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MATTHIAS MARQUARD
Die pessimistische
Lebensauffassung des Altertums


"Die Mahnung der praktischen Lebensphilosophie der Alten, das Leben zu genießen und sich des Tages zu freuen, hat fast immer einen bitteren und pessimistischen Beigeschmack; unter den Rosen der Freude und des Lebensgenusses lauert die Schlange des Schmerzes und der Verzweiflung und im Hintergrund wartet der Allbesieger Tod. Morgen können wir's nicht mehr, darum laßt uns heute leben!"


Einleitung

In der Antrittsrede, mit der FRIEDRICH NIETZSCHE als 24-jähriger im Jahr 1869 seine Baseler Professur übernahm, feiert er die klassische Philologie als "Götterbotin", die tröstend erzählt von den lichten Göttergestaltlen eines fernen glücklichen Zauberlandes." Tiefinnerlich fühlt er in sich die "sehnsüchtige Regung, die unser Sinnen und Genießen mit der Macht des Instinkts als holdeste Wagenlenkerin den Griechen zuführt", und schaut bewundernd zu den Alten auf als den vollendeten und ewigen Musterbildner der Ruhe, Klarheit und Harmonie. Es ist die GOETHEsche und durch GOETHE zum ästhetischen Gemeinbesitz gewordene Auffassung des Hellenentums und der Antike, der NIETZSCHE hier noch anhängt, - dieselbe Auffassung, die er später, als ihm der Sinn für die Schattenseiten, "das innerlich Zerrissene und Unbefriedigte, das Maß- und Zügellose" des griechischen Lebens geschärft worden war, leidenschaftlich verwarf und als "ebenso unhistorisch und falsch wie weich und unmännlich" bekämpfte.

Das Urteil NIETZSCHEs, der bekanntlich über die wichtigsten Fragen der Philosophie und Geschichte (1) seine Ansicht mehrmals gewechselt hat, würde jedoch kaum ausreichen, herrschende Anschauungen zu alterieren oder die Entscheidung des Forschenden im einen oder anderen Sinn zu beeinflussen. Aber es sind noch gewichtigere und kompetentere Stimmen laut geworden, die gegen die hergebrachte Auffassung des Hellenentums als der strahlend heiteren Jugend des Menschengeschlechts entschieden Einspruch erheben und auf die tieferen und düsteren Schatten, die das lichte Gemälde überall durchziehen, scharf und oft hinweisen. Schon zu Lebzeiten GOETHEs, den der Kopf einer Juno Ludovisi nicht nur zum höchsten Enthusiasmus, dessen seine sonst so abwägende und bedächtige Natur fähig war, sondern geradezu zu dichterischem Schaffen begeisterte, fand seine rein künstlerische oder ästhetische Auffassung der Antike einen scharfsinnigen Gegner am Philosophen und Mystiker FRANZ von BAADER (2), dessen größtenteils beachtenswerte Einwände freilich auf die Zeitgenossen nicht wesentlich einwirkten.

Neuerdings hat dann der geistvolle JAKOB BURCKHARDT, der tüchtige Kenner und Darsteller des Kunst- und Kulturlebens alter und neuer Zeit, in der - nach seinem Tod erschienenen - "Griechischen Kulturgeschichte" die Frage in ihrem ganzen Umfang und in der ganzen Tiefe ihrer Bedeutung von Neuem aufgeworfen und die ganze "Unseligkeit des Hellenentums, seine tiefe Unbefriedigung, Zerrissenheit und Verzweiflung aus den geschichtlichen Tatsachen des griechischen Lebens, aus dem Gang seiner politischen, kulturellen und religiösen Entwicklung im Ganzen wie im Einzelnen nachzuweisen unternommen.

Die folgenden Seiten sind dazu bestimmt einige Nachträge zu dem für die Erkenntnis der Antikke bedeutsamen Gegenstand zu liefern. Dabei soll aber ein anderer Weg eingeschlagen werden. Indem wir die wichtigsten der uns erhaltenen Äußerungen der Alten selbst über das vorliegende Thema, die Selbstgeständnisse ihrer geistigen Führer, die Urteile und Aussprüche ihrer weisesten Männer, ihrer größten Dichter und Denker über Wert und Unwert des Lebens zusammenstellen, wollen wir aus diesen subjektiven Zeugnissen, aus diesen persönlichen Bekenntnissen ein möglichst getreues und objektives Bild von der Sache zu gewinnen suchen.

I. Der Gedanke von der Unseligkeit und dem Fluch (3) des Menschenlebens zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte griechische und römische Literatur vom Anfang derselben bis zu ihrem Erlöschen. Von HOMER bis zu den spätesten Dichtern der alexandrinischen Zeit, von HERODOT und THEOGNIS bis zu TACITUS und SENECA hören wir ihn einem wehmütigen Klageton gleich, bald laut bald leiser, aber immer deutlich vernehmbar das ganze antike Schrifttum durchzittern. In den lichtesten Momenten des Lebens, in den Augenblicken jubelnder Freude und bacchantischer Lust geht wie ein finsterer Schatten die Ahnung des Schmerzes, das Vorgefühl des drohenden Unheils lauernd und grollend nebenher. "A jove principium" [mit Jupiter (Gott) fang an - wp]. Der Vater der Götter und Menschen selbst ist es, dem der Dichter der Jlias die inhaltsschweren Worte in den Mund legt:
    "Denn kein anderes Wesen ist jammervoller zu schauen
    Als der Mensch von allem, was lebt und atmet auf Erden."
Und der klügste und besonnenste der homerischen Helden, Odysseus, kommt bei der Betrachtung des Lebens zu dem gleichen Schluß.

Die "armen Menschen", die "unglücklichen Sterblichen" - das ist die stehende Bezeichnung bei HOMER, so oft von der beklagenswerten Lage der Erdgeborenen in dieser Welt und ihrem traurigen Geschick im allgemeinen die Rede ist. In jener unvergleichlichen Szene, wo Achilles dem greisen Priamos den Leichnam seines Sohnes Hektor zur Bestattung überläßt, spricht er dem gebeugten Vater Trost zu mit den Worten: "Nichts erreichen wir ja mit unseren jammernden Klagen; denn so bestimmten es einmal die Götter den elenden Sterblichen: in ewigen Kummer zu leben; sie selbst aber sind sorgenfrei." Ein trostloser Trost und eine ohnmächtige Resignation ist es, die sich in diesen Worten ausspricht, über die aber die antike Welt bis zu ihrem Ende eigentlich nie hinausgekommen ist. Mit Fassung ertragen, was abzuändern dem Menschen versagt ist, ist die Losung.

Bei Dichtern und Philosophen, Gelehrten und Ungelehrten, Früheren und Späteren, ist diese trübe Resignation der Weisheit letzter Schluß, nur daß sich bei den einen mehr, bei andern weniger ein stärkeres oder schwächeres Grollgefühl gegen die Gottheit damit verbindet. - Konnte nun auch diese Reflexion, diese passive Ergebung in das Unvermeidliche wirklichem Leiden gegenüber nur geringen Trost darbieten, so gewährte sie doch eine gewisse Beruhigung, einen schwachen Halt in den ewigen Wechselfällen und Schwankungen des Lebens, von dessen Unsicherheit und Hinfälligkeit die Alten so tief durchdrungen waren. Zwischen Sein und Nichtsein, zwischen Leben und Tod schwanken wir stets haltlos hin und her und nur in dem einen Sinn ist das Leben stärker als der Tod, daß es "so vieles und schweres Ungemach überhaupt zu ertragen fähig ist." (4)

Berühmt und seit HOMER unzählige Male wiederholt ist das Gleichnis, das die Geschlechter der Menschen den Blättern im Wald gleichstellt, die keimen, wachsen, welken und abfallen, bis sie der Herbststurm in alle Winde zerstreut. Und wie das Leben des Menschen, so ist auch sein Sinn: schwankend, wechselnd, unbeständig, sich wandelnd nach Tag und Stunde.

Wie der unaufhörliche Wandlungsprozeß der organischen Natur dienen auch andere Bilder und Gleichnisse dazu die Flüchtigkeit und Vergänglichkeit des Menschenlebens zu versinnbildlichen, keine häufiger als des Schattens und des Traumes. Berühmt sind PINDARs Worte (5): "Eintagsfliegen sind wir. Was ist einer? Was ist keiner? Eines Schattens Traum ist der Mensch."

