ra-3 K. KornO. EwaldE. KappE. ZschimmerM. Ried    
 
JULIUS GOLDSTEIN
Die Technik

"In der Technik liegen ohne Frage eine Reihe erzieherischer Kräfte. Die Technik erzieht zur Wahrhaftigkeit, zur Abneigung gegen alles Scheinwesen, sie fördert die Tugend der Sachlichkeit. Aber eine ausschließlich technische Fachbildung birgt, wie jede einseitige Fachbildung, gewisse ethische Gefahren in sich. Der Techniker, der innerhalb seiner Technik notwendig alles unter dem Gesichtspunkt des Nutzwertes betrachten muß, wird leicht dahin kommen, von allem zwar den Preis, von nichts aber den Wert mehr zu erkennen; er wird dazu verführt, auch sein Weltbild von der Technik aus zu gestalten. Er, der fortwährend mit Maschinen und Mechanismen umgeht, sieht schließlich auch im Universum nichts anderes als einen Mechanismus."

"Am Anfang des 19. Jahrhunderts, als die Deutschen noch das Volk der Denker und Dichter waren, schrieb der spätere Philosoph Karl Christian Friedrich Krause nach Abschluß seiner Studien an seinen Vater: Wie die Welt sein sollte, weiß ich jetzt, und es lohnt sich daher nicht der Mühe, sie kennen zu lernen, wie sie ist. Ein moderner Student am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts würde nach Beendigung seines technischen Hochschulstudiums etwa so an seinen Vater schreiben: Wie die Welt ist, weiß ich; es lohnt sich nicht der Mühe, zu ergründen, wie sie sein sollte."


Einleitung

Am Ende eines an Erfolgen wie Mißerfolgen reichen Lebens verfaßte BACO von Verulam im Jahre 1624 eine Schrift, die als Vermächtnis späteren Geschlechtern zugedacht war. In dieser Schrift, der "Nova Atlantis", spricht ein Mann zu uns, der bereits aus dem Kampf des Tages herausgetreten ist, und der es verschmäht, noch ferner seine Gedanken mit neuen Argumenten wider gegnerische Einwendungen zu verteidigen. Inmitten wechselvoller Schicksale hatte er unermüdlich gegen die Autorität des ARISTOTELES und der Scholastik gekämpft, hatte mit eindringlichen Worten voll sprühenden Geistes seine Zeitgenossen für eine Wissenschaft zu gewinnen gesucht, deren Mittel Experiment und methodisch gereinigte Erfahrung, deren Ziel die Herrschaft des Menschen über die Erde, das Regnum hominis, sein sollte. Nun, da sein Leben sich dem Ende zuneigte, und er auf seiner Besitzung in Highgate der rückschauenden Muße des Alters hingegeben war, formen sich ihm seine Hoffnungen und Erwartungen zum leuchtenden Bild einer Utopie.

Irgenwo im Stillen Ozean lebt ein glückliches Inselvölkchen, dessen Staatsverfassung und Kultur bis ins einzelne durch eine auf experimenteller Wissenschaft beruhende Technik geregelt ist. Sie haben eine Akademie - "Salomon's House" - gegründet; das Ziel dieser Gründung ist "die Kenntnis der Ursachen und die geheimen Bewegungen der Dinge zu erforschen, um dadurch die Grenzen der menschlichen Herrschaft zu erweitern". Sie haben die verschiedenartigsten Laboratorien eingerichtet: biologische Versuchsanstalten, metereologische Stationen, landwirtschaftliche Institute, Studiengesellschaften zur Förderung der Luftschiffahrt. Sie haben es auch verstanden, sich die Wärme des Erdinnern technisch nutzbar zu machen. es fehlt ihnen nicht an Instrumenten wie Mikroskop und Teleskop, noch an solchen Erfindungen wie Unterwasserboote. Die Technik erfreut sich der höchsten Schätzung: eine Art technischer Ruhmeshalle ist vorhanden, in der die Statuten der großen Erfinder aufgestellt werden. - Indem die Bewohner der Neuen Atlantis die Naturkräfte systematisch erforschen und ausnützen, haben sie das Mittel zu einem glücklichen und zufriedenen Leben gefunden, das Not und Elend nicht mehr kennt und deshalb auch frei ist von sittlichen Verfehlungen und zerstörenden Leidenschaften. -

Der Mensch des siebzehnten Jahrhunderts sah in den Erfindungen das eigentlich Utopische dieser Schrift. Wir, denen das meiste dieser Erfindungen zur Alltäglichkeit geworden ist, erkennen das Utopische im Glauben, der für BACON die Voraussetzung seines ganzen Schaffens war: daß die technische Rationalisierung des Daseins von selbst das Leben von allem Problematischen befreien und einen immer vollkommeneren Zustand der Gesellschaft hervorbringen müsse. Dieser Glaube, der unausgesprochen hinter den kühnen Phantasien der Nova Atlantis lebt, hebt diese Schrift über alles Antiquarische hinaus und macht sie zum Symbol einer bis in unsere Gegenwart hineinreichenden Geistesbewegung. An die "neue Atlantis" glauben alle, denen das Menschenschicksal ein Problem der Wissenschaft, der Methode, der Energetik, der Organisation ist, kurz, ein Problem, das von außen nach innen durch eine immer vollkommenere Technik befriedigenn gelöst werden kann. Dieser Baconismus will das Glück der Erde schaffen, indem er die gestaltenden Kräfte der Geschichte vom Innenleben des Menschen, von den Fragen seines seelischen Schicksals loszulösen trachtet. Er bereitet jene Diktatur des Rationalen vor, die alles Irrationale und Persönliche mit den unpersönlichen Mitteln wissenschaftlicher Methode und maschineller Technik beseitigen zu können glaubt. "Wie man die Hand", schreibt BACON, "durch Zirkel und Lineal fähig macht, den Kreis und die gerade Linie zu zeichnen, so muß der Verstand wie durch Maschinen zur Wahrheit und ihrer fruchtbaren Anwendung befähigt werden."

Das siebzehnte Jahrhundert mit seinem unermüdlichen Ringen um eine allgemeingültige Methode des Forschens schien dieses BACON'sche Wort erfüllen zu wollen. Und das achtzehnte Jahrhundert brachte die Rationalisierung der Technik. In der älteren Technik wurde, wie SOMBART ausgeführt hat, der technische Produktionsvorgang als ein Kunstverfahren betrachtet, das manuelle Geschicklichkeit voraussetzte und nach bestimmten Regeln ausgeführt wurde. Diese Regeln waren das Geheimnis der einzelnen Meister, die es ihren Lehrlingen und Gesellen wiederum als Berufsgeheimnis übermittelten. Die mit der Dampfmaschine einsetzende moderne Technik löst aber immer mehr den technischen Produktionsprozeß von der Menschenkraft los: er wird als Naturvorgang betrachtet, der nach Gesetzen erfolgt. Diese Gesetze zu erforschen ist Aufgabe der Wissenschaft, die allen zugänglich ist.

Damit treten Wissenschaft und Technik in eine viel engere Verbindung als früher. Immer mehr wird das rein empirische Verfahren der älteren Technik übergeleitet in ein rationales und wissenschaftliches Verfahren. Dies wird nur dadurch möglich, daß die technische Arbeit auch nach ihrer dynamischen Seite unabhängiger vom Menschen wird.

Bis zur Erfindung der Dampfmaschine war die technische Arbeit mit wenig Ausnahmen gebunden an die Kräfte des menschlichen Körpers, die von den technisch verwertbaren Naturkräften und einfachen Werkzeugen unterstützt wurden. Technische Leistungen stellten nur gesteigerte menschliche Leistungen dar. Die Arbeit der Wasserräder, der Windmühlen, der Pferdegöpel und Hebel konnte, wenn notwendig, auch von Menschen verrichtet werden. Bis zur Mitte des achtzehnten Jahrhunderts war deshalb auch der Mensch das Maß des technisch Möglichen.

