORE vertreten, und zwar gerade mit allem Nachdruck darauf, daß die Ethik zu einer psychologischen Beschreibung unseres faktischen Strebens oder ähnlichem werden würde (was an und für sich eine ausgezeichnete Wissenschaft sein kann, aber nichts mit Ethik im gewöhnlichen Sinn als einer praktischen oder normativen Wissenschaft zu tun hat), falls das Gute als das Erstrebte oder auf andere Weise durch eine Relation zu einem psychischen Zustand definiert würde.

Aber nun muß leider MOORE gegenüber behauptet werden, daß auch diese Bestimmung des Begriffs des Guten die Ethik als praktische Wissenschaft aufhebt. Denn hält man daran konsequent fest, daß das Gute eine undefinierbare, objektive Qualität bedeutet und also, infolge des Begriffes, jeder Relation zu menschlichem Streben und Handeln entbehrt und überhaupt für jede analytische Ableitung unzugänglich ist (72), so ist es unmöglich, der Erkenntnis was gut ist, irgendwelche unmittelbare oder analytische Bedeutung für das Handeln und Streben zuzulegen. und das ist doch gerade der Sinn der praktischen Erkenntnis im Gegensatz zur theoretischen. Es wird unmöglich werden, von der Erkenntnis aus, daß das Objekt  O  die Qualität  X  (Güte) hat, irgendwas in der Art einer Aufforderung, Forderung, Antrieb usw. zu einer Handlung, die  O  zur Folge hat, abzuleiten. Falls Güte eine undefinierbare, objektive Qualität ist, versteht man überhaupt nicht, wodurch sich Ethik von theoretischer Erkenntnis unterscheidet; es gibt ja so viel andere undefinierbare Qualitäten.

Es zeigt sich deshalb auch, daß es MOORE unmöglich ist, irgendeine Verbindung zwischen "ethics" und "conduct" [Verhalten - wp] zu etablieren (73). Zwar spricht MOORE davon, "was wir tun sollen", von der moralischen "Pflicht", dem moralisch "Richtigen" usw., Ausdrücke, die nach gewöhnlicher Auffassung eine Forderung oder Aufforderung an den Willen oder zu einer gewissen Handlungsweise enthalten. Und er meint, daß die Frage danach, was "Pflicht" ist, sich in zwei andere auflöst:
    1) was ist ansich gut? und

    2) welche Handlungen führen (infolge des faktischen Ursachenzusammenhangs) die größte Menge des Guten herbei?
Diese Handlungen sind "Pflicht" und "sollen" ausgeführt werden. (74) Wenn aber dieses "Sollen", diese "Pflicht", die hier neueingeführt werden, keine neue, selbständige Indefinable bezeichnen soll, die das MOOREsche System völlig sprengen würden, so müssen diese Termini in Ausdrücken des Guten definierbar sein. Sie bedeuten dann einfach "Ursache zu einem guten (zum bestmöglichen) Resultat. Dies wird dann auch ausdrücklich und unzweideutig von MOORE selber gesagt. (75) Dies aber bedeutet wiederum, daß die Aussagen dessen was wir "tun sollen" für MOORE - im Gegensatz zur gewöhnlichen Auffassung - jede unmittelbare praktische Modalität verlieren und zu gewöhnlichen theoretischen Aussagen über das objektvie Ursachenverhältnis zwischen einer Handlung und einer Wirkung, die die Qualität gut besitzen, werden. Die Aussage: diese Handlung ist Pflicht,  bedeutet  nach MOORE nichts anderes, als eine theoretische Aussage darüber, daß diese Handlung die Wirkung hat, besonders viel einer gewissen objektiven Qualität  X  (Güte) hervorzurufen; und der Satz: "es ist deine moralische Pflicht,  die  Handlungen vorzunehmen, die die größte Summe des Guten in der Welt hervorbringen würden", löst sich deshalb in die Tautologie auf: die Handlungen, die zum Guten führen, sind Ursachen des Guten.

Nun ist es jedoch klar, daß MOORE in Wirklichkeit dem Wort "Sollen" oder "Pflicht" eine andere Bedeutung gibt, als "Ursache eines guten Resultats" (76) MOORE ist hier selbst einmal nicht ganz konsequent und vermischt das  was  Pflicht ist mit dem, was es  bedeutet,  daß etwas Pflicht ist. Es ist allerdings richtig, daß nach Moore diejenigen Handlungen, die Ursachen eines gutes Resultates sind, Pflicht sind. Aber die Bedeutung dessen, daß man diese Handlungen Pflicht nennt, kann dann nicht selber darin liegen, daß sie "Ursache eines guten Resutates" sind. Die Bedeutung dessen, daß man sie Pflicht nennt oder daß man hervorhebt, daß sie vorgenommen werden sollen, ist augenscheinlich eine unmittelbar praktische Forderung oder Aufforderung an unser Handeln oder Streben. Die praktische Modalität muß nun nach MOOREs System notwendig von der Güte des Resultates herrühren. Also muß im Begriff des Guten selber eine immanente praktische Handlungsreferenz liegen, eine Relation zum Handeln und Streben. (77) Hieraus folgt, daß das Gute  keine undefinierbare  objektive Qualität sein kann,  sondern analytisch eine Relation zum Handeln und Streben involviert. (78)

c) Wir sind hiermit bei dem logisch scheinbar wenig ermunternden Resultat angekommen, daß das Gute als Grundbegriff der praktischen Erkenntnis weder (allein) eine Relation zum Subjekt noch (allein) eine objektive Eigenschaft bedeuten kann. Dieses Resultat ist jedoch nur logisch unbefriedigend bei der Voraussetzung, daß der Begriff der praktischen Erkenntnis selber ein logisch sinnvoller Begriff ist. Wie wir früher gezeigt haben, ist dies jedoch nicht der Fall. Der Begriff praktische Erkenntnis ist ein dialektischer Begriff, und es zeigt sich nun, daß dasselbe für den Begriff des Guten gilt - worüber man sich nicht wundern kann. In diesem Begriff werden widerstrebende Vorstellungen vereint, und der Begriff bekommt erst dadurch überhaupt seinen praktischen Charakter. Das Gute wird zu gleicher Zeit sowohl aus Eigenschaft (Qualität) wie als Relation gedacht. Der Widerspruch, der darin liegt, ist genau derselbe, wie der, der im Begriff einer praktischen Erkenntnis überhaupt liegt, und der oben (Kapitel I, Nr. 2) dargestellt worden ist. Das Gute wird als Relation gedacht (die Position von einem Subjekt erstrebt zu sein, das "Erstrebtsein") insofern das praktische Wissen als Wissen  vom  Ziel des Wollens, Strebens gedacht wird. Das Gute wird als (objektive) Eigenschaft gedacht, insofern das praktische Wissen nicht bloß als Wissen von dem gedacht wird, was (unabhängig vom Wissen) Ziel des Strebens  ist,  sondern auch als selber (als Wissens faktum)  ein solches Ziel setzend.

Das heißt, das Gute wird nicht nur als das "Erstrebtsein" gedacht, sondern auch als die Eigenschaft eines Objekts, denselben  fordernden  oder  auffordernden  Charakter gegenüber dem Willen habend, oder dieselbe  "Fähigkeit denselben anzurufen"  besitzend, wie das faktisch Erstrebte - ohne Rücksicht darauf,  daß es faktisch nicht erstrebt wird.  Trotzdem ist es ganz unmöglich sich zu denken, was es bedeuten sollte, daß das Objekt eine "gewisse Macht über" den Willen hat, daß es eine "Fähigkeit besitzt, denselben anzurufen", wenn nicht eben das Korrelat dazu, daß der Wille wirklich auf das Objekt gerichtet ist, dasselbe erstrebt. Man wird deshalb dazu gezwungen, anzunehmen, daß das Gute - ohne Rücksicht darauf, daß es empirisch faktisch nicht erstrebt ist - eigentlich doch, trotzdem, metaphysisch erstrebt ist, und daß dieses hinter dem psychologisch-phänomenalen liegenden unbewußte, noumenale Wollen oder Streben das "wahre", "wirkliche" Streben des Menschen ist.

Jeder Versuch, in intellektuellen Formen auszudrücken, was mit dem Guten gemeint ist, muß doch notwendig - also auch der obige - fehlerhaft und tastend sein. Denn die Sache ist die, daß dieses Wort eigentlich gar kein Repräsentant für einen (oder mehrere widersprechende) Gedanken ist, sondern nur der unmittelbare Ausdruck eines subjektiven Status, eines Gefühls, die sich intellektuell nicht fixieren lassen.

In der historischen Demonstration werden wir erneut Gelegenheit bekommen, durch Beispiele aus der Geschichte der Philosophie die hier aufgestellte Hypothese des Begriffs des Guten und seiner metaphysischen Voraussetzungen zu bestätigen.