Diesem Ausspruch lassen sich zahlreiche, dem Sinn nach übereinstimmende aus AISCHYLOS, SOPHOKLES und EURIPIDES anreihen. Die wunderbare poetische Kraft und in ihrer naiven Schlichtheit ergreifende Anschaulichkeit, mit der HOMER die Hinfälligkeit und Gebrechlichkeit der menschlichen Dinge malt, hat freilich keiner der Späteren wieder erreicht, nur im Alten Testament, in den Psalmen, bei SIRACH, vor allem in dem nach Form und Inhalt großartigsten Denkmal hebräischer Religionspoesie, im Buche HIOB (6) finden sich Stellen von gleicher elementarer Kraft. Der Vergleich des Menschen mit der Blume und dem Gras ist wie bekannt ziemlich häufig im Alten Testament und die wehmütig düster gefärbte Auffassung des Lebens im allgemeinen weicht von der homerischen - und der hellenischen überhaupt - nicht gar beträchtlich ab. In einer Beziehung besteht allerdings ein wesentlicher Unterschied zwischen den griechischen Profanschriftstellern und den biblischen Autoren: jene wissen von keiner wie auch immer beschaffenen Ausgleichung der irdischen Leiden durch die Gottheit, - denn auch die Gottheit ist ihnen in die allgemeine Vergänglichkeit, in den ewigen Wandlungsprozeß aller Dinge miteinbezogen - während diese im Ausblick auf die unendliche Güte und Gerechtigkeit des Weltschöpfers einen Hoffnungsanker und Leitstern für das gequälte Gemüt vor sich wissen und sehen. Interessant ist in dieser Beziehung ein Vergleich zwischen den beiden "Heroen des Leidens", zwischen PROMETHEUS und HIOB. Der Titan PROMETHEUS, durch des ZEUS Beschluß von unerträglichen Qualen heimgesucht, beugt sich nicht in seinem Stolz. Er findet Trost und Stärkung in dem Gedanen, daß sein Todfeind ZEUS, den er innerlich tief unter sich achtet, einst ruhmlos vvon seiner übermütigen Höhe herabstürzen, ja daß sein eigenes Geschlecht ihm den Untergang bereiten wird. - Welcher Gegensatz zu HIOB, der mit fromm ergebenen Gemüt duldet, was der Ewige über ihn verhängen ließ, und in seinem unerschütterlichen Gottvertrauen auf alle vergänglichen Güter gerne Verzicht leistet:
    "Nackt bin ich vom Mutterschop gekommen und nackt werde ich wieder von hinnen gehen: Der Herr hat gegeben, der Herr hat genommen, der Name des Herrn sei gepriesen."
Ihn tröstet die Gewißheit, daß Gott alle Dinge zum Besten wenden wird, und die Hoffnung auf Erlösung und Auferstehung (7):
    "Denn die in Tränen säen, werden in Freuden ernten."
Nach homerischer Anschauung dagegen - und was in dieser Beziehung von HOMER gilt, gilt vom ganzen griechisch-römischen Altertum - sind die Götter nicht nur (wenn auch nicht in demselben Maß) den gleichen Gesetzen des Wechsels und der Vergänglichkeit unterworfen wie die Sterblichen, sondern auch den gleichen Schwächen und Leidenschaften. Sie sind die Urheber des Guten, aber auch ebenso des Bösen und des Übels im Leben, jedenfalls aber nie ein fester Halt, eine zuverlässige Stütze für den Sterblichen (8). Neiderfüllt und eifersüchtigt auf den Sterblichen, wie sie sich die antike Anschauung denkt, sind sie immer mehr geneigt, menschliches Glück zu vereiteln und zu zerstören als zu fördern und zu begünstigen; oder vielmehr sie begünstigen es scheinbar in der Entwicklung um es später umso gründlicher und grausamer zu vernichten. (9)

II. Konnte die Volksreligion und der Glaube an die Götter also weder dem nach Erkenntnis ringenden Geist noch dem in Unbilden und Gefahren des Lebens nach innerer Beruhigung verlangenden Gemüt eine brauchbare Stütze bieten, so ist es begreiflich, daß namentlich die tieferen und geistig anspruchsvolleren Naturen sich der Philosophie zuwandten und von ihr in theoretischer wie praktischer Beziehung, in Bezug auf das Erkennen wie auf das Handeln die Aufschlüsse und normgebenden Anweisungen erhofften, die der Volksglaube nicht zu geben imstande war. Es ist bekannt, daß die Philosophie diesen auf sie gesetzten Erwartungen nur in kärglichem Maß entsprochen hat. Von allen philosophischen Systemen des Altertums, abgesehen vom Neuplatonismus, ist das stoische wohl das einzige, das einigermaßen als Religionssurrogat seinen Anhängern einen inneren moralischen Halt, ihrem Glaubensbedürfnis eine wirkliche Befriedigung geboten hat, namentlich zu der Zeit, als der Glaube an die alten Götter mehr und mehr im Schwinden, das Christentum aber nochnicht zu allseitiger Geltung durchgedrungen war. Im Übrigen ist die antike Philosophie, auf deren Entwicklungsgang im Einzelnen einzugehen hier nicht der Platz ist, in der Metaphysik wie in der Ethik über ein unbestimmtes Schwanken zwischen entgegengesetzten Formeln und Lehrmeinungen, über einen halt- und ergebnislosen Dualismus nicht viel hinausgekommen. Was die Metaphysik anbelangt, so sehen wir, wie die zersetzende Skepsis des Pyrrhonismus, die ja dem Raubvogel des Prometheus vergleichbar von Anfang an an ihren Eingeweiden nagt, sie schließlich vollständig verzehrt, - soweit sie nicht in einem unklaren religiösen Synkretismus [Mischmasch - wp] und Eklektizismus [Anlehnerei - wp] der neuplatonischen und neupythagoreischen Schulen verschwimmt und verschwindet; in der Ethik aber ist es ebensowenig zu einer befriedigenden Versöhnung und Verschmelzung der sich hier - während des ganzen Verlaufes ihrer Entwicklung - schroff gegenüberstehenden Gegensätze und divergierenden Standpunkte gekommen: es sei nur an die Polemik des SOKRATES gegen die Sophisten, an die Spaltungen innerhalb der sokratischen Schulen (Kyniker, Megariker, Kyrenaiker) und vor allem an die Kämpfe der Stoa mit den Anhängern EPIKURs erinnert.

Auch in Bezug auf die uns hier vorzugsweise interessierende Frage - die Schätzung und Bewertung des menschlichen Lebens - zeigt sich dieser dualistische, oder wenn man lieber will, antinomische Charakter des griechischen Philosophierens an einem merkwürdigen Beispiel. Von zwei der bedeutendsten Denker der vorsokratischen Periode, vom "Melancholiker" HERAKLIT und dem "Phlegmatiker" DEMOKRIT wird uns berichtet, daß der eine die menschlichen Dinge immerzu beweit, der andere sie immerzu belacht hat. Mag dies auch wie viele der uns von den alten Philosophen anekdotisch überlieferten Züge übertrieben sein, so steht doch fest, daß HERAKLIT einer sehr düster gefärbten Lebensauffassung huldigte und die menschlichen Dinge in nichts weniger als einem rosigen Licht sah. Gleich dem Dichter der Jlias beklagte er vor allem die entsetzliche Flüchtigkeit und Unbeständigkeit des menschlichen Lebens und der menschlichen Sinnesart. In einem ewigen Fluß gleiten uns die Dinge immerfort dahin und ebenso haltlos und wandelbar wie sie ist der Geist, der sie zu erfassen sucht. Wie es nicht möglich ist, zweimal in denselben Fluß zu steigen, so sucht der Geist vergeblich sich in einem tollen Wirbel des Lebens festzuhalten und auf sich selbst zu besinnen. Nichtigem Kinderspiel, den Sandbauten, die Knaben auftürmen, gleicht all unser Wissen und Meinen. Wie der Affe zum Menschen, so verhält sich der Mensch zu Gott.