Mit der Erfindung der Dampfmaschine aber steigert sich die Leistungsfähigkeit der Technik in einer gegen frühere Zeiten unvergleichlichen Weise; nach allen Seiten springen überraschende Folgen hervor. Drei Eigentümlichkeiten sind es besonders, durch welche die moderne Technik sich in rein dynamischer Hinsicht von aller früheren unterscheidet:
    1. Die Maschine ahmt in ihrer Arbeitsweise nicht mehr die Hand oder irgendein Glied des Menschen nach, sondern löst die Aufgabe mit eigenen Mitteln. Wie sehr entfernt sich die Arbeitsweise eines modernen Walzwerkes soch von der Hammerschmiederei! Die Nähmaschine entstand nach vielen fruchtlosen Versuchen erst, als man aufhörte, die Handnaht nachzuahmen. Das Problem der Setzmaschine wurde gelöst, als man es aufgab, den Handsatz nachzuahmen.

    2. Mittels Dampf und Elektrizität vermag die Technik in immer stärkerem Maße mechanische Energien räumlich zu verdichten und auf diese Weise qualitative Arbeitsleistungen hervorzubringen, die in ihrer Schnelligkeit, Feinheit und Regelmäßigkeit alle nur möglichen Leistungen der von Werkzeugen unterstützten Menschenkraft weit hinter sich lassen. Der Schnelldampfer "Deutschland" hat 35600 Pferdekräfte, bedürfte also, wenn man 24 Menschen gleich einer Pferdekraft setzt, 854 400 Galeerensklaven zu einer Fortbewegung im Wasser.

    3. Immer mehr wird der Handbetrieb übergeführt in den Maschinenbetrieb. Es gibt hier keinen Stillstand - was heute noch unmöglich erscheint, ist morgen eine vollzogene Tatsache. Als Beispiel aus der jüngsten Zeit sei die Flaschenproduktion erwähnt. Bis vor wenigen Jahren mußte jede einzelne Flasche mittels der Glasbläserpfeife durch menschliche Lungen geblasen werden. Diese Arbeit beanspruchte 2-3 Minuten eines geübten Glasbläsers. Die OWEN'sche Maschine liefert 14 - 15 Flaschen in der Minute. Zu ihrer Bedienung bedarf sie eines einzigen Arbeiters, leistet aber das Arbeitsquantum von 30 Glasbläsern in der gleichen Zeit.
Das alles hat nun eine neue Epoche der Gütererzeugung zur Folge gehabt. Die kapitalistische Wirtschaftsweise, ob sie gleich in ihren ersten Anfängen bis in das sechzehnte Jahrhundert zurückreicht, ist zur eigentliche Entfaltung erst durch die moderne Technik gelangt. Sie hat die Produktion in einem weiten Maß von den Zufälligkeiten des Raums und der Zeit befreit; ihre Kraft- und Werzeugmaschinen verarbeiten mit spielender Leichtigkeit ungeheure Massen von Rohmaterial; Dampf und Elektrizität vervielfältigenn, verbilligen und beschleunigen den Güteraustausch der Länder und Erdteile - den Güteraustausch der Weltwirtschaft. Angesichts dieser Verhältnisse besteht die Behauptung wohl zurecht, daß beispielsweise das deutsche Wirtschaftsleben am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts sich von dem am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts viel stärker unterscheidet, als das damalige Wirtschaftsleben von dem um 1350.

So konnte die moderne Technik nach der wissenschaftlich-methodischen, nach der dynamischen und nach der ökonomischen Seite als ein voller Triumph des Baconismus erscheinen. Zwar stellten sich mit fortschreitender Technik Unzuträglichkeiten aller Art ein. Aber man glaubte, daß diese nicht im Wesen des technischen Prozesses selbst, sondern teils in der mangelhaften Organisation der Gesellschaft, teils in der noch nicht erreichten Vollkommenheit, d. h. Automatisierung der technischen Arbeit, lägen. Nun ist es keine Frage, daß mancherlei Härten des technischen Fortschritts gemildert werden können durch zweckentsprechende Veränderungen der gesellschaftlichen Organisation, und daß die Technik selbst in der Verbesserung der Maschinen Unzulänglichkeiten beseitigen kann. Allein, wo auch immer die Grenzen dieser äußeren Verbesserungsmöglichkeiten liegen mögen, und wie sehr auch die Technik das Dasein rationalisiert hat und noch weiter rationalisieren wird: immer wieder werden mit der Fortschritt der Technik ganz neue Irrationalitäten entstehen. So sehr ferner die Technik sich immer unabhängiger von Kraft des Menschen machen wird, und zumal mit dem inneren Menschen immer weniger zu rechnen versucht ist, sie kommt letzten Endes doch nicht über den Menschen hinaus. Ja, mehr als das: fortschreitende Technik bedarf zu ihrer eigenen Erhaltung immer mehr der sittlichen Persönlichkeit. Der Baconismus hat zwei Dinge nicht in Rechnung gezogen:
    1. Neue Erfindungen erzeugen selbst immer neue Probleme.

    2. Der Vervollkommnung der Technik geht keine sittliche Vervollkommnung des Menschen parallel, während tatsächlich mit gesteigerter Technik höhere Anforderungen an die sittliche Kraft des Menschen gestellt werden müssen.
Das zu zeigen soll die Aufgabe der folgenden Blätter sein. Zur dynamischen und ökonomischen Betrachtungsweise der Technik muß eine sozialpsychologische und sozialethische hinzukommen. Das letzte Ziel, zu dem diese verschiedenen Betrachtungsweise hinlenken möchten, wäre eine Soziologie der Technik. Wie weit wir aber auch von einer solchen gegenwärtig noch entfernt sind und naturgemäß entfernt sein müssen, so dürften doch die folgenden, lose aneinandergereihten sozialpsychologischen Betrachtungen wenistens die Vorarbeit hierzu fördern.


Die Veränderung der Arbeit

Der Übergang von der Handarbeit zur Maschinenarbeit vollzog sich nicht ohne innere Erschütterungen.

GOETHE läßt in den Wanderjahren Frau SUSANNE, die Besitzerin einer großen Spinnerei, ihre Befürchtungen vor der drohenden Einführung der Spinnmaschinen folgendermaßen äußern:
    "Das überhandnehmende Maschinenwesen, quält und ängstig mich: es wälzt sich heran wie ein Gewitter, langsam, langsam; aber es hat seine Richtung genommen, es wird kommen und treffen. Man denkt daran, man spricht davon, aber weder Denken noch Reden kann Hilfe bringen . . . hier bleibt nur ein doppelter Weg, einer so traurig wie der andere: Entweder selbst das Neue zu ergreifen und das Verderben zu beschleunigen, oder aufzubrechen, die Besten und Würdigsten mit sich fortzuziehen und ein günstigers Schicksal jenseits der Meere zu suchen."
Stärker noch empfinden die Arbeiter die Maschine als ihren Feind. Denn der Übergang von der Handarbeit zur Maschinenarbeit bringt viele Arbeiter um ihr Brot. Die Maschine ersetzt in immer steigendem Maß menschliche Arbeitskräfte. Außderm werden anstelle der "gelernten" Arbeiter jugendliche und "ungelernte" eingestellt. Indem ferner die Maschinenarbeit die Arbeiter in die Fabrik zieht, sind sie nicht länger imstande, den kleinen landwirtschaftlichen Betrieb, der sie mit dem Notwendigsten an Nahrungsmitteln versorgt hatte, weiterzuführen. Dadurch verlieren sie den sicheren Rückhalt und werden in ihrem Lebensunterhalt den schwankenden Konjunkturen der Industrie ausgeliefert, zumal da  Staat  und Gesellschaft sich ebensowenig um das Schicksal des brotlos gewordenen Arbeiters wie um die ungeheuerliche Ausnutzung seiner und der Seinigen Arbeitskraft kümmerten.

Daher herrschen in der Arbeiterschaft gegen die neuen Maschinen anfangs nur Zorn und Haß. Sie klingen uns noch aus jenem Gedicht LEADs engegen, das ENGELS uns erhalten hat:
    "Ein König lebt, ein zorniger Fürst,
    Nicht des Dichters geträumtes Königsbild,
    Ein Tyrann, den der weiße Sklave kennt,
    Und der Dampf ist der König wild.

    Er hat einen Arm, einen eisernen Arm,
    Und obgleich er nur einen trägt;
    In dem Arm schafft eine Zauberkraft,
    Die Millionen schlägt."
Diese Stimmung entlud sich in wilden Empörungen und Zerstörungen. Die erste Dampfmühlenanlage wurde 1786 in England gebaut und 1791 unter jubelnden Straßenkundgebungen in Brand gesteckt und vernichtet. Ähnliches geschah noch bis in die Mitte des neunzehnten Jahrhunderst in Frankreich und England.