8. Abschluß der psychologischen Analyse
des Wertbewußtseins

Unter Nr. 7 haben wir gesehen, daß das Wesentliche in dem Gedanken an eine Wertobjektivität darin besteht, daß man dem Objekt eine Stellung zum Subjekt, eine Bedeutung für oder eine Macht über sein Streben zuschreibt, die ansich existiert und ganz unabhängig davon, ob das Objekt faktisch Gegenstand eines Interesses ist oder nicht. Da es nun feststeht, daß der Wert nichts echt Objektives sein kann, sondern eine Rationalisierung eines subjektiven Status oder Impulses sein muß, so folgt daraus, daß Grund vorhanden ist, sich zu denken, daß der subjektive Status, der das Wertbewußtsein fundiert, eine Einstellung des Verhaltens relativ stabilen Charakters ist und  nicht vom Interesse und seinen zeitlichen oder individuellen Variationen berührt wird. 

Aber gibt es überhaupt solche Einstellungen, des Verhaltens im menschlichen  behaviour?  Ist nicht im Gegenteil jeder Impuls begriffsmäßig interessiert?

Mit Rücksicht auf  interessiertes  Verhalten sei auf die Darstellung oben unter Nr. 4 verwiesen, woraus hervorgeht, daß eine Handlung dann aus Interesse oder Lust vorgenommen genannt wird, wenn sie als Glied in gewissen typischen Reflexserien zirkulären Verlaufs vorkommt, die durch einen, im Organismus selber gegebenen Fundamentalstimulus (z. B. Hunger) in Bewegung gesetzt werden, und die anhalten, bis gewisse, von äußeren Stimuli (Nahrungsobjekte) bedingte Reflexe (das Verzehren der Nahrung) durch innere, organische Funktionszusammenhänge (Füllen des Magens, chemische Veränderungen, Hormonabsonderung, nervöse Reaktionen etc.) den fundamentalen Stimulus ausgelöscht haben. Man sagt dann, dieser Abschluß bringt Befriedigung, Lust. Wir können auch kürzer sagen, daß die Handlung interessiert ist, wenn sie in einem konstitutionellen Impulsapparat der angegebenen Art ("den Trieben") fundiert ist, oder in dem, auf seiner Basis entwickelten System bedingter Reflexe.

Es besteht nun natürlich keine Notwendigkeit a priori dafür, daß alles Verhalten dieser Art sein soll. Gewisse Handlungen, die unter Hypnose, Posthypnose, Suggestion vorgenommenen, dann Pflichthandlungen und gewisse Gewohnheitshandlungen, sind erfahrungsmäßige Beispiele für Verhalten, das keine Interessiertheit im angegebenen Sinn zeigt. Solches Verhalten und die entsprechenden Impulse nennt man  uninteressiert,  wobei also wohl bemerkt werden muß, daß die Unterscheidung zwischen interessiertem und uninteressiertem Verhalten nichts mit der Unterscheidung zwischen eigennützigem und uneigennützigem Verhalten zu tun hat oder ähnlichem. Die angeführten Beispiele für uninteressiertes Handeln können wahrscheinlich auf zwei Prinzipien zurückgeführt werden.

a)  Gewohnheit.  Hiermit ist jedoch nicht die Gewohnheit im Allgemeinen gemeint, denn die Gewohnheitsausbildung oder wie man jetzt in der behaviouristischen Psychologie sagt, die Umkuppelung der Reflexe ("the conditioning of reflexes"), ist gerade der elementare Prozeß, durch den die Gewöhnung und Anlernung und so die Entwicklung der interessierten Handlungen verlaufen. Aber die Gewohnheitsausbildung ist ein zweischneidiges Schwert; denn, ist die Gewohnheit erst ausgebildet, so hat sie die Tendenz stehen zu bleiben, selbst nachdem die Verhältnisse, die sie seiner Zeit vom Standpunkt des Interesses hervorbrachten und legitimierten, fortgefallen sind. In der alten und rudimentären Gewohnheit finden wir  eine  Erklärung der uninteressierten Handlung.

b) Direkte Übertragung von Impuls und Handlungsvorstellung von einem anderen Individuum  (Suggestion  im weitesten Sinne). - Für das isolierte Individuum, für den, der Philosophie immer so liebenswürdig zur Verfügung stehenden  Robinson Crusoe,  wird eine eingewurzelte Gewohnheit die einzige Quelle des uninteressierten Handelns sein. Er wird deshalb wahrscheinlich niemals das erleben können, was wir Pflicht nennen. Erst durch das Zusammenleben mit anderen und dem von diesem ausgehenden Handlungsaufforderungen entsteht eine neue und gewaltige Quelle uninteressierten Handelns. Man muß hier jedoch eine wichtige Unterscheidung vornehmen. Zum großen Teil werden die in Betracht kommenden erwähnten Handlungsaufforderungen nur wie faktische Bedingungen wirken, die Handlungen auslösen, die völlig und einzig ihre Grundlage im originalen Impulsapparat des Individuums haben. Dies gilt insofern das Handeln durch Drohung bestimmt wird, d. h. durch die Vorstellung einer Sanktion im umfassendsten Sinn. Die Handlung ist in diesem Fall ebenso interessiert, als handelte das Individuum ohne sozialen Einfluß.

Etwas wesentlich Neues liegt erst dann vor, wenn der soziale Faktor nach dem Muster der Suggestion wirkt. Das Eigentümliche dieser Verhältnisse liegt darin, daß es möglich ist, durch äußere Beeinflussung im Individuum unmittelbar (79) den für eine bestimmte Handlung notwendigen Impuls und die notwendige Handlungsvorstellung hervorzurufen. Die Vorstellung einer bestimmten Handlungsart kann entweder dadurch hervorgebracht werden, daß die Handlung faktisch demonstriert wird, oder dadurch, daß man sie in Worten beschreibt. Das erstere liegt im Fall der  Nachahmung  vor, das letztere im Fall des  Befehls  (d. h. reiner oder sanktionsloser Befehl). Mit der Handlungsvorstellung selber wird oft, vielleicht immer, ein Impuls, die entsprechende Handlung auszuführen, assoziiert sein (ein Affe bringt den andern zum Gähnen), aber in der Regel wird derselbe jedoch nicht stark genug sein, verschiedengearteten Widerstand gegen die Ausführung der Handlung zu überwinden. Es ist dann Verstärkung des Impulses durch eine direkte Suggestion desselben vonnöten. Die Suggestion geht nach denselben Prinzipien wie Vorstellungsübertragung vor sich, d. h. auch sie beruth auf der unmittelbaren und starken Assoziation zwischem dem Psychischen und seinem äußeren Ausdruck. Auch der Wille hat seinen äußeren Ausdruck durch Handlung oder Wort, die imstande sind, eine entsprechende Einstellung bei andern zu schaffen, wenn auch eingeräumt werden muß, daß die Erfahrung lehrt, daß es schwieriger und nicht allen gegeben ist, im gleichen Maß diesen Ausdruck und diese Übertragung hervorzubringen. Eine Suggestion durch die Tat geht z. B. vor sich, wenn ein Gruppenführer in einem Sportskampf oder ein Soldat im Krieg durch Entfaltung und Darstellung seines Affektes (Eifer, Kampfraserei) ein entsprechendes Feuer in seinem Mitkämpfern entflammt. Suggestion durch Worte liegt in dem reinen, zwingenden Befehl vor, z. B., wenn die Eltern einem Kind befehlen, dessen Gehorsam nicht auf Prügel beruth, oder wenn ein Lehrer in einer Klasse Disziplin hält, in der ein anderer mit denselben äußeren Machtmitteln machtlos dasteht. In diesem Fall sagt man, daß der Gehorsam auf "Autorität" gegründet ist.

Eine eigenartige Kombination von Gewohnheit und Suggestioni durch Nachahmung als Quelle für uninteressiertes Handeln liegt in der kollektiven Gewohnheit oder der Sitte vor. Es ist hier nämlich so, daß die Gewohnheit jedes Einzelnen, außer als (alte) Gewohnheit auf ihn selber zu wirken, gleichzeitig zur Nachahmung stimulierend auf die übrigen wirkt. Daß die faktische Sitte Tendenz habt, sich selbst als verpflichtend zu konsolidieren, wird später besprochen werden.

