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FERDINAND BROCKERHOFF
Rousseaus Abhandlung über
den Ursprung der Ungleichheit


"Es gibt unter den Menschen zwei Arten von Ungleichheit, die wohl unterschieden werden müssen. Die eine, man könnte sie die natürliche oder physische Ungleichheit nennen, besteht in der Verschiedenheit des Alters, der Gesundheit, der körperlichen Kräfte und geistigen Anlagen. Die andere mag als moralische oder politische Ungleichheit bezeichnet werden, denn sie hängt von einer gewissen Übereinkunft ab, und ist durch die Zustimmung der Menschen begründet oder doch autorisiert worden. Sie besteht in bestimmten Vorrechten, deren sich die einen auf Kosten der anderen erfreuen, wie in dem Privilegiumm, reicher, mächtiger, geehrter zu sein als sie, oder gar ihre Herren zu spielen."

"Der Mensch wird mit den stets wachsenden Bedürfnissen immer abhängiger, wie von der Natur, so namentlich von Seinesgleichen. Ist er arm, so bedarf er des fremden Beistandes, wenn reich, kann er die Dienste anderer nicht entbehren und wird ihr Sklave, selbst wenn er ihr Herr ist. Unausgesetzt muß jeder darauf bedacht sein, die übrigen für sich zu interessieren oder sie doch glauben zu machen, daß sein Vorteil auch der ihrige ist. Listig und trugvoll gegen die einen, ist er hart und gebieterisch gegen die anderen; alle aber, die er nötig hat und nicht durch Furcht beherrschen kann, muß er notwendig zu täuschen suchen. Von Ehrgeiz und Habsicht getrieben, immer darauf aus, sich über die anderen zu erheben, verfolgt man sie mit einer geheimen Eifersucht, die nicht selten unter der Maske des Wohlwollens noch gefährlicher wird, und trägt kein Bedenken, sich gegenseitig zu schaden, wo es ohne Gefahr geschehen kann. So sind Konkurrenz und Rivalität auf der einen, Widerstreit der Interessen auf der anderen Seite, besonders aber der geheime Wunsch, seinen Vorteil auf Kosten anderer zu sichern, die erste Wirkung des Eigentums und der entstehenden Ungleichheit."

"Die Ansicht, nach welcher der Staat aus der Vereinigung der Schwachen und Armen zum Schutz gegen die Reichen und Mächtigen hervorgegangen ist, ist nicht haltbar. Er ist vielmehr ein Werk derjenigen, für die er allein wirklichen Nutzen hat, der durch Besitz oder sonstwie Mächtigen."


Die Schrift "Abhandlung über den Ursprung der Ungleichheit" hatte in der Tat das Schicksal gehabt, welches ihr ROUSSEAU ihr bei der Absendung in Aussicht stellte. Sie war weder mit dem Preis, noch auch selbst mit dem Accessit [lobende Erwähnung - wp] beehrt worden. Die Akademie mochte doch Bedenken tragen, sich zum zweiten Mal in Gefahr zu begeben. Sie zog es vor, andere Arbeiten zu krönen, die nie veröffentlicht wurden, und ebenso unbekannt geblieben sind, wie ihre Verfasser. ROUSSEAU nahm umso weniger Anstand, von ihrem Urteil an das des größeren Publikums zu appellieren, da die frühere Scheu vor einem solchen Schritt nicht mehr bestand, und sich ihm eine günstige Gelegenheit zur Veröffentlichung darbot. Er hatte in Genf die Bekanntschaft REYs, eine Buchhändlers aus Amsterdam, gemacht und ihn leicht bewogen, den Verlag seiner Schrift zu übernehmen. Gehörte sie ja doch durch die neuen und kühnen Ansichten, welche in ihr rücksichtslos verfochten wurden, sowie durch die vernichtenden Angriffe auf das Bestehende, die sie enthielt, in die Kategorie jener Oppositionsliteratur, welche, damals in Frankreich selbst durch Zensur und drohende Anklage beengt, die Druckerpressen des freien Holland stets bereit fand, sie zu verbreiten. Im Sommer des nächsten Jahres 1755 konnte ROUSSEAU den Genfer Freunden Exemplare seiner Abhandlung zustellen.

Um dieselbe Zeit wurde sie auch in Frankreich bekannt, erregte aber keineswegs ein so großes Aufsehen, wie man bei ihrem ungewöhnlichen Inhalt und nach den Erfolgen der früheren Schriften hätte erwarten sollen. Vielmehr blieb alles bei ihrem Erscheinen still, niemand erhob sich zur Widerlegung. Sie fand, wie ROUSSEAU meint, "nur wenige Leser, die sie verstanden, und diese wenigen hielten es für angemessen, zu schweigen" Und dem mochte wirklich so sein. Das Thema der Schrift war doch zu abstrakter Art, als daß es einen größeren Kreis von Lesern lebhaft hätte interessieren können, und die gründliche, folgerechte Erörterung ebensowenig, wie das allen bis dahin geltenden Ansichten widerstreitende Resultat, zu welchem sie hinführte, geeignet, eine allgemeinere Parteinahme für oder wider zu veranlassen.
    "Es gibt", so beginnt ROUSSEAU, "unter den Menschen zwei Arten von Ungleichheit, die wohl unterschieden werden müssen. Die eine, man könnte sie die natürliche oder physische Ungleichheit nennen, besteht in der Verschiedenheit des Alters, der Gesundheit, der körperlichen Kräfte und geistigen Anlagen. Die andere mag als moralische oder politische Ungleichheit bezeichnet werden, denn sie hängt von einer gewissen Übereinkunft ab, und ist durch die Zustimmung der Menschen begründet oder doch autorisiert worden. Sie besteht in bestimmten Vorrechten, deren sich die einen auf Kosten der anderen erfreuen, wie in dem Privilegiumm, reicher, mächtiger, geehrter zu sein als sie, oder gar ihre Herren zu spielen."

    "Nach dem Ursprung der natürlichen Ungleichheit zu fragen, wäre sehr überflüssig. Die einfache Erklärung des Wortes würde schon die Antwort enthalten. Weniger noch darf man untersuchen wollen, ob zwischen ihr und der politischen Ungleichheit ein wesentlicher Zusammenhang besteht. Denn das hieße die Frage aufwerfen, ob die Befehlenden notwendig besser sind als die Gehorchenden, ob körperliche und geistige Kraft, Weisheit oder Tugend bei den einzelnen Individuen zu ihrer Macht oder ihrem Reichtum in einem richtigen Verhältnis stehen, eine Frage, die von Sklaven vor den Ohren ihrer Herren erörtert werden mag, vernünftigen und freien Menschen aber nicht geziemt."

    "Die soziale Ungleichheit, wie sie in der bürgerlichen Gesellschaft besteht, wird keineswegs durch die natürliche bedingt. Sie ist es so wenig, daß sie ihr meist geradezu widerspricht. Die Macht ist nicht selten das Vorrecht der Schwäche, Ansehen und Reichtum sind im Besitz derer, die sich durch Mangel an Geist und Charakter auszeichnen. Eine sonderbare Anomalie, die sich, scheint es, nur durch eine Reihe von Wundern erklären läßt. Wir konnte sich der Starke entschließen, dem Schwachen zu dienen? die geistige und sittliche Tüchtigkeit bestimmt werden, sich der Impotenz unterzuordnen? Das ist die Frage, die hier beantwortet werden soll Sie fällt zusammen mit der nach den Umständen und Ereignissen, durch welche das Recht an die Stelle der Gewalt gesetzt, die Natur dem Gesetz unterworfen wurde."

    "Die sozialen Unterschiede sind so alt, wie die Gesellschaft, in welcher sie gelten. Man kann ihre Quelle nicht aufdecken, ohne zugleich die Entstehung des gesellschaftlichen Lebens überhaupt zu erforschen. Um aber den Ursprung der Gesellschaft zu erklären, ist es nötig, auf den Naturzustand zurückzugehen, der ihr vorausliegt, oder doch der Idee nach vorausgesetzt werden muß, denn ob ein solcher wirklich existiert hat, ist mindestens zweifelhaft. Wer die Autorität der heiligen Schrift nicht in Frage stellen will, kann es unmöglich zugeben, er müßte sich denn zu der paradoxen Annahme verstehen, daß die Menschen, nachdem sie bei der Schöpfung durch die unmittelbare Einwirkung der Gottheit über den reinen Naturzustand hinausgehoben worden, später infolge ungewöhnlicher Ereignisse, in denselben zurückgefallen seien. Wenn aber die Religion gebietet, den Menschen als ein Werk der bildenden Hand Gottes zu betrachten, so verbietet sie darum nicht, auf dem Wege der Konjektur [Deutung - wp] zu untersuchen, was wohl aus dem Menschengeschlecht hätte werden können, wenn es, ganz sich selbst überlassen, sich lediglich seiner Natur gemäß entwickelt hätte."