Anders, aber nicht günstiger sah der "lachende" Philosoph die menschlichen Dinge an. Mit Verzicht auf alle Bequemlichkeiten des Lebens von unersättliicher Wiss- und Lernbegierde getrieben, hatte DEMOKRIT fast alle Länder der damals bekannten Welt durchreist und durchforscht und das Leben überall gleich hohl und elend, die Menschen mit ihren nichtigen Bestrebungen und Eitelkeiten, ihren wichtigtuerischen Eifersüchteleien, ihren Katzbalgereien um wertlose Dinge, um kleinliche Interessen und Besitzfragen, überall gleich töricht und läppisch und erbärmlich gefunden. Daß dieses jämmerliche Geschlecht, das im innersten Kern krank und faul ist vom Mutterleib an, nur Spott und Hohn verdient, ist für ihn eine ausgemachte Sache. Auch von der Schärfe und Kraft des menschlichen Verstandes, seiner Fähigkeit in den Kern der Erscheinungen einzudringen und die Dinge in ihrer Tiefe zu erkennen, hatte DEMOKRIT ebenso wie SOKRATES und andere bedeutende Denker des Altertums nur eine sehr geringe Meinung.

Wo das Vertrauen auf die Erkennbarkeit der Wahrheit so schwer erschüttert ist, pflegt auch der Glaube an die Realisierbarkeit des Guten zu schwinden, dem erkenntnistheoretischen Zweifel gesellte sich die moralische Verzweiflung zu. Schon oben ist von einzelnen mythologischen Anklängen an die Lehre von der Erbschuld die Rede gewesen; aber auch abgesehen davon finden sich zahlreiche Äußerungen antiker Autoren, die beweisen, daß der optimistische Glaube an die angeborene Güte der Menschennatur nur von wenigen geteilt wurde.
    "Es wäre ein Zeichen großer Naivität und Einfalt", sagt der scharfblickende Thukydides, zu glauben, daß die große Masse der Menschen immer geneigt zu Unrecht und Verbrechen, sich durch Gesetz und Androhung von Strafen von deren Begehung abhalten läßt."
Und der Sokratiker XENOPHON charakterisiert den inneren Zwiespalt, den Kampf des guten und bösen Prinzips in der Menschennatur mit den Worten:
    "Es ist gewiß und evident, daß zwei Seelen im Menschen wohnen, eine gute und eine böse. Denn wenn er nur eine hätte, könnte er nicht das Gute und Schlechte mit gleicher Liebe hegen und dasselbe Ding zugleich wollen und nicht wollen, so aber, wenn die gute Seele den Sieg davonträgt, tut er das Gute, wenn die böse, das Schlimme."
Dieser tiefe Zwiespalt in der menschlichen Natur, der merkwürdige Widerspruch, der ihn das Bessere sehen und das Schlechtere tun, ja gerade das tun läßt, was er nicht will - ist auch sonst von den Alten vielfach bemerkt und von Dichtern und Philosophen scharf beleuchtet worden. Die oberflächliche (sokratische?) Ansicht, daß die Tugend schlechthin lehrbar ist und daß der Mensch nur aus Unkenntnis des Guten das Schlechte will, wird demnach - wie wir bei dieser Gelegenheit im Vorbeigehen bemerken wollen - keineswegs vom gesamten Altertum geteilt.

III. Dem in sich gespaltenen und zerrissenen Gemüt pflegt auch die Natur gebrochen und mit sich uneins zu erscheinen; überall starrt ihm aus dem blühenden Leben medusenartig das Antlitz des Todes entgegen. Das Leben erscheint ihm wie ein sinnloser Kreislauf, ein ewig rollendes Rad, an das der Mensch dem Ixion [von Zeus an ein Feuerrad gebunden - wp] gleich unerbittlich und unabänderlich gefesselt ist. Keiner unter den antiken Philosophen hat diesen Stimmungen einen so ergreifenden, man möchte sagen, modern-weltschmerzlichen Ausdruck verliehen wie SENECA, der den Modernen ja überhaupt in mehr als einer Hinsicht nahe steht. Man glaubt einen Jünger SCHOPENHAUERs zu hören, wenn man seine bewegenden Klagen über die Hohlheit und das ewige Einerlei des Daseins in den Briefen an den LUCILIUS liest.

Ein ewiges Auf und Ab, ein endloses Hin und Her ist das Leben mit all seinen fieberhaften und doch so nutzlosen und vergeblichen Mühen, in dem es für die Menschen keine Ruhe und keinen Halt gibt, nichts Dauerndes und nichts Bleibendes, nicht einmal, wie Kassandra bei AISCHYLOS klagt, den Schmerz.

So führen alle Betrachtungen immer wieder auf den Gedanken des ewigen Wechsels und der Unbeständigkeit alles Irdischen zurück. Nicht umsonst wird Tyche [Göttin des Schicksals - wp] durch das unaufhörlich sich drehende Rad (10) versinnbildlicht. Und wie nichtig und eitel sind die Dinge, um derentwillen sich die Menschen sorgen und mühen! Daher hat auch die praktische Lebensphilosophie der Alten, die Mahnung - namentlich der römischen Dichter - das Leben zu genießen und sich des Tages zu freuen, fast immer einen bitteren und pessimistischen Beigeschmack; unter den Rosen der Freude und des Lebensgenusses lauert die Schlange des Schmerzes und der Verzweiflung und im Hintergrund wartet der Allbesieger Tod. Morgen können wir's nicht mehr, darum laßt uns heute leben!

Der Gedanke des Todes und das Bewußtsein seiner Unvermeidlichkeit den Alten immer vor Augen steht, so hat doch weder die Aussicht auf die Ruhe des Grabes noch die Erwartung einer persönlichen Fortdauer nach dem Tod viel Beruhigendes oder Versöhnendes für sie. Es ist an dieser Stelle nicht möglich, den Unsterblichkeitsglauben der Alten, ihre Vorstellungen vom Jenseits im Zusammenhang zu erörtern, der schwierigen Frage namentlich näher zu treten, ob und wie weit in den Mysterien, vor allem in den eleusinischen positivere und entwickeltere Anschauungen als sie der Volksglaube bot, über eine persönliche Seelenfortdauer gelehrt wurden; sicher ist, daß der instinktive Schauder, den der natürliche Mensch vor dem Tod empfindet, bei den Alten das vorherrschende Gefühl war und blieb und daß die spiritualistischen Hoffnungen des Christentums ihnen vollständig fremd waren. Der Glaube an ein "Reich, das nicht von dieser Welt ist", lag ihnen sehr fern und hätte, selbst wenn er vorhanden gewesen wäre, schwerlich viel Einfluß auf ihr Denken und Fühlen, Wollen und Handeln, Tun und Lassen ausgeübt. Der Hellene dachte sich das Fortleben nach dem Tod als ein trübes Schattendasein, andere als inhaltsleeres Dasein und als bloße Negation des Todes, als eine öde, gegenstandslose Leere, ein Forthungern und Fortringen ins Unbestimmte und Endlose - eine Unsterblichkeit ohne Gott. So war zumindest die vorherrschende Anschauung der heroischen und klassischen Zeit des Hellenentum. Der homerische Achilles will lieber dem unbegüterten Bauern, der kümmerlich lebt, als Tagelöhner das Feld bauen als die ganze Schar vermoderter Toter beherrschen. Dies ist die natürliche Empfindung des naiven, unverbildeten Menschen, der sich gegen die ihm im Tod drohende Vernichtung sträubt und nicht ohne heftiges Widerstreben in das Unvermeidliche ergibt. Der Tod war ein Gegenstand namenloser Furcht und entsetzlichen Grauens. Man vermied sorgfältig, auch nur den Namen des Todes auszusprechen. Welche trüben Erfahrungen müssen voraufgegangen sein, wie tief der Mensch bereits vom Leid des Lebens und der Unseligkeit allen Daseins durchdrungen sein, wenn diese natürliche Anschauung in die entgegengesetzte umschlagen, wenn der Tod als Befreider von der unerträglichen Last der Erdenfrohn ersehnt und willkommen geheißen werden soll! (11)

Und doch wie früh schon, lange bevor philosophische Reflexion die naiven Vorstellungen des Volksglaubens zu durchsetzen und aufzulösen begonnen hatte, macht sich diese pessimistische Lebensauffassung geltend! HOMER heißen die Toten die "müden", "gebeugten" (kamontes), weil sie von der schweren und aufreibenden Qual des Lebens im Grab ausruhen. Und wem wäre das Leben keine Qual? Das SCHILLERsche "Herb ist des Lebens innerster Kern" hat der sonst so heitere MENANDER schon vor mehr als zwei Jahrtausenden vorweggenommen: Leben und Schmerz sind nach ihm im tiefsten Grund eins.