Erst als sich nach Einführung der Gewerbefreiheit die Arbeiter sich zu Gewerkvereinen zusammenschlossen und diese Gewerkvereine politische Anerkennung gefunden hatten, änderte sich das Verhalten der Arbeiter zum technischen Fortschritt. Anfangs versuchten sie noch durch Streiks zu verhindern, daß neue Maschinen eingestellt würden. Als jedoch die Gewerkvereine einsahen, daß es vergeblich ist, den Sieg der Maschine aufzuhalten, änderten sie ihre Taktik. Sie versuchten die Einführung neuer Maschinen möglichst günstig für ihre Mitglieder zu gestalten und gegenüber den neuen Produktionsmitteln bessere Arbeitsbedingungen zu erkämpfen: Verkürzung der Arbeitszeit, Fernhalten von "ungelernten" Arbeitern, Vermeidung von Lohnreduktionen. Dieses Ziel wurde in den sozialpolitischen Kämpfen des neunzehnten Jahrhunderts annähernd erreicht, am vollkommensten bis jetzt im Tarifvertrag.

Aber der technische Fortschritt greift in seinen Folgen auch in das seelische Leben des Arbeiters über: er verändert von Grund auf das Wesen der Arbeit und damit das Lebens- und Weltgefühl der Massen. Freilich ist es uns gegenwärtig noch nicht möglich, hierüber allgemeingültige Aussagen zu machen. es sind zwar eine Reihe von Enquêten veranstaltet worden, - hauptsächlich vom Verein für Sozialpolitik - umd die Einwirkung der Maschinenarbeit auf den Arbeiter festzustellen. Aber das Problem hat zu viele verschiedene Seiten, als daß man es gegenwärtig schon lösen könnte. Die Arbeitsbedingungen sind von einer unübersehbaren Mannigfaltigkeit; die Arbeiter selbst bilden keine einheitliche Masse, um das, was für die eine Kategorie gilt, ohne weiteres auf die anderen zu übertragen. Schließlich ist auch die wissenschaftliche Methode der Massenenquête noch nicht sicher begründet.

Trotzdem lassen sich gewisse allgemeine Züge heute schon feststellen, solche nämlich, die mit dem Wesen der modernen Technik verknüpft sind. Die Maschinentechnik hat das innere Wesen der Arbeit durch eine bis zum Äußersten durchgeführte Arbeitsteilung verändert. Solange die Technik den Arbeitsprozeß noch nicht allzusehr in seine Einzelheiten aufgelöst hat, kann der Arbeiter daran seine persönliche Geschicklichkeit erweisen; so lange strömt ihm auch noch Freude aus seiner Arbeit entgegen. er ist am Wachsen und Werden des Arbeitsproduktes innerlich beteilig, er empfindet etwas vom Segen der Arbeit, sie dieses auch noch so schwer und Gefahrvoll, wie etwa die der Former und Gießer. Aber die moderne Technik strebt mehr und mehr dahin, den Arbeitsprozeß dem Menschen abzunehmen und der Maschine zuzuweisen. So bleiben dem Arbeiter schließlich nur noch wenige Handgriffe übrig, die in ewiger Monotonie tataus, tagein zu wiederholen sind. Der sittlich bildende Einfluß der Arbeit wird immer geringer. Am Ganzen oder auch nur an einem größeren Teil des Arbeitsprozesses hat der einzelne keinen Anteil mehr. Dazu kommt, daß in den großen Betrieben eine ans Militärische grenzende Präzision und Unterordnung herrscht: die Tätigkeit ist genau vorgeschrieben und geregelt. Ein Spielraum individuellen Könnens ist kaum noch vorhanden, es sei denn bei der dünnen Schicht von Qualitätsarbeitern, oder bei solchen Arbeitern, die mit kostbarem und empfindlichen Material umzugehen haben. Die Maschine verrichtet automatisch ihre Funktion, der der Mensch ununterbrochen folgen muß. Bei allen Kategorien von Arbeitern, in deren Beruf die Arbeitsteilung sehr weit gediehen ist und mit mechanischer, interesseloser Tätigkeit eine hohe Verantwortung verknüpft ist, stellt sich in einem erschreckenden Maß Neurasthenie [Nervenschwäche - wp] ein.

Gegen die schwer zu ertragende Eintönigkeit der Maschinenarbeit versucht man die verschiedenartigsten Erleichterungen schaffen. HERKNER erzählt, daß Arbeiterinnen einer Nähmaschinenfabrik, in der eine besonders weitgetriebene Arbeitsteilung herrschte, sich dadurch eine gewisse Erleichterung zu verschaffen suchten, daß sie an ihren Plätzen Farbendruckbilder anbrachten und diese öfter wechselten. Ein bemerkenswerter Fall ähnlicher Art wird aus einer amerikanischen Pianofabrik berichtet. In dieser wurden Mädchen mit der Zusammensetzung von Teilen des Anschlagmechanismus beschäftigt, und zwar so, daß jede Arbeiterin nur eine gewisse Bewegung auszuführen hatte, die sich immer wiederholte. In keiner Abteilung des Betriebes waren die Arbeiterinnen unzufriedener; sie wechselten beständig. Die Firma richtete ihnen ein schön ausgestattetes Zimmer für ihre Lunch- und Ruhezeit ein, auch wurde auf die Ventilation und die Ausschmückung der Arbeitsplätze besondere Sorgfalt verwandt. Aber vergeblich. Als letztes Mittel brachte der Abteilungschef eine schöne große Katze mmit. Diese löste das Problem. Sie brachte hier und da einer Arbeiterin, auf deren Schoß sie sprang, eine kurze Ruhepause, die ausreichte, das durch die monotone Arbeit verursachte Ermüdungsgefühl zu beseitigen. Die Mädchen interessierten sich sehr für das Tier, sie brachten ihm Leckerbissen mit und verhätschelten es auf jede Weise. Die Katze schaffte stabile Zustände im Personal und hatte einen sehr günstigen Einfluß auf die Arbeitsleistungen und die Produktion. (Frankfurter Zeitung, 29. Januar 1912) - -

Das Maschinenwesen kann nur lehren, was es selbst betätigt: Ordnung, Präzision, Unterordnung unter eine unabänderliche Gesetzmäßigkeit. All das ist wertvoll für den intellektuellen und moralischen Charakter. Aber in diesen Tugenden kommt doch nur eine Seite des menschlichen Wesens zur Geltung. Ein Mensch, der ausschließlich diese Eigenschaften unter dem Druck der Maschinenarbeit entwickelt, muß verkümmern. Ihm geht das Eigenste des Lebens, die Abwechslung, die Hingabe an neue Aufgaben, die fortschreitende Neugestaltung seiner Ideen und Kräfte verloren. Denn, wie HOBSON es treffend formuliert: "Abwechslung ist das Wesen des Lebens, und Maschinenarbeit ist der Feind der Abwechslung".

Diesen Konflikt empfinden denn auch die Arbeiter besonders stark, sofern sie nicht schon durch die Maschinenarbeit zur Massenschicht der "seelisch Toten" gehören. Dafür hat ADOLF LEVENSTEIN in seinem Werk: "Die Arbeiterfrage, mit besonderer Berücksichtigung der sozialpsychologischen Einwirkungen auf die Arbeiter" (München 1912), wertvolles Material gesammelt. Die ungeheure Monotonie der Maschine bringt die geistig regen Arbeiter zur Empörung. So schreibt ein Eisendreher: "Ich muß mich zwingen, Interesse an meiner Arbeit zu finden und kann es doch nicht. Ein Fisch kann nicht in der Luft leben, weil er durch Kiemen atmet. Und meine Seele kann bei einer Arbeitsmethode nicht leben, wo sich nichts zum Denken bietet. Ich wehre mich mächtig gegen diese Vergewaltigung, und weil mein sittlicher Mensch noch Kraft besitzt, wird der Körper überwältigt. Meine Hände stehen noch unwillkürlich viele Minuten still. Mir graut vor jedem neuen Arbeitstag. Und wenn ich morgens die Arbeit aufnehme, kann ich mir kaum vorstellen, zehn Stunden diese Marter zu ertragen. Ich verlasse darum, muß die Arbeit verlassen. An jeder neuen Arbeitsstätte findet der Geist, wenigstens zunächst, Anregung: das geht immer einige Wochen, und der gequälte Zustand beginnt von neuem. Und doch - ich muß, hören Sie, ich muß sie zeitweilig verlassen, weil sonst die monotone Arbeit zermürbt." Oder man höre folgende Schmerzensworte eines Berliner Plüschwebers: "Ich verrichte immer dieselbe Arbeit: Doppelplüsch. Der Widerwille dagegen richtet sich in einer Mißstimmung gegen die ganze Umgebung. Die Zeit vergeht zu langsam. Eine Stunde Arbeitszeit wird zur Ewigkeit. Und dann: die Arbeit ist ganz weiß, alles weiß: die Kette, die Poile, der Schuß, alles weiß. Die gewebte Ware auch weiß. Das Auge hat keinen Anhaltspunkt. Ein Hauß gegen die bestehenden Einrichtungen erfüllt die Seele. Weil gar kein Mensch die Anstrengungen sieht, immer gleich der Maschine auf dem Posten sein zu müssen".