    "Die Voraussetzung eines Naturzustandes nimmt diesen nicht als eine geschichtliche Tatsache. Sie hat nur die Bedeutung einer Hypothese, welche mehr geeignet ist die Natur der Dinge aufzuhellen, als ihren wahren Ursprung nachzuweisen. Will man aber die Grundlagen der Gesellschaft näher untersuchen, so kann man ihrer nicht entbehren. Auch haben alle Denker und Philosophen, die sich mit diesem Gegenstand beschäftigten, einen ursprünglichen Naturzustand angenommen. doch sind sie nicht imstande gewesen, ihn in seiner vollen Reinheit aufzufassen. Die Begriffe von Recht und Unrecht, von Regierung und Eigentum, die mannigfachen Begierden und Leidenschaften, welche sie ihm mehr oder weniger bestimmt zuweisen, gehören ohne Zweifel einer späteren Kulturperiode an. Sie konnten sich eben nicht ganz von den Vorstellungen trennen, die sie aus dem gesellschaftlihen Leben mitbrachten. Verfallen wir nicht in diesen Irrtum; es kommt darauf an, den Menschen so zu schildern, wie er, entblößt von allen übernatürlichen Gaben, die ihm haben zuteil werden können, wie von allen künstlichen Fähigkeiten, die er durch den Fortschritt seiner Entwicklung hat erlangen mögen, aus der Hand der Natur hervorgegangen ist."
Der erste Teil der Abhandlung hat die Aufgabe, das Wesen und das Leben des einfachen Naturmenschen in seinen charakteristischen Zügen vorzuführen. Es wird sich ergeben, daß bei ihm von Ungleichheit nicht, oder doch kaum die Rede sein kann. Einem zweiten Abschnitt bleibt es dann vorbehalten, die Motive und Ursachen zu entwickeln, welche den Übergang aus dem Naturzustand in das gesellschaftliche Leben, und damit zugleich die Verkehrung der natürlichen Gleichheit in die soziale Gleichheit herbeiführen. Sehen wir uns zunächst das Bild etwas genauer an, welches ROUSSEAU vom ursprünglichen Naturmenschen entwirft.
    "Der Naturmensch ißt, trinkt und schläft; in dieser dreifachen Funktion erschöpft sich zu ziemlich seine ganze Lebenstätigkeit. Auch bedarf es zu ihrer Entfaltung keiner besonderen Kraftanstrengung; wir sehen das Kind der Natur, wie es sich sättigt unter einer Eiche, an der nahen Quelle den Durst stillt und sein Lager am Fuß desselben Baumes findet, der ihm seine Nahrung bot. So einfach seine Bedürfnisse sind, so leicht wird es ihm, sie zu befriedigen. Denn nocht ist die Erde im vollen Besitz ihrer natürlichen Fruchtbarkeit; der künstliche Anbau hat ihre ursprüngliche Produktionskraft noch nicht geschwächt; überall bringt sie in den mannigfachen Früchten ihrer ungemessenen Wälder dem Menschen eben die Nahrung entgegen, welche für ihn vielleicht die angemessenste ist. Jedenfalls findet er leicht und mühelos, was er zu seiner Erhaltung bedarf. Selbst, wie es scheint, ohne einen besonderen Instinkt, ist er umso mehr befähigt, sich den aller übrigen Tierarten anzueignen, und eben darum die meisten der Nahrungsmittel, welche diese unter sich verteilen, gleichmäßig und ohne Unterschied zu benutzen. In dieser Beziehung ist er ohne Zweifel seinen Mitgeschöpfen aus der Tierwelt überlegen. Überhaupt aber läßt sich nicht verkennen, daß, wenn er den einen an Kraft, und den anderen an Behendigkeit nachsteht, er doch im Ganzen höher und besser organisiert ist, als sie alle."
Doch ist er deshalb von ihnen nicht wesentlich verschieden. Der Naturmensch im Sinne ROUSSEAUs erhebt sich zunächst nicht über das Tier. Seine Natur ist eben die tierische; nur erscheint diese in ihm auf einer höheren, ja auf der höchsten Stufe der Entwicklung, deren sie als solche fähig ist. Nicht als ob die eine oder andere Seite des tierischen Organismus, die eine oder andere Funktion des tierischen Lebens nicht in anderen Tiergattungen energischer und in schärferer Ausprägung hervorträte, wie in der menschlichen. Vielmehr bedingt die universelle Weise, in welcher das Wesen des Tieres sich im Menschen offenbart, eine mehr gleichmäßige, und darum weniger pointierte Entwicklung seiner einzelnen Momente. Der Tiermensch gleich darin jeder anderen Tierart, daß ihre allgemeine tierische Natur auch die seinige ist; er unterscheidet sich von ihr dadurch, daß er diese Natur in ihrer Totalität repräsentiert. Sie faßt sich in ihm gleichsam zu einem konzentrierten Ausdruck ihres substantiellen Inhaltes zusammen. Daß sie sich damit zugleich über sich selbst erhebt, ist eine andere Seite der Sache, die dem scharfen Blick ROUSSEAUs nicht ganz entging, aber doch auch nicht deutlich und bestimmt genug entgegentrat. Für ihn ist die  absolute  Verschiedenheit, welche den Menschen, auch wenn er als einfaches Naturwesen gefaßt wird, vom Tier trennt, nur ein  relativer  Unterschied. Doch folgen wir ihm auf seinem Weg weiter.
    "Der Naturmensch erfreut sich einer festen, unveränderlichen Gesundheit. Stark und kräftig schon von Geburt, wird er es noch mehr durch die Lebensweise, die er zu führen gezwungen ist. Geborene Schwächlinge duldet die Natur ebensowenig, wie das alte Sparta; sie läßt sie rücksichtslos zugrunde gehen. Wer aber gesund und normal gebildet ins Leben tritt, den stählt und kräftigt der stete Aufenthalt im Freien, die frühe Gewöhnung an die mannigfachsten Witterungsverhältnisse, sowie der unausgesetzte Kampf, welchen er mit der feindlichen Tierwelt zu führen hat. Die Not zwingt ihn, die angeborenen Kräfte möglichst auszubilden. Der Körper ist eben das einzige Werkzeug, dessen er sich bedienen kann; die künstlichenn Instrumente, deren Gebrauch es beim zivilisierten Menschen zur Entwicklung seiner natürlichen Stärke und Gewandtheit gar nicht kommen läßt, sind ihm noch unbekannt. So zu vollen und freien Gebrauch seiner physischen Kräfte gelangt, macht es ihm allerdings Vergnügen, sie spielen zu lassen. Doch ist er darum keineswegs, wie HOBBES meint, von wilder Streitlust erfüllt, und nur auf Kampf und Angriff bedacht. Wenn er aber nicht geneigt ist, sich ohne Not in Gefahr zu begeben, so wird er andererseits ebensowenig vor ihr zurückweichen, falls sie ihm entgegentritt. Die Ansicht derer, welche den Naturmenschen für ein scheues, furchtsames Wesen halten, ist ebenso grundlos, wie die entgegengesetzte. Man muß freilich zugeben, daß er beim Anblick einer neuen, ungewohnten Erscheinung vorübergehend erschrecken mag, weil und solange er nicht weiß, ob sie ihm Gutes oder Schlimmes bringt, und ob er selbst imstande ist, den Gefahren zu begegnen, die sie ihm etwa bereiten kann. Doch Erscheinungen dieser Art können im Naturzustand, wo alles seinen regelmäßigen gleichförmigen Gang geht, und die leidenschaftliche Unruhe des Völkerlebens noch nicht zu steten plötzlichen Veränderungen treibt, nur ausnahmsweise eintreten. In der Regel gibt er dem Menschen keinen Anlaß, sich zu ängstigen, denn die wilden Tiere, seine einzigen Feinde, treten als solche doch nur auf, wenn der Trieb der Selbsterhaltung sie dazu zwingt, flößen ihm aber auch dann keinen sonderlichen Schrecken ein, weil er sich ihnen gewachsen fühlt."