Es ist nun eine außerordentlich wichtige Frage, ob die soziale Motivbildung durch das  Interesse  oder unmittelbar, d. h. nach dem Muster der  suggestiven Motivbildung  geschieht. Die rationalistisch-individualistische Einstellung, die im 18. Jahrhundert kulminierte, aber noch einen guten Teil des Denkens im 19. Jahrhundert kulminierte, aber noch einen guten Teil des Denkens im 19. Jahrhundert beherrschte, kannte überhaupt nur den ersteren Standpunkt. BENTHAMs Politik bildet das klassische Beispiel eines politischen Systems, das allein auf das Interesse oder die Sanktion aufgebaut ist (80). Für BENTHAM ist der Gesetzgeber einfach der Inhaber einer der vier Sanktionen (die natürliche, die religiöse, die moralische und die juristische) und seine Aufgabe besteht darin, die Sanktion so zu plazieren, daß sie durch das Interesse (Furcht) des Individuums dasselbe zu der gewünschten Handlungsweise dirigiert. Für diese Betrachtung ist das Interesse die treibende Kraft im Menschen, unbeweglich und unveränderlich wie die Naturkräfte. Aber wie in der Natur, können wir auch im Menschen die Bedingungen zurechtlegen, unter denen die Kräfte wirken und so den Verlauf dadurch lenken. Die Sanktion ist eben eine solche Zurechtlegung.

Die moderne Soziologie nimmt einen ganz anderen Standpunkt ein, auch wenn sie wahrscheinlich ihre, an und für sich richtige, Auffassung auf fehlerhafte Weise ausdrückt. Wenn nämlich die Soziologie immer noch von der Gesellschaft als einem selbständig wirkenden Faktor neben dem Individuum fabelt; oder davon, daß gewisse Akte nicht aus der Natur des Individuums psychologisch erklärt werden können, sondern nur soziologisch von soziologischen Faktoren aus; so bedeuten diese Ausdrücke sicher eine unklare Erkenntnis der Tatsache, daß der spezifisch soziale Faktor eine Motivbildung bedeutet, die außerhalb des Interesses wirkt. Es herrscht nämlich, wie wir gleich sehen werden, eine gewisse natürliche Neigung dazu,  das "Interesse" mit der Natur des Individuums zu identifizieren  und die uninteressierten Motive auf Kräfte zurückzuführen, die außerhalb der Natur des Individuums liegen. Zum Beispiel: Aus Furcht vor Strafe nicht stehlen ist eine "psychologisch erklärbare" Motivbildung (sie geht nämlich durch das Interesse); nicht stehlen, weil anständige Menschen nun einmal nicht stehlen, weil man sich moralisch und konventionell dazu verpflichtet fühlt, ist dagegen eine nur soziologisch erklärbare Motivbildung (sie geht nämlich um das Interesse herum, steht außerhalb desselben). Wenn meine Erklärung richtig ist, ist hiermit vermutlich eine recht schöne Lösung eines, nun bald alten methodischen Problems gegeben, das bisher die Gemüter erregt hat, nämlich das Problems vom Verhältnis der Psychologie zur Soziologie.

Jedenfalls aber herrscht kein Zweifel über die Realität. Man ist sich darüber einig, daß der sozialen Motivbildung durch Nachahmung (Gewohnheit) und Befehl die allergrößte Bedeutung eingeräumt werden muß, (81) und daß deshalb die sozialen Handlungsregeln, besonders die Bedeutung des Rechts, nicht dadurch erschöpfend beschrieben sind, daß man sie als Sanktionsordnungen erklärt, die die Reaktion des Interesses bedingen.

Hieraus ergibt sich, daß das, was wir den uninteressierten Handelsimpuls genannt haben, bei weitem kein seltenes und bedeutungsloses Phänomen ist. Er kommt nicht nur in den individuellen Gewohnheitshandlungen vor, sondern ist auch konstituierend für die Motivbildung, die man die  spezifisch soziale  nennen könnte.

Daß das Erlebnis der  Pflicht  Erlebnis gewisser uninteressierter Impulse ist, denen aus bestimmten Gründen eine außerhalb der  Natur  des Individuums stehende Macht zugeschrieben wird, ist wohl völlig zweifellos. Dieses Verhältnis wird genauer weiter unten behandelt, wo folgendes aufgezeigt wird: Wenn man einem jungen Individuum wiederholt eine gewisse Einstellung im Verhalten suggeriert, so daß der Handelsreflex direkt von den Umständen bedingt wird, während der suggerierende Faktor langsam fortgelassen wird, werden im Individuum Impulse entstehen, die einerseits den selbstverständlichen spontanen Charakter der Gewohnheit haben, aber andererseits, da sie jeder Wurzel im Interesse und jeder dem Individuum sichtbaren Ursache ermangeln (die ursprüngliche Suggestion ist längst vergessen worden), dem Individuum als außerhalb seiner natürlichen Fähigkeiten liegend, vorkommen müssen. In der Pflicht werden diese Impulse als Befehle ausgelegt, die von einer äußeren Macht, oder von der eigenen übersinnlichen Vernunft des Menschen ausgehen. (82)

Hier wird nun die Hypothese aufgestellt, daß die Wertvorstellung in Erlebnissen von ganz derselben Art wie die Pflichtvorstellung wurzelt, daß also das Wertbewußtsein ein Erlebnis von uninteressierten Impulsen besonderer Genesis ist.

Dafür spricht, daß die durch die Erziehung in einem gewissen sozialen Miliau eingeimpften Einstellungen im Verhalten, die sich gewohnheitsmäßig befestigt haben, gerade dieses Gepräge relativer Stabilität und Unberührtheit von den zeitlichen und individuellen Variationen der Interesselage tragen, das im Beginn dieser Nummer von einem subjektiven Fundament des "objektiven" Wertbewußtseins verlangt wurde. Hierdurch sind wir dazu imstande, das Entstehen der Objektivitätsillusion zu erklären. Indem das Individuum eine gewisse feste, von Laune und Interesse unabhängige praktische Einstellung gewissen Objekten gegenüber erlebt, eine Einstellung, die dem eigenen natürlichen Streben des Individuums fremd erscheint, legt es dieses "Gegebensein" als wahre Objektivität aus, indem der Impuls in das Objekt hineinprojiziert wird, ganz abgesehen davon, inwiefern es faktisch erstrebt (d. h. durch das Interesse) ist oder nicht. Das heißt das Überindividuelle wird mit dem Extrasubjektiven, d. h. dem Objektiven verwechselt.

Nun entsteht das Problem, wie man nach dieser Hypothese überhaupt zwischen Pflicht und Wert unterscheiden kann, die doch Ausdrücke für sehr verschiedene Erlebnisse zu sein scheinen.

Zum großen Teil ist der Unterschied jedoch vielleicht nur ein Unterschied der nachherigen intellektuellen Konstruktionen über den Erlebnissen, kein Unterschied in ihnen selber. In dieser Beziehung ist es wichtig, den "normativen" Charakter des Wertes im Verhältnis zum faktischen Willen hervorzuheben, den er mit der Pflicht gemein hat. Auch wenn wir dann annehmen, daß die Norm in diesem Fall mehr als eine Aufforderung ausgelegt wird, als ein Anrufen meines wahren, innersten Willens, und nicht als ein Befehl oder eine Forderung, so ist dieser Unterschied teils nur graduell, teils nur intellektuell-konstruktiv, indem er dadurch entsteht, daß man auch verschiedene Weise versucht, sich den ansich umfassbaren, uninteressierten Impuls faßbar zu machen. Während der Pflichtgedanke seinen inneren Ansporn durch das Bild eines, von einem anderen ausgehenden Befehls verdolmetscht, versucht dagegen der  Wertgedanke  auch diese Lage in den wohlbekannten Termini des  Interesses  auszudrücken. Der uninteressierte Impuls wird so auf das eigene, innerste, metaphysische Streben des Individuums bezogen. Das heißt während der Pflichtgedanke den Gegensatz zum natürlichen Streben hervorhebt und das "Unverstehbare" betont und dadurch gerade den unmittelbaren Charakter des Erlebnisses zutage fördert, versucht der Wertgedanke das Erlebnis besser verständlich zu machen, verwischt aber dadurch auch zum Teil seine Eigentümlichkeit. Hiermit hängt es zusammen, daß der Wertgedanke in einem höheren Grad als der Pflichtbegriff in die wissenschaftliche Reflexion gehört.

Aber auch die Verschiedenheit in den intellektuellen Konstruktionen fordert eine Erklärung. Eine solche kann vermeintlich in gewissen Verschiedenheiten im Erleben gefunden werden, wobei indessen seine essentielle Struktur nicht angetastet wird. Je größer die Divergenz zwischen dem uninteressierten Impuls und dem Interesse wird, je mehr der moralische Antrieb als eine einengende Fessel des Interesses erlebt wird, desto leichter wird er als Pflicht ausgelegt. Je mehr er dagegen mit der natürlichen Neigung zusammenfällt, besonders so wie er in den  relativ zusammenhängenden, ruhigen, kühlen Augenblicken  auftritt, desto leichter wird der als Wert erlebt werden. Man kann sich auch denken, daß die Mittel und Formen der ursprünglichen Suggestion hier von Bedeutung sein könnten. Falls sie durch scharf formulierte, unmittelbare Handlungsregeln gewirkt hat (tu so!), so liegt die Pflichtauslegung näher. Hat sie dagegen dadurch gewirkt, daß sie gewisse Attitüden in Relation zu gewissen Objekten eingeprägt hat, so ist die Wertauslegung die natürlichere.