Ein anderer Berliner Weber schreibt:
    "Zu der langen Arbeitszeit und dem niedrigen Verdienst kommt noch die den Geist verblödende Eintönigkeit und Gleichmäßigkeit der Arbeit selbst. Es ist ein ewiges Einerlei von früh bis spät. Ob ich webe, ob ich die Ketten oder Poilen aufbäume oder ob ich Faden um Faden andrehe oder ankere, alles zum Sterben langweilig, eintönig, einschläfernd und ermüdend. Es ist vollständig gleichgültig, ob ich diesen oder jenen Artikel webe, ob ich auch Konfektionsplüsch -, Stoffe, - Tücher, - Chenille, - Phantasie, - Leinwand - oder Kleiderstoffe arbeite, die Arbeit selbst bietet keinerlei Abwechslung, die Eintönigkeit und Gleichmäßigkeit des Arbeitens ist immer dieselbe. So stehe ich denn an meinen Platz gebannt, Stunde um Stunde und sehe der rastlos arbeitenden Maschine zu. Mechanisch wiederholen sich dieselben Handgrife, wenn die eingelegte Spule abgelaufen ist. Das ist die einzige Beschäftigung, höchstens daß nochmals hin und wieder ein Faden reißt, der geknüpft werden muß. Die Hauptbeschäftigung ist Stehen und Beobachten. Öfters erfaßt mich eine Arbeitswut, die Unruhe der Maschine überträgt sich dann auf mich. Dann laufe ich um den Stuhl herum, und dann möchte ich der Maschine helfen, daß sie noch schneller arbeitet. Die Einwirkungen einer monotonen, inhaltlosen Beschäftigung, die Langweiligkeit des Arbeitsprozesses, die Sorge, zu wenig zu verdienen, alles trägt dazu bei, die Arbeit zur Qual und zur Unruhe zu gestalten. Ich betrachte die Maschine als meinen Feind, wenn sie so gleichmäßig, ohne aufzuhalten ihren regelmäßigen Gang geht. Die Maschine ist ganz aus Stahl, nur Stahl, hat weder Herz noch Nerven, kennt keine Müdigkeit, keine Angst, keinen Schmerz, keine Wut, steht aufrecht und kann etwig aufrecht stehen und arbeiten. Dieses verdammte Stahlgeschöpf, es muß siegen in einem Kampf, der kein Kampf ist. Heraußreißen möchte ich das Stahlherz, das so unbarmherzig und leidenschaftslos schlägt. Die Maschine kann erst in Bewegung gesetzt werden, wenn der Weber sie einschützt; dadurch, daß er mit der Hand an die Einschußstange faßt, stellt er erst den nötigen Kontakt her, der den Webstuhl in Bewegung setzt. Man könnte den Weber fast die Seele der Maschine nennen, wenn diese selbst eine Seele hätte. Und um die Arbeitsfreude voll zu machen, kommt auch der Meister öfters und sagt: Hören Sie mal, der Platz, auf dem Ihr Stuhl steht, muß mehr einbringen. Wenn Sie keine besseren Leistungen erzielen, werden Sie entlassen. Dann arbeitet man wie ein Verzweifelter, nicht rechts, noch links wird geschaut."
Die sich selbst regulierende Maschine, das immerwährend Einerlei der Beschäftigung ermöglicht es manchen Kategorien von Arbeitern, sich ihren Gedanken zu überlassen. Aber mit Ausnahme der Textilarbeiter empfinden die meisten das Denken als Qual, weil es ihnen umso schärfer ihre Lae und die Eintönigkeit ihrer Beschäftigung zum Bewußtsein bringt. So schreibt ein Bergarbeiter: "Das Denken ist in meinem Milieu Leiden, weil ich durch das Denken eben weiß, wie elend und unglücklich ich bin. Läge doch der Fluch der Unwissenheit über meinem geistigen Auge!" - -

Etwas hat aber die Technik gebracht, das wie eine Art Kompensation für die mir ihr verknüpften Leiden angesehen werden kann: Verkürzung der Arbeitszeit. Größere Arbeitsintensität bei kürzerer Arbeitszeit - das macht sich in technisch fortgeschrittenen Betrieben als allgemeine Tendenz bemerkbar.

Den Grund hierfür hat ERNST ABBE aufgewiesen. Er zerlegt den Kräfteverbrauch des Fabrikarbeiters in zwei Teile: in einen ordentliche und in einen außerordentlichen. Der ordentliche wird bei der eigentlichen Arbeitsverrichtung hervorgerufen durch eine Anzahl kombinierender Handgriffe und Körperbewegungen und durch die für Korrektur und Überwachung der Maschine verausgabte psychische Energie. Der außerordentliche Kräfteverbrauch findet außerhalb des eigentlichen Arbeitsaktes statt. Er wird hervorgerufen durch den Aufenthalt in einem vom Lärm der Maschinen sowie vom Staub der Ölteilchen erfüllten Raum und durch das Stehen oder Sitzen am Werkzeug bzw. an der Maschine. Dieser Leergang der Arbeit, wie ABBE in Analogie zum Leergang der Maschine sagt, ist es, der bei einer Herabsetzung der Arbeitszeit den Verbrauch an Muskel- und Nervenenergie einschränkt. Was hier an Energie gespart wird, kommt so der eigentlichen Arbeitsproduktivität zugute. Bei welcher Anzahl von Arbeitsstundenn die Optimalintensität liegt, das muß jede Industrie für sich erproben. Jedenfalls ist die Verkürzung der Arbeitszeit ein technisches und ethisches Postulat: ein technisches Postulat, sofern die Verfeinerung der Maschinen und die Steigerung der Drucke, Temperaturen und Geschwindigkeiten ein immer größeres Maß von Aufmerksamkeit und Verantwortlichkeit vom Arbeiter verlangt; ein ethisches Postulat, sofern die technisch verfeinerte Kultur geistig und sittlich höherstehender Menschen zu ihrer Aufrechterhaltung bedarf.

Der Arbeiter hat höhere Löhne und mehr freie Zeit als früher. Und hier erhebt sich nun die bedeutungsvolle Frage: Wird die freie Zeit in einer kulturell wertvollen Weise angewandt? Diese Frage ist ethisch und volkswirtschaftlich gleich wichtig. denn nur, wenn die freie Zeit und die höheren Löhne eine kulturell wertvolle Verwendung finden, kann die Maschinenkultur durch eine Menschenkultur ergänzt und veredelt werden; erst dann können die sittlichen Schäden, welche die Maschinenarbeit vielfach in ihrem Gefolge hat, einigermaßen behoben werden.

Hier münden alle Fragen in das ethische Problem vom richtigen Gebrauch der freien Zeit. In Deutschland ist man sich immer mehr der ethischen Bedeutung dieser freien Zeit bewußt geworden. Große Firmen haben ihren Arbeitern Bildungsmöglichkeiten aller Art zur Verfügung gestellt, und Gewerkschaften und Kommunen sind eifrig bestrebt, dem Arbeiter Gelegenheit zu geben, seine freie Zeit in kulturell wertvoller Weise auszunutzen. In Frankreich und England machen sich freilich bedenkliche Zeichen eines sittlichen Niedergangs bemerkbar. Die Arbeiter verwenden vielfach ihre freie Zeit, um in die Music-Halls zu gehen und in unsinnigen Wetten an den öffentlichen Sportveranstaltungen teilzunehmen. Eine Go-easy-Politik ist eingerissen, die auf die Dauer demoralisieren wirken muß.