    "Ebensowenig hat er die furchtbaren Feinde, welche die unbesiegbare Schwäche der eigenen Natur gegen den Menschen aufruft, zu fürchten. Freilich muß er, wie jedes andere lebende Wesen, die hilflose Ohnmacht der Kindheit, wie die wachsenden Beschwerden des Alter ansich erfahren. Aber er erfährt sie doch nur in sehr geringem Maße. Von Natur stark und gesund, kommt das Kind bald dahin, der mütterlichen Fürsorge, die ihm ohnehin nur so lange zu teil wird, als es durchaus nötig ist, entbehren zu können. Beim Greis aber hält die Abnahme der Bedürfnisse mit dem Schwinden der Kräfte so ziemlich gleichen Schritt; er stirbt allmählich dahin, man merkt es kaum, wie er aufhört zu sein. Es ist eben nur die normale Erschöpfung der Lebenskraft, die ihm den Tod bringt, nicht eine jener zahllosen Krankheiten, die den zivilisierten Menschen von der Wiege bis zum Grab mit ihren mannigfachen Schmerzen und Leiden verfolgen. Die Natur kennt diese schlimmsten Feinde des menschlichen Glückes nicht; sie sind fast alle unser eigenes Werk, die traurige Frucht der naturwidrigen Verhältnisse, welche unser gesellschaftliches Zusammenleben notwendig zur Folge hat. Man darf wohl behaupten, daß die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaften zugleich die der menschlichen Krankheiten ist. Freilich geht dem wachsenden Übel die medizinische Kunst fortschreitend zur Seite; man darf jedoch ihren Wert nicht überschätzen. Noch steht keineswegs fest, daß mit dem Grad der Pflege und Ausbildung, die ihr zuteil werden, die mittlere Lebensdauer des Menschen steigt. Auch kann das nicht wohl der Fall sein, da die Zahl der neuauftretenden Krankheiten stets weit größer ist, als die der Heilmittel, welche die Medizin zu bieten vermag. Jedenfalls ist der Naturmensch in der Lage, diese zweideutige Kunst entbehren zu können; er kennt neben der Schwäche des Alters keine anderen physischen Gebrechen, als die im Kampf erhaltenen Wunden, und diese heilen bei ihm, wie bei den übrigen Tieren, in der Regel von selbst."
Mit Recht macht ROUSSEAU hier, wie anderswo, darauf aufmerksam, daß man sich wohl hüten muß, den einfachen Menschen der Natur mit dem der Gesellschaft zu verwechseln. Was für den einen eine Wohltat ist, ist es, meint er, darum noch lange nicht auch für den anderen; wer die Leiden kennt, die sie zu lindern bestimmt ist, den braucht man nicht zu bedauern, weil er auf die Hilfe der Medizin verzichten muß.
    "Ebensowenig", fährt er dann fort, "ist es ein Unglück, die mannigfachen Bequemlichkeiten des gesellschaftlichen Lebens zu entbehren, solange sie nicht zum Bedürfnis geworden sind. Wenn es dem Naturmenschen sowohl an Kleidung, wie an einer künstlichen Wohnung fehlt, so ist dieser Mangel für ihn ohne Nachteil und Bedeutung. Man darf sogar behaupten, daß derjenige, welcher sich zuerst einen Rock verfertigte oder ein Haus baute, sich damit in den Besitz von ziemlich überflüssigen Dingen setzte, da er sie ja bis dahin entbehren konnte. Daß beim Naturmenschen von feineren Bedürfnissen, wie sie das soziale Leben in zahllosen Formen erzeugt, nicht die Rede ist, versteht sich von selbst. Er ist sogar physisch unfähig, sie zu hegen, denn die Sinne des Gefühls und Geschmacks, auf welche sie meistens zurückgehen, sind bei ihm nur sehr unvollkommen entwickelt. Eine weit größere Ausbildung zeigen Gesicht, Gehör und Geruch, wie überhaupt alle Organe, deren er zum Angriff oder der Verteidigung bedarf. Sie sind auch für ihn die allein notwendigen, denn außer dieser zweifachen Tätigkeit, zu welcher die Sorge um seine Selbsterhaltung ihn antreibt, kennt und übt er keine andere. Nimmt sie ihn nicht in Anspruch, so ist er müßig, und kann sich dem leichten Schlaf überlassen, dem er sich, wie alle Tiere, die wenig denken, in seiner Einsamkeit gerne hingibt."
Das sind nach der Ansicht ROUSSEAUs die vornehmsten Züge, welche das Wesen des Naturmenschen in seinem physischen Teil charakterisieren. Fassen wir nun die von ihm sogenannte metaphysische oder moralische Seite desselben etwas näher ins Auge.
    "Geleitet von seinem natürlichen Instinkt oder von Kräften, die ihm diesen ersetzen, über der Mensch zunächst nur die rein tierischen Funktionen aus. er nimmt wahr und empfindet, wie alle anderen Tiere; Wollen und Nichtwollen, Begehren und Fürchten sind die ersten und fast einzigen Tätigkeiten seiner Seele. Zu einer weiteren Entwicklung des geistigen Lebens kommt es bei ihm nicht. Wie sollte es auch? Kein Zweifel, daß die Bildung des Verstandes, der Fortschritt im Denken und Erkennen in hohem Grad von den Leidenschaften abhängt. Man sucht eben nur das näher kennen zu lernen, was man zu besitzen wünscht. Die Leidenschaften aber, zu deren Entwicklung freilich die Kenntnisse nicht wenig beitragen, haben ihren Ursprung doch in den Bedürfnissen. Und von diesen kennt der Naturmensch nur die, welche das physische Leben des Körpers bedingt. Sie aber sind so einfach und so leicht zu befriedigen, daß er sich aller Sorge und Voraussicht entledigen kann. In der Tat überläßt er sich ganz und ausschließlich dem Gefühl der unmittelbaren Gegenwart. Von der Zukunft, wie nahe sie auch sein mag, hat er keine Vorstellung, und seine Pläne, so beschränkt wie sie sind, gehen kaum über den Schluß des Tages hinaus. Die Wünsche des Herzens sind ihm frem; die Phantasie hat keine Veranlassung, ihre lockenden Bilder zu malen; die stets gleiche Ruhe der Seele schließt alle auf- und anregenden Bewegungen aus. Selbst die Erscheinungen der Natur, wie groß und gewaltig sie auch sind, machen keinen tieferen Eindruck. An sie gewöhnt, geht der Mensch gleichgültig an ihnen vorüber. Ihn setzt nichts in Erstaunen oder Schrecken; er wünscht nichts, fürchtet nichts, nimmt an nichts Interesse. Wie sollte es ihm auch in den Sinn kommen, über irgendetwas nachzudenken? wie es ihm möglich werden, sich irgendwelche Kenntnisse anzueignen?"
Gewiß hat ROUSSEAU bei seinen Voraussetzungen Recht, wenn er die ersten Anfänge des Denkens und Wissens fast unbegreiflich findet. Ist der Mensch ursprünglich ein rein physisches Wesen, so bedarf es allerdings eines Wunders, um den Ursprung des geistigen Lebens zu erklären. Freilich bleibt auch bei der Annahme, daß der Mensch wenigstens den gleichsam latenten Keim des Geistes in sich trage, die Entfaltung desselben unter den gegebenen Natur- und Lebensverhältnissen ein kaum lösbares Rätsel. Man muß ROUSSEAU zustimmen, wenn er sagt:
    "Ohne die Mitwirkung des gegenseitigen Verkehrs, und ohne den Stachel der Notwendigkeit, Bedingungen, die hier eben  nicht  stattfinden, war die Erwerbung auch der einfachsten Kenntnisse mit fast unüberwindlichen Schwierigkeiten verknüpft. Jahrhundert mochten vergehen, bevor der sich selbst überlassene Naturmensch ein anderes Feuer, als das des Himmels, auch nur wahrnahm, und eine endlose Reihe von Zufällen mußte eintreten, bevor auch nur die gewöhnlichsten Anwendungen dieses Elementes kennen lernte. Wie oft mochte es erlöschen, bevor er die Kunst verstand, es zu erneuern? Und als die Entdeckung gemacht war, wie oft mußte sie, bei der isolierten Lebensweise der Einzelnen, mit dem, der sie gemacht hat, wieder verloren gehen? Weit schwieriger noch wurde es ihm, die Kunst des Landbaus, welche soviel Arbeit und Voraussicht erfordert, und von so vielen anderen Künsten abhängt, zu lernen und zu üben. Man darf eben nicht außer Acht lassen, daß ihm das wirksamste Vehikel der geistigen Bildung, der gesellschaftliche Verkehr, und mit ihm auch das geist- und gedankenweckende Medium desselben, die Sprache, fehlte."
Nicht ohne Grund wird gerade dieser Mangel von ROUSSEAU nachdrücklich betont. Er erörtert mit großem Scharfsinn die vielfachen Hindernisse, auf welche die "Erfindung" und die allmähliche Entwicklung der Sprache stoßen mußte.
    "Sie sind", sagt er, "so groß und zahlreich, daß ihre Überwindung nur unter der Voraussetzung möglich erscheint, daß die Sprache ein unumgängliches Bedürfnis war. Das aber war sie nicht; ohne alle Gemeinschaft mit seines Gleichen, konnte der Naturmensch sie nicht nur entbehren, sie mußte für ihn sogar ein sehr überflüssiger Besitz sein. Freilich wäre dem nicht so, wenn er, wie das Manche annehmen, von allem Anfang an in einem mehr oder minder umfassenden Familienverband lebte. Aber diese Verbindung ist, wie jede andere, auch in ihren einfachsten Formen eine soziale Institution, die man auf den Naturzustand nicht übertragen darf. Dieser erkennt nur eine solche Verbindung von Mann und Weib an, wie sie aus dem augenblicklichen physischen Bedürfnis entspringt, und mit seiner zufälligen Befriedigung auch wieder wegfällt. Ebenso lose und vorübergehend ist das Verhältnis des Kindes zu den Eltern. Sobald es sich selbst erhalten kann, trennt es sich von der Mutter, um sie ebenso schnell zu vergessen, wie es von ihr vergessen wird. Räumen wir aber auch das Bedürfnis ein, so wird damit die Möglichkeit der Sprachbildung noch nicht begreiflicher. Mittel des Gedankenaustausches, wie sie es ist, setzt sie einen gewissen Vorrat an Gedanken oder Vorstellungen voraus, der doch ohne sie nicht füglich erworben werden konnte. Auch scheint es konnte man zu dem Entschluß, sich der Stimmlaute als Dolmetscher seiner Ideen zu bedienen, nur infolge einer gemeinsamen Übereinkunft gelangen, die ohne ein anderes vorgängiges Kommunikationsmittel unmöglich sein mußte. Die Sprache setzt also gleichsam sich selbst, oder doch etwas ihr Ähnliches, von dem man sich aber keine Vorstellung machen kann, zu ihrer Erklärung voraus. Ist sie aber einmal entstanden, so hat ihre Entwicklung bei jedem Schritt, den sie vorwärts tut, mit neuen Schwierigkeiten zu kämpfen."
Die Art und Weise, wie ROUSSEAU sich die fortschreitende Bildung der Sprache denkt, ist interessant genug. Wir kommen darauf an einer anderen Stelle zurück; hier dient ihm diese Erörterung nur dazu, nachzuweisen,
    "wie schwer die Natur es dem Menschen gemacht hat, aus seiner ursprünglichen Vereinzelung zu einer gesellig geistigen Gemeinschaft überzugehen." "Sie hat, so scheint es, ihm alle möglichen Hindernissen in den Weg gelegt, damit er sich nicht für eine Lebensweise bestimme, zu welcher er eben  nicht  bestimmt war."
Man mag über die Realität des Naturzustandes, wie ihn ROUSSEAU schildert, denken, wie man will, und ihm selbst hat er ja nur eine hypothetische Bedeutung, jedenfalls hat er sich mit Erfolg bemüht, ihn in seiner Reinheit darzustellen, aus seiner Charakteristik alle die Züge fern zu halten, welche von anderen, infolge einer unwillkürlichen Befangenheit, aus dem sozialen Leben in sie hineingetragen wurden. So bemerkt er gegen HOBBES, daß der Mensch
    "darum von Natur nicht böse sei, weil er die sittliche Güte nicht kennt, und wenn er keine Tugenden hat, deshalb keineswegs für lasterhaft gehalten werden darf. Die Begriffe Tugend und Laster, gut und schlecht, und andere der Art, können nur da Anwendung finden, wo ich unter den Menschen eine sittliche Gemeinschaft mit ihren anerkannten Geboten und Pflichten bereits herausgebildet hat. Im Naturzustand gibt es eine solche nicht; der Mensch ist hier ebensowenig ein moralisches, wie ein denkendes Wesen. Ob er deshalb, fügt ROUSSEAU hinzu, unser Bedauern verdient, mag dahingestellt bleiben; es fragt sich doch noch, ob die Laster seiner zivilisierten Brüder nicht zahlreicher sind, als ihre Tugenden, und ob jene nicht mehr Unheil anrichten, als diese Gutes stiften. Hat der natürliche Mensch von anderen nichts zu hoffen, so hat er auch von ihnen nichts zu fürchten. Jeder geht eben seinen eigenen Weg, ohne die Übrigen zu stören, oder sich selbst stören zu lassen. Freilich hat man den Naturzustand einen Krieg aller gegen alle genannt. Diese Bezeichnung, die weit eher für das soziale Leben zutreffen würde, ist jedoch völlig grundlos. Der Naturzustand ist so wenig ein Herd des Streites und Kampfes, daß er sich im Gegenteil ganz besonders zu einem Asyl des Friedens eignet, denn in ihm ist das Interessen an der  eigenen Selbsterhaltung  für die der  anderen  am wenigsten nachteilig. Unter Menschen, die nicht von starken Leidenschaften beherrscht werden, und mehr wild, als bösartig, weniger daran denken, anderen Übles zuzufügen, als sich selbst vor solchem zu bewahren, kann es kaum gefährliche Zwistigkeiten geben. Ohne allen gegenseitigen Verkehr, und darum auch frei von eitler Selbstüberhebung, wie von der Geringschätzung anderer, völlig unbekant mit den Begriffen des Mein und Dein, wie mit denen des Rechts, nicht gewohnt, die erlittene Gewalttätigkeit als eine schwer, zu überlegter Rache auffordernde Unbill zu betrachten, können auch ihre etwaigen Streitigkeiten keine blutigen Folgen haben."