Zuletzt, doch darum nicht minder stark, muß hervorgehoben werden, daß Wert eine Auslegung ist, die, wie angedeutet, in weit geringerem Maße als Pflicht im natürlichen Bewußtsein vorkommt, und hauptsächlich ein Produkt wissenschaftlicher Reflexion ist und dadurch entsteht, daß man das moralische Erlebnis in die Rahmen des Interesses zwingt und fragt, was das Interesseobjekt des uninteressierten Impulses ist. Der Wertbegriff bezeichnet also in Wirklichkeit nur ein  X das an einer Stelle eingeführt wird, wo man, in Übereinstimmung mit dem Interesseschema, ein Objekt zu finden erwartet, und das man dann in der wissenschaftlichen Spekulation zu bestimmen versucht. Wert, kann man dann kurz sagen, ist  das dem uninteressierten Impuls hinzugedachte Interesseobjekt. 

Im Übrigen wird es sicher, in dem Umfang, in dem Wert auch in der vorwissenschaftlichen Reflexion angewendet wird, eine Temperaments- und Geschmackssache sein, ob man es vorzieht, seine moralischen Impulse als ein "innerstes", "wahrstes" "Ich will!" zu verdolmetschen, oder als ein an mich gerichtetes "Du sollst!". Aber gerade dieser Umstand in Verbindung mit der ins Auge fallenden Tatsache, daß man sich in der Geschichte der Ethik niemals hat einigen können, inwieweit die moralische Fundamentalkategorie  Pflicht  oder Wert ist, indessen doch immer der Überzeugung gewesen ist, von derselben Sache zu sprechen, ist ein sicheres Zeichen dafür, daß Pflicht und Wert gleichartige Erlebnisse decken. Da nun kein Zweifel daran bestehen kann, daß Pflicht auf uninteressierten Impulsen basiert, so wird die Vermutung, daß dies auch für den Wert gilt, bestärkt.


9. Analyse der spekulativen Idee des Guten
als Grundlage für die Ethik.

Der unter Nr. 7 entwickelte gewöhnliche Begriff des Guten ist nicht dazu geeignet, der Ethik zugrunde gelegt zu werden. Was gut ist, müßte danach zwei Eigenschaften entbehren, die von der Ethik gefordert werden müssen: Einheit und Notwendigkeit.

Einheit  wird von der Ethik gefordert, insofern sie prätendiert, eine rationale Bestimmung des moralischen Handelns zu geben. Falls das Gute (in der Bedeutung von dem was gut ist) nämlich mannigfaltig und inkommensurable wäre, so würde der, der das  Beste  sucht, vor eine rational unlösbare Wahl gestellt werden.

Notwendigkeit  wird von der Ethik gefordert, insofern sie prätendiert, Prinzipien für den Willen aufstellen zu können, die über die Veränderlichkeit des Wirklichen erhaben sind. (83) Falls nämlich das Gute (in der Bedeutung von dem, was gut ist) nur gut ist, insofern es in der Erfahrung wirklich als gut auftritt, müßten sich alle ethischen Prinzipien auf ein Verweisen auf die Erfahrung jeder Zeit in dem was nun wirklich gut ist, beschränken.

Diese beiden Eigenschaften können das, was gut ist, nur haben, wenn das Streben, zu dem das Gute in Relation gedacht ist, selbst diese Eigenschaft hat: sich notwendig auf eins und nur auf dieses zu richten. Da die Metaphysik den Vorteil hat, der Wunschfreiheit dessen, der sie ausführt, keine Hindernisse entgegenzustellen, braucht man deshalb dem "wahren" Willen des Menschen nur diese beiden Eigenschaften beizulegen. Auch diese Konstruktionen werden im Folgenden durch Beispiele demonstriert werden.

Das notwendig und einheitlich Gute, wird das ansich Gute genannt oder das zu  seinem Begriff Gute. 


10. Schematischer Aufriß der allgemeinen Struktur
der Wertethik (der Ethik des Guten).

Um den Gedanken durch den Gegensatz deutlich zu machen, will ich im Folgenden an verschiedenen Punkten die Wertethik mit der Pflichtethik vergleichen, trotzdem die letztere noch gar nicht besprochen ist. Der Zweck muß diesen Fehler in der Darstellungsform entschuldigen.


a) Der Begriff der Moral oder der Gegenstand
der praktischen Erkenntnis.

Wie oben Kapitel II, Nr. 2 hervorgehoben, ist das, was die verschiedenen ethischen Systeme am tiefsten unterscheidet, nicht ein Unterschied dessen, was moralisch ist, sondern dessen, was es überhaupt  bedeutet,  daß etwas moralisch ist. Die verschiedenen Systeme sprechen nicht von demselben, setzen sich nicht denselben Gegenstand als Aufgabe der Forschung. Sie werden jedoch darin zusammengeführt, daß die verschiedenen Begriffe des Moralischen Modifikationen derselben Grundkategorie des Praktisch-Gültigen sind. Der fundamentale Unterschied ist deshalb ein Unterschied in den Kategorien, die den Begriff des Moralischen selbst oder den Gegenstand der praktischen Erkenntnis bestimmen.

Die Idee des ansich Guten ist eine solche Kategorie, die die Wertethik im Gegensatz zur Pflichtethik fundiert. Vom eigenen Standpunkt der Wertethik aus, also von der Voraussetzung aus, daß es überhaupt eine praktische Erkenntnis gibt (im Unterschied von der theoretischen), deren Gegenstand das Gute ist, muß das Gute eine  Indefinable  sein, auf welche alle anderen ethischen Begriffe, z. B. auch der Pflicht reduziert werden kann. (84) Genau das Umgekehrte gilt für die Grundlage der Pflichtethik. Ebenso wie es deshalb in der Wertethik sinnlos ist, zu fragen, warum man das Gute realisieren soll, ist es in der Pflichtethik sinnlos zu fragen, warum es gut sein soll, seine Pflicht zu tun. Aber aus dem Vorausgehenden geht hervor, daß der Gedanke einer praktischen Erkenntnis überhaupt sinnlos ist, und daß der Begriff des Guten (dasselbe gilt übrigens auch für den Begriff  Pflicht)  als Rationalisierung eines gewissen typischen Erlebnisses, wenn nicht definiert, so doch herausanalysiert werden kann. Das Werterlebnis und das Pflichterlebnis bildet die subjektive Erlebnisgrundlage für die Wertethik bzw. die Pflichtethik, und dem Unterschied zwischen diesen beiden Erlebnissen entsprechend, bekommen die beiden Rationalisierungen und die darauf aufgebauten spekulativen Systeme ihre fundamentale Besonderheit. Die praktische Erkenntnis geht in der Wertethik unmittelbar darauf aus, zu erkennen, was gut ist, also, die Eigenschaft gut um gewisse Objekte zu prädizieren, und nur mittelbar darauf, eine Handlungsweise zu bestimmen. Moralisch sind die Handlungen, die (im höchsten Grad) dazu geeignet sind, das Gute zu realisieren. In der Wertethik ist der moralische Wert der Handlung und des Willens aus dem der Wirkung abgeleitet. In der Pflichtethik dagegen denkt man sich die praktische Erkenntnis als Erkenntnis von Pflicht als unmittelbare Forderung an den Willen als solchem. Über die Unterscheidung zwischen materialistischer und formalistischer Ethik, die man hierauf zu gründen pflegt, verweise ich auf das, was oben Kapitel II, Nr. 1 gesagt worden ist.