Es hat lange gedauert, bis man die Bedeutung der freien Zeit für den Arbeiter und den Unternehmer erkannt hat. Zu Anfang der technisch-industriellen Entwicklung herrschte in England ganz allgemein die Überzeugung: Hohe Getreidepreise, lange Arbeitszeit, niedrige Löhne - nur unter diesen Voraussetzungen kann man den Arbeiter bei der Arbeit halten. Freie Zeit und höhere Arbeitslöhne würde der Arbeiter, so glaubte man, nur zu Alkoholexzessen gebrauchen. Diese pessimistische Auffassung hatte eine gewisse Berechtigung. Die Masse der englischen Arbeiter stand am Ende des achtzehnten Jahrhunderst intellektuell und sittlich auf einer niederen Stufe. Dann aber kam die zweite Phase: fortschreitende Technik verlangte geistig und sittlich auf einer niederen Stufe. Dann aber kam die zweite Phase: fortschreitende Technik verlangte geistig und sittlich entwickelte Menschen. Es verbreitete sich auch in den Kreisen der Arbeitgeber die Einsicht, daß eine bessere Lebenshaltung der Arbeiter und eine Verkürzung der Arbeitszeit bessere Arbeitsprodukte hervorbringen würden. Der Staat nahm sich der Arbeiter an. Die Zehnstunden-Bill vom Jahre 1840 bedeutete einen wichtigen Schritt in der staatlichen Fürsorge für den Arbeiter. Ein neues Geschlecht von Arbeitern entstand, insbesondere in Deutschland, wo im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts der Staat den Gedanken der Sozialpolitik in großzügigster Weise zu verwirklichen suchte.

Freilich sind im Gefolge der Unfall- und Invaliditätsgesetze neue sittliche Probleme entstanden. Während der Arbeiter vor der Unfallgesetzgebung bei einem Unfall nur von dem Bestreben beseelt war, wieder gesund zu werden, - ein Bestreben, das die Heilung mit herbeiführen half - hat die Unfallgesetzgebung, die für den Fall dauerender Invalidität eine Rente in Aussicht stellt, oftmals die seelische Haltung zum Unfall verändert. Der Verletzte denkt jetzt vielfach sofort an die zu erwartende Rente.

Das schwächt seine Selbständigkeit und Energie und kann leicht zu einer gewissen Demoralisation führen. Professor QUINCKE hat in der Schlesischen Zeitung vom Jahr 1905 eine Reihe von Aufsätzen unter dem Titel "Der Einfluß der sozialen Gesetze auf den Charakter" veröffentlicht. Ich entnehme ihnen folgende Sätze:
    "Vor der Unfallgesetzgebung (und noch jetzt in den meisten Ländern) hatte der Verletzte nur das Interesse, gesund und arbeitsfähig zu werden. Vernünftigerweise hat er es auch jetzt noch; aber neben diesem Interesse besteht der Gedanke an die Rente für den Fall, daß er es eben nicht wird.

    Es ist psychologisch recht interessant für den Arzt zu beobachten, wie verschieden diese Aussicht auf die mögliche Rente bei verschiedenen Menschen wirkt; die meisten sind so verständig, volle Arbeitsfähigkeit als das Wünschens- und Erstrebenswerte anzusehen; bei anderen spielt die Rentenaussicht von vornherein eine Rolle und gewinnt umsomehr an Gewicht und Bedeutung, je länger sich die Wiederherstellung hinzieht; Familiensorge, Beispiele anderer Unfallverletzter, Unterhaltung mit Bekannten, mit der Frau, mit den Eltern, nähren den Gedanken an die Rente und ihre Wertschätzung. Die zögernde Gesundung veranlaßt den Verletzten zur Selbstbeobachtung - mit Recht, soweit es die wirklich bestehende Störung betrifft; aber auch alle möglichen unbedeutenden Empfindungen am verletzten Teil, alle möglichen Schwankungen des Befindens und Empfindens überhaupt werden beachtet; sie werden, selbst wenn sie nachweislich vorher schon in demselben Grad vorhanden gewesen sein müssen, mit dem Unfall in eine ursächliche Beziehung gebracht - vermutlich oder mit sicherer subjektiver Überzeugung, je nach der Individualität. Wir sehen alle möglichen Übergänge von den leichtesten Graden einer natürlichen Ängstlichkeit bis zur ausgesprochenen Hypochondrie. Freilich kann dieser Zustand sich bei jedem, auch nicht versicherten Verletzten entwickeln; der Gedanke an eine mögliche Rente begünstigt aber augenscheinlich sein Zustandekommen, auch bei Privatversicherten aus gebildeten Ständen. In unheilvoller Weise wird also durch dieses psychische Moment bei vielen Unfallverletzten die Wiedergewinnung der Arbeitsfähigkeit erschwert und hinausgeschoben, zuweilen auf Nimmerwiederkehr."
QUINCKE glaubt, das Unfallgesetz wirke umgekehrt wie die allgemeine Wehrpflicht. Diese wurde eingeführt, um den Einzelnen zur Verteidigung des Vaterlandes heranzuziehen. Im Laufe der Zeit hat sich aber die Wehrpflicht als ein Volkserziehungsmittel großen Stils erwiesen, weil sie den Einzelnen dazu erzieht, Unbequemlichkeiten gering zu àchten, die eigene Person hintanzusetzen und als Glied eines größeren Ganzen gemeinsame Ziele zu erstreben. Es hat vieler Jahrzehnte bedurft, bis sich die erzieherische Wirkung der Wehrpflicht auf den Charakter einer Nation geltend gemacht hat. Der demoralisierende Einfluß des Unfallgesetzes aber, meint QUINCKE, sie schon jetzt bemerkbar und wird sich im Laufe der Jahre immer deutlicher geltend machen.

Es bedarf wohl nicht einer besonderen Erwähnung, daß diese Ausführungen sich nicht gegen die Fortführung der Sozialpolitik wenden. Mir kommt es an dieser Stelle nur darauf an, zu zeigen, wie alle Institutionen, alle Verbesserungen der äußeren Lebensbedingungen ohne eine gleichzeitige Kräftigung des sittlichen Bewußtseins ihren Zweck verfehlen. Die Schädigungen der Technik machen Sozialpolitik notwendig, aber die gedeihliche Wirkung der sozialpolitischen Gesetze hängt letzten Endes wieder von der Versittlichung der Persönlichkeit ab.