    "Es kommt hinzu, daß beim Naturmenschen die Wirksamkeit der Eigenliebe, sofern von einer solchen überhaupt die Rede sein kann, durch ein angeborenes Mitleid mit fremdem Schmerz in Schranken gehalten wird. Dieses natürliche Mitgefühl, welches aller Reflexion vorausliegt und, wie es selbst den Tieren in einem gewissen Grad eigen ist, so auch die wahre Quelle aller menschlichen Tugenden ist, vertritt die Stelle der Gesetze und sittlichen Gebote, und macht sie umso leichter entbehrlich, da es sich in jedem gegebenen Fall unmittelbar, in seiner ganzen Stärke, ohne von einem reflektierenden Egoismus irgendeinen Widerspruch zu erfahren, äußern darf. Die Bildung isoliert den Menschen, macht ihn gleichgültig gegen das wirkliche gegenwärtige Leiden seines Nächsten. Das fremde Unglück erregt seine Teilnahme nur noch so im Allgemeinen, wie es ganze Völker und Staaten trifft, oder in seiner künstlichen Nachbildung auf der Bühne. Anders der Naturmensch; ihn bewegt gerade umgekehrt das reale augenblickliche Leiden des Einzelnen, wenn und wie es ihm in bestimmter Gestalt vor die Augen tritt. Eben darum wird es ihm nicht leicht in den Sinn kommen, seine Kraft der Schwäche gegenüber zu mißbrauchen, oder zum Schaden anderer zu verwenden. Indem die Natur ihm das Mitleid einpflanzte, hat sie seinen Leidenschaften einen Zügel angelegt, der sie wirksamer hemmt und bindet, als irgendeine Reflexion oder sittliche Vorschrift das zu tun vermag."

    "Freilich wird es dieses Zügells nur selten bedürfen. Der Naturzustand bietet zur Entwicklung der menschlichen Leidenschaften wenig Raum und Gelegenheit. Selbst die Liebe, deren fessellose Gewalt im zivilisierten Leben so großes Unheil anrichtet, kann hier kaum bedenkliche Folgen haben. Sie macht sie eben nur von ihrer physischen Seite geltend; die moralische, vermöge welchr die geschlechtliche Neigung sich auf ein bestimmtes, um seiner persönlichen Vorzüge willen auserwähltes Individuum konzentriert, bleibt dem Naturmenschen völlig frem. Er hat keinen Sinn für die Schönheit, und weiß nicht von einer Wertschätzung besonderer Verdienste. Die Phantasie, welche unter uns so viele Verheerungen anrichtet, spricht nicht zu seinem Herzen. Er erwarten ruhig den Antrieb der Natur, gibt sich ihm ohne weitere Wahl hin, wozu es bei der stets überwiegenden Anzahl disponierter Frauen nur selten an Gelegenheit fehlen kann, und mit der Befriedigung des Bedürfnisses ist auch das Verlangen gestillt."

    "Fassen wir," so schließt ROUSSEAU seine Schilderung, "das Gesagte zusammen, so sehen wir im Naturmenschen ein Wesen vor uns, welches einsam in den Wäldern umherirrt, ohne Sprache, ohne Wohnung, ohne Industrie, ohne feindlichen oder freundlichen Verkehrt, ohne Neigung zur Gemeinschaft mit anderen, aber auch frei von dem Wunsch, ihnen zu schaden, ein Wesen, das, nur wenigen Leidenschaften zugänglich, sich selbst genügt, und keine anderen Empfindungen und Vorstellungen kennt als die, welche seinem Zustand entsprechen, das nur seine wahren Bedürfnisse kennt, sich nur um das kümmert, woran es ein wirkliches Interesse zu haben glaubt, und dessen Geist ebensowenig Fortschritte macht, wie seine Eitelkeit."
Es versteht sich von selbst, daß unter so gearteten Menschen von irgendeiner bemerkbaren Ungleichheit nicht die Rede sein kann. ROUSSEAU bemerkt sehr richtig:
    "Selbst die natürlichen Unterschiede der körperlichen und geistigen Kräfte können bei ihnen keine besondere Bedeutung haben, denn diese sind doch vorzugsweise die Frucht der mannigfach abweichenden Lebensweise und Erziehung, welche den verschiedenen Klassen und Ständen der entwickelten Gesellschaft eignen. Wo das Leben so einfach und gleichförmig ist, wie im Naturzustand, wo alle sich derselben Nahrungsmittel bedienen, auf ganz gleiche Weise leben und beschäftigt sind, kann die persönliche Verschiedenheit der Einzelnen nicht erheblich sein. Wäre sie aber auch so groß, wie manche glauben, so würde diese Ungleichheit doch ziemlich wirkungslos bleiben, da es eben so sehr an der Neigung, wie an der Fähigkeit fehlen würde, das etwa vorhandene Übergewicht geltend zu machen. Wozu kann die Schönheit dienen, wenn es keine Liebe gibt? wozu der Esprit unter Menschen, die nicht sprechen, und die Schlauheit bei Leuten, die nichts zu tun haben? Man spricht freilich immer von der Unterdrückung des Schwachen durch den Starken. Meint man damit, daß der eine den anderen gewaltsam nötigt, der gehorsame Diener seines Willens und seiner Laune zu werden, so findet das zwar im gesellschaftlichen Leben durchgängig statt, im Naturzustad aber schon darum nicht, weil hier die Begriffe Herrschaft und Gehorsam unbekannt sind, Abhängigkeit unter Menschen, die nichts besitzen, kaum denkbar, und die Möglichkeit, eine solche zu begründen, durch die ungebundene Lebensweise auf weitem Raum völlig abgeschnitten ist. Man kann eben niemanden knechten, den man nicht zuvor in die Lage gebracht hat, den Anderen nicht entbehren zu können. Das aber kann der Naturmensch, und darum ist ihm gegenüber das Recht des Stärkeren illusorisch."

