ra-2H. CorneliusC. PrantlT. G. MasarykA. Storchvon Humboldt    
 
FRANZ MÜLLER-LYER
Die Bestimmung des Menschen

"Der Mensch ist nie sozialer, als wenn er seinen Beruf mit voller Hingabe erfüllt. Umso näher liegt die Gefahr, daß uns der Beruf ganz und gar in Anspruch nimmt, daß er uns einseitig macht und verdirbt, daß er, falsch verstanden, der Feind des Vollmenschentums wird. Hier ist die Grenze oft schwer zu ziehen. Doch ist sie sicher überschritten, wenn wir nicht mehr aus Freude an unserer Arbeit, sondern bloß des Erwerbs wegen, d. h. aus Habgier arbeiten; zweitens wenn uns der Beruf soweit verschlungen hat, daß wir in unseren Erholungen für die edleren Genüsse unfähig geworden sind. Ein drittes Zeichen, daß uns der Beruf verdorben hat, ist, daß wir uns nicht mehr als ein zielbewußtes Glied eines machtvollen Ganzen fühlen und wissen, sondern uns ohne Bewußtsein des Zusammenhangs und ohne Überblick wie ein bloßes Rädchen in einer ungeheuren Maschinerie blind und eifrig um unsere eigene Achse drehen."

"Die Erde dampft erquickenden Geruch
 und ladet mich auf ihre Flächen ein,
 nach Lebensfreud und großer Tat."
- Goethe


Die Frage nach der Bestimmung, nach dem Daseinszweck des Menschen ist nicht eine Angelegenheit hohler und müßiger Gelehrsamkeit, ist keine sogenannte Doktorfrage, sondern eines der wichtigsten Probleme der Philosophie; denn die Antwort auf diese Frage ist gleichsam die Achse, um die sich unser ganzes geistiges Dasein dreht. Solange wir diese Frage im Dunkeln lassen, wissen wir auch nicht, worin der Wert des Lebens besteht, es fehlt uns jeder  Wertmaßstab,  jedes Ideal, und somit schwebt auch alle Kritik über das menschliche Dasein, über unser ethisches Sollen und über das geschichtliche Geschehen in der Luft. Wir können niemals aus dem vollen klaren Bewußtsein heraus sagen: dies ist gut, dies ist schlecht; wir wissen nicht, was wir unter Glück, unter Kultur, unter Fortschritt verstehen wollen, alle unsere  Werturteile  bleiben verschwommen und gefühlsmäßig; im Dämmer des Trieblebens befangen, müssen wir von Fall zu Fall die Entscheidung treffen. Ist der Zweck des Lebens die Arbeit, oder ist es der sinnliche Genuß? Ist es der Gelderwerb, wie die Amerikanisten sagen, oder ist es die Würde, die Pflicht, wie die Stoiker verkündigten? Ist Ruhm und Reichtum das beste Ziel des Lebens, oder (nach der Ansicht SPINOZAs) die philosophische Einsicht, oder (nach der Behauptung der Kulturzoologen) die bloße Arterhaltung? oder die höchstmögliche Leistungsfähigkeit? Ist Moral nur eine Schwäche und der kraftvolle Egoist der Idealmensch? In solchen solchen peinlichen Zweifeln bleiben wir hängen, wenn wir die Frage nach der Bestimmung des Menschen nicht beantworten können, und einigen uns über alles andere leicht, wenn wir uns über diesen zentralen Wert verständigt haben. Die Erkenntnis der Bestimmung und des "Sinns" unseres Daseins ist daher ein unabweisliches Bedürfnis der zwecksetzenden und nach Zielen handelnden Menschennatur.

Die theologische Religion hatte auf die Frage: "Wozu bist du auf Erden?" eine vollkommen klare und sinnvolle Antwort gegeben. Wenn wir aber einem modernen Menschen die Frage vorlegen, hören wir fast immer nur ein verlegenes und verwirrtes Stammeln. Denn die theologischen Voraussetzungen, auf denen jene Antwort ruhte, sind unterdessen gefallen; in unserer Zeit kann die Bestimmung des Menschen nur aus dem Wissen abgeleitet, sie kann nur auf dem Boden des Positivismus gegeben werden (1) und das soll jetzt versucht werden.