Das Problem der Betriebssicherheit

Je mehr die Technik unser Dasein durchdringt, umso mehr Bedeutung gewinnt das Problem der Betriebssicherheit. Es ist gegen frühere Zeiten schwieriger geworden, weil die Technik in immer noch steigendem Maß Druck, Temperatur und Geschwindigkeit anwachsen läßt. Je mehr man mit elektrischer Kraft und mit Explosivstoffen arbeitet und je mehr der Personen- und Güterverkehr sich ausbreitet und beschleunigt wird, umso größer und vielfältiger werden die Möglichkeiten, an Leben und Eigentum Schaden zu nehmen. Gedankenlose Unwissenheit, wo Wissen und Überlegung nötig sind, rächt sich mehr als ehedem. Einige Zahlen mögen die volkswirtschaftliche Seite dieser Frage beleuchten. Seit dem Jahr 1884, wo das Unfallgesetz in Kraft getreten ist, bis zum Jahr 1899 mußten in Deutschland 464 606 Unfälle, die zu Erwerbsbeeinträchtigungen führten, entschädigt werden. In diesem Zeitraum von 1885 bis 1899 hatten die in den gewerblichen Berufsgenossenschaften vereinigten Unternehmer die Summe von 370 Millionen Mark für Betriebsunfälle zu zahlen. Angesichts dieser Zahlen ist es begreiflich, daß die Technik das Problem der Betriebssicherheit mit technischen Mitteln soweit als möglich zu lösen versucht. Die Techniker haben es als soziale Pflicht erkannt, bei der Konstruktion der Maschine den Unfallschutz als vollwertigen Konstruktionsfaktor mit zu berücksichtigen. Aber die Unfallverhütung als Konstruktionsfaktor gibt noch in keiner Weise eine ausreichende Sicherheit gegen den Unfall. Ohne den Menschen, seine Achtsamkeit und Aufmerksamkeit, sein Pflicht- und Verantwortlichkeitsgefühl, versagen alle technischen Schutzvorrichtungen und Vorschriften. Oft genug kommt es vor, daß die Arbeiter die Schutzvorrichtungen nur unvollkommen kennen, oder wenn sie sie kennen, sich ihrer nicht bedienen, weil die Benutzung der Vorrichtungen die Arbeit verlangsamt und die Leistung herabdrückt - was bei der Akkordarbeit den Lohn des Arbeiters verkürzt. Auch die vollkommensten technischen Konstruktionen des modernen Schiffsbaus haben sich, wie die Katastrophe der Titanic gezeigt hat, als nutzlos erwiesen, wenn Schnelligkeitswahnsinn und Rekordjagd das Verantwortlichkeitsgefühl ersticken. Je größer die Massen werden, die zur Beförderung gelangen, umso verhängnisvoller werden die Folgen sittlicher Unzulänglichkeit. Ferner Geiz und Geldgier dazu verführen, technische Verbesserungen, die Unfälle verhindern könnten, zu unterdrücken. So wird von einem Fall berichtet, wo eine Straßenbahngesellschaft in einer großen amerikanischen Stadt es abgelehnt hat, ein verbessertes Schutzgitter einzuführen, das es praktisch unmöglich machte, Personen tödlich zu verletzen, weil die jährlichen Kosten für dieses Schutzgitter 5000 Dollar mehr betragen hätten als die Ausgaben für die durchschnittlich zu zahlenden Schmerzensgelder. Dieselbe Gesellschaft weigerte sich auch, verbesserte Bremsen einzuführen, die Unfälle mit schwerem Ausgang vermindert hätten. Als Grund für diese Weigerung ergab sich, daß einer der Direktoren an der Herstellung der alten Bremsen geschäftlich stark interessiert war. (1) So hat das Problem der Betriebssicherheit, wie es in den tausendfachen Gestaltungen unserer Industrie und Verkehrstechnik erscheint, auch eine ethische Seite. Besonders wichtig ist diese Seite in unserem technisch so hoch entwickelten Eisenbahnwesen. Die Technik versucht im Eisenbahndienst durch die Einschaltung automatischer Sicherungen Unfällen vorzubeugen. Aber die Häufung automatischer Sicherheitsvorrichtungen hat eine merkwürdig entgegengesetzte Wirkung auf das Verantwortlichkeitsgefühl. Dieses wird einerseits gesteigert und gestärkt, andererseits aber können die automatischen Sicherungen die Achtsamkeit einlullen und das Verantwortlichkeitsgefühl des Führerpersonals schwächen. Auf diese Gefahr weist man immer wieder hin, wenn verlangt wird, man solle die automatischen Sicherungen noch weiter vermehren. Statt einer Abnahme befürchtet man dadurch eine Zunahme der Unglücksfälle. Übrigens haben auch kürzlich die Vertreter der Lokomotivführerschaft Preußens sich gegen die Einführung selbsttätig wirkender Bremsen ausgesprochen, da sie in deren Einführung eine Betriebsgefahr erblicken. Bei allen automatischen Sicherungen muß man stets damit rechnen, daß sie einmal versagen. Wenn ein Lokomotivführer daran gewöhnt ist, daß die Apparate ihre Schuldigkeit tun, so wird er im Beobachten der Streckensignale leichtsinnig werden, und wenn dann einem im gefährlichen Augenblick das unausbleibliche Versagen eintritt, so ist das Unheil gerade so gut geschehen, als ob niemals eine automatische Sicherung vorhanden gewesen wäre. (2) Wie man sich nun hier die Verantwortung dadurch erleichtert, daß man sich den automatischen Sicherheitsvorkehrungen anvertraut, so kann innerhalb der Beamtenorganisation, die in modernen Großbetrieben gegeben ist, der Einzelne seine Verantwortung sich dadurch erleichtern, daß er sich auf den anderen verläßt, nicht etwa deshalb, weil er zum anderen ein besonderes Vertrauen hat, sondern weil es ihm an Gemeingefühl mangelt gegenüber dem Ganzen des Betriebes.

Was man in Deutschland als sogenannte "preußische Schneidigkeit" bezeichnet, etwas, das ja auch seine guten Seiten hat, bedeutet innerhalb einer großen Beamtenorganisation, z. B. im Eisenbahnwesen, das Verhältnis einer gewissen halbfeindlichen Neutralität der einzelnen Glieder zueinander. Halbfeindliche Neutralität: so möchte ich die Gefühlsbeziehung umschreiben, in der die einzelnen Beamten einer Betriebsorganisation zueinander stehen können; und dieses Gefühl halbfeindlicher Neutralität, dieser Mangel an sozial-ethischem Bewußtsein führt leicht zu Katastrophen und rächt sich aufs schwerste. So konnte man früher oftmals bei Gerichtsverhandlungen zur Feststellung der Schuld von Eisenbahnunglücken immer wieder hören: "Ich habe es wohl gemerkt, daß irgendetwas nicht in Ordnung war, aber es war nicht meines Amtes, es dem Vorgesetzten zu melden: hätte ich es ihm gesagt, dann wäre ich doch nur" - um unseren militärischen Jargon zu gebrauchen -  angepfiffen  worden."

Angesichts dieser Verhältnisse hat der preußische Eisenbahnminister im August 1911 an die Beamten einen Erlaß gerichtet, worin er anschließend an die Vorschriften über Verhütung von Unregelmäßigkeiten der Signal- und Sicherheitseinrichtungen auf die Verantwortung und das Verantwortlichkeitsbewußtsein der Beamten hinweist. Er fordert bei Fehlern und Störungen in den Signal- und Sicherheitseinrichtungen die genaueste Beachtung der Vorschriften und eine sofortige Meldung an zuständiger Stelle. Die Beamten müßten sich bewußt sein, daß sie für die Folgen mitverantwortlich sind, wenn wegen der Unterlassung einer solchen Meldung ein gefahrbringender Zustand entsteht oder bestehen bleibt. Einige in letzter Zeit bekannt gewordenen Vorkommnisse ließen es zweifelhaft erscheinen, ob das Gefühl einer solchen Mitverantwortlichkeit überall genügend ausgebildet ist.

Der erwähnte Mangel an Gemeinsin, das Gefühl halbfeindlicher Neutralität, ist eine der bedenklichsten Seiten am Problem der Betriebssicherheit. Die Bedeutung dieser ethischen Imponderabilien konnte man besonders deutlich bei der Radboder Bergwerks-Katastrophe feststellen. Der Berichterstatter der "Frankfurter Zeitung" schrieb, als er persönlich an Ort und Stelle weilte, in einem Nachwort zur Radbod-Katastrophe folgende Worte:
    "Die traurigste Erfahrung, die der aufmerksame Beobachter in diesen Tagen im Ruhrgebiet machen mußte, war das schlechte Verhältnis der Bergwerksleute zu den Werksbesitzern. Schlimmer kann es wirklich kaum noch werden, und es ist auch nicht abzusehen, wie es besser werden soll. Fast jeder rein menschliche Zusammenhang ist zerstört, es fehlt an jeglichem Vertrauen zum guten Willen des einen und des anderen Teils. Der latente Kriegszustand ist in Permanenz erklärt . . . Daß aus einem solchen Verhältnis nichts Gutes werden kann, braucht nicht mehr gesagt zu werden. Es gähnt zwischen den Arbeitern und den Werksbesitzern eine Kluft, die von Jahr zu Jahr vertieft worden ist."
Das Problem der Betriebssicherheit ist daher auch ein ethisches Problem und verlangt das Vorhandensein eines sozial-ethischen Gemeingefühls innerhalb des Gesamtbetriebes. Hier wird es für den gebildeten Techniker zu sozialen Pflicht, das soziale Gemeingefühl zu fördern und zu kräftigen. Dazu ist notwendig, daß er sich in den Dienst der sozialen Vermittlung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer stellt.