    "Es bestand somit, solange die Menschen in ihrem ursprünglichen Zustand lebten, keine oder doch keine erhebliche Ungleichheit. Die Frage liegt nahe, wie eine solche dann entstehen und sich bis zu einem Grad der Ausbildung entwickeln konnte, in welchem sie gegenwärtig das gesellschaftliche Leben charakterisiert."

    "Ohne Zweife", mein ROUSSEAU, "lag im Menschen von Haus aus der Keim zu dem, was er später wurde. Die Anlage zu sozialen Leben brachte er mit; ihre Entfaltung aber ist das Werk vielfacher Zufälle, die auch  nicht  eintreten konnten, und ohne welche er für immer in seiner ursprünglichen Verfassung geblieben sein würde."

    ROUSEAU glaubt nun zwar nicht, daß diese zufälligen Ereignisse sich mit voller Sicherheit angeben lassen; man könne sie eben nur durch mehr oder minder stichhaltige Konjekturen ermitteln. Er will es jedoch versuchen, dem Gang der Dinge so zu folgen, wie er, der Natur der Verhältnisse gemäß, wahrscheinlich stattgefunden hat. Wir stehen damit am Eingang des zweiten Teils der Abhandlung, zu welchem der erste sich, anh der Ansicht ihres Verfassers, wie "die notwendige Grundlage zu dem auf ihr errichteten Gebäude verhält."
ROUSSEAU ist überzeugt, daß sie soziale Ungleichheit in und mit dem sozialen Leben entsteht, der Ursprung der sozialen Verbände aber mit der Entstehung des Grundeigentums zusammenfällt.
    "Der Erste," sagt er, "dem es in den Sinn kam, ein Grundstück einzuhegen, und zu behaupten, dies gehört mir, und der Menschen fand, einfältig genug, ihm das zu glauben, ist der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft. Jedoch," fährt er fort, "verging eine geraume Zeit, bevor jemand diesen verhängnisvollen Gedanken faßte. Die Idee des Eigentums setzt bereits eine Reihe von anderen Vorstellungen voraus, die sich nur bei einer fortschreitenden Entwicklung der menschlichen Einsicht und Tätigkeit bilden konnten. Wie es scheint, wurde der erste Schritt aus dem ursprünglichen Zustand herau durch die Notwendigkeit  körperlicher  Übungen veranlaßt, deren es zur Überwindung der  natürlichen  Hindernisse bedurfte, die sich der Selbsterhaltung entgegenstellten. Konnte man schon einer gewissen Kraft und Geschicklichkeit nicht entbehren, um sich in den Besitz der nährenden Naturprodukte zu setzen, so führte der Umstand, daß man sich und seine Beute nicht selten gegen wilde Tiere und gelegentlich auch gegen Seinesgleichen verteidigen mußte, notwendig dahin, die eine, wie die andere, in einem höheren Grad auszubilden. Es lag nahe, die persönlichen Kräfte durch den Gebrauch natürlicher Waffen, der Steine, Baumzweige usw. zu ergänzen. Und es verstand sich von selbst, daß man in der Handhabung derselben allmählich eiin größere Gewandtheit erlangte."

    "Ein anderes, für die weitere Entwicklung sehr wichtiges Moment war die Verschiedenheit der Naturverhältnisse, in welche man sich gestellt fand. Die Natur der Gegend, das Klima, die Jahreszeit führten von selbst zu mannigfachen Unterschieden in der Lebensweise. Die Menschen schieden sich in Jäger, Fischer usw., hüllten sich, wo die niedere Temperatur es forderte, in Tierhäute, und mußten sich, zumal wenn von Zeit zu Zeit minder gewöhnliche Naturereignisse, wie heiße Sommer, strenge Winter, Überschwemmungen und dgl. eintraten, im Interesse ihrer Sicherheit und Erhaltung schon an eine etwas größere Um- und Vorsich gewöhnen. Bald lernten sie auch das Feuer, später die Kunst kennen, es selbst zu erzeugen, und endlich auch die, es zu gebrauchen. Man begreift, daß sie bis zu diesem Punkt nicht gelangen konnten, ohne sich gleichzeitig zu den übrigen Wesen, wie zueinander, in oft wiederholte Beziehung gesetzt zu haben. Diese Beziehung erzeugte notwendig in ihrem Geist die Vorstellungen gewisser Verhältnisse, die wir mit den Worten: groß, klein, stark, schwach, schnell, langsam usw. auszudrücken pflegen. Und indem sie diese fast unwillkürlich, wenn das Bedürfnis dazu drängt, miteinander verglichen, bildete sich eine Art Reflexion, oder eine gewisse mechanische Klugheit, welche ihnen die für ihre Sicherheit notwendigen Vorsichtsmaßregeln angab. Die gesteigerte Einsicht erhöhte die Überlegenheit über die anderen Tiere, indem sie dieselbe zu Bewußtsein brachte; der Mensch fühlt sich als Herr seiner Mitgeschöpfe und wird gar bald deren Geisel. Mit dem ersten Blick, den er auf oder in sich selber wirft, erwacht auch die erste Regung des Stolzes."
Der Gedanke, daß das menschilche Bewußtsein als solches sich zunächst an der Beziehung oder dem Gegensatz zu den übrigen Tiergattungen entwickelt habe, ist, wenn auch vielleicht in seiner bestimmten Form nicht haltbar, doch seinem allgemeinen Inhalt nach richtig. Lebte der Mensch ursprünglich mit der Natur in ungetrennter Einheit, so konnte er nur dadurch zum Bewußtsein seines menschlichen Wesens gelangen, daß diese Einheit aufgehoben wurde, was wieder nur durch das Hervortreten des Gegensatzes möglich war. Ebenso wahr ist ein zweiter Gedanke, welchen ROUSSEAU dem ersten, freilich etwas zu äußerlich, anschließt. Mit dem Bewußtsein des Unterschiedes von der Naturwelt erwacht in den Menschen gleichzeitig das Gefühl ihrer Einheit, zumal es eben das allgemeine menschliche Gattungswesen ist, in welchem sie sich von der natürlichen Umgebung unterscheiden lernen. Die Selbsterkenntnis des Menschen, als eines eigentümlichen Wesens, schließt die Anerkennung Seinesgleichen ein und führt unmittelbar dahin, daß er sich denjenigen näher verbindet, die er sich verwandt sieht. Wie aber diese Übereinstimmung sich zunächst nur in äußeren Merkmalen aufdrängt, so sind auch, wie ROUSSEAU das näher ausführt,
    "die durch sie veranlaßten Verbindungen von äußerer zufälliger Art. Der Augenblick schließt und löst sie; sie sind einem beständigen Wechsel unterworfen und dienen nur dazu, einem vorübergehenden gemeinsamen Bedürfnis der Abwehr oder des Angriffs abzuhelfen. Ihr Grund und Zweck ist immer nur die physische Selbsterhaltung; die Menschen verbinden und trennen sich, je nachdem dieses mächtigste Agens ihres Handelns die Vereinigung ratsam oder entbehrlich macht. Mit der Entstehung solcher Verbindungen aber ist auch die der Sprache gegeben, durch welche sie vermittelt werden. Freilich bedarf sie noch keiner besonderen Ausbildung; sie wird zunächst vorzugsweise eine Zeichensprache sein, die sich durch Schallnachahmungen und unartikulierte, nur sehr allmählich sich bestimmter gliedernde Laute ergänzt."
Man muß gestehen, der erste Schritt aus dem Naturzustand heraus führt doch schon ziemlich weit. Er würde unbegreiflich sein, wenn nich im ursprünglichen Tiermenschen der Mensch als solcher, wenigstens der Anlage nach, schon mitgesetzt wäre. Auch hebt ROUSSEAU wieder und wieder hervor, daß die Entwicklung dieser Anlage nur sehr allmählich, in außerordentlich langen Zeiträumen erfolgt sei. Sie ist ihm wesentlich durch die langsame Einwirkung der Zeit bedingt, doch schreitet sie umso schneller fort, je höher die Stufe liegt, welche sie bereits erreicht hat. Man wird das ebenso zugeben müssen, wie die weitere Bemerkung, die sich, ohne daß sie geradezu ausgesprochen wird, aus seiner Darstellung aufdrängt. Dieselbe betont den revolutionären Ursprung jeder entscheidenden Entwicklungsphase, wiewohl sie dieselbe stets aus den früheren hervorgehen und sich allmählich feststellen läßt. Ihr Eintritt erfolgt doch gewissermaßen durch einen Sprung, womit dann allerdings, neben der Evolution des Werdens, auch sein spontaner Charakter gewahrt wird.