Daß das Weinen des Neugeborenen schon auf das traurige Erdenlos des Menschen prophetisch hinweist, - dieser Gedanke war den Alten so wenig fremd wie dem Dichter des "Lear". Unser ganzes Leben trägt den Todeskeim schon bei der Geburt in sich; im Augenblick, wo wir geboren werden, fangen wir schon an zu sterben.

Von unsichtbarer hand gestoßen eilen wir vom Moment unserer Geburt unaufhaltsam dem Tod zu, dessen "kurzen Wettlaufs letztem Ziel." Im ewigen Wechsel der menschlichen Dinge ist der Tod das einzig Sichere und Gewisse, der ruhende Pol in der Erscheinungen Flucht. (12)

IV. "Wie von unsichtbaren Geistern gepeitscht", sagt Egmont (Akt 2), "gehen die Rosse der Zeit mit unseres Schicksals leichtem Wagen durch; wohin es geht, wer weiß es? Erinnert er sich doch kaum, woher er kam!"

In dunkler Nach flammt plötzlich ein Licht auf, um nach kurzer Dauer in dieselbe Nacht zurück zu erlöschen. Vor uns und hinter uns die Nacht, in der Mitte unser kurzer, spärlich erleuchteter Lebenstag. Als das Nichtseiende erschien den Alten der Tod im Verhältnins zum Leben; nicht selten auch geradezu als das absolute Nichts. Es ist sehr charakteristisch, daß sich für diese nihilistische Auffassung gerade bei den beiden grübelnden Skeptikern EURIPIDES und SENECA die Belege finden.

Was ist nun das schwache, trüb flackernde Lebensflämmchen, das zwischen den beiden dunklen Abgründen für einige Ewigkeitssekunden aufglimmt? Ein Spiel des Zufalls oder, da es doch Götter gibt, wie der Volksglaube annimmt, ein Spielzeug in den Händen der Gottheit! Zwei der größten Historiker des Altertums, der eine am Eingang, der andere am Ausgang der klassischen Welt, HERODOT und TACITUS, so verschieden sonst in ihrer Betrachtungsweise der menschlichen Dinge, stimmen in dieser pessimistischen Lebensauffassung überein "Der Mensch ist nichts als Zufall", sagt HERODOT und an einer anderen Stelle (13): "Die Geschicke (Zufälle) beherrschen den Menschen, nicht der Mensch das Geschick."

Auch TACITUS kommt bei der Betrachtung der menschlichen Dinge angesichts der ungeheuren Wechselfälle und Umwälzungen, die das Glück herbeiführt, an einer Stelle zu dem Ergebnis, daß das ganze Leben nur ein Spiel des Zufalls, eine leere Farce ist; an anderen Stellen dagegen neigt er mehr zu einem - von astrologischen Phantasien nicht unbeeinflußten - Schicksalsglauben oder Fatalismus zu.

DEMOKRITs Ansicht vom menschlichen Leben und der vollkommenen Nichtigkeit seiner Bestrebungen ist schon oben erörtert worden. Nicht viel anders dachte SOKRATES über diesen Punkt. "Die Götter lachen nur", pflegte er zu sagen, "wenn sie das leere Treiben der Menschen sehen." Wenn daher ein späterer Dichter der Anthologie, PALLADAS, seine Ansicht vom Leben zusammenfaßt in die Mahnung: "Das Leben ist eine Komödie und eine Posse; lerne es als Posse behandeln und nicht ernst nehmen, oder: trage die Schmerzen, die es bringt", so ist darin keine besondere Leichtfertigkeit und Oberflächlichkeit zu erblicken (PALLADAS zeigt sich sonst von sehr ernster, fast trübseliger Sinnesart), sondern eine allgemein verbreitete, fast schon sprichwörtlich gewordene Alltagsweisheit. "Mimos o bios", "das Leben ist ein Theaterstück" war eine landläufige und alltägliche Redensart. Zur Erläuterung dieser im ganzen Altertum, vor allem auch in den mythologischen Kosmogonien fast aller indogermanischen Völker weitverbreiteten Anschauung, die Welt sei ein Spielzeug in den Händen der Gottheit, das diese sich zum Zeitvertreib geschaffen haben und das sie, wenn sie des Spieles müde geworden wieder ins Nichts zertrümmern werden - möge zunächst eine Stelle, die uns PORPHYRIOS aufbewahrt hat, als besonders charakteristisch in dieser Hinsicht Platz finden.
    "Die Natur", sagt Porphyrios, "gleicht dem Knaben, der am Meeresstrand spielt und die formlosen Sandbauten und Figuren, die er mit seinen ungeübten Kinderhändchen aufgetürmt hat, sogleich wieder mit den Füßen zertritt und zerstört. Wer also die Welt mit Bewunderung und Verehrung anstaunt, der legt der Natur, die ihn geschaffen hat, Absichten und Zwecke unter, die ihr vollständig fernliegen, und bewundert die Erzeugnisse ihres Spieltriebes als Ergebnisse eines tiefsinnigen Ernstes, von dem sie selbst nichts weiß."
Daß diese und verwandte Anschauungen sich keineswegs auf die griechische Mythologie beschränken, sondern daß sie sich ebenso in den Kosmogonien anderer indogermanischer Kulturvölker finden, darf als bekannt vorausgesetzt werden (14). Nach der brahmanischen Religionsauffassung hat der Weltschöpfer, von der Maya getäuscht, das Universum gleichsam zum eigenen Spiel und zu seiner Ergötzung geschaffen (15), den unglücklichen Kreaturen aber bleibt keine andere Hoffnung, als daß sie, nachdem sie in unzähligen Daseinsformen und Stufen die Schuld des Lebens abgebüßt, sich tiefinnerlich von allem Leben abwenden, um endlich von der Seinsqual erlöst in den Schoß des Alleinen und Ewigen, aus dem sie hervorgegangen sind, zurückzukehren.

Um aber zu den Griechen zurückzukehren werden wir uns nach dem Gesagten nicht wundern, der Ansicht, daß die Welt ein Spielzeug zur Erheiterung der Gottheit ist, gelegentlich auch bei so ernsthaften und tiefsinnigen Denkern wie PLATO und HERAKLIT begegnen, von denen der erstere das Leben auch einmal einem Würfelspiel vergleicht. Kein Wunder daher, daß er übereinstimmend mit dem Mann aus Ephesos und mit seinem sonstigen Antagonisten DEMOKRIT - vom Leben keine große Meinung hat und der Ansicht ist, daß es kein menschliches Ding gibt, um das es sich lohnt viel Aufhebens oder Mühe zu machen.

Auch diese Ansicht, daß die Menschen nur ein Spielzeug in der Hand der Götter sind, war im Altertum zum Gemeinplatz geworden. In den römischen Komödien wird sie an mehr als einer Stelle wie eine landläufige Selbstverständlichkeit ausgesprochen.

Ist so das Leben nur ein leeres, sinnloses Spiel, so erscheint der Tod als dessen willkommenes Ende und - wie oft - als erwünschter Erlöser von der schmerz- und peinvollen Tragikomödie des Daseins. (16)

Und was die bedeutendsten und tüchtigsten Männer des Altertums durch die Tat bewiesen haben, das wird von den geistvollsten Lebensbeobachtern und Weltweisen theoretisch bestätigt, daß der Tod die Universalmedizin, die Panacee [Wundermittel - wp] für alle Leiden der Welt ist, daß man sich der ewigen Angst und Sorge des Lebens nur dadurch einigermaßen erwehren, einen Zustand relativer Ruhe und Seelensicherheit nur dadurch herbeiführen kann, daß man sich nicht ängstlich an das Leben klammert, daß man es verachten lernt, daß man den Tod als stets möglichen Ausweg und zugleich als ein notwendiges, unabweisbares und unentrinnbares Ende stets vor Augen hält. SENECA und SHAKESPEARE, der antike und der moderne Weise: sie stimmen darin überein, daß es bloß darauf ankommt, stets in Bereitschaft zu sein: "Bereit sein ist alles."