In der Natur finden wir keine Endursachen; kein Handeln nach Zwecken läßt sich erkennen. Somit hat uns auf die Ntur keine Bestimmung vorgezeichnet. Kein Zweck, kein Ziel, ist uns von ihr vorgeschrieben worden (2). Wie eine gütige Mutter hat sie es ihren Kindern überlassen, sich selbst Beruf und Bestimmung zu geben; und zwar die Bestimmung, die sie sich wählen möchten, nicht etwa nach dem willkürlichen Einfall eines philosophischen Despoten, sondern mittels des eigenen Verstandes, mit dem sie alle ausgestattet hat, und aus ihrem eigenen tiefsten Wesen heraus (3).

Wenn wir unser eigenes Wesen erkennen wollen, müssen wir uns beobachten. Und zwar gibt es zwei Standpunkte, von denen aus der Mensch den Menschen beobachten kann: es gibt eine  subjektive  und eine  objektive  Betrachtung. Subjektiv beobachte ich mich, wenn ich mich bei geschlossenen Sinnestüren in meinen inneren Gemütszustand vertiefe, wenn ich mein eigenes Bewußtsein erforsche, wenn ich mich selbst ohne eine Vermittlung der Sinnesorgane wahrnehme; objektiv beobachte ich mich oder andere, wenn ich mit weit offenen Augen mich oder andere so anschaue, wie ich ein physikalisches Phänomen, eine Statue, ein Gestirn oder ein Insekt anschaue, das mein Interesse erweckt hat. - Die Verwechslung dieser beiden Beobachtungs- und Beurteilungsweisen hat in der Philosophie und besonders in der Glückstheorie unsägliches Unheil angerichtet, und setzt bis auf den heutigen Tag noch immer die Köpfe in namenlose Verwirrung; obgleich die Sache, sowie man sich über die psychologischen Grundbegriffe klar ist, eigentlich einfach und leicht zu verstehen ist.

Wenn wir nun, und zwar zuerst vom  subjektiven Standpunkt aus,  unser eigenes inneres Wesen vorurteilslos beobachten und zu ergründen suchen, so erkennen wir, daß unser ganzes Streben auf Glückseligkeit gerichtet ist. Unser Wille bäumt sich gegen alles, was ihm Unlust bringt, und begierig streckt er sich in nach allem, was Lust bringt. Das haben wir im vorigen Kapitel gesehen. Das Glücksstreben ist unser Ich, unser ganzes Sein, alle Zeiten und alle Völker stimmen darin überein und alle Religionen und alle Philosophien sind nur ersonnen worden, um die Menschen in diesem Streben zu fördern und ihnen beizustehen. Eine Philosophie, die die Bestimmung unseres Lebens nicht in das Glücksstreben legte, die dem Willen zum Glück entgegentreten wollte, würde gar nichts ändern, nichts ausrichten und nichts wirken; sie wäre einfach eine lebensunfähige Mißgeburt.

Das kann kein Zweifel sein. Und trotzdem wäre es vollständig verkehrt, in dem subjektiven Glücksempfinden das einzige Kriterium für die Bestimmung des Menschen suchen zu wollen. - Denn ein bloß subjektives Glück kann sich auch der Opiumesser oder Haschischrauscher verschaffen, und eine Morphiumeinspritzung bringt viele in den höchsten subjektiven Glückszustand. Die meisten Idioten sind wohl frohgemuter, als LENAU oder LEOPARDI es waren, und von manchem, der in Leichtsinn und Sinnengenuß ein lustiges Leben führte, möchten wir wohl kaum gern behaupten, daß er der Bestimmung des Menschen besonders gerecht geworden sei; und ebensowenig von dem Irrsinnigen, der in seiner Tobzelle sich für den König des Erdballs hält und in Lustgefühlen schwelgt; ja gerade bei Geistesgestörten sehen wir es, daß die schwersten Erkrankungen subjektiv oft gar keine Beschwerden machen und ohne alles Krankheitsgefühl verlaufen.