Die Fähigkeit, ein Bestimmungsgrund für den Willen zu sein, die die praktische Erkenntnis praktisch macht, und die in Wirklichkeit eine Rationalisierung eines subjektiven Erlebnisses ist und daher ihr Gepräge erhält, hat in der Wertethik wohl am ehsten das Gepräge einer  Aufforderung zu,  eines  "Anrufens"  des Willens; die  Befolgung  davon ist umso "einleuchtender", als der Wille ja "eigentlich" schon das Gute will. "Die Macht" über den Willen fällt genau mit der eigenen Tendenz des Willens zusammen, weil das Gute eine Rationalisierung über einem Erlebnis ist, worin der moralische Antrieb wesentlich als mit der natürlichen Neigung übereinstimmend empfunden wird und welches deshalb als ein Streben gedacht wird, worin der Wille spontan und ohne irgeneinen Kampf oder Widersacher gegen sein Objekt strömt. Anders dagegen in der Pflichtethik. Wie wir später sehen werden tritt das Pflichterlebnis wesentlich als ein Gefühl von  Zwang  auf, und die praktische Modalität deshalb als eine  Forderung  oder als ein Befehl an den Willen, deren  Befolgung  die Überwindung eines Widerstandes bedeutet. Während das Gute auf die  Übereinstimmung  zwischen Natur und Moral im wahren Willen aufbaut, sodaß das Böse eigentlich nur Verirrung, Mißverständnis, Torheit ist, baut die Pflicht dagegen auf einem ursprünglichen  Widerstreit  im Willen selber auf, zwischen dem sinnlichen und dem vernünftigen Teil desselben, und das Böse ist Ungehorsam, Aufruhr der Sinne gegen die Vernunft.

Was die Frage betrifft, inwiefern diese Verschiedenheit im Aufbau des Guten und der Pflicht nur eine Verschiedenheit der nachherigen intellektuellen Konstruktionen ist, oder inwiefern sie auf einem wirklichen Unterschied in der Struktur der zugrundeliegenden Erlebnisse selber beruth und sie zum Ausdruck bringt, verweise ich auf die Darstellung weiter oben.

Wenn auch im Einzelnen viele Umstände hineinspielen und die Verallgemeinerung schwierig machen, so besteht trotzdem oft genug eine gewisse Verbindung zwischen dem Dualismus der Pflichtethik und einem religiös-kosmologischen Dualismus. Der Dualismus zwischen Vernunft und Sinnlichkeit wird zu einem Dualismus zwischen Geist und Fleisch, Seele und Leib, Gott und Teufel. Die Vorstellungen des Bösen als eines aktiven Prinzips ist außerdem dazu geeignet, Gefühle wie Verdammung, Schuldgefühl, Sündenbewßutsein, Reue usw. hervorzurufen, die auch oft mit einem religiösen Dualismus in Verbindung stehen. Ich wage zu sagen, daß ebenso wie über KANTs Pflichtethik ein Geist schwebt, der emotional an KANTs pietistisch-religiöse Erziehung erinnert - dabei kann er intellektuell noch so sehr über dieses Milieu hinausgewachsen sein - so trägt der Utilitarismus umgekehrt im Großen und Ganzen das Gepräge eines freidenkerischen Rationalismus und eines naturwissenschaftlichen Monismus. (85)

Da der moralische Wert einer Handlung auf der Grundlage der Wertethik aus ihrer Fähigkeit, im Vergleich zu anderen Handlungsmöglichkeiten, im relativ höchsten Grad das Gute zu realisieren, abgeleitet wird, und da sich die Wirkungen einer Handlung in Raume und Zeit ins Unübersehbare verlieren, sodaß der moralische Wert nur mit großer Unbestimmtheit als eine gewisse wahrscheinliche Tendenz berechnet werden kann, so folgt hieraus, daß die Handlungsaufforderung ("Pflicht") auf der Grundlage der Wertethik das Gepräge von
    1)  Unsicherheit  und
    2)  Unbestimmtheit 
trägt, indem sie ohne irgendein notwendiges und hinlängliches Maß stetig zum  Maximum  steigt, (86) während die Pflicht auf Grundlage der Pflichtethik das Gepräge von
    1)  Sicherheit  und
    2)  Bestimmtheit 
trägt, d. h. von Notwendigkeit und Hinlänglichkeit. Während deshalb die Pflichtethik ihrerseits keinen Platz für die moralische Anerkennung des verdienstlichen Übermaßes bietet, für das Heroische, Einzigartige, das die Kräfte des gewöhnlichen Menschen überschreitet, so ist auf der anderen Seite in der Wertethik prinzipiell kein Platz für die bestimmte moralische Norm, das sichere Maß für den gewöhnlichen Menschen. Es ist klar, daß beide Standpunkte als konsequente Extreme in Widerspruch mit dem gewöhnlichen alltäglichen Moralbewußtsein kommen, und es ist deshalb ganz natürlich, daß man besonders bei den Philosophen beider Richtungen, für die die Rücksicht auf die Gesundheit ihres Denkens stärker in Betracht kommt, als die Rücksicht auf die rigorististische Konsequenz desselben, mehr oder weniger glücklich durchgeführte Versuche findet, die reine Theorie in Übereinstimmung mit der allgemeinen Anschauung zu supplieren [ergänzen - wp]. (87)


b) Die metaphysische Grundlage der Moral,
oder die Möglichkeit der Moral.

Die Vorstellung vom ansich Guten ist die Vorstellung eines Objektes, das die Eigenschaft besitzt, ein Ziel unseres Strebens zu sein, ohne Rücksicht darauf, ob es faktisch angestrebt ist oder nicht, ein Ziel, das, indem es durch den Intellekt für das Streben gesetzt wird, sofort den natürlichen Appetit des Strebens anzieht. Aber woher stammt diese Fähigkeit des Guten, wie ein Magnet, die schwingende Nadel unseres Strebens ohne Gewalt anzuziehen? Es würde unfaßbar sein, wenn sich nicht unser Streben selber infolge seines  innersten Wesens  aus eigener Kraft an dem ansich Guten entgegen schleuderte. Daß unser bewußtes Streben leider nur allzuoft herumfährt, angezogen von anderen und näherliegenden Objekten, muß man als Störungen, Abweichungen, Verwirrungen betrachten, die ihren Grund in Jllusionen haben, daß man in diesen naheliegenden Dingen etwas vom ansich Guten zu sehen vermeint, Verwirrungen, die ebensowenig wie die Abweichungen der Magnetnadel, die fundamentale Tendenz auf den Einheitspol aufheben. Da nun diese fundamentale Tendenz auf den Einheitspol des Menschen nicht bewußt ist, und da sie mit ihrem Anspruch auf Unbedingtheit und Einheit überhaupt die empirische Bedingtheit und Mannigfaltigkeit transzendiert, so bedeutet das, daß wir mit diesem Streben die Moral in dem hinter der Welt der Erscheinungen liegenden  metaphysischen  Wesen des Menschen fundieren.

Auch der Pflichtbegriff führt, wie wir später sehen werden, notwendig in die Metaphysik über. Das Schema für den Gang des Gedankens ist in beiden Fällen derselbe einfache: nachdem man zunächst in diesen Begriffen einen subjektiven Erlebnischarakter ins Objektive hinausprojiziert hat, entbehrt man jeder anderen Grundlage, um die Verbindung des Objekts mit dem Subjekt verstehen zu können, ausgenommen die metaphysische Annahme einer prästabilisierten Harmonie zwischen ihnen, die in der metaphysischen Natur des Subjekts begründet ist. Hiermit kehrt der subjektive Charakter in seinen Ursprung zurück. Da ihm jedoch in der Zwischenzeit Eigenschaften beigelegt worden sind, die das Empirisch-Psychologische übersteigen, muß ihm nun notwendig eine hinter dem Psychologischen liegende metaphysische Realität zugeschrieben werden. Aber, wie unter  a)  hervorgehoben, besteht ein gewisse Unterschied in den subjektiven Erlebnissen, die den Ausgangspunkt für die Konstruktionen bilden, oder jedenfalls in diesen Konstruktionen selber, und dieser gibt auch der entsprechenden Metaphysik das Gepräge. Während die metaphysische Grundlage der Pflicht der reine Wille oder der Vernunftwillen ist, den man sich im Gegensatz zu der sinnenbestimmten Aktivität denkt, kennt die Wertethik keinen entsprechenden Antagonismus zwischen Natur und Vernunft.

Das Streben, das das Gute fundiert, kann entweder als spezifisch  menschlich  (oder doch jedenfalls animalisch) gedacht werden, oder als  allnatürlich,  als ein Streben, das durch alle Dinge geht, als eine Tendenz, die aus dem innersten Wesen der Dinge hervorquillt, bestimmt von der eigentümlichen Natur der Dinge und ihr immanentes Ziel bestimmend, sodaß das menschliche Streben nur als Spezialfall unter einem mächtigen Gesetz auftritt.

Der erste Typus wird durch den Utilitarismus repräsentiert, der andere z. B. in der Potenzethik, im Naturrecht und der soziologischen Ethik.


c) Die Wahrheit der Moral oder die
Möglichkeit der praktischen Erkenntnis.

Da der Begriff des ansich Guten ein metaphysischer Begriff ist, ist die Wertethik eine metaphysische Erkenntnis, die andere Erkenntnisprinzipien voraussetzt als die der Erfahrung. Dasselbe gilt übrigens für alle praktische Erfahrung. Es gibt keine wirkliche (sondern nur prätendierte) empirische Ethik (vgl. oben Kapitel II, Nr. 1).