V. Immer von Neuem führt uns unsere Betrachtung auf die Wahrnehmung, wie tief der Todesgedanke im Bewußtsein der Alten wurzet, wie sehr er den eigentlichen Kern antiker Lebensauffassung und antiker Lebensphilosophie ausmacht. In tiefsinniger Weise wird dies schon durch den uralten Mythus von Silen und Dionysos versinnbildlicht Der Gott Dionysos galt den Griechen bekanntlich als der eigentliche Demiurg, als Weltschöpfer und Urheber aller geschaffenen Kreatur; sein Pfleger und Erzieher aber ist Silen. Silen aber, der so gleichsam als der Urquell und das Symbol allen Lebens erscheint, ist zugleich in merkwürdiger Weise Herold und Lobredner des Sterbens und Vergehens, des Todes und der Vernichtung. Einst - lautet der tiefsinnige und gedankenreiche Mythos - habe der phrygische König Midas, von der Jagd heimkehrend den Silen, nach dem er lange gefahndet hat, in den Rosenbüschen am Quell Inna schlafend gefunden und sich seiner bemächtigt; als Preis der Freilassung hat der König dann von dem Gott Auskunft gefordert, was unter allen Dingen das Beste und Erstrebenswerte für den Menschen sein soll. Jener hat ihm zuerst die Antwort verweigert und finster die Lippen zusammengepreßt, dann aber, als der König nicht aufhörte, in ihn zu dringen, ist er in ein gellendes Lachen ausgebrochen und hat gerufen:
    "Ihr Eintagsgeschöpfe, Kinder eines unseligen Dämon, eines bösen widerwärtigen Geschicks, was quält ihr mich, euch zu offenbaren, was zu wissen euch nicht frommt! Denn minderschmerzlich ist das Leben, wenn man die Größe seiner Übel gar nicht kennt. Wisse denn: das Beste für den Menschen ist: nicht geboren zu sein und von allem Guten, Hohen undd Schönen der Welt nie etwas zu ahnen; das Nächstbeste und für den Menschen allein Erreichbare ist: sobald wie möglich zu sterben."
Gleich einer dumpfen Litanei hallt dieses düstere Klagewort durch die antike Welt weiter: kaum einen bedeutenderen Dichter gibt es, der es nicht in der einen oder anderen Form wiederholt hätte.

Alle alten Schriftsteller, die über die philosophischen Trostgründe geschrieben haben, wie KRANTOR, PLUTARCH, CICERO, SENECA, kommen übereinstimmend zu dem Ergebnis, daß die düstere Ansicht des Silen aller irdischen Weisheit letzter Schluß ist.

Alle diese Autoren bringen auch zahlreiche Beispiele bei, aus denen hervorgehen soll, daß die Götter im gleichen Sinn entschieden hätten, daß auch sie einen frühzeitigen Tod für das beste Geschenk halten, das dem Sterblichen zuteil werden kann. Hierher gehören die bekannten Erzählungen von KLEOBIS und BITON, TROPHONIUS und AGEMEDES, ELYSIOS und seinem Sohn EUTHYNOUS.

So populär waren diese Erzählungen und die in ihnen zum Ausdruck kommenden Anschauungen, daß der Gedanke: "Wen die Götter lieben, der stirbt jung" geradezu sprichwörtliche Geltung erlangt. Ebenso wie der andere, daß man niemand vor seinem Ende glücklich preisen darf, denn es gibt keinen, der bis an seinen Tod gleichmäßig glücklich ist; auf ein Gut kommen immer zwei Übel.

Eigentümlich ist es, daß nicht bloß einzelne, sondern wenn die Berichte der Alten hierüber nicht ungenau sind, ganze Völkerschaften einer so pessimistischen Lebensauffassung huldigten und sie in charakteristischen Gebräuchen zum Ausdruck brachten. HERODOT erzählt, daß die Trauser, ein thrakischer Volksstamm, die Gewohnheit hatten, den Eintritt der Neugeborenen ins Leben mit Trauerkundgebungen, den Tod eines Angehörigen dagegen mit Freudenäußerungen zu begleiten. Wenn bei ihnen ein Kind geboren wird, so kommen die Verwandten zusammen und beklagen es wegen der Leiden und Schmerzen, die es in diesem Leben erwarten; wenn aber einer der Ihrigen aus dem Leben geschieden ist, so bergen sie unter Freudenkundgebungen ihn in die Erde und stimmen Lobgesänge an, daß er von den Übeln des Daseins erlöst und allen Schlägen des Schicksals entzogen, schmerz- und sorgenfrei ausruht. - EURIPIDES, in einem uns erhaltenen Fragment der Tragödie Kresphontes, nimmt unverkennbar auf diese Sitte Bezug und empfiehlt sie als sinnvoll und nachahmenswert.

VI. Keine Epoche des Altertums ist reicher an Äußerungen einer weltschmerzlich pessimistischen Lebensauffassung und Stimmung als die römische Kaiserzeit, wo sich zu der allgemeinen Lebensmüdigkeit und Übersättigung noch die Verzweiflung an den politischen Zuständen, der unerträgliche Druck des cäsarischen Despotismus, die Rechtsunsicherheit und Gefährdung der persönlichen Freiheit gesellten, um edleren Naturen das Dasein vollends zur Qual zu machen. "Lebensüberdruß, Unzufriedenheit mit sich selbst und unaufhörliche Gedankenflucht des nirgends ruhefindenden Geistes" - mit diesen Worten charakterisiert SENECA überaus knapp und schlagend die trost- und hoffnungslose Gemütsstimmung seiner Zeitgenossen, die innere Zerfallenheit und Verzweiflung am Leben.

Während bei Männern wie SENECA, ANNAEUS LUCANUS (dem Dichter der "Pharsalia") und TACITUS der Pessimismus zu einem wesentlichen Teil zumindest aus den Zeitverhältnissen entspringt, aus dem Haß gegen den Cäsarismus und dem Schmerz über den Verlust der politischen Freiheit, findet er sich ganz unabhängig von solchen Beweggründen, man möchte sagen unvermittelt und überraschend bei einem Schriftsteller, der für den gelehrtesten und kenntnisreichsten seiner Zeit galt und der jedenfalls im Besitz des größten Teils des damaligen Wissens und der damaligen Bildung war, bei PLINIUS (dem Älteren). PLINIUS eröffnet das 7. Buch seiner "Naturgeschichte" - die allerdings weniger dieses als eine allgemeine Enzyklopädie der Wissenschaften, Künste und Gewerbe, ein Konversationslexikon der damaligen Zeit ist, - PLINIUS eröffnet dieses Buch, das eine kurze Anthropologie enthält, mit einer höchst merkwürdigen, allgemeinen Reflexion über das Leben und die Stellung der Menschen in der Stufenfolge der organischen Wesen - einer Reflexion, die sich ihm unter den Händen zur bittersten Anklage gegen das Leben gestaltet und die jedenfalls zu den denkwürdigsten Stimmungsäußerungen gehört, die wir aus der Literatur aller Zeiten besitzen. Diese ihre Bedeutung als "menschliches Dokument" rechtfertigt es, wenn wir sie hier in extenso [ausführlich - wp] wiedergeben.
    "Mit Recht", sagt Plinius, "müssen wir (bei der Schilderung der Organismen) mit dem Menschen den Anfang machen, um dessen willen die Natur alles andere erschaffen zu haben scheint, wenn sie gleich für ihre großen Gaben einen so hohen und grausamen Preis fordert, daß es schwer zu sagen ist, ob sie sich dem Menschen mehr als eine zärtliche Mutter oder als eine böse Stiefmutter erweist. Von allen lebenden Wesen ist er das einzige, das sie nicht ohne fremde Hilfe bekleidet; allen übrigen hat sie mannigfaltige Schutzhüllen verliehen wie Schalen, Rinden, Häute, Stacheln, Schuppen, Wolle, Zotten, Borsten, Haare, Federn und Flaum. Sogar die Stämme der Bäume hat sie mit einer nicht selten doppelten Rinde vor Kälte und Hitze geschützt. Nur den Menschen wirft sie bei der Geburt sogleich zum Jammern und Klagen nackt auf die bloße Erde und kein anderes Geschöpf vergießt Tränen wie er und zwar gleich von Geburt an. Aber wahrlich! des Lachens - des voreiligen, immer noch zu frühen Lachens ist er vor dem vierzigsten Tag nicht fähig. Vom Augenblick seiner Geburt an kommt er - was nicht einmal den in der Gefangenschaft gezeugten wilden Tieren widerfährt - sogleich in Fesseln und Bande und so liegt nun der zukünftige Beherrscher der Erde gebunden an Händen und Füßen weinend da und beginnt sein Leben mit Schmerz und Mißbehagen zur Strafe für die einzige Schuld: geboren zu sein. Oh über die Torheit derer, die nach einer solchen Einleitung wähnen, daß der Mensch zum Stolz geboren ist!