Also es ist klar: das  subjektive  Empfinden allein kann nicht maßgebend sein, es muß vielmehr ergänzt werden durch das Urteil vom  objektiven  Standpunkt aus.

Wenn nun vom subjektiven Standpunkt aus der Mensch zur Glückseligkeit bestimmt ist, welche Bestimmung läßt uns dann die  objektive  Beurteilung erkennen?

Die Antworten, die die besten Denker auf die Frage gegeben haben, zeichnen sich durch eine ganz merkwürdige Einstimmigkeit aus. Philosophen der verschiedensten Schulen, die sich auf anderen Gebieten grimmig befehden, hier sind sie einig:  "Der wahre Zweck des Menschen - nicht der, welchen die wechselnde Neigung, sondern welchen die ewig unveränderliche Natur ihm vorschreibt - ist die  höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen",  so lautet die berühmte Formulierung, die WILHELM von HUMBOLDT in den "Grenzen der Wirksamkeit des Staates" gegeben hat. Und schon im Altertum hatte PINDAR den Ausspruch getan: "genoi oios essi": "werde der, der du bist", und ARISTOTELES hatte gefunden, das "vollkommene Leben bestehe in der Betätigung aller Tugenden oder Tüchtigkeiten, am meisten der höchsten". Dasselbe meinte KANT, wenn er sagte: "Alle Naturanlagen eines Geschöpfes sind bestimmt, sich einmal vollständig und zweckmäßig auszuwickeln." Und nach PAULSEN ist das allgemeine Ziel, worauf der Wille jedes Lebewesens naturgemäß gerichtet ist, "die normale Ausübung der Lebensfunktionen, worauf seine Natur angelegt ist"; noch treffender und kürzer versteht GROTENFELT unter "Glück": "Alles das zu werden, wozu man den Willen und die Fähigkeit hat." (4) Dieselbe Wahrheit verkünden uns SCHILLER, GOETHE, RATZENHOFER, SHAKESPEARE, IBSEN, FEUERBACH, UNOLD, GRIESINGER, SCHULTZE-DELITZSCH, HETTNER und so viele andere. In den verschiedensten Worten sagen alle diese Dichter und Denker immer wieder dasselbe:  Unsere Bestimmung ist die volle und ungestörte Betätigung und Entfaltung unserer Menschennatur, die Bildung all unserer Kräfte und Fähigkeiten zu einem harmonischen Ganzen. 

Wir haben also auf unsere Frage  zwei  Antworten erhalten, die beide unzweifelhaft richtig sind. Nach dem subjektiven Urteil ist das Ziel des Menschen die  Glückseligkeit,  nach dem objektiven Urteil das vollkommene Leben, d. h. die Tüchtigkeit, Tauglichkeit, Tugend, Leistungsfähigkeit oder wie wir sagen wollen die  "volle Entfaltung der Persönlichkeit". - Wie verhalten sich diese beiden Urteile zueinander?

Nach der gewöhnlichen Auffassung sind sie einander entgegengesetzt, sie schließen sich aus; diejenigen Völker, sagt man, die dem Eudämonismus frönen, sie müssen zugrunde gehen, sobald sie mit anderen Völkern in den Kampf treten, die das Prinzip der größten Kraftentfaltung und Leistungsfähigkeit auf ihre Fahne geschrieben haben.