Ein Sprung dieser Art versetzt den Menschen, nach Ablauf einer langen Zeit, auf die zweite Stufe seiner sozialen Entwicklung. Sie knüpft sich nach der Ansicht ROUSSEAUs an die Gründung fester Wohnsitze, zu deren Bau, wie einfach sie auch sein mochten, doch schon ein ziemlich gereifter Verstand, sowie die Kenntnis mancher Instrumente erforderlich war. In seiner Hütte aber gewann der Mensch zugleich eine Art Eigentum. Wichtiger ist, daß sie ein dauerndes Zusammensein der bis dahin nur momentan vereinigten Geschlechter herbeiführte und damit den Grund zum Familienleben legte. In dieser Gemeinschaft von Mann und Weib kommt es sehr bald zu einer Sonderung der früher fast gleichförmigen Lebensweise beider; der eigentümliche Geschlechtscharakter bildet sich mehr und mehr aus. Ohne Zweifel verliert damit jedes die Fähigkeit, sich selbst zu genügen, doch kann die nun vereinte Kraft die größere Schwäche des Einzelnen ausgleichen. Eine weitere Folge des häuslichen Lebens ist die Gewöhnung an manche bisher unbekannte Bequemlichkeiten, die alsbald zu neuen Bedürfnissen werden. Die Vorstellungen mehren und erweitern sich; auch das Herz beginnt zu leben; die wahrsten und reinsten Empfindungen, deren es fähig ist, die Gatten- und die Elternliebe, werden wach. Zugleich erlangt die Sprache eine größere Ausbildung; das wachsende Bedürfnis gegenseitiger Mitteilung, wie es das engere und dauernde Zusammenleben mit sich bring, bedingt die fortschreitende Ausbildung ihres Mediums.

Wer gewohnt ist, sich das häusliche Zusammenleben des Menschen aus dem Bedürfnis der Familie nach äußerer Vereinigung entstanden zu denken, dem muß die umgekehrte Ableitung, wie sie ROUSSEAU im Sinn hat, sehr auffallend erscheinen. Sie steht jedoch mit seinen Prämissen in vollstem Einklang. Dem Naturmenschen liegt der Bau einer schützenden Wohnung jedenfalls näher, als die Gründung einer Familie, die doch immer ein Hinausgehen über das Individuum und seine physischen Bedürfnisse voraussetzt. Freilich sieht man deshalb noch nicht, wie das Vorhandensein des Hauses das gemeinsame Leben der beiden Geschlechter bedingt; sie hätten, scheint es, doch nach wie vor getrennt bleiben können. Die enge Verbindung von Haus und Familie, welche sich überall im zivilisierten Leben zeigt, mag ROUSSEAU doch wohl verleitet haben, eine solche auch für die Anfänge des Familienlebens zu statuieren. Offenbar entspringt das letztere aber, die Isolierung des Individuums vorausgesetzt, aus einem neu entstehenden Bedürfnis, dessen Eintritt durch die Existenz der Wohnungen beschleunigt werden mag, aber nicht durch sie bedingt sein kann. Wie dem auch sein mag, man muß ROUSSEAU zugeben, daß,
    "wenn die Menschen sich einmal feste Wohnsitze gegründet haben, sie auch bald miteinander in nähere Verbindung treten. Die einzelnen Familien schließen sich mehr oder minder zusammen. Es entstehen Verbände von größerem oder geringerem Umfang, und aus diesen bildet sich endlich in jedem Land eine besondere Nation, deren Angehörige, nicht infolge von Gesetzen und Verordnungen, sondern vermöge derselben Lebensweise und der gleichen klimatischen Einflüsse in Sitten und Charakter übereinstimmen."
Man wundert sich, daß ROUSSEAU an dieser Stelle das Moment der natürlichen Verwandtschaft nicht ausdrücklich hervorhebt. Wirksam ist es doch auch seiner Ansich nach. Freilich kann, meint er,
    "dasselbe sich nicht von vornherein, sondern nur allmählich, im Fortgang der Zeit, geltend machen." "Die Familien stehen sich anfangs in derselben Isolierung gegenüber, wie früher die Individuen. Aber die andauernde Nachbarschaft führt unmerklich zu mannigfachen Berührungen. Vor allem erhält der Verkehrt der beiden Geschlechter einen intimeren Charakter. Die jungen Leute, persönlich einander nahe gerückt, treten auch in eine persönliche Beziehung. Man gewöhnt sich, zu unterscheiden, zu vergleichen, und erlangt so gewisse Vorstellungen von Verdienst und Schönheit, aus welchen eine unwillkürliche Bevorzugung entspringt. Je öfter man sich sieht, umso weniger kann man sich entbehren. Zärtliche und sanfte Empfindungen schleichen sich in die Seele ein; die Liebe erwacht, mit ihr freilich auch die Eifersucht, und die sanfteste der menschlichen Leidenschaften fordert alsbald blutige Opfer. Der Vorzug, welcher dem auserwählten Weib gegeben wird, erregt zugleich den Wunsch, sich selbst etwaigen Mitbewerbern vorgezogen zu sehen. Das Streben nach persönlicher Auszeichnung macht sich geltend, und zwar umso entschiedener, da es auch noch von anderer Seite her belebt und genährt wird."

    "Je mehr sich Geist und Herz des Menschen mit Vorstellungen und Empfindungen bereichern, umso größer wird seine Neigung, sie im geselligen Verkehr mit Seinesgleichen auszutauschen. Die Nähe der Wohnungen veranlaßt wiederholte Zusammenkünfte; Gesang und Tanz, die wahren Kinder der Liebe und Muße, werden bald ein beliebtes Amüsement, ja fast die vorherrschende Beschäftigung der an keine bestimmte Tätigkeit gebundenen Menschen. Damit ist dann eine stets bereite Gelegenheit geboten, persönliche Vorzüge zur Anerkennung zu bringen. Hervorragende Leistungen finden den Beifall der versammelten Menge; man gelangt durch sie zu größerer Bedeutung, zu einem öffentlichen Ansehen. das ist der erste Schritt zur Ungleichheit und damit auch zum Laster. Eitelkeit und Geringschätzung anderer einerseits, Scham und Neid andererseits ziehen in die Herzen ein, und das verderbliche Spiel dieser bösen Leidenschaften beginnt, Glück und Unglück der Menschen zu vernichten. Persönliche Auszeichnung ist nun das Ziel, nach welchem jeder strebt; wer sie streitig machen will, wird mit allen Mitteln bekämpft. Jedes Unrecht erscheint als eine persönliche Beleidigung und fordert eine umso härtere Strafe, je größeren Wert der Verletzte sich beilegt. Die Rache wird immer schrecklicher, die Menschen grausam und blutrünstig."