    Die erste Ahnung von Kraft, das erste Geschenk der Zeit macht ihn zu einem vierfüßigen Tier. Wann aber lernt der Mensch gehen? Wann sprechen? Wann ist sein Magen kräftig genug, feste Speisen zu genießen, feste Speisen zu verdauen? Wie lange klopft sein Scheitel, ein Beweis, daß er das schwächste aller Geschöpfe ist? Dann stellen sich Krankheiten ein und ebensoviel dagegen ersonnene Heilmittel und auch diese schlagen oft genug zu seinem Nachteil aus. Die übrigen Tiere erlangen bald ihre Ausbildung; einige machen Gebrauch von der Kraft ihrer Gehwerkzeuge, andere von der Schnelligkeit ihres Fluges, andere vom Schwimmen. Aber der Mensch kann nichts, ohne daß es ihm gelehrt wird, weder sprechen, noch gehen, noch essen; kurz, er kann von Natur nichts als weinen. Daher hat es viele gegeben, welche es für das Beste hielten, nicht geboren zu sein oder doch bald wieder zu sterben.

    Unter allen Lebewesen kennt der Mensch allein den Kummer und den Luxus und zwar in unzähligen Formen und in Bezug auf jedes einzelne Glied, ihm allein ist die Ehrsucht, der Geiz, die maßloseste Lebensgier, der Aberglaube, die Sorge für das Begräbnis, ja sogar für die Zukunft nach seinem Tod eigen. Kein Geschöpf hat ein hinfälligeres Leben, keines heftigere Begierden, ängstlichere Furcht und leidenschaftlichere Wut. Alle anderen Tiere leben wenigstens mit ihresgleichen in Frieden zusammen; wir sehen sie in Scharen vereinigt und nur gegen fremde Arten feindlich auftreten. Die Löwen kämpfen nicht unter sich; der Biß der Schlangen richtet sich nicht gegen Schlangen; nicht einmal die Fische und Ungeheuer des Meeres wüten gegen ihre eigenen Gattungen. Aber der Mensch verdankt seine meisten und schlimmsten Übel dem Menschen selbst."

    "Und doch", sagt unser Autor an einer anderen Stelle mit bitterer Ironie, "gibt es für die hinfällige und unvollkommene Natur des Menschen einen Trost, den Trost, daß die Gottheit nicht allmächtig ist; denn die Gottheit kann sich nicht selbst den Tod antun, wenn sie auch will, was sie doch dem Menschen als beste Medizin gewährt hat in den zahllosen Heimsuchungen und Mühseligkeiten des Lebens."
Kaum dürfte in der gesamten neueren pessimistischen Literatur eine in ihrer ruhigen Resignation und Sachlichkeit gleich eindringliche und erschütternde Anklage gegen das Leben zu finden sein, kaum von irgendeinem Modernen, sei es SCHOPENHAUER oder von HARTMANN, BYRON oder HEINE, LEOPARDI oder ALFRED de MUSSET, die Übel des Daseins, die Schwäche, Hilflosigkeit und Unvollkommenheit der Menschennatur, ihre physische und moralische Gebrechlichkeit düsterer und hoffnungsloser gemalt worden sein als in diesem elegischen {wehmütigen - wp] Exkurs des alten römischen Polyhistors [Universalgelehrter - wp].

Umso bemerkenswerter und gewichtiger erscheint diese Lebensanschauung, als sie von einem Mann herrührt, dem der Tod als das wirkliche und definitive Ende des Lebens galt, der an keine persönliche Unsterblichkeit glaubte und in keinem Jenseits Ausgleich und Entschädigung für die Übel des Erdendaseins erhoffte. Gleich seinem wie er der epikureischen Schule anhängenden Landsmann LUKRETIUS hatte PLINIUS sich mit Bewußtsein und Überzeugung von jeder positiven Religion abgewendet und hegte namentlich über die seit SOKRATES und PLATONs Phaedon viel diskutierte Frage der Fortdauer nach dem Tod sehr radikale, schroff materialistische Anschauungen.

Die letzteren können allerdings nicht in demselben Maß als typisch und allgemeingültig für seine Zeit und für das Altertum überhaupt bezeichnet werden, als es in Bezug auf seine pessimistische Beurteilung des Lebens der Fall ist. Vielmehr ist es zweifellos, daß im allgemeinen wesentlich positivere und hoffnungsreichere Anschauungen über Diesseits und Jenseits, Tod und Unsterblichkeit gehegt wurden, als der Anhänger der epikureischen Aufklärung sie vertritt. Von der Wirksamkeit der Mysterien, namentlich der orphischen und eleusinischen, in diesem Sinne ist bereits oben andeutungsweise die Rede gewesen. Die oprhische Geheimlehre, daß der Mensch auf Erden in einer Art von Gefangenschaft lebt, daß das Dasein eine Strafe ist, die er abzubüßen hat, daß die Seele im Körper wie in einem Grab oder Kerker eingeschlossen ist, dessen Bande sie einst sprengen wird, um zum wahren Leben, zur Freiheit und zum unverlierbaren Besitz ihrer selbst einzugehen. Diese und ähnliche Anschauungen gewannen auf die Philosophie - HERAKLIT, PYTHAGORAS, SOKRATES, PLATO - und durch deren Vermittlung auf weite Kreise der Gebildeten auch außerhalb der in die Mysterien Eingeweihten tiefen und nachhaltigen Einfluß: in welchem Umfang und in welchem Grad freilich, das läßt sich bei der geheimnisvollen Scheu, mit der die Alten diese Dinge behandelten, aus den vorhandenen Resten antiken Schrifttums nicht mehr mit Sicherheit feststellen.

In einer berühmten Stelle der Apologie [Rechtfertigung - wp] sagt der platonische SOKRATES:
    "Was der Tod ist, weiß niemand; auch nicht, ober das höchste Gut ist für den Sterblichen. Sicher aber ist der Tod eines von beiden: Auflösung in das Nichts unter Aufhebung jeder Empfindungsmmöglichkeit oder Übergang und Umzug der Seele von ihrem gegenwärtigen Wohnsitz zu einem anderen, unbekannten. Im ersteren Fall wäre der Tod ein tiefer, traumloser Schlaf, im anderen eine Versetzung von hier an den Ort, wo alle großen und edlen Geister der Vorzeit weilen: in beiden Fällen ein unschätzbarer Gewinn."
Dann schließt er:
    "Aber nun ist es Zeit, daß wir gehen, ich, um zu sterben, ihr, um weiter zu leben: wer aber von uns beiden den besseren Teil ergreift, das ist allen verborgen außer Gott."

Nachwort

Wir haben versucht, aus Aussprüchen, welche aus dem unmittelbaren, subjektiven Denken und Empfinden der edelsten Geister des Altertums über die wichtigsten Lebensfragen hervorgegangen, einen Über- und Einblick in die pessimistischen Anschauungen der Antike zu vermitteln. Die Rat- und Hilflosigkeit der alten Welt gerade in den vitalsten Problemene endet in dumpfer Resignation. Diese erklärt, wie SCHELLING bemerkt, die ganze Eigentümlichkeit des hellenischen Charakters, den tieftragischen Zug, der durch die Religion und die Philosophie der Alten hindurchgeht; läßt verstehen, daß selbst in bacchantische Lebensfreude ein düsterer Schatten fällt; enthüllt uns jene Schwermut, die wie ein süßes Gift den trefflichsten Werken selbst der bildenden Kunst ihren eigenartigen Stempel aufdrückt. Aus der Antike tönt das Klagelied hoffnungslosen Lebensschmerzes und dennoch ringt sich in ihr wieder und wieder der sehnsuchtsvolle Ruf nach göttlicher Hilfe hervor.