Insofern das Gute in und mit einem Streben im Menschen selbst gedacht wird, meint man, daß das Individuum eine unmittelbare  intuitive  Einsicht in das Gute als das Ziel dieses Strebens hat. Auch BENTHAM muß einräumen, daß der Grundsatz, daß Lust das ansich Gute ist, weder beweisen noch in der Erfahrung bestätigt werden kann, sondern auf einer unmittelbaren Intuition beruth. (88)

Insofern das Gute in einer Tendenz in den Dingen selber nach deren "innerstem Wesen" gedacht wird, ist das Erkenntnisprinzip eine  ideenmäßige Deutung  des Wirklichen, ein Schauen des Wesens der Dinge und ihrer natürlichen Gesetze.

Wenn wir die Gedanken, die hinter diesen Erkenntnisprinzipien verborgen liegen, weiter verfolgen sollten, würden wir ein erkenntnistheoretisches Gebiet betreten, das außerhalb dieses Buches liegt.


d) Die Bestimmung des Guten oder der Inhalt
der praktischen Erkenntnis

Was ist es, das in der Wertethik für moralisch angesehen wird und was charakterisiert diesen Inhalt im Gegensatz zur Pflichtethik? Es ist einleuchtend, daß generell so gut wie nichts hierüber gesagt werden kann, außer der Banalität, daß es sowohl im einen wie im anderen Fall im wesentlichen die von Ort, Zeit und Milieu bestimmte faktische Moralitätsidee ist, die in den ethischen Systemen umgeht und in diesen entweder in der Form des Guten oder der der Pflicht, oder - am häufigsten! - in einer inkonsequenten Vermischung beider dargestellt wird.

Hier soll deshalb nur Folgendes angeführt werden. Wenn wir unsere Betrachtung auf einen Vergleich zwischen der kantischen Philosophie mit ihren Ausläufern und dem englischen Utilitarismus des 19. Jahrhunderts begrenzen, kann mit großer Verallgemeinerung gesagt werden: während die deutsche Richtung in die Forderung der  Gleichheit  (abgeleitet aus dem Gedanken von der Allgemeingültigkeit des moralischen Gesetzes und der unendlichen sittlichen Würde des Menschen) und deshalb in der Gesellschaftslehre die Forderung nach  gleicher  Verteilung in die erste Reihe stellte, bedeutet dagegen der englische Utilitarismus prinzipiell eine Forderung der  größtmöglichen Summes des Glücks,  für die die  Verteilung an und für sich keine Rolle spielt.  In dem Gedanken an die Summe des Glücks liegt zwar die negative Voraussetzung, daß es hierbei nicht in Betracht kommen kann, daß gerade das Interesse (die Lust) dieser oder jener Person auf dem Spiel steht. Insofern sind alle gleich, als keiner ein Privilegium hat, ("jeder zählt für einen"). Dagegen aber liegt darin nicht, daß alle in dem Sinn gleich sind, daß alle einen Anspruch auf gleichen Anteil an der Summe des Glücks haben. Die vollständige Abstraktion vom Individuum zugunsten der Summe selber bedeutet ja ganz im Gegenteil, daß die Verteilung an und für sich irrelevant ist. Es ist etwas anderes, daß die Verteilung nach dem Grenznutzenstandpunkt die abgeleitete Bedeutung für die Verteilung 
eines begrenzten Vorrates von Glücks mitteln  hat. Wenn auch hierdurch der Unterschied zwischen den beiden Systemen in einem hohen Grad nivelliert wird, steht es doch fest, daß sich die Pflichtethik prinzipiell auf die Verteilung richtet, der Utilitarismus prinzipiell auf die Produktion, und daß dieser Unterschied im prinzipiellen Ausgangspunkt nicht ohne alle Bedeutung für die praktischen Konklusionen ist.


11. Rückblick

Wir wollen, ehe wir weiter gehen, einen Blick auf unser weitausgesponnenes Räsonnement über den Charakter des Wertbewußtseins werfen.