Auch hier verwechselt man wieder den Eudämonismus mit dem Hedonismus und Egoismus, und außerdem beruth die Behauptung, daß sich die beiden Prinzipien ausschließen, auf einem psychologischen, oder vielmehr psychophysischen Irrtum. Es liegt nämlich zwischen dem Glücksgefühl und dem vollen Ausleben ein  psychophysischer Parallelgang  vor: Schon die Stoiker wußten es, daß das Glück der Begleiter der "Tugend" ist, und in ihrer unnatürlichen Gespreiztheit nahmen sie sogar Ärgernis daran, daß die Tugend so elendes Gepäck mit sich führt (5). Wir empfinden eben Lust. wenn wir unserer Menschennatur gemäß handeln können, und alles was uns fördert, unser Wesen zur Entfaltung und Entwicklung bringt, bereitet uns Freude. Wenn wir in uns hineinsehen, kommt uns das tiefste Streben unseres Ichs als Glücksstreben zum Bewußtsein, als ein Verlangen nach Freude, Lust und Wohlsein; und wenn wir Menschen objektiv beobachten, erkennen wir  dasselbe Verlangen  als ein Streben nach voller Entfaltung aller Kräfte und Fähigkeiten (6).

Es handelt sich also um zwei verschiedene Betrachtungsweisen  ein und derselben Sache,  die im einen Fall von der  innern,  im andern von der  äußern  Seite her beobachtet wird.

Welche von beiden Betrachtungsweisen ist nun die richtige? Jede ist richtig, und jede für sich allein genommen ist einseitig und unvollständig; erst wenn wir beide Standpunkte vereinigen, erhalten wir ein richtiges Urteil. Nämlich: die objektive Beobachtung gibt im allgemeinen ein viel schärferes, zu wissenschaftlichen Erörterungen brauchbares Bild. Die Sprache des Gefühls ist oft verschwommen und unklar; und was es mir von mir selbst erzählt, ist oft weniger richtig als das Urteil, das andere, objektive Beobachter von mir sich bilden.

Und doch ist wiederum auch die objektive Beobachtung einseitig, unzuverlässig und kann unter keinen Umständen die subjektive Beurteilung ersetzen: denn was nützt es einem, wenn er von Schönheit und Kraft strotzt, wenn er nach außen in Tugend und Leistungsfähigkeit erstrahlt, während er bei aller äußeren Glanzentfaltung in seinem Innern unfroh, elend, unglücklich und lebensüberdrüssig?

Was der äußere Beobachter nicht sieht, das sieht oft das innere Auge, und umgekehrt; mag es sich nun um Fehler oder um Vorzüge, um das Wohl oder das Wehe des Ichs handeln. Und daraus erhellt sich, daß sich die beiden Betrachtungsweisen  ergänzen:  Der Mensch erfüllt erst dann seine Bestimmung, wenn das äußere  und  das innere Urteil übereinstimmend Anerkennung aussprechen.

Diese Verbindung von subjektiver Glückseligkeit und objektiver Vollkommenheit des Lebens  (für die uns jetzt eine Bezeichnung fehlt) wollen wir  Euphorie  nennen (7). Dann können wir unsere Betrachtungen kurz in den Satz zusammenfassen:  Die Bestimmung des Menschen ist die Euphorie. 


Was nun  die wesentlichen Eigenschaften der Euphorie  betrifft, so werden wir darüber und über die Theorie des Glücks in einem anderen Buch ("Das soziale Element") eingehender zu sprechen haben. Hier seien bloß einige der wichtigsten Punkte kurz berührt.

1.ist Euphorie kein  Zustand,  sondern ein  Vorgang.  So wie das Leben fortwährenden Veränderung, in einem ununterbrochenen Aufbauen und Sichverzehren beruth, so liegt auch die Euphorie nicht in der Ruhe, sondern in der Tätigkeit (8). Wenn wir das Leben mit einer Reise vergleichen, so ist dem Euphoriker das Beglückende nicht nur das Ziel, sondern vor allem der Weg. Während törichte Wanderer nur dem gesteckten Ziel zuhasten, ohne links und rechts zu blicken, und so ihr Leben in öder  Zielstreberei  vergeuden, erfreut den klugen Wanderer jeder Augenblick des Weges; er vergißt nicht über der Zukunft die unbegrenzten Reize der Gegenwart, er ist  wegliebend.  Denn das Leben darf nicht statisch, sondern es muß dynamisch aufgefaßt werden. Nicht das Sein, sondern das Werden ist der Grundbegriff.