Soziales Vermittleramt! Das ist die erste große Pflicht des akademisch gebildeten Technikers. Zu ihrer Erfüllung bedarf es allerdings eines ganz besonderen Taktes. Diesen Takt glaubten die Amerikaner bei der Frau zu finden und haben ihr deshalb dieses Vermittlungsamt zugewiesen. Aber wessen die Frau in Amerika fähig erscheint, dessen sollte auch der Mann in Europa fähig sein. An manchen großen Instituten ist in Amerika eine "soziale Agentin" tätig, eine hochgebildete, feinfühlige Frau, die taktvoll zwischen den Arbeitern und den Arbeitgebern die psychologische Vermittlung übernimmt, indem sie Verstimmungen zwischen beiden Kreisen aus der Welt zu schaffen sucht, bevor diese Verstimmungen sich zu feindseligen Spannungen und Gegensätzlichkeiten vergrößert haben.

Diese Art sozialer Vermittlung, diese Berücksichtigung ethischer Imponderabilien [Unwägbarkeiten - wp], die wir in Europa vielfach noch als ideologisch verspotten, begründen die Amerikaner in rein praktischer Weise mit der Behauptung:  it pays. 

Die Pflicht des Technikers, sozial im weiteren Sinne zu vermitteln, hat Kaiser WILHELM II. bei der Verleihung des Promotionsrechts an die preußischen Hochschulen in denkwürdigen Worten ausgesprochen:
    "Ich wollte die Technischen Hochschulen in den Vordergrund bringen, denn sie haben große Aufgaben zu lösen, nicht bloß technische,  sondern auch große soziale.  Die sind bisher nicht so gelöst, wie ich wollte. Sie können auf die sozialen Verhältnisse vielfach großen Einfluß ausüben, da Ihre vielseitigen Beziehungen zur Arbeit und zu Arbeitern und zur Industrie überhaupt eine Fülle von Anregung und Einwirkung ermöglichen. Sie sind deshalb in der kommenden Zeit auch zu großen Aufgaben berufen. Die bisherigen Richtungen haben ja leider in sozialer Hinsicht vollständig versagt. Ich rechne auf die Technischen Hochschulen! - - - Sie müssen aber Ihren Schülern die sozialen Pflichten gegen die Arbeiter klar machen und die großen allgemeinen Aufgaben nicht außer Acht lassen."
Es dürfte hier am Platz sein, einige Worte einzuschieben über das Bildungsproblem des Technikers. Wenn der Techniker, nach den Worten des Kaisers immer mehr berufen ist, an den großen allgemeinen Aufgaben teilzunehmen, so müssen natürlich auch an seine Ausbildung ganz andere Ansprüche gestellt werden, als früher. Es handelt sich hierbei weniger um durchgreifende Änderungen in seiner fachlichen Ausbildung - die freilich auch in der Richtung der neuen Beruf, denen der Techniker zustrebt, erweitert oder verengt werden muß - sondern es handelt sich um ein ethisches Bildungsproblem, das mir bisher auf den technischen Hochschulen und in den Erörterungen über die Veränderung des Hochschulbetriebes nicht genug gewürdigt zu sein scheint.

Jedes Fach, jeder Beruf schlägt nach innen, erfüllt die Bilder der Phantasie und beeinflußt die Art, wie wir Menschen und Dinge betrachten und erleben. Nun liegen in der Technik ohne Frage eine Reihe erzieherischer Kräfte. Die Technik erzieht zur Wahrhaftigkeit, zur Abneigung gegen alles Scheinwesen, sie fördert die Tugend der Sachlichkeit. Aber eine ausschließlich technische Fachbildung birgt, wie jede einseitige Fachbildung, gewisse ethische Gefahren in sich. Der Techniker, der innerhalb seiner Technik notwendig alles unter dem Gesichtspunkt des Nutzwertes betrachten muß, wird leicht dahin kommen, von allem zwar den Preis, von nichts aber den Wert mehr zu erkennen; er wird dazu verführt, auch sein Weltbild von der Technik aus zu gestalten. Er, der fortwährend mit Maschinen und Mechanismen umgeht, sieht schließlich auch im Universum nichts anderes als einen Mechanismus. In Diskussionen ist es mir oft aufgefallen, wie schwer es jungen Technikern fällt, bei der Beurteilung höherer geistiger Fragen sich von mechanistischen Vorstellungen frei zu machen; alles muß sich auf mechanische Kräfte zurückführen lassen - das ist ihr Glaubensartikel. Die ausschließliche Beschäftigung mit der Technik und den ihr zugeordneten naturwissenschaftlich-mathematischen Fächern führt - wie jede einseitige Beschäftigung - eine Abstumpfung des Gemütslebens für alle anderen Interessen und Werte herbei. Das hat selbst ein Mann wie DARWIN schmerzlich erleben müssen. In seiner Autobiographie schreibt er:
    "Bis in das Alter von dreißig Jahren und darüber hinaus machten mir die verschiedenen Arten der Dichtkunst viel Freude; Gemälde und mehr noch die Musik gaben mir einen großen ästhetischen Genuß. Aber jetzt kann ich schon seit vielen Jahren keinen Vers mehr lesen. Ich habe auch meinen Geschmack an Bildern verloren. Mein Geist scheint eine Art Maschine geworden zu sein, um aus großen Tatsachensammlungen allgemeine Gesetze zu destillieren. Daß ich den Geschmack und das Verständnis für diese Dinge verloren habe, ist eine Einbuuße an Glück und kann möglicherweise dem Intellekt schädlich sein, sehr wahrscheinlich aber der moralischen Seite unseres Wesens, sofern unser Gefühlsleben geschwächt und abgestumpft wird."
Für den Techniker aber bedeutet diese Abstumpfung seiner seelischen Empfänglichkeit auch eine Schädigung seiner beruflichen Tüchtigkeit, sofern durch diese Einbuße an innerer Feinfühligkeit die psychologische Technik leidet, ohne welche die Leitung einer größeren Anzahl von Menschen nun einmal nicht möglich ist. Und eine ausschließlich technisch-mathematische Bildung, die nur auf das rein Fachliche und Praktische gerichtet ist, wird, wenn sie in demselben Maß weitergetrieben wird, das erzeugen, was ich mit einem vielleicht nicht ganz zutreffenden Vergleich technischen Assessorismus nennen möchte.

Der Gefahr dieses technischen Assessorismus kann nur dadurch wirksam vorgebeugt werden, daß auf der Hochschule dem jungen Techniker die Möglichkeit und Zeit gegeben werden, außer seinen Fachvorlesungen auch solche zu hören, die, wie Geschichte, Philosophie und Ethik, eine veredelnde Wirkung auf seinen inneren Menschen und eine Erweiterung seines geistigen Horizontes herbeizuführen imstande sind.

Am Anfang des 19. Jahrhunderts, als die Deutschen noch das Volk der Denker und Dichter waren, schrieb der spätere Philosoph KARL CH. F. KRAUSE nach Abschluß seiner Studien an seinen Vater: "Wie die Welt sein sollte, weiß ich jetzt, und es lohnt sich daher nicht der Mühe, sie kennen zu lernen, wie sie ist." Ich glaube, ein moderner Student am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts würde nach Beendigung seines technischen Hochschulstudiums etwa so an seinen Vater schreiben: "Wie die Welt ist, weiß ich; es lohnt sich nicht der Mühe, zu ergründen, wie sie sein sollte."