Nachdem wir zuerst (Nr. 1) die objektiven und subjektiven Theorien unterschieden haben und danach (Nr. 2) die objektiven Theorien einer eingehenden und vernichtenden Kritik unterworfen haben, machten wir die unangenehme Entdeckung, daß die subjektiven Theorien, dadurch daß sie von einem "Streben nach" und von "Lust an" sprechen, von denselben prinzipiellen Einwänden betroffen werden, wie die objektiven (Nr. 3). Diese Entdeckung verhinderte uns daran, uns ohne weiteres den subjektiven Theorien anzuschließen und zwang uns, zunächst zu einer Untersuchung, was die genannten Ausdrücke eigentlich bedeuteten und kamen (Nr. 4 und 5) zu dem Resultat, daß die scheinbare "Intention" des Gefühls auf ein Objekt kein Ausdruck für eine unmittelbare Bewußtseinslage ist, sondern für ein durch Injektion äußeren Wissens verfälschtes Pseudobewußtsein. Übrig blieb dann die Frage, ob wir uns den subjektiven Theorien in dieser revidierten Form anschließen könnten. Diese Frage mußte mit  Nein  beantwortet werden (Nr. 6), weil es sich als unmöglich erwies, eine stichhaltige Erklärung der Objektivitätsillusion des Wertbewußtseins mit dem Ausgangspunkt im Interessezu geben. Um besser zu einer haltbaren Theorie zu gelangen, unterwarfen wir erst den Objektivitätsschein selber, den Wert-"Begriff" einer Analyse (Nr. 7). Dann versuchten wir es (Nr. 8), das Wertbewußtsein als eine in den Termini des Interesses stattfindende intellektuelle Auslegung des Erlebens gewisser uninteressierter Impulse zu erklären, und zwar wesentlich derselben Impulse, die hinter dem Pflichtbewußtsein liegen. Schließlich folgte eine Analyse des "Begriffs" des ansich Guten als ethischer Fundamentalkategorie (Nr. 9) und ein Aufriß der allgemeinen Struktur der Wertethik (Nr. 10).
LITERATUR - Alf Ross, Kritik der sogenannten praktischen Erkenntnis, Kopenhagen / Leipzig 1933
    Anmerkungen
    39) HÄGERSTRÖM meint, daß die Erklärung darin liegen soll, daß zwischen Vorstellung und Gefühl eine simultane Assoziation besteht, die ihren Ausdruck in Urteilssätzen bekommt, wobei das Vorstellungselement dominiert und den Gefühlsausdruck in die objektiven Bestimmtheiten des Vorgestellten hineinzieht. Diese Erklärung kann nicht als befriedigend bezeichnet werden; sie ist eigentlich nur eine in bildlichen Ausdrücken vorgenommene Umschreibung der Elemente des Problems. Was ist eigentlich diese "Dominanz" oder dieses "Hineinziehen" ("Abfärben"), von dem hier die Rede ist?
    40) HERBERT IVERSEN, To Essays om vor Erkendelse, 1918, Seite 371, 377, 379, 381.
    41) Eine psychologische Kausalerklärung müßte weiter in der Zeit seiende und also  unbewußte  psychische Elemente annehmen. "Daß eine  Erklärung  ohne in irgendeinem Sinn  unbewußte  Zwischenglieder unmöglich ist, steht fest", sagt JONAS COHN, Logos, Bd. 12, Seite 50. In derselben Richtung auch THEODOR HAERING, Untersuchungen zur Psychologie der Wertung, Archiv für die gesamte Psychologie, Bd. 26, Seite 279. Aber die Annahme eines unbewußt Psychischen ist eine Unsinnigkeit. Psychologische "Erklärung" durch unbewußte Triebe, Tendenzen, Energien und ähnliches ist dabei nur eine teleologische Scheinerklärung. Was sich in Wirklichkeit hinter diesen Ausdrücken versteckt, sind  physiologische Dispositionen. 
    42) Es liegt hierin keine Standpunktnahme zum Vorteil der Paralleltheorie. Es ist nicht ausgeschlossen eine Wechselwirkung zwischen dem "Psychischen" und dem Physischen in der Art anzunehmen, daß gewisse Glieder der Kette auch "psychische" Eigenschaften haben. Ich unterlasse es zu erörtern, was in diesem Zusammenhang unter dem "Psychischen" verstanden wird.
    43) Dieses methodologische Prinzip ist von einigen weniger philosophisch geübten Amerikanern hypostasiert [einem Gedanken gegenständliche Realität unterschieben - wp] worden, um zu verneinen, daß es überhaupt etwas Psychisches, irgendein Bewußtsein gibt. Nicht zum erstenmal in der Geschichte der Philosophie ist ein methodologisches Prinzip in ein Existenzprinzip verwandelt worden.
    44) Zitiert nach PERRY, General theory of value, Seite 185
    45) Vgl. hierzu WARREN, A study on Purpose, Journal of Philosophy, vol. XIII, 1916
    46) WILLIAM McDOUGALL, An Outline of Psychology, VII. McDOUGALL schließt sich nah an MORTON PRICE an. ("Feelings and Emotions", Seite 161). Siehe auch McDOUGALL, British Journal of Psychology, vol. 17, 1927, Seite 171. In McDOUGALLs letzter Arbeit, "The Energies of Men", 1932, werden dieselben Gedanken dargestellt, wenn auch, in Übereinstimmung mit dem Zeitgeist, etwas vorsichtiger formuliert. Es wird die Möglichkeit angedeutet, daß die beiden Erklärungsprinzipien, die beide als nicht ganz intelligibel bezeichnet werden, auf ein einziges tiefer liegendes reduziert werden können, a. a. O., Seite 21-22.
    47) a. a. O., Seite 216, 317
    48) a. a. O., Seite 317
    49) a. a. O., Seite 219
    50) a. a. O., Seite 219
    51) a. a. O., Seite 72, 269.
    52) KURT LEWIN, Vorbemerkungen über die psychischen Kräfte und Energien und über die Struktur der Seele, Seite 307 und 308.
    53) a. a. O., Seite 311
    54) a. a. O., Seite 313
    55) Einige Zitate werden dies illustrieren. "... Hierin zeigt sich unmittelbar, daß ein Spannungszustand vorhanden ist, der von innen heraus auf Entspannung durch  in bestimmter Richtung liegende Handlungen hindrängt".  (LEWIN, Vorsatz, Wille und Bedürfnis, Seite 339); "es besteht vielmehr ein innerer in  eine bestimmte Richtung gehender Druck,  ein innerer Spannungszustand, der auf die Ausführung der Vornahme  hindrängt."  (a. a. O., Seite 348); "Bei aller Bedeutung der äußeren Triebanreize haben wir es bei den Bedürfnissen im wesentlichen mit Spannungszuständen zu tun, die auf Befriedigung des betreffenden Bedürfnisses  hindrängen".  (a. a. O., Seite 356) (von mir gesperrt).
    56) a. a. O., Seite 349
    57) vgl. a. a. O., Seite 339
    58) Ich will hiermit nicht behaupten, daß ein absoluter Unterschied zwischen Beschreibung und Erklärung besteht, jedoch der relative, daß Erklärung bedeutet, daß eine Gruppe von Beobachtungen mit anderen zusammen in einen relativ größeren Zusammenhang eingeordnet wird. Aber eine solche fortschreitenden Koordination liegt nicht vor, wenn die magnetischen Phänomene durch ein magnetisches Feld "erklärt" werden. Denn dies bedeutet kein neues Phänomen, das mit dem ersten zusammen in einen neuen Zusammenhang eingeordnet wird.
    59) Es ist zweifelhaft, in welchem Umfang dies wirklich der Fall ist. KURT LEWINs interessante Abhandlung "Der Übergang von der aristotelischen zur galileischen Denkweise in Biologie und Psychologie", (Erkenntnis, Bd. 1, Seite 421) scheint auf unangreifbaren Gesichtspunkten aufzubauen. Es verhält sich wohl in Wirklichkeit so, daß sich in LEWINs tatsächlicher Verwendung richtiger methodologischer Prinzipien dann und wann unüberwundene Reste älterer Gesichtspunkte geltend machen.
    60) a. a. O., Seite 316-17
    61) GROSSART, Gefühl und Strebung, Bd. 79, Seite 392.
    62) Über den "Hungermechanismus" siehe MARSTON, American Journal of Psychology, Bd. 35, 1924, Seite 483
    63) Es kommt mir vor, als hätte die behaviouristische Theorie die Bedeutung eines solchen konstitutionellen, zirkulären Zusammenhangs zwischen den Reaktionen zur Erklärung von Interessehandlung und Lernprozeß nicht eingesehen. Nur ganz selten habe ich dieses Verhältnis in der Literatur erwähnt gesehen. [...]
    64) Es muß hervorgehoben werden, daß, wenn ich hier von "Disposition", Energieauslösung usw. spreche, darin nicht das geringste von der oben kritisierten teleologischen Begriffsbildung liegt. Hiermit meine ich nichts anderes, als daß ein gewisser Verlauf stattfindet, wenn ein bestimmter bedingender Umstand eintritt. Das wird lebendiger, wenn man von einer Ladung spricht, die ausgelöst wird, von einer Disposition, die verwirklicht wird usw.
    65) Ich mache darauf aufmerksam, daß die Triebe nach FREUD auf physiologische Prozesse zurückzuführen sind. Siehe hierzu GROSSART, Archiv, Bd. 74, Seite 340.
    66) Hiermit soll nicht gesagt werden, daß MEINONG diesem Werterlebnis objektiven Charakter beilegt.
    67) Es muß vielleicht besonders betont werden, daß ich hier nicht die Frage nach dem, was gut ist erörtere, sondern ausschließlich die Frage danach, was man damit meint, wenn etwas gut genannt wird, ganz gleich was. Es ist also die Rede von einer Begriffsanalyse, und nicht von einem Wissen von dem was  gut  ist. Die Problemstellung ist ganz dieselbe wie ausführlicher bei MOORE, Principia Ethica, Seite 6f entwickelte.
    68) PAULSEN, Ethik, Bd. 1; JODL definiert die Ethik als "diejenige philosophische Kunstlehre, welche zeigt, wie das menschliche Leben vermöge des richtigen, guten Willens angemessen zu seinem Zweck und seiner Bestimmung gestaltet werden kann" (JODL, Ethik, Bd. 1, Seite 4)
    69) So bei JODL: "Daß der Mensch sich Zwecke im Leben setzt, wird ja wohl von niemandem bestritten. Welches nun die höchsten, von jedem anzuerkennenden Zweck sind, ist freilich nicht ebenso unzweifelhaft. Verschiedene ethische Anschauungen und Systeme bestimmen den Zweck des Lebens verschieden. Sie enthalten darum doch Ethik." (a. a. O., Seite 5)