b>2. Wenn die Euphorie ein Vorgang ist, so wird das Streben danach notwendig zu einem Streben nach  Vollkommenheit.  Der Weg des Euphorikers ist ein Stufengang, der zu einer immer mächtigeren Entwicklung der Individualität führt, zur vollen Ausbildung der Persönlichkeit, zur höchsten Kraftentfaltung; - aber nicht, um schließlich mit dem Tod des Einzelmenschen wie eine schillernde Seifenblase zu zerplatzen und zu zerstieben, sondern damit die Kraft in die Gesellschaft, von der sie genommen ist, gesteigert und erhöht zuströmt. 3.Euphorie ist als Wegliebe; ist Streben nach Vollkommenheit, ist ferner das Verlangen nach  Vollmenschentum,  d. h. das Streben, ein ganzer Mensch zu sein. Denn jede Begabung unseres Wesens drängt nach Betätigung; und wenn ihr diese versagt ist, liegt sie das ganze Leben hindurch wie ein abgestorbenes Organ, wie eine tote Last in unserer Seele. Nicht darum handelt es sich, die Triebe unserer Menschennatur asketenmäßig abzutöten, oder in bitterer Entsagung verkümmern zu lassen, sondern sie alle zum Guten zu lenken und sie zu einem harmonischen Ganzen zu bilden. - Das Beispiel so vieler Heiligen zeigt uns, daß diejenigen, die ihre natürlichen Triebe zu unterdrücken suchen, diese nur zur Raserei anstacheln, daß sie von unzüchtigen Halluzinationen geplagt werden und Verirrungen verfallen, vor denen sie eine naturgemäße Befriedigung bewahrt hätte.

Eine verkehrt eingerichtete, d. h. eine auf dem Boden des Klassensystems aufgebaute  Arbeitsteilung  hat es mit sich gebracht, daß die einen ausschließlich geistigen, die andern ausschließlich körperlichen Beschäftigungen obliegen. Die künstliche Einseitigkeit verkümmert dort den Geist und hier den Körper. Und die Verstumpfung der Seele ist vielleicht noch nicht einmal schlimmer als die Schwächung der Bewegungsorgane. Denn die kraftvolle Gespanntheit der Muskeln ist geradezu eine Grundbedingung aller Lebensfreude und wer auf erschlafften Gliedern durch die Welt schleichen muß, der darf kaum hoffen, je der vollen Euphorie teilhaftig zu werden. - Ja, die richtige Leitung der sogenannten "niederen" Triebe, die Kultur des Körpers ist ebenso notwendig wie die Kultur des Geistes. Es ist kein Zweifel, daß die Welteuphorie durch mangelhafte Bewegung, durch unmäßiges Essen und Trinken, spärliches Baden und dergleichen mehr Schaden leidet, als sie durch alle geistigen Vergnügungen zusammen genommen jemals gehoben werden kann. Die melancholische Verdrossenheit Gebildeter ist meist nur der Ausdruck ihrer Muskelatonie.