Dieser ideallose Realismus ist ebenso verhängnisvoll für den Techniker wie der wirklichkeitsfremde Idealismus eines KRAUSE. Es gilt, die Bildung des Technikers so zu gestalten, daß beide Extreme vermieden, daß ganze menschen für die hohen Aufgaben der technischen Berufe erzogen werden. Dann, wenn der Techniker vom Adel seiner sozialen Pflichten durchdrungen ist, werden ihm auch seine sozialen Rechte nicht länger vorenthalten werden können. In diesem Sinne hat schon vor mehreren Jahrzehnten MAX WEBER das Erziehungsproblem des jungen Technikers als den Mittelpunkt der Technikerfrage erkannt. In seinen gesammelten Schriften, die unter dem Titel "Aus der Welt der Arbeit" 1907 erschienen sind, befindet sich ein Aufsatz mit der Überschrift: "Wo steht der deutsche Techniker - Ein Gespräch unter vier Augen". Es wird hier ein Gespräch geführt zwischen einem Anhänger der alten Anschauung, einem Grafen C., den den Techniker als eine bessere Art Handwerker betrachtet, und einem Vertreter der neuen Anschauung, Baron E., der seinen Sohn Techniker werden lassen will. Baron E., versucht, den Grafen C., der nicht begreifen kann, wie man seinen Sohn einem gesellschaftlich so minderwertigen Beruf zuführen kann, von seinen Vorurteilen abzubringen und faßt schließlich seine Überzeugung in die Worte zusammen:
    "Erzieht ganze Menschen, die an allgemeiner Bildung und Lebensform auf der Höhe des Völkerlebens und der zivilisierten Gesellschaft stehen, und macht aus diesen dann Techniker  - das ist das ganze Geheimnis und die alleinige Lösung des Problems."
Nach dieser Abschweifung kehre ich wieder zurück zur Frage des sozialen Vermittleramtes des Technikers. Es dürfte sich manchem die Frage aufdrängen: Ist es denn angesichts der sich feindlich gegenüberstehenden, unpersönlichen Mächte moderner Volkswirtschaft überhaupt möglich, daß der Techniker sozial vermittelnd wirken kann? Die schlimmste Form des sozialen Fatalismus der Gegenwart ist wohl der von vielen ungeprüft hingenommene Glaube, daß die einzelne, ethisch hochgestimmte Persönlichkeit an den Verhältnissen nichts ändern kann, daß die ethische Note wirkungslos verhallt in der Dissonanz sozialer Gegensätze. Das allerdings ist wahr: die Verhältnisse sind unpersönlicher, die Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer sind schwieriger und unübersichtlicher geworden, weil sich zwischen beide eine Reihe unpersönlicher Faktoren eingeschoben hat. Aber gerade deshalb muß die ethische Gegenwirkung gegen den aus diesen Verhältnissen entstehenden sozialen Fatalismus umso stärker werden; gerade deshalb darf man die Hände nicht in den Schoß legen und sagen: die Dinge sind mächtiger als die Menschen. In Amerika, wo der wirtschaftliche Daseinskampf am rücksichtslosesten tobt, ist der Gedanke eines persönlichen Vermittleramtes des Technikers dennoch eine lebendige Macht. Viele Beispiele, in denen durch persönliche Vermittlung Streiks und Konflikte aller Art vermieden worden sind (3) beweisen das zur Genüge.

Früher glaubte man wohl, daß die Technik als solche die Menschen von selbst innerlich näherbringen müßte. Denn die Technik hat die Menschen unabhängiger von der Natur, aber abhängiger voneinander gemacht. Indessen bedeutet das bloße Abhängigsein noch in keiner Weise die Schaffung eines sozial-ethischen Gemeingefühls. Am Ende des 18. Jahrhunderts schrieb ADAM SMITH die Worte: "Der Mensch ist die am schwersten transportierbare Art Gepäck". Und in der Mitte des 19. Jahrhunderts, als die Eisenbahnen Länder und Menschen zu verbinden begannen, hat BUCKLE den Satz geprägt: "Die Lokomotive hat mehr getan, die Menschen zu vereinen, als alle Philosphen, Dichter, Propheten vor ihr seit Beginn der Welt". Aber die Verkehrstechnik führt nicht ohne weiteres zu einem inneren Zusammenschluß der Menschen. Das Gefühl der sozialen Zusammengehörigkeit war bei den Reisenden der Postkutsche jedenfalls ein weit stärkeres als bei denen des Luxuszuges. Die moderne Verkehrstechnik hat nicht verhindern können, daß sich die Menschen heute schärfer in Klassen scheiden als früher.

Vor kurzem kam die Nachricht aus Frankreich, die Verwaltung der Westbahn habe beschlossen, Wagen für Nichtsprecher einzustellen, d. h. für solche Reisende, die auf der Fahrt von Mitreisenden nicht angesprochen werden wollen. Hierzu schrieb ein gelegentlicher Mitarbeiter der Frankfurter Zeitung (21. Juni 1912):
    "Sie teilen in der Notiz (in Nr. 157) mit, daß auf der französischen Westbahn Abteile für Schweiger eingerichtet werden und sagen, daß es eine wahre Erholung wäre für vile in ihrem Beruf abgehetzte, nervöse Menschen, einmal Ruhe zu haben vor dem vielfach öden Geschwätz so mancher lieber Reisegenossen. Darf ich als lieber Reisegenosse und als gelegentlich von der Arbeit abgehetzter Mensch auch etwas dazu sagen? In Frankreich, im redseligen Frankreich, mögen Abteile für Schweiger als Neuerung am Platz sein. In Deutschland brauchen wir sie nicht. Einfach, weil wir sie schon haben. In der zweiten Klasse nämlich, und besonders in der ersten. Da kann man stundenlang, ja tagelang in einem solchen Abteil fahren, ohne daß der Nachbar gegenüber auch nur ein einziges Mal den Mund auftäte. Ich bin gar nicht da für ihn. Und er ist gar nicht da für mich. Scheinbar nämlich. In Wahrheit drücken wir durch unser krampfhaft strenges Schweigen mehr aufeinander, als wenn wir gegenseitig dan und wann ein paar freundliche Worte sprächen."
Aber es kommt noch ein weiteres hinzu: die leichte Benutzbarkeit und Schnelligkeit der Verkehrsmittel, die die Menschen jederzeit zu den verschiedensten Völkern führen können, verhindert ein verständnisvolles Einleben in die Wesenart der andern. Indische Zeitungen haben oft darauf hingewiesen, wieviel weniger eng heute die soziale Berührung zwischen der herrschenden und der beherrschten Klasse ist als sie im 18. Jahrhundert war, wo sich der Engländer unter den Eingeborenen Freunde machte und Indien mehr oder weniger seine Heimat war.

Daß auch die moderne Verkehrstechnik die europäischen Kulturvölker im inneren Verständnis ihrer Geistesleistungen nicht nähergebracht hat, kann man fast täglich spüren. FREDERIC HARRISON schreibt einmal zu diesem Punkt:
    "Wir  wissen  natürlich im Zeitalter der Telegraphen, der Expreßzüge und des myriadenzungigen Journalismus mehr von dem, was in den europäischen Ländern getan und geredet wird als unsere Vorfahren wußten.  Verstehen  wir aber auch einander ebensogut wie früher? Empfinden wir die gleiche Freude an der Kunst, der Literatur, den geistigen Bewegungen der fremden Nation, wie es ganz allgemein der Fall war im Zeitalter eines SHAKESPEARE oder eines VOLTAIRE, im Zeitalter eines HUME oder eines GOETHE? Es ist kein Paradoxon, wenn wir behaupten, daß dem nicht so ist. Wir hören über unsere Nachbarn mehr als je. Aber wir haben weniger sympathisches Verständnis für fremdes Gedankenleben, wir besitzen weit weniger vom kosmopolitischen Genius als die fruchtbarsten Epochen des menschlichen Geistes besaßen."
Schließlich verweise ich noch auf ein irrationales Moment unserer Verkehrstechnik, das wir auch bei der Besprechung der modernen Waffentechnik wiederfinden werden. Unser ganze Verkehrstechnik hat die strengste Einordnung des Einzelnen in die gegebene Organisation zur Voraussetzung. Jedes ihrer menschlichen Organe muß mit der Pünktlichkeit und Sicherheit eines Maschinenteilchens arbeiten. Diese auf Ein- und Unterordnung aufgebaute Organisation erfüllt ihren Zweck, wenn alles ordnungsgemäß verläuft. Tritt aber ein außerordentliches Ereignis ein, eine unvorhergesehene Störung, dann versagt das System. Seine Organe sind nicht für selbständiges Handeln vorbereitet; sie können es auch nicht sein, denn die ganze Erziehung, die den Charakter bestimmt, geht allzusehr auf Unterordnung aus.
LITERATUR - Julius Goldstein, Die Technik, Frankfurt/Main 1912
    Anmerkungen
    1) Ethics, von DEWEY und TUFTS, Seite 443 und 444.
    2) Vgl. "Eisenbahnsicherungen" von HANS HERWIG, Morgenblatt der Frankfurter Zeitung, vom 9. Januar 1912.
    3) Vgl. "The Personal Factor in the Labour-Problem" by HAYES ROBBINS ("The Atlantic Monthly", June 1907).