Die Rätsel des irdischen Lebens konnte eben die antike Philosophie nicht lösen. Daß dies zur Befriedigung des Menschenherzens geschehen ist, ist der Sieg einer neuen Weltanschauung, der Sieg der christlichen Philosophie. Sie senkte ihre sieghaften Strahlen in das trostlose Dunkel und gab der Tragödie des Erdendaseins eine versöhnende Bedeutung in einem wunderbaren Ausgleich ewiger Gerechtigkeit und erbarmender Liebe. Zwar ist auch nach dieser Weltanschauung der Schmerz des Lebens nicht hinweggenommen und die Not des Daseins nicht übertüncht, aber beide sind tiefer erfaßt und wahrer empfunden; Schmerz, Not und Tod sind verklärt, die Dissonanzen zu schöner Harmonie verschmolzen. Das Herbe und Unversöhnte der Antike ist überwunden in der wundersamen Erlösungsidee und in der Hoffnung seliger Unsterblichkeit. Diese Wahrheit anerkennt SCHILLER (17) und erklärt offen das "Christentum als eine Menschwerdung des Heiligen, als die einzige ästhetische Religion."

Die Erhabenheit und Kraft dieser Weltanschauung, gepaart mit Klarheit und Einfachheit hat der Menschheit ein nimmer verlöschendes Licht gebracht, sodaß KANT gesteht, "die Vernunft würde allgemein sittlichen Gesetze auch jetzt nicht erkennen, wenn nicht das Christentum sie gelehrt hätte." "Mag auch die Zukunft in geistiger Kultur sich noch unendlich vervollkommnen, - eine höhere sittliche Kultur als wie sie das Christentum fordert, wird sie," wie GOETHE überzeugt war, "niemals erfinden."

In der christlichen Philosophie ist gesunder Pessimismus mit edlem Optimismus geeint zu niemals versagender und versiegender Geistes- und Seelenarznei.
LITERATUR - Matthias Marquard, Die pessimistische Lebensauffassung des Altertums, Kempten 1905
    Anmerkungen
    1) zum Beispiel 1882, 1897. "Die fröhliche Wissenschaft" - Abkehr von der pessimistischen Philosophie SCHOPENHAUERs sowie von der im "Parsival" christlich-asketisch gewordenen Kunst RICHARD WAGNERs etc.
    2) In seinen "Bemerkungen über einige anti-religiöse Philosopheme unserer Zeit" (Leipzig 1824, Seite 46f): "Wenn die Heiden", heißt es dort unter anderem, "wirklich diesen Stein der Lebensweisheit besessen hätten, welchen ihnen angeblich das Christentum entriß, so wird doch jeder, der nicht bloß die antike Heiterkeit (Lichtseite), sondern auch die häufig bis zum Gräßlichen gehende antike Verzweiflung (Nachtseite) kennt und dem jene tiefe herzzerreissende Wehmut nicht unbekannt bleiben konnte, die einem finsteren Schatten gleich durch das ganze Heidentum neben den lichtesten Momenten am Rand des Abgrundes hinschreitet, die Haltlosigkeit jener Behauptung leicht einsehen". (siehe GOETHEs Äußerung über diese Bemerkung unter dem Titel "Heidnisches" in "Winkelmann und sein Jahrhundert", 1805, Seite 397)
    3) Die Frage, ob die Griechen eine der biblischen ähnliche Vorstellung von der Erbschuld und dem Fall des Menschengeschlechts, von einem früheren Zustand höherer Vollkommenheit und Reinheit gekannt haben, ist von Sagenforschern und christlichen Theologen viel erörtert worden. Die Titanen- und Prometheus-Sage, die sühnenden Religionsgebräuche für die Reinigung der neugeborenen Kinder - die blutigen Sühneopfer - die Tauro- und Kriobolien [Stier- und Widderjagd | wp] scheinen dies anzudeuten. Die Idee einer uralten, auf dem Geschlecht ruhenden Schuld ist der Grundgedanke der antiken Tragödie.
      "Im Haus des Labdakos seh' uraltes Leid ich,
      Stets erneut, auf's Leid der Geschiedenen stürzen;
      Nimmermehr befreit ein Geschlecht das Geschlecht,
      hinabwirft ein Gott sie; löset nie den Fluch."
      (Sophokles, Antigone)
      SCHILLER, Piccolimini, dritter Aufzug, 9. Auftritt:
      "Es geht ein finstrer Geist durch unser Haus
      Und schleunig will das Schicksal mit uns enden.
      Es zieht mich fort mit göttlicher Gewalt
      Dem Abgrund zu, ich kann nicht widerstreben."
    Auch die Sage von Narcissus, dem schönen Jüngling, der sich von der Liebe zu seinem eigenen Spiegelbild ergriffen in den Fluß stürzt - und die Klage der Ceres um den Raub der Proserpina sind von einigen in diesem Sinn gedeutet worden. (CREUZER, Symbolik und Mythologie in der alten Welt, Bd. III, Seite 552f und 557). Ähnliche Vorstellungen finden sich mehr oder weniger bestimmt in den Mythologien fast aller alten Kulturvölker, so z. B. bei Ägyptern die düstere Totenklage um den zu frühen Tod des Maneros, ein Seitenstück zum Linosgesang (vgl. HERODOT II, 79); ferner in der ältesten Religion der Inder die Vorstellung von der unheilbaren Unseligkeit und Verdammnis (Kalijuga) des Erdenlebens. - Zur Narcissus-Fabel findet sich eine merkwürdige Analogie bei einem neueren orientalischen Mystiker, FERIDODDIN ATTAR (in THOLUCKs Anthologie, Seite 273f). Das Elysium, die Inseln und Gefilde der Seligen, die Gärten der Hesporiden und Atlantis bei den Griechen; die einst blühenden, aber durch den Übermut der Menschen zu Gletscherbergen umgewandelten Gefilde bei den Deutschen; das "goldene Zeitalter" (aurea aetas) bei den Römern wie bei Indern und Persern enthalten wohl den Glauben an eine Erbschuld der Menschheit.
    4) PLUTARCH im Leben Alexanders des Großen (ed. REISKE, Seite 143) berichtet diese Antwort eines indischen Gymnosophisten auf eine Frage des Königs.
    5) vgl. auch J. G. STICKEL, Specimen sententiarum Ali Caliphae, Seite 12: "Die Menschen sind Schläfer; doch wenn sie sterben, wachen sie auf. Das Leben ein Traum, der Tod ein Erwachen, zwischen ihnen der Mensch, ein wandelnd Nachtgesicht. Die Menschen sind wie Schiffer, die schlafend dahinfahren."
    6) HIOB XIV 1 und 2: "Der Mensch, vom Weib geboren, lebt kurze Zeit und ist voll Unruhe; gehet auf wie eine Blume und fällt ab; fleucht wie ein Schatten und bleibet nicht." - vgl. VIII, 9. Psalm 90, 5.6; 102, 14; 103, 15.16: "Der Mensch ist in seinem Leben wie Gras; er blühe wie eine Blume auf dem Feld; wenn der Wind darüber geht, so ist sie nimmer da und ihre Stätte kennt sie nicht mehr." - JERMIAS, 40, 6.7 und besonders SIRACH 14, 19: "Wie mit den grünen Blättern auf einem schönen Baum - etliche fallen ab, etliche wachsen wieder - aso geht es mit den Menschen; etliche sterben, etliche werden geboren, alles vergängliche Ding muß ein Ende nehmen." - Vgl. auch die schönen Verse aus dem Gedicht von ANDREAS GRYPHIUS: "Die Herrlichkeit auf Erden etc.", Strophe 8: "Wie wenn die Sonne aufgehet, die Rose blühend stehet in ihrer Zier, Und doch verwelt sich beuget, eh' sich der Abend neiget, so blühen und verwelken wir". "Vanitas! Vanitatum!" [Eitelkeit der Eitelkeiten! - wp]
    7) HIOB 19, 25: "Aber ich weiß, daß mein Erlöser lebt, und am jüngsten Tag aus dem Staub wird erstehen; und wiederum werde ich umgeben sein von meiner Haut und in meinem Fleisch sehen meinen Gott ... - Es ruhet dies mein Hoffen in meinem Busen" (Vulgata, Übersetzung von LOCH und REISCHL).
    8) Die Anschauungen der Alten über diesen Punkt haben bekanntlich mannigfach gewechselt. Die griechisch-römische Volksreligion ist zu festen und klaren Vorstellungen über die Frage der göttlichen Weltregierung, das Verhältnis der Gottheit zum Menschen, den Ursprung des Bösen und des Übels u. a. ebensowenig gelangt wie die Dichter, vor allem HOMER und die Tragiker, deren Anschauungen ebensosehr den Volksglauben beeinflußten wie sie ihrerseits von ihm Einwirkungen erfuhren. Namentlich bereitet die Stellung des Fatums [Schicksals - wp], die Annahme einer noch über den Göttern stehenden alles beherrschenden, unpersönlichen Schicksalsmacht (moira, eimarmene) der religionsgeschichtlichen und religionsphilosophischen Forschung Schwierigkeiten. Schon bei HOMER ist hierüber keine vollkommene Klarheit und Folgerichtigkeit der Anschauungen zu finden; ebensowenig bei den Späteren. Es ginge über den Rahmen dieser Arbeit, auf diese schwierige und verwickelte Frage näher einzugehen. Wer möglichst gute Belehrung sucht, mag sie in den älteren Schriften von NÄGELSBACH ("Homerische Theologie", dritte Auflage, 1881 und "Nachhomerische Theologie", Nürnberg 1857) als der umfassendsten und grundgehenden Behandlung des Gegenstandes finden. Auch LEHRs "Populäre Aufsätze aus dem Altertum" bieten manches Wertvolle.
    9) Über die antike Vorstellung vom Neid der Gottheit vgl. die angeführten Schriften von NÄGELSBACH, wo auch die Spezialliteratur angemerkt ist.
    10) ERNST MORITZ ARNDT: "Das Glück, das glatt und schlüpfrig rollt, tauscht in Sekunden seine Pfade, Ist heute mir, dir morgen hold und treibt die Toren rund im Rade."
    11) Bekannt ist die Äußerung des platonischen SOKRATES, daß das Leben des Philosophen nur eine stetige Vorbereitung auf den Tod, ein unausgesetztes Vorausbedenken des Sterbens ist. - Entgegengesetzt dachte über diesen Punkt ein moderner Weltweiser, SPINOZA, Ethik IV prop. 67: "Der freie Mensch, das Gute direkt wünschend, denkt über nichts weniger als über den Tod (eius sapientia non mortis, sed vitae meditatio est. [seine Weisheit liegt darin, daß er nicht über den Tod, sondern über das Leben nachdenkt. - wp])
    12) Vgl. die Klage der Brahmanen über die Lebensunseligkeit bei BOPP, Episoden des Mahabharata, Seite 30: "Schmach dem Leben, dem wehvollen, bestandlosen in dieser Welt, Wurzel des Leids ist's, abhängig, mit Drangsalen erfüllt ganz. Ein gewaltiger Schmerz haftet am Leben, Leben ist nur Leid, wer da lebt, der muß dulden die Schmerzen, die ihm nah'n gewiß." Siehe auch DEMOKRIT (bei Pseud. Hippokr. I 810): "Der ganze Mensch ist von Geburt aus eine Krankheit."
    13) GOETHE, Götz von Berlichingen (5. Aufzug), Weislingen: "Wir Menschen führen uns nicht selbst; bösen Geistern ist Macht über uns gelassen."
    14) FRIEDRICH SCHLEGEL, "Über die Sprache und Weisheit der Inder, Seite 99. Nachdem Manu die Erschaffung aller Naturkräfte, der lebendigen Wesen, Tiere und Gewächse besungen hat, die als ebensoviele eingehüllte Geister gedacht werden, schließt er mit der allgemeinen Betrachtung: von vielgestaltigem Dunkel umkleidet, ihrer Taten Lohn, Endes bewußt sind diese alle mit Freud- und Leidgefühl begabt." So in Finsternis gebunden und doch innig gefühlvoll, des Todes und ihrer Schuld sich bewußt wandeln sie auf der Bahn, die der Schöpfer ihnen von Anfang an bestimmte, dem unausweichlichen Ziele engegen: "Diesem Ziel nach nun wandeln sie, aus Gott kommend bis zur Pflanze herab | in des Seins schrecklicher Welt hier, die stets hin zum Verderben sinkt." In diesen Worten, fährt SCHLEGEL fort, ist gleichsam die Seele des ganzen Systems ausgesprochen, das herrschende Grundgefühl desselben. Was die Dichter der Alten in einzelnen Sprüchen vom Unglück des Daseins singen, jene traurigen Strahlen einer durchaus furchtbaren Weltansicht, die sie in bedeutsamen Trauerspielen aus dem Gedanken eines dunklen Schicksals über die Sagen und Geschichten von Göttern und Menschen verbreiten, sammle man sich ein Bild und allumfassendes Ganzes und verwandle das vorübergehende dichterische Spiel in einen bleibenden ewigen Ernst, so wird man am Besten das Eigentümliche dder alten indischen Ansicht aufgefaßt haben.
    15) SCHLEGEL zu Manu: "Zahllose Weltentwicklungen gibt es, Schöpfungen, Zerstörungen, spielend gleichsam wirkt er dies, der höchste Schöpfer für und für." - "Der Begriff von der Zwecklosigkeit der Welt und einer bloß spielenden Tätigkeit Gottes hängt wesentlich zusammen mit jener Ansicht eines ewigen Kreislaufs. In späteren Systemen ist dies die stets wachsende Kontraktion und Ausdehnung der höchsten Grundkraft, das Pulsieren der Weltseele." (a. a. O., Seite 115) Ähnliche Anschauungen, freilich in idealer und dem göttlichen Wesen harmonischer Bedeutung begegnen uns in der religiösen Mystik des Christentums. - Vgl. das Wort des persischen Mystikers DSCHELALLEDIN RUMI, bei THOLUCK, "Anthologie etc.", Seite 88: "Mann und Weib in Eins vereint das Ursein ist; alle Vielheit in dem Eins vertilgt du bist, du die Ich und Ihr, die all der Weltkreis faßt, Schach zu spielen mit dir selbst geschaffen hast." Und ebd. Seite 139: "... für Gott die Wesenwelt das Schachbrett ist, | Spiel und Steine, wisse, Gott der Spieler ist." - Von den christlichen Theosophen ist zu JAKOB BÖHME zu vergleichen (Vom dreifachen Leben, Kapitel XI: "Wir waren vor der Zeiten Welt in seiner (Gottes) Weisheit erkannt, und er schuf uns ins Wesen, auf daß ein Spiel ihm sei. Die Kinder sind unsere Lehrmeister ..., wenn sie geboren sind, so ist ihr erstes, daß sie lernen mit sich selber spielen, und wenn sie größer sind, spielen sie miteinander: also hat Gott von Ewigkeit in seiner Weisheit in unserer kindlichen Verborgenheit mit uns gespielt."
    16) Es wäre hier der Ort, auf die Ansichten der Alten vom Selbstmord näher einzugehen; doch müssen wir uns begnügen, auf die Spezialuntersuchungen über diesen Gegenstand zu verweisen. Eine brauchbare Zusammenstellung gibt STÄUDLIN, Geschichte der Vorstellungen und Lehren vom Selbstmord, Göttingen 1824. Nur darauf sei kurz hingewiesen, daß es im Altertum nicht die schwächlichen, an Geist und Körper zerrütteten Naturen sind, die diesen Ausgang aus dem Leben wählen, sondern gerade die kraftvollen, bedeutenden, hochgesinnten Menschen, wie - von Herrschern - SESOSTRIS, OTHO (Tacitus, hist. II, Seite 46); von Heerführern THEMISTOKLES, HANNIBAL; ferner DEMOSTHENES, SERTORIUS und vor allem der tugendstrenge PORCIUS CATO. In den sinkenden Zeiten des Römertums war der Selbstmord bekanntlich sehr häufig, und fast immer waren es die edelsten Naturen, die den freiwilligen Tod wählten, undd meistens Anhänger der Stoa, d. h. derjenigen Philosophie, die für eine oberflächliche Betrachtung eine gewisse Ähnlicheit und mutatis mutandis [unter vergleichbaren Verhältnissen - wp] Verwandtschaft mit den Lehren des Christentums zeigt. - eine Verwandtschaft, die bei schärferem Zusehen und tiefdringender Vergleichung allerdings verschwindet.
    17) SCHILLER, Brief an Goethe vom 17. August 1797 - siehe auch MONTESQUIEU, Geist der Gesetze, 24.3: "Wunderbare Erscheinung, die christliche Religion, die nur das Glück des künftigen Lebens zum Gegenstand zu haben scheint, sie begründet auch das Glück des gegenwärtigen Lebens."