Auf der anderen Seite ist die Arbeitsteilung nicht nur wirtschaftlich, sondern auch ethisch und in Beziehung auf die Euphorie ungemein wertvoll. Denn indem sie uns einen  Beruf  anweist, heißt sie uns für andere arbeiten, sie hat unsere Tätigkeit  sozialisiert,  sie hat uns als ein für das Ganze wertvolles Mitglied eingefügt in die Schar unserer Schicksalsgenossen. Und insofern befriedigt die Berufstätigkeit nicht nur unsere egoistischen Triebe und unseren Tätigkeitsdrang, sondern auch unser soziales Bedürfnis. Der Mensch ist nie sozialer, als wenn er seinen Beruf mit voller Hingabe erfüllt. Umso näher liegt die Gefahr, daß uns der Beruf ganz und gar in Anspruch nimmt, daß er uns einseitig macht und verdirbt, daß er, falsch verstanden, der Feind des Vollmenschentums wird. Hier ist die Grenze oft schwer zu ziehen. Doch ist sie sicher überschritten, wenn wir nicht mehr aus Freude an unserer Arbeit, sondern bloß des Erwerbs wegen, d. h. aus Habgier arbeiten; zweitens wenn uns der Beruf soweit verschlungen hat, daß wir in unseren Erholungen für die edleren Genüsse unfähig geworden sind, wenn uns die Wissenschaften und Künste, die guten Genien der Menschheit, fremd geworden sind. Ein drittes Zeichen, daß uns der Beruf verdorben hat, ist, daß wir uns nicht mehr als ein zielbewußtes Glied eines machtvollen Ganzen fühlen und wissen, sondern uns ohne Bewußtsein des Zusammenhangs und ohne Überblick wie ein bloßes Rädchen in einer ungeheuren Maschinerie blind und eifrig um unsere eigene Achse drehen. - Eines der größten Übel unserer Zeit ist es, daß die meisten durch das Übermaß der Berufsarbeit geistig, gemütlich und körperlich verkrüppeln. Wenn aber jene Grenzen eingehalten werden, dann wird die Arbeitsteilung, die in ihrer jetzigen Form zu einem Fluch der Kulturmenschheit geworden ist, erst ihren unbeschreiblichen Segen richtig entfalten können.

4. Euphorismus ist schließlich das Streben nach Einheit, nach einer  Einheitlichkeit des Lebens und der Person. 

Unser Leben muß, wie ein Kunstwerk, aus einem Guß sein, es darf nicht in einzelne tierische Instinktakte auseinanderfallen. Es muß von einer großen Idee getragen werden, die jeden Daseinsaugenblick heiligt; denn auch die kleinste Handlung wird lustvoll und erhaben, wenn sie der Ausdruck eines hohen Zwecks ist, dem sich in unserem Leben alles unterordnet. Und dieses einheitliche Dasein des Einzelmenschen muß sich wieder einordnen in eine noch höhere Einheit, in die wohlorganisierte Gesellschaft, in den Wohlfahrtsstaat, der für uns der letzte erkennbare und erfaßliche Ausdruck des Unerfaßlichen ist, des Absoluten, und allem, was wir tun und treiben, die religiöse Weihe verleiht.

Wenn diese Bedingungen erfüllt sind, dann verlassen wir die "düsteren Wege des unbefriedigten Geistes"; dann sind wir mit uns selbst und der Welt in Ordnung; dann erfüllt uns die Empfindung des Wohlseins und der vollkommenen Sicherheit, und wir kosten das Hochgefühl des Daseins: jene tiefe, ernste und kraftvolle Freude am Leben, die die unzertrennliche Begleiterin der wahren Euphorie ist.