    70) So heißt es bei JODL: "Insofern also steht allerdings die ethische Norm mit allen anderen Normen auf einer Stufe: auch die Ethik erforscht, insofern sie Normen aufstellt, Ursachen, deren Wirkungen gewisse gewünschte Zustände sind. Aber ist das alles? Ob ich Verträge über Liegenschaften abschließe oder chemische Reaktionen mache, - das sind offenbar zufällige individuelle Voraussetzungen, die selbst nichts Obligatorisches an sich haben; sie sind relativ, von gewissen subjektiven Bedingungen abhängig. Ob ich aber mein persönliches Leben angemessen zu seiner Bestimmung gestalte, das ist selbst kein hypothetischer Zweck, sondern ein unbedingter Zweck: der Zweck aller Zwecke, den  jeder Mensch mit hellerem oder dunklerem Bewußtsein notwendig verfolgt"  (von mir gesperrt) (a. a. O., Seite 9)
    71) Ein ausgzeichnetes Beispiel dafür, daß der Begriff  Wert  oder  das Gute  selbst bei Philosophen, die ihn ausdrücklich in Relation zu einem faktischen Streben oder Interesse definieren, sich im wirklichen Denken trotzdem über das bloß Faktische erheben und metaphysischen Charakter besitzen und damit praktische Modalität in dem hier angegebenen Sinn, um auf diese Weise eine Grundlage für die praktische Erkenntnis anzugeben, bietet PERRYs allgemeine Werttheorie. Trotzdem er davon ausgeht, daß Wert ein "psycho-zentrischer" Begriff ist, der nichts anderes bedeutet, als daß ein Objekt faktisch Gegenstand des Interesses eines Subjekts ist (Seite 139, vgl. 122 und 130), gelingt es ihm doch zu einer echten normativen Erkenntnis vorzudringen, zu einer Ethik, die von ihm selbst der KANTs und PLATONs an die Seite gestellt wird (Seite 682, 687). Dies geht auf die Weise vor sich, daß er trotz seines Ausgangspunktes den Werten eine selbständige objektive Bedeutung beilegt und danach dem Summierungs-, oder richtiger - da er einräumt, daß eine quantitative Messung unmöglich ist - dem Inklusivitätsprinzip wirklich normative, praktische ethische Gültigkeit zuschreibt. "Laßt uns annehmen, daß eine Reißzwecke das bevorzugte Interesse von James genießt und die Poesie das von John. Wenn nun das Interesse von James an einer Reißzwecke zu Johns Interesse an Poesie hinzugefügt wird, dann müßte es mehr Wert in der Welt als vorher geben. Eine Reißzwecke plus Poesie wären dann wertvoller, als Reißzwecke und Poesie für sich alleine." Es wird nun als unmittelbar einleuchtend angesehen, daß es "besser" ist, daß mehr Wert in der Welt ist als weniger. Und dieses "besser" bedeutet nicht das rein Analytische, daß mehr Interessen erfüllt werden, sondern der Satz wird als ein synthetischer Satz aufgefaßt, als ein kritisches Prinzip, das eine unmittelbare praktische Gültigkeit besitzt. Soll nun - und das ist die immanente systematische Voraussetzung - die kritische Norm aus dem Wertbegriff selbst hervorgehen, muß in diesen notwendig eine praktische Modalität, eine objektive Eigenschaft, ein Ziel für das Streben, eine immanente Handlungsreferenz hineingedacht worden sein.
    72) "Aussagen über das Gute sind immer synthetisch und niemals analatisch", MOORE, Principia ethica, Seite 7.
    73) a. a. O., Kapitel V
    74) a. a. O., Kapitel VIII, Seite 146f.
    75) "Auf was ich zuerst hinweisen möchte ist, daß  richtig  nichts anderes bedeuten kann als  Ursache eines guten Resultats.  Daß die Feststellung  Ich bin moralisch zur Ausführung dieser Handlung verpflichtet  ist identisch mit der Feststellung  Diese Handlung wird das größtmögliche Gute im Universum produzieren;  aber es wichtig darauf zu dringen, daß dieser grundsätzliche Punkt demonstrierbar sicher ist." "Unsere Pflicht kann deshalb nur als die Handlung definiert werden, welche mehr Gutes in der Welt verursachen wird, als irgendeine mögliche Alternative." (MOORE, Seite 147 und 148)
    76) Folgt schon daraus, daß MOORE überhaupt annimmt, daß es eine Ethik in der Bedeutung von echter praktischer Erkenntnis, die unmittelbar für unsere Handlung richtungsbestimmend ist, gibt. Es kann auch angeführt werden, daß es an vielen Stellen des Buches vorausgesetzt wird, daß es eine Verbindung zwischen dem Guten und dem Streben gibt, wo das ansich Gute als "etwas, das jemand zu seinem eigenen Nutzen anstrebt" erwähnt wird.
    77) Schon in dem Umstand, daß MOORE die größt mögliche (existierende) Menge des Guten für die vorzunehmenden Handlungen entscheidend sein läßt, liegt eine implizite Anerkennung dessen, daß  eine Relation zwischen dem Begriff des Guten und der Existenz oder Nichtexistenz  dessen, was gut ist, besteht. Es wird auch ausdrücklich gesagt (Kap. VIII), daß das was gut ist  existieren soll.  Dieses "soll" kann nun nicht ohne unendlichen Regress in einen Ausdruck des Guten umschrieben werden. Es drückt also eine Relation zur Existenz-Non-Existenz und damit zum Handeln und Streben aus. - - - SORLEY unterstreicht ausgezeichnet, daß Wert nicht (wie MOORE versucht) als eine Qualität neben anderen aufgefaßt werden kann. [...] Aber SORLEY hat nicht eingesehen, daß es danach überhaupt unmöglich wird, sich den Wert als eine objektive Eigenschaft zu denken. SORLEY meint, er kann zum Ziel kommen, dadurch, daß er die Existenz des Gegenstandes, nicht den Gegenstand selber zum Subjekt im Urteil macht, in dem ein Wert prädiziert wird. Aber es ist ein absurder Gedanke, "Existenz", die überhaupt nichts ist zum Prädikatssubjekt zu machen. Existenz kann ebensowenig Subjekt wie Prädikat in einem Urteil sein. Dies zeigt aufs Neue - was in dieser Rubrik die Hauptsache ist - daß der reine Qualitätsgedanke mit der praktischen Modalität des Wertbegriffs unvereinbar ist und umgekehrt.
    78) MOORE meint, einen strikten Beweis dafür, daß "gut" undefinierbar ist, führen zu können, indem seine Verneinung Widerspruch bedeutet (a. a. O., Seite 77). Da sich jedoch die ganze Problembehandlung innerhalb der Rahmen "der allgemeinen Anschauung" bewegt (a. a. O., Seite 6, und da wir durchaus keine Garantie dafür haben, daß unsere gewöhnlichen Vorstellungen nicht widerspruchsvoll sind, kann ein Beweis solcher Art überhaupt nicht geführt werden. Übrigens sind die Argumente, die MOORE anführt, nicht besonders bedeutungsvoll, da sie auf Voraussetzungen beruhen, die selber nicht gewiß sind. Daß das Gute im Verhältnis zu allen natürlichen Begriffen undefinierbar ist, beruth so auf der Voraussetzung, daß eine von der natürlichen verschiedene praktische Erkenntnis vorhanden ist, was nicht sicher ist. MOOREs Argumentation dafür, daß "good" etwas Spezifisches bedeutet, etwas Irreduzibles, kann mit gleichem Recht auf "sollen" ("richtig", "Pflicht") angewendet werden, wodurch die Ethik mit mehreren Indefinablen operieren muß, was notwendig das ganze Systems MOOREs unmöglich machen muuß. Im Großen und Ganzen kann gesagt werden, daß alle "Beweise" MOOREs auf der Vorausetzung beruhen, daß mit "good" etas Vernünftiges und Widerspruchsloses gemeint ist. Aber es kann ja sein, daß das Wort verschiedene einander widersprechende Vorstellungen bedeutet, oder überhaupt keine Vorstellung ausdrückt.
    79) Man kann fragen, ob nicht auch die sogenannte Selbstsuggestion Ursache zu uninteressiertem Handeln sein kann. Ich glaube es nicht, will aber nicht weiter darauf eingehen, weil diese Frage wohl kein größeres Interesse beansprucht.
    80) Auch für BENTHAM bedeutet Interesse nicht Eigeninteresse.
    81) Als Beispiel kann angeführt werden, daß ALOYS FISCHER als die drei Hauptformen der sozialen Wechselwirkung "Mitteilung", "Befehl" und "Ansteckung" nennt (Psychologie der Gesellschaft, Seite 352)
    82) Es wird dem Leser empfohlen, sich schon hier mit der Darstellung aus Kapitel VII, Nr. 1 bekannt zu machen.
    83) Notwendigkeit wird hier als zeitlose Gültigkeit gedacht, nicht als die Undenkbarkeit des Kontradiktorischen.
    84) In der Wertethik fundiert sich "Sollen", "Pflicht" auf "Wert", nicht umgekehrt: SCHELER, Der Formalismus in der Ethik, Seite 163f, 187f und öfter; MOORE, Principia ethica, Seite 147f; OSKAR KRAUS, Grundlagen der Werttheorie, Seite 30 und 34.
    85) Man wird dagegen vielleicht einwenden, daß die aristotelische Ethik, die so ausgesprochen auf der Kategorie des Guten aufgebaut ist, trotzdem mit einem Gegensatz zwischen Sinnlichkeit und Vernunft operiert. Doch ist dies nicht richtig. Sinnlichkeit und Vernunft stehen nicht im Gegensatz zueinander, sondern fügen sich in ein hierarchisch geordnetes Ganzes ein (vgl. hierzu weiter Kapitel VI, Nr. 3).
    86) "Es leuchtet nun a priori, d. h. aus der Betrachtung der Begriffe, ein, daß einer, der sich so nützlich machen will wie möglich, d. h. das Vorzüglichste unter dem für ihn Erreichbaren will, unmöglich anders als richtig will. Wenn also einer richtig wollen will, so hat er unter Berücksichtigung der Größe des erhoffent Wertes und der Größe dieser Hoffnung,  das Beste des Erreichbaren  zu wählen." (OSKAR KRAUS, Grundlagen der Werttheorie, Seite 33-34. [...]
    87) So hat von utilitaristischer Seite besonders SIDGWICK eifrig danach gestrebt, der regelgebundenen Forderung innerhalb des Utilitarismus Raum zu schaffen.
    88) Man setzt in England oft den Intuitionismus in der Bedeutung der kantischen Morallehre BENTHAMs Utilitarismus entgegen. Wie verfehlt dieser Gegensatz ist, geht daraus hervor, daß, während KANT zur Intuition rekurrierte, ausschließlich zur Begründung des nackten Faktums, daß ein Pflichtgesetz existiert (nicht aber zur Begründung seines Inhalts), ruht BENTHAMs Philosophie nicht nur auf einer intuitionistischen Begründung dessen,  daß  etwas ansich Gutes besteht, sondern dessen,  was  dasselbe ist. Bei BENTHAM spielt also die Intuition eine größere Rolle als bei KANT. (Es ist eine andere Sache, daß KANTs Versuch, eine Ethik nur auf dieser Grundlage zu entwickeln, unmöglich ist).