    "In diesem Zustand", fügt ROUSSEAU hinzu, " befinden sich die meisten der uns bekannten wilden Völker. Man irrt sich also sehr, wenn man, wie das sehr oft geschieht, bei ihnen Charakter und Leben des Urmenschen zu finden meint. Sie haben sich vom Naturzustand schon ziemlich weit entfernt und sind bereits einer gewissen Korruption anheimgefallen, die der früheren Zeit unbekannt war. Das hindert jedoch nicht, daß die Periode, in welcher die Menschen auf dieser Entwicklungsstufe stehen, für sie die beste und glücklichhste ist. Die Ausbildung ihrer Fähigkeiten hat dann einen Grad erreicht, welcher die Mitte hält zwischen der Indolenz [Schmerzfreiheit - wp] der Urzeit und der ruhelosen Tätigkeit der Eigenliebe, wie sie der späteren Epoche eigen ist. Auch ist ihre Lage am wenigsten gewaltsamen Umwälzungen unterworfen und gibt daher die größte Bürgschaft für einen ruhigen, sicheren Fortbestand. In der Tat darf man diese Zeit das wahre Jugendalter der Menschheit nennen und muß es bedauern, daß sie über dasselbe hinausgegangen ist. Alle weiteren Fortschritte sind ebenso viele Schritte, dem Anschein nach zu Vervollkommnung des Individuums, in Wahrheit aber zur Verschlechterung der Gattung gewesen."
Fürwahr, eine kühne Behauptung. Sehen wir zu, wie ROUSSEAU sie zu beweisen versucht.
    "Solange", sagt er, "die Menschen sich nur Arbeiten zuwandten, die ein Einziger allein ausführen konnte, ohne daß es des Zusammenwirkens mehrerer Hände bedurfte, lebten sie frei, gesund und glücklich. Aber von dem Augenblick an, wo der eine die Hilfe des anderen nötig hatte, wo man bemerkte, daß es einem von Nutzen sein kann, Vorräte für zwei zu haben, verschwand die Gleichheit, wurde das Eigentum eingeführt, die Arbeit notwendig, und die Wälder verwandelten sich in lachende Fluren, auf welchen bald mit den Früchten, Sklaverei und Elend keimten und wuchsen. Dieser völlig veränderte Zustand der Dinge trat ein, als der Ackerbau und, gleichzeitig oder noch früher, die Bearbeitung der Metalle bekannt wurde. Eisen und Getreide sind es, welche die Menschen zivilisiert und die Menschheit zugrunde gerichtet haben. Hat doch die Natur alle möglichen Vorkehrungen getroffen, um dem Menschen dieses verhängnisvolle Geheimnis zu entziehen. Gewiß ist, daß es ihm offenbar werden mußte, bevor die Praxis des Ackerbaus ihm geläufig werden konnte. Der Anbau des Bodens aber hatte zunächst eine Teilung desselben zur Folge; die Bearbeitung eines Grundstücks gab unmittelbar ein Recht auf den Ertrag dieser Arbeit und damit auch an das Grundstück selbst, wenigstens bis zur nächsten Ernte. Wurde nun so derselben Bodenanteil auf dem zureichenden Grund der Arbeit eine Reihe von Jahren okkupiert, so bildete sich ein ununterbrochener Besitz, der sich unvermerkt in ein wirklicches Eigentum umwandelte."

    "Der Teilung des Bodens aber geht die der Arbeit zur Seite. Es sondern sich zunächst die Landbauer und Metallarbeiter, und der notwendige Austausch der Produkte bedingt die gegenseitige Abhängigkeit der Produzenten. Zwar hätte die ursprüngliche Gleichheit unter ihnen fortbestehen können, wenn der Verbrauch des Eisens und der Bodenerzeugnisse sich stets gedeckt hätte. Doch dem konnte nich lange so sein; das ungleiche Maß der Bedürfnisse erzeugte Überfluß auf der einen, Mangel auf der anderen Seite. Überdies machte sich jetzt die natürliche Verschiedenheit der Anlagen und Talente in ihrem ganzen Umfang geltend. Die größere Kraft und Geschicklichkeit befähigte zu größeren und besseren Leistungen. Von ihnen aber hängt nun nicht bloß das Vermögen ab, sondern auch die Macht und das Ansehen, dessen sich jeder erfreut. Kein Wunder, daß alle bestrebt sind, ihre etwaigen Vorzüge, wenn auch auf Kosten anderer, wirken zu lassen. Wo sie fehlen, affektiert man sie wenigstens; man sucht zu scheinen, was man nicht ist, und fällt damit allen Lastern anheim, die im Gefolge der imponierenden Pracht und der trügerischen List aufzutreten pflegen. Andererseits wird der Mensch mit den stets wachsenden Bedürfnissen immer abhängiger, wie von der Natur, so namentlich von Seinesgleichen. Ist er arm, so bedarf er des fremden Beistandes, wenn reich, kann er die Dienste anderer nicht entbehren und wird ihr Sklave, selbst wenn er ihr Herr ist. Unausgesetzt muß jeder darauf bedacht sein, die übrigen für sich zu interessieren oder sie doch glauben zu machen, daß sein Vorteil auch der ihrige ist. Listig und trugvoll gegen die einen, ist er hart und gebieterisch gegen die anderen; alle aber, die er nötig hat und nicht durch Furcht beherrschen kann, muß er notwendig zu täuschen suchen. Von Ehrgeiz und Habsicht getrieben, immer darauf aus, sich über die anderen zu erheben, verfolgt man sie mit einer geheimen Eifersucht, die nicht selten unter der Maske des Wohlwollens noch gefährlicher wird, und trägt kein Bedenken, sich gegenseitig zu schaden, wo es ohne Gefahr geschehen kann. So sind Konkurrenz und Rivalität auf der einen, Widerstreit der Interessen auf der anderen Seite, besonders aber der geheime Wunsch, seinen Vorteil auf Kosten anderer zu sichern, die erste Wirkung des Eigentums und der entstehenden Ungleichheit. Es dauert nicht lange und noch schlimmere Folgen treten hervor."
Schon an einer früheren Stelle hatte ROUSSEAU bemerkt, daß es ein Irrtum ist, im Naturzustand einen Krieg aller gegen alle finden zu wollen. Hier fügt er hinzu, daß diese Periode des allgemeinen Kampfes erst eintreten konnte, als sich mit und aus dem Eigentum der Gegensatz von Reich und Arm bis zu einem gewissen Grad entwickelt hatte. Denn "der Besitz von Grund und Boden ist seiner natur nach beschränkt; einmal an eine gewisse Anzahl von Personen verteilt, kann er nur noch auf Kosten anderer erweitert werden. Die Folge ist, daß, wer die Macht hat, kein Bedenken trägt, durch eine gewaltsame Okkupation des fremden Eigentums das seinige zu vergrößern. Zugleich entsteht mit der Einführung eines gesonderten Besitzes eine, im Laufe der Zeit stets wachsende Klasse von solchen, die von demselben ausgeschlossen sind oder werden. Diese Armen können, was sie bedürfen, sich nur auf einem doppelten Weg verschaffen. Sie müssen es sich entweder von den Reicheren geben lassen, womit sie dann, von diesen abhängig, ihre Diener und Sklaven werden. Oder aber, sie müssen sich das Nötige nehmen, zu Raub und Gewalttat greifen. Die einen dienen der Herrschsucht anderer, die natürlich in demselben Verhältnis wächst, in welchem die Zahl der dienstwilligen Werkzeuge zunimmt. Die anderen fröhnen der eigenen Leidenschaft und Begierde, die umso rücksichtsloser wirkt, wie das natürliche Mitleid erloschen und das Rechtsgefühl noch sehr schwach ist."
    "So tritt ein Zustand allgemeiner grauenhafter Unordnung ein, der die besitzende Klasse beständig mit der größten Gefahr bedroht. Die Reichen sind es daher auch, die zunächst darauf ausgehen, diesen unausgesetzten Kämpfen durch die Gründung von gesetzlich geordneten Verbänden ein Ende zu machen, indem sie es ihren ärmeren Genossen plausibel zu machen wissen, daß die Sicherung der öffentlichen Ruhe auch in ihrem Interesse liegt, und der Gewinn, den Gesetz und staatliche Ordnung bringen, den Verlust oder die Beschränkung der persönlichen Freiheit wohl aufwiegt. Die entgegenstehende Ansicht, nach welcher der Staat aus der Vereinigung der Schwachen und Armen zum Schutz gegen die Reichen und Mächtigen hervorgegangen ist, ist nicht haltbar. Er ist vielmehr ein Werk derjenigen, für die er allein wirklichen Nutzen hat, der durch Besitz oder sonstwie Mächtigen. Was sollte die übrigen bewegen, eine Institution zu schaffen, die ihnen das Einzige, was sie haben, die Freiheit nimmt, und dafür das wertlose Gut einer nur scheinbaren, trügerischen Ruhe gibt?"
Es wird sich später Gelegenheit finden, die Ansichten ROUSSEAUs über die Entstehung und Entwicklung des staatlichen Lebens im Zusammenhang vorzulegen. Sie treten übrigens in der vorliegenden Abhandlung schon wesentlich in derselben Fassung auf, in welcher sie uns im  Contrat social  begegnen, nur daß sie hier im Zusammenhang und genauer entwickelt, dort mehr gelegentlich, so weit der spezielle Gegenstand der Erörterung es zu fordern schien, und ohne engere Verbindung, ausgesprochen werden.
    "Der Staat," belehrt uns ROUSSEAU, "wird durch die freie Übereinkunft derjenigen, welche zu ihm zusammentreten, ins Leben gerufen. Er besteht anfangs nur in einigen allgemeinen Bestimmungen, zu deren Beobachtung alle Teilnehmer sich verpflichten, und deren Ausführung die Gesamtheit jedem Einzelnen garantiert. Die allgemein verbindlichen Bestimmungen oder Gesetze werden von sämtlichen Mitgliedern der Gemeinde festgestellt. Auch sorgt zunächst die ganze Gemeinde dafür, daß sie befolgt und etwaige Übertretungen zur Strafe gezogen werden. Erst später, wenn sich herausstellt, daß die von der Gesamtheit ausgeübte Regierungsgewalt in der Regel ihren Zweck verfehlt, wird sie bestimmten Individuen, und zwar nach den Umständen einem oder mehreren übertragen. Die Macht dieser Magistrate, die übrigens lediglich als Mandatare der Gemeinde auftreten, erstreckt sich auf alles, was zur Erhaltung der gesetzlichen Ordnung dienen kann, gestattet ihnen aber nicht, dieselbe irgendwie zu ändern. Ihre Vollmacht und Autorität erlischt, sobald deren Voraussetzung und Quelle, das bestehende Grundgesetz, von ihnen angetastet wird. Freilich werden sie sich eine solche Überschreitung ihrer Befugnisse kaum erlauben, solange man am ursprünglichen Modus ihrer Einsetzung, an der Wahl, festhält. Die beständig sich erneuernden Kämpfe aber, welche jede Volkswahl begleiten, führen bald dahin, daß man im Interesse der öffentlichen Ruhe abermals einen Teil der Freiheit opfert und die höchste Magistratur zu einer erblichen Würde erklärt. Mit der Erblichkeit der Regierungsgewalt ist aber, wenn auch nicht prinzipiell, so doch tatsächlich ihre willkürliche Ausübung verbunden. Sie hat zur Folge, daß ihre Inhaber allmählich zu Herren des Staates werden, dessen Diener sie ursprünglich waren und stets sein sollten."

    "Die fortschreitende Entwicklung des staatlichen Lebens bedingt die der sozialen Ungleichheit. Man kann innerhalb der letzteren drei Stufen oder Stadien unterscheiden. Mit der Entstehung des Eigentums und der dasselbe schützenden Gesetze tritt der Gegensatz von Reich und Arm ins Leben. Die Einsetzung der Magistratur begründet den Unterschied von Macht und Schwäche, während die Umwandlung der gesetzmäßigen Gewalt in eine willkürliche das Verhältnis von Herren und Sklaven zur Folge hat. Damit ist die letzte Stufe der Ungleichheit und das Ziel erreicht, zu welchem alle übrigen notwendig hinführen, bis etwa neue Revolutionen die Regierung vollständig auflösen oder sie einer gesetzlichen Form wieder näher bringen. Freilich steht, so scheint es, der Ausgang dieser Entwicklung mit den Motiven und Prinzipien des staatlichen Lebens im Widerspruch. Wird ja doch die Herrschaft der Gesetze begründet, um die der individuellen Willkür aufzuheben. Aber die Gesetze sind im Allgemeinen weniger mächtig, als die Leidenschaften, und wenn sie auch die Menschen in Schranken halten, so können sie doch ihre Natur nicht ändern. Dieselben Laster, welche die sozialen Institutionen notwendig machen, machen auch den Mißbrauch derselben unvermeidlich. Man könnte sogar beweise, daß jede Regierung, die, ohne sich zu korrumpieren, stets genau dem Zweck ihrer Gründung entspräche, ohne Not gegründet worden ist."
ROUSSEAU hat zweifellos Recht; ist die Individualität die einzige ursprüngliche Lebensmacht, und der Staat nur eine, wie durch Kunst geschaffene Einrichtung, dazu bestimmt, ihr äußere Schranken zu stellen, so wird sie ihn notwendig früher oder später, zunächst unwillkürlich und im Geheimen, dann offen und mit vollem Bewußtsein, ihren Interessen dienstbar machen. Der positive Grund einer Erscheinung kann eine Weile hinter sie zurücktreten, er bleibt aber doch ihre verborgene Seele, und tritt schließlich als ihr wahrer Endzweck ans Licht. Schaffen die Individuen den Staat, so werden sie eben durch ihn die Geltung erlangen, die er ihnen scheinbar nimmt; statt der Gleichheit, von welcher man ausging, tritt die Ungleichheit mit der größeren Entfaltung der individuellen Unterschiede in immer schärferen Formen hervor, bis sie in der unbedingten Herrschaft eines Einzelnen ihre Spitze erreicht. Übrigens weist ROUSSEAU sehr gut nach, wie die politischen Unterschiede die sozialen herbeiführen und befördern, auch ohne daß eine direkte Einwirkung von Seiten der Regierung stattfindet.
    "Je größer", sagt er, " die Ungleichheit zwischem dem Volk und seinem Oberhaupt wird, umso mehr macht sie sich auch im Kreis der Privatpersonen fühlbar, wo freilich Leidenschaften, Talente oder zufällige Umstände ihr eine mannigfach wechselnde Form geben. Sie variiert nicht minder nach der Natur und Tendenz der bestehenden Regierungen, wie auch nach dem Charakter der Veränderungen, welche sie im Laufe der Zeit erleiden. Im Allgemeinen aber bilden Reichtum, Rang, Macht und persönliches Verdienst die vornehmsten Unterschiede, an welchen man sich im sozialen Leben mißt."

    "Von ihnen ist das persönliche Verdienst als die Quelle aller anderen Auszeichnungen, der Reichtum aber als die letzte anzusehen, zu welcher die übrigen in eben dem Maße hinstreben, in welchem die Gesellschaft sich dem äußersten Grad der Korruption nähert. Dieser aber ist erreicht, wenn sich aus der allgemeinen Anarchie, zu welcher die Ungleichheit und ihre notwendige Folge, der stete leidenschaftliche Kampf der Personen und Interessen, hinführt, allmählich der Despotismus erhebt, um auf den Trümmern des Staates das Gebäude seiner Herrschaft zu errichten. Wo er waltet, ist natürlich von Volk und Gesetz keine Rede mehr, ebensowenig von Tugend und Sittlichkeit. Zugleich stehen wir mit ihm auf der letzten Stufe der Ungleichheit und beim Endpunkt ihrer Entwicklung, der sich mit dem Anfangspunkt gewissermaßen berührt, und so den Kreislauf abschließt. Unter der Herrschaft des Despotismus werden die Einzelnen wieder gleich, weil sie ansich nichts sind und bedeuten, sondern gleichmäßig dem gesetzlosen Willen ihres Herrn gehorchen. Dieser Wille aber, wie er keine andere Norm anerkennt, als das persönliche Belieben, stützt sich auch lediglich auf die persönliche Kraft. Im Despotismus gilt nur das Recht des Stärkeren, und erscheint somit ein neuer Naturzustand, der sich freilich vom ursprünglichen dadurch unterscheidet, daß er das Produkt einer äußersten Verderbnis ist."
Das ist nach ROUSSEAU der Gang, den die Entwicklung des sozialen Lebens genommen hat und nehmen muß. Weit un vielfach gewunden ist der Weg, den sie verfolgt, groß und durchgreifend die Umwandlung, welche sie in Natur und Wesen des Menschen bewirkt.
    "Es gibt keine größere Verschiedenheit als die, welche zwischen dem Natur- und dem zivilisierten Menschen besteht; der einen ist sozusagen das gerade Gegenteil des anderen, und was jenem als das höchste Glück erscheint, würde diesen zur äußersten Verzweiflung treiben. Alle Verschiedenheit aber hat ihren wahren Grund darin, daß der Naturmensch in und aus sich selber lebt, während der Mensch der Gesellschaft stets außer sich, nur in der Meinung anderer zu leben weiß, und fast lediglich aus fremdem Urteil das Gefühl seines eigenen Daseins schöpft. Die notwendige Folge dieser Selbstentäußerung ist die Herrschaft des Scheins und der Lüge; der soziale Mensch, schon in seiner äußeren Erscheinung trügerisch und frivol, hat nur Ehrgefühl ohne Tugend, Verstand ohne Weisheit, Vergnügen ohne Glück."
Übrigens schließt die Abhandlung mit derselben Verwahrung, der wir schon zu Beginn begegnen. Sie hat über ihren Gegenstand nur das sagen wollen, "was sich mit Hilfe der bloßen vernünftigen Einsicht, unabhängig von den geheiligten Dogmen, welche der souveränen Macht die göttliche Sanktion verleihen, aus der Natur des Menschen ableiten läßt." Es ergibt sich daraus, daß "die Ungleichheit, welche im Naturzustand so gut wie gar nicht vorhanden ist, durch die Entwicklung der menschlichen Anlagen und den Fortschritt der geistigen Bildung Leben und Wachstum gewinnt, mit der Gründung des Eigentums und der Gesetze aber festen und rechtlichen Bestand erhält." Es ergibt sich ferner, daß "die moralische Ungleichheit, welche bloß durch das positive Recht autorisiert ist, dem Naturrecht widerspricht, so oft sie mit der physischen Ungleichheit nicht harmoniert. Denn wie man auch das Naturrecht definieren mag, es ist ihm offenbar zuwider, daß das Kind dem Greis befiehlt, daß ein Schwachkopf einen vernünftigen Menschen regiert und daß eine Handvoll Leute im Überfluß schwelgt, während die verhungernde Menge das Notwendige entbehrt."
LITERATUR - Ferdinand Brockerhoff: Rousseau - sein Leben und seine Werke, Bd. 1, Leipzig 1863