Aber, so wird man vielleicht einwenden, wenn die Euphorie die Bestimmung des Menschen ist, warum wird sie so selten angetroffen; oder, da dies zu viel gesagt ist, warum wird sie so häufig nicht angetroffen? (9) Darauf läßt sich antworten: weil (wie früher gesagt wurde) das tierische Element auf unserer Kulturstufe noch immer überwiegt, weil die  Anoia [Unverstand, Stumpfheit - wp] der Natur noch immer mächtiger ist als der zielsetzende bewußte Menschengeist, weil wir im Sinn der obigen Bestimmung noch sehr unvollständige Menschen sind. Damit die Euphorie der allgemeine und normale Zustand wird, muß uns eine künstliche Zuchtwahl ein kraftvolles, frohgemutes Menschenmaterial stellen, künstlerische Erziehung muß dieses Material zum höchsten Menschentum hinaufbilden, die wohlorganisierte Gesellschaft muß alle umschließen; lauter Bedingungen, die zwar erfüllbar, aber nicht erfüllt sind. Trotzdem aber ist Euphorie als die Bestimmung des Menschen auch jetzt schon zu betrachten, weil sie das Ziel ist, zu dem ausnahmslos alles, was  Mensch  heißt, bewußt oder (meist) unbewußt hinstrebt. Nicht aber aus dem  Erreichten  dürfen wir unser Ziel bestimmen, sondern aus der Richtung unseres Wollens; denn nicht in die Vergangenheit hinein leben wir, sondern in die Zukunft. - Hier besteht nun ein merkwürdiger Kreislauf zwischen dem euphorischen WIllen und dem vollkommenen Staat. Mit je klarerem Bewußtsein der Mensch nach Euphorie strebt (je mehr er Mensch wird), desto wirksamer hilft er mit an der Errichtung des vollkommenen Staates, weil die Individuen in ihrem Vervollkommnungsstreben notwendig auch die Gesellschaft mit sich reißen. Und je mehr wir uns dem vollkommenen Staat nähern, umso mächtiger und verbreiteter wird die Euphorie werden. Und in dieser Wechselwirkung zwischen Individuen und Gesellschaft erhebt sich aus dem Schoß des Unbewußten fast unmerkbar langsam der vollkommene Staat, der nichts anderes sein wird als die Verkörperung der Welteuphorie.
LITERATUR - Franz Müller-Lyer, Der Sinn des Lebens, München 1921
    Anmerkungen
    1) Eine eingehende Begründung kann erst in einem der folgenden Bücher: "Das soziale Element, eine Psychologie des menschlichen Individuums", gegeben werden.
    2) In großer Naivität sagt sogar noch ARISTOTELES: "Wenn nämlich die Natur nichts ohne Zweck, nichts vergeblich schafft, so folgt notwendig, daß sie alles das (nämlich die Pflanzen und Tiere) der Menschen wegen geschaffen hat." (Politik I, 8) - In der Natur ist alles Ursache und Wirkung; im bewußten Menschengeist Mittel und Zweck.
    3) So sagte auch SCHILLER: "Wisset, ein erhabener Sinn  legt  da Große in das Leben und er  sucht es nicht  darin." (Huldigung der Künste, Zeile 126-126)
    4) DESHUMBERT gibt in seinem Buch: "La morale de la nature" folgende Erklärung: Das Gute ist alles, was zur Steigerung der Lebensintensität, zur vollen physischen, Intellektuellen, ästhetischen und moralischen Entwicklung beiträgt, zur Entwicklung all unserer Energien, zum harmonischen Aufblühen unseres und der anderen ganzen Wesens.
    5) SENECA, De vita beata VIII und IX.
    6) Dieser Parallelgang wird oft geleugnet, indem man sich auf scheinbare Ausnahmen beruft. So bringen manche Gifte große Lust hervor (z. B. der Alkohol, das Opiumrauchen), und doch sind sie dem Organismus schädlich. Man vergißt, daß diese Schädigung später mit einer (vorauszusehenden) Unlust verbunden ist, die die vorhergehende Lust weit übersteigt: Die Lustbilanz ist also negativ. - KÜLPE hat darauf aufmerksam gemacht, daß die Schmerzen, die durch ein Leiden hervorgebracht werden, oft in keiner richtigen Proportion stehen zur Größe der Schädigung des Organismus. So bewirkt ein kranker Zahn viel heftigere Schmerzen als die Lungenschwindsucht. Aber diese viel heftigere Schmerzen als die Lungenschwindsucht. Aber diese ist mit der Vorstellung langen Siechtums und des Todes verknüpft, und diese Vorstellung ist so unlustvoll, das wir den Zahnschmerz der Schwindsucht "vorziehen".
    7) Selbstverständlich ist das Wort nicht im Sinn der Medizin genommen, wo es nur das subjektive Wohlbefinden bedeutet.
    8) Vgl. "Phasen der Kultur", zweite Auflage, Seite 363-365.
    9) Nach unserer Meinung überwiegt übrigens, nicht nur beim Menschen, sondern bei allen lebenden Wesen, im allgemeinen die Freude den Schmerz in ganz unermeßlicher Weise. (Näheres in einem folgenden Buch: "Das soziale Element usw.") - Vgl. auch "Soziologie der Leiden", Seite